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Zeitgenossen - Pakt mit den Rittern des Dan (Bd. 3)

von Hope Cavendish (Autor:in)
228 Seiten
Reihe: Zeitgenossen, Band 3

Zusammenfassung

Gemma trifft ihre Freunde Maddy, Miguel und Francisco wieder. Die Begegnung mit Francisco verläuft ganz anders, als sie erwartet hätte. Ausgerechnet er hilft ihr dabei, sich über viele Dinge in ihrem Leben klarzuwerden. Bei dem Versuch, mehr über die Ritter des Dan herauszufinden, lernen Gemma und Fergus dann einen irischen Schriftsteller kennen, dessen Werk eines Tages bahnbrechende Berühmtheit erlangen wird. Sehr viel später erst tritt Giles wieder in ihr Leben und zwischen ihm und Gemma scheint sich alles verändert zu haben. Welche Rolle spielen die Ritter des Dan dabei? Wird Gemma nun einen neuen Kampf aufnehmen? "Pakt mit den Rittern" des Dan ist der dritte Band der historischen Vampirroman-Serie "Zeitgenossen". Im Mittelpunkt der Serie steht die Vampirin Gemma, die im Laufe der Jahrhunderte erfährt, was es bedeutet, unsterblich zu sein. Sie wird zur Zeitzeugin vieler historischer Ereignisse, erlebt Kriege, Entdeckungen und Revolutionen, begegnet der Liebe, dem Kampf und dem Tod. Ihre Freunde stehen ihr dabei oft zur Seite, doch ihren Weg muss Gemma letztendlich selbst finden.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsangabe: Pakt mit den Rittern des Dan

 

Gemma trifft ihre Freunde Maddy, Miguel und Francisco wieder. Die Begegnung mit Francisco verläuft ganz anders, als sie erwartet hätte. Ausgerechnet er hilft ihr dabei, sich über viele Dinge in ihrem Leben klarzuwerden. Bei dem Versuch, mehr über die Ritter des Dan herauszufinden, lernen Gemma und Fergus dann einen irischen Schriftsteller kennen, dessen Werk eines Tages bahnbrechende Berühmtheit erlangen wird. Sehr viel später erst tritt Giles wieder in ihr Leben und zwischen ihm und Gemma scheint sich alles verändert zu haben. Welche Rolle spielen die Ritter des Dan dabei? Wird Gemma nun einen neuen Kampf aufnehmen?

 

Pakt mit den Rittern des Dan ist der dritte Band der historischen Vampirroman-Serie Zeitgenossen. Im Mittelpunkt der Serie steht die Vampirin Gemma, die im Laufe der Jahrhunderte erfährt, was es bedeutet, unsterblich zu sein. Sie wird zur Zeitzeugin vieler historischer Ereignisse, erlebt Kriege, Entdeckungen und Revolutionen, begegnet der Liebe, dem Kampf und dem Tod. Ihre Freunde stehen ihr dabei oft zur Seite, doch ihren Weg muss Gemma letztendlich selbst finden.

Prolog

 

Manchmal warf ich mir selbst eine gewisse Sorglosigkeit vor. Eine Sorglosigkeit gegenüber dem Faktor Zeit, der für einen Sterblichen doch so wichtig war. Nun gut, als Vampirin war ich natürlich unsterblich. Zumindest beinahe, denn ein paar Dinge gab es doch, die uns Vampire verletzen oder gar töten konnten. Zwar stagnierte unser biologisches Alter ab dem Moment unserer Verwandlung, wir waren gegen Krankheiten immun und unsere Selbstheilungskräfte ließen nahezu jede Verwundung in kürzester Zeit heilen.

Jedoch konnte uns ein starker Gegner, beispielsweise ein anderer Vampir, im Kampf durch eine Enthauptung töten und auch gegen Feuer waren wir keineswegs gefeit. Verwundungen, die uns durch Waffen oder Munition aus Silber zugefügt wurden, blockierten unsere Selbstheilungskräfte – dadurch wurde Silber zu einem mächtigen Instrument für unsere Feinde.

Die grausamste Art, einen Vampir umzubringen, war allerdings der Biss eines Mort-Vivants, da jener Biss einen Vampir in Sekundenschnelle altern und zu Staub zerfallen ließ. Mort-Vivants waren Kreaturen, die erst nach ihrem Tod in Vampire verwandelt wurden. Wie genau diese Verwandlung funktionierte, haben meine Freunde und ich jedoch leider noch nicht herausfinden können. Unglückseligerweise besaßen die Sybarites, eine mächtige und grausame Vampirsekte, die wir uns zum Feind gemacht hatten, Kenntnis über das Geheimnis jener Verwandlung. Zumindest wussten ein paar hochrangige Mitglieder der Sybarites, wie man einen Mort-Vivant erschafft.

Dafür wussten leider wiederum die Ritter des Dan, wie gefährlich Silber für uns Vampire werden konnte. Die Ritter des Dan waren ein Geheimbund von Vampirjägern, dessen Ziel es zu sein schien, alle Vampire komplett zu vernichten. Sie waren menschlich und besaßen erstaunlich gute Kenntnisse über uns, deren Ursprung wir uns bislang noch nicht erklären konnten.

 

Angesichts solch mächtiger Feinde war es gut, dass ich gleichfalls einige langjährige und enge Freunde hatte. Einige von ihnen kannte ich inzwischen schon ein paar Jahrhunderte lang, gemeinsam mit mir hatten sie Freud und Leid, ebenso wie manches Abenteuer erlebt – das hatte die Bande zwischen uns natürlich gefestigt.

Einer der wichtigsten Freunde war beispielsweise Giles. Er hatte mich damals in eine Vampirin verwandelt, um mein Leben zu retten, als ein paar Sybarites mich überfallen und fast getötet hatten. Meine Beziehung zu Giles war nicht unproblematisch, denn ich liebte ihn und war ihm möglicherweise auch nicht ganz gleichgültig – dennoch gab es immer wieder große Differenzen zwischen uns, die uns dazu brachten, eine Zeitlang getrennte Wege zu gehen.

In solchen Phasen suchte ich gerne das Gespräch mit meiner Freundin Maddy. Sie hatte mir als Vampirin schon ein paar Jahrhunderte voraus und unterstützte mich nicht selten durch weise Ratschläge. Francisco und Miguel waren weitere wichtige Gefährten, die uns seinerzeit im Kampf gegen die Sybarites zur Seite standen. Francisco und ich hatten damals eine kurze Affäre, da ich Giles in jener Zeit verloren wähnte. Miguel wiederum hatte sich zu dieser Zeit in Maddy verliebt und sie sich ebenso in ihn. Die beiden führten inzwischen schon seit über einem Jahrhundert eine harmonische und beneidenswerte Beziehung.

Meine vergleichsweise jüngste Freundschaft bestand mit Fergus, denn wir kannten uns erst ein paar Jahrzehnte. Fergus hatte ich über Giles kennengelernt, und seitdem ich erkannt hatte, dass er trotz seiner übermütigen Scherze ein aufrichtiger und zuverlässiger Freund war, verstanden wir uns blendend. Fergus war zudem der erste Gestaltwandler, den ich kennenlernen durfte, und die Tatsache, dass er sich bei Bedarf in einen Gerfalken verwandeln konnte, machte seine Gesellschaft immer wieder zu einem Erlebnis.

 

Alle jene Freunde waren ebenso wie ich Vampire. Ich hatte auch menschliche Freunde gehabt und bei vielen von ihnen ihren Tod miterleben müssen, was jedes Mal eine schmerzvolle Erfahrung für mich gewesen war. Im Beisein meiner Vampir-Freunde hingegen vergaß ich meine eigene Unsterblichkeit und Alterslosigkeit schon hin und wieder, da sie ja ebenso wenig alterten wie ich.

Und genau darin bestand meine eingangs erwähnte gelegentliche Sorglosigkeit. Erst kürzlich war mir wieder bewusst geworden, dass ich mich bereits sehr lange an ein und demselben Ort aufhielt und meinem Umfeld – insbesondere meinen menschlichen Freunden – langsam auffallen musste, dass ich gar nicht alterte. Der Ort war in diesem Fall meine geliebte Heimatstadt London und ich war daher mal wieder genötigt, ihn für eine Weile zu verlassen. Da Giles auf unbestimmte Zeit nach Indonesien aufgebrochen war, fiel mir dies gleichwohl nur bedingt schwer.

Wir schrieben das Jahr 1840 und ich hatte mich entschlossen, Maddy und Miguel zu besuchen, die derzeit auf Mallorca weilten. Kurz vor meiner Abreise hatte ich erfahren, dass Francisco inzwischen ebenfalls dort lebte, und war ein wenig besorgt, wie ich ihm gegenübertreten sollte. Wir hatten uns nach unserer Affäre nie ausgesprochen und damals war mir auch noch nicht klar gewesen, dass meine Gefühle für ihn nie mit denen für Giles konkurrieren konnten. Trotzdem freute ich mich darauf, Francisco wiederzutreffen und hoffte, dass wir einander immer noch als Freunde in die Augen blicken würden.

Nachdenklich

 

Die Sonne stand weit oben am Himmel, als mein Segelschiff in den Hafen von Palma de Mallorca einlief. Die mächtige Kathedrale La Seu dominierte den Anblick der Stadt, da sie alle umliegenden Gebäude, selbst den benachbarten Almudaina-Palast, hoch überragte.

Maddy und Miguel warteten am Hafen auf mich. Miguel lächelte freundlich und Maddy grinste so freudestrahlend und fröhlich von einem Ohr zum anderen, dass ich ebenfalls mit einem Schlag gute Laune bekam.

Kaum hatte das Schiff angelegt, liefen wir aufeinander zu und umarmten uns. »Könnt ihr hellsehen?«, fragte ich die beiden lachend. »Wie konntet ihr wissen, dass das Schiff genau jetzt eintrifft? Oder habt ihr etwa die ganze Zeit am Hafen gewartet?«

»Das war gar nicht nötig!«, erklärte Maddy verschmitzt und wies auf ein paar Türme und Dächer, die rechts hinter der Kathedrale auszumachen waren. »Du kannst unseren Stadtpalast von hier aus sehen. Naja, zumindest den kleinen Aussichtsturm davon. Javier, einer unserer Diener, hatte die Order, von dort aus regelmäßig nach deinem Schiff Ausschau zu halten. Daher war es für uns ein Leichtes, rechtzeitig hier zu sein!«

 

So beharrlich und heiß die Sonne auch vom Himmel schien, das Gewirr der engen Gassen, das wir hinter der Kathedrale auf dem Weg zu Maddys und Miguels Haus durchschritten, durchdrang sie nicht. Die vielen großen und imposanten Stadtpaläste standen so dicht beieinander, dass sie sich gegenseitig Schatten spendeten. Als ich nach oben blickte, erschienen mir manche der Häuser so eng gebaut, dass die Bewohner zweier gegenüberliegender Paläste sich von ihren kleinen Balkonen aus die Hände hätten reichen können.

»Diese Bauweise sorgt sicherlich für wohltuende Kühle«, fragte ich Maddy interessiert, »aber ist es dadurch auf Dauer nicht ein wenig finster? Das Tageslicht wird ja fast schon komplett ausgeschlossen.«

»Das Licht hält sich an einem anderen Ort versteckt«, antwortete Maddy mit einem geheimnisvollen Lächeln. »Du wirst es gleich sehen.« Mit diesen Worten deutete sie auf die schwere Holztür eines weiteren wunderschönen Palastes, die Miguel nun aufschloss. Wir durchschritten einen breiten Gang und standen im nächsten Moment in einem riesigen, lichtdurchfluteten Innenhof, der von ionischen Marmorsäulen und barocken Rundbögen eingefasst war. In der Mitte des Innenhofes stand ein wundervoller alter Steinbrunnen, drum herum waren diverse massive Tontöpfe mit Palmen und Agaven aufgestellt und von der Galerie in der ersten Etage wucherten ringsum üppige gelbe und magentafarbene Bougainvilleas in den Hof herunter. Zwei große gegenüberliegende Freitreppen führten die Galerie hinauf und an einer Seite entdeckte ich ein breites schmiedeeisernes Gitter, das auf eine Seitengasse hinausführte und offenbar für die Einfahrt von Kutschen gedacht war.

»Fast alle großen Häuser hier haben diese Innenhöfe«, erklärte Maddy, als sie meinen begeisterten Blick bemerkte, »sie ermöglichen es den Einwohnern, im Freien zu sein und dennoch etwas Privatsphäre zu wahren.«

Doch war der Innenhof nicht das einzig Eindrucksvolle an dem Anwesen von Maddy und Miguel. Es hatte zudem sehr viele bezaubernde und von den beiden sehr behaglich eingerichtete Zimmer und bot Maddy darüber hinaus ausreichend Platz für ein riesiges und umfassend ausgestattetes Laboratorium. »Auf Mallorca wächst eine faszinierende Vielfalt besonderer Kräuter und Pflanzen«, schwärmte sie begeistert. »Ich habe bei weitem noch nicht alle erkunden und untersuchen können. Allerdings ist jetzt in der heißen Jahreszeit natürlich bereits vieles davon verblüht. Aber da du ja hoffentlich erstmal ein Weilchen bei uns bleiben wirst, wirst du noch in den Genuss kommen, die üppige Blütenpracht hier im Frühjahr zu bewundern. Die Mandelblüte zum Beispiel beginnt oft schon im Februar und ihr Anblick erwärmt einem einfach das Herz.«

Maddys Worte hatten mir einen Aspekt meines Aufenthaltes hier ins Gedächtnis gerufen, der mich noch ein wenig verunsicherte. »Ich bin noch nicht ganz sicher, wie lange ich hier bleiben werde«, entgegnete ich zögernd. »Denkst du, dass meine Anwesenheit hier jedermann recht ist?«

Maddy sah mich zunächst verblüfft an. Dann begriff sie, worauf ich anspielte. »Du meinst Francisco? Naja, du weißt, dass er sein Herz nicht gerade auf der Zunge trägt, aber als er von Miguel erfuhr, dass du uns hier besuchen wirst, schien er ernsthaft erfreut zu sein.«

Skeptisch sah ich sie an. »Er weiß sicherlich inzwischen, dass ich all die Jahre mit Giles zusammengelebt habe?«, fragte ich.

Maddy nickte. »Natürlich hat er Miguel gefragt, wie es dir in der Zwischenzeit so ergangen ist. Und Miguel hat es ihm erzählt. Daher weiß er auch, dass Giles und du im Moment gerade wieder getrennte Wege gehen. Ich hoffe, dass macht dir nichts aus?« Sie sah mich unsicher an.

»Nein, selbstverständlich nicht.« Ich schüttelte den Kopf. »Sonst hätte Miguel ihn ja anlügen müssen. Glaubst du, dass er sich möglicherweise noch Hoffnungen auf mich macht?«

Maddy zuckte mit den Schultern. »Eigentlich wirkte er ziemlich entspannt. Er schien weder einen Groll gegen dich zu hegen, noch schien ihn deine bevorstehende Ankunft sonderlich aufzuwühlen. Aber das würde er sich vermutlich andererseits kaum anmerken lassen.«

Ich nickte zögernd. »Ich werde es wohl einfach drauf ankommen lassen müssen, wenn wir uns wiederbegegnen. Lebt er denn hier in der Nähe?«

»Er hat ein Stadthaus hier in Palma, etwas kleiner als unseres«, antwortete Maddy, »aber die meiste Zeit verbringt er in Sóller, wo er eine wunderschöne Finca und eine riesige Orangenplantage besitzt.«

Ich sah Maddy erstaunt an. »Francisco baut Orangen an?«

Maddy schmunzelte über meine Überraschung. »Ja. Allem Anschein nach hat er wohl ziemlich turbulente Zeiten erlebt, darum war es ihm ganz recht, mal ein paar ruhigere Jahre zu verbringen. Aber das soll er dir lieber alles selbst erzählen. Wenn du einverstanden bist, machen wir morgen einen Ausflug nach Sóller und besuchen ihn dort?«

Entschlossen reckte ich mein Kinn in die Höhe. »Gerne! Man soll sich seinen Herausforderungen stellen!«

Maddy kicherte. »Gemma, du hast schon in so vielen Situationen unerschrockenen Mut bewiesen. Nur, wenn es um Gefühle geht, bist du ein Hasenfuß.«

Gespielt beleidigt streckte ich ihr die Zunge heraus. Dann brachen wir beide in Lachen aus.

 

Etwas mühsam rumpelten unsere Kutschen die steinigen Wege in das Tramuntana-Gebirge hinauf. Wir hatten bereits eine gewisse Wegstrecke durch das Binnenland Mallorcas hinter uns gebracht, waren durch verschlafene kleine Dörfchen und an herrschaftlichen Villen und Fincas vorbei gekommen. Zu Fuß wären Maddy, Miguel und ich sicherlich schneller vorangekommen, doch so einsam war diese Gegend nun auch wieder nicht, als dass wir diese auffällige Fortbewegungsweise gewagt hätten. Dafür ermöglichte das langsame Tempo unserer Kutschen es uns wiederum, den famosen Blick auf die Berge der Serra de Tramuntana zu genießen.

Als wir schließlich den letzten Pass überwunden hatten, bot sich uns eine grandiose Aussicht auf das Tal von Sóller sowie das Städtchen selbst mit seinen großen Villen und pittoresken Häuschen und auf die vielen Orangenplantagen ringsum. Deren leuchtende Früchte wurden deutlich erkennbar, sobald wir näher kamen, und erschienen selbst mir appetitanregend, obwohl Früchte schon seit langer Zeit nicht mehr zu meinem Speiseplan gehörten.

Franciscos Finca lag etwas außerhalb und er wartete zusammen mit seiner Dienerschaft bereits vor dem Haupthaus auf uns, als unsere Kutschen langsam auf das Gebäude zurollten. Er überragte seine Dienstboten um deutlich mehr als eine Haupteslänge und mir ging durch den Kopf, dass die Funktion eines Großgrundbesitzers ihm doch viel besser zu Gesicht stand, als ich ursprünglich angenommen hatte.

Als wir ausstiegen, begrüßte er uns alle mit einer freundschaftlichen Umarmung und wies die Dienerschaft an, unser Gepäck hineinzubringen.

»Seid ihr durstig?«, fragte er dann. »Ich habe in meinem Speisesaal ein wenig frisch gejagtes Wild angerichtet.«

Er führte uns durch einen großen Innenhof, in dem, ähnlich wie bei Maddys und Miguels Stadtpalast, ein Brunnen und etliche Pflanzenkübel standen, und öffnete die Tür zu seinem Speisesaal. Der Raum war riesig und trotz der Mittagshitze überraschend kühl. Im Zentrum stand eine lange massive Holztafel, auf der diverse frisch erlegte Hirsche lagen.

Nachdem wir alle uns daran ausreichend gestärkt hatten, schlug Maddy vor: »Warum zeigst du Gemma nicht deine Plantage, Francisco? Miguel und ich kennen sie ja bereits.«

Francisco sah mich freundlich an. »Gerne! Wenn es dich interessiert?«, fragte er.

Ich konnte in seinem Blick nicht anderes als aufrichtige Freundschaft entdecken. »Doch sehr!«, antwortete ich leise.

 

Schon nach einem kurzen Spaziergang stellte sich heraus, dass Franciscos Plantage noch größer war, als es auf den ersten Blick ausgesehen hatte. So weit das Auge reichte, waren wir von Orangenbäumen umgeben. Zwar waren die Baumkronen fast alle ungefähr in Augenhöhe, da die Bäume so kurz gehalten wurden, damit die Ernte der Früchte einfacher war. Dennoch war der üppige Anblick beeindruckend.

»Ich habe mir dich zunächst eigentlich gar nicht so recht als Plantagenbetreiber vorstellen können«, offenbarte ich Francisco, nachdem wir eine Weile schweigend nebeneinander spaziert waren.

»Offen gestanden entstamme ich sogar einer langen Ahnenreihe von Großgrundbesitzern oder von ›Grandes‹, wie sie bei uns in Spanien heißen«, entgegnete Francisco lächelnd. »Die Grandes waren im Besitz königlicher Lehen, die sie vom König für Dienste an der Krone erhalten hatten. Mich hatte es jedoch von jeher gelangweilt, mich um die Verwaltung unserer Ländereien zu kümmern, einen ordentlichen Kampf hätte ich dem jederzeit vorgezogen. Und so verkaufte ich nach dem Tode meiner Eltern alles und zog in die Welt hinaus.«

»Und wie kommt es dann, dass du jetzt doch sesshaft geworden bist?«, fragte ich neugierig.

»Nun, ich lebte ja mittlerweile schon einige Jahrhunderte so«, erwiderte Francisco schmunzelnd, »und irgendwie war ich schließlich doch eines Tages des Kampfes ein wenig überdrüssig. Unser Kampf gegen die Sybarites war ja wenigstens noch eine gute Sache gewesen, wenngleich er eher im Verborgenen stattfand. Aber danach verlief mein Leben dann indes etwas zielloser.«

»Magst du mir davon berichten?«, fragte ich vorsichtig.

Francisco zuckte mit den Schultern. »Sicher, warum nicht. Ich blieb seinerzeit noch bis 1720 bei der piemontesischen Armee. Dann hatte ich genug von diesen ganzen Erbfolgekriegen. Ich hatte nur noch in Schlachten gekämpft, mit denen ich überhaupt nichts mehr zu tun hatte. Ich ging wieder in die Neue Welt, in die Spanische Kolonie Florida, doch da wurde es mir bald zu langweilig. Und so zog ich weiter südwärts bis ins Vizekönigreich Neugranada, wo ich meine Landsleute im Kampf gegen die Wayuu unterstützte, das war so um 1740. Die Wayuu sind die dortigen Ureinwohner und sie lehnten sich immer wieder gegen uns Spanier auf. Ich erkannte schließlich, dass sie dies durchaus zu Recht taten, denn meine Landsleute hatten ihnen ihr Land weggenommen und wollten ihnen obendrein unsere Religion und unsere Lebensweise aufzwingen. Ich hätte mich ebenso gegen diese Form der Unterdrückung aufgelehnt.«

Francisco zuckte erneut mit den Schultern und fuhr fort: »Also war auch dies ein Kampf, der weder meinen Interessen noch meiner Überzeugung entsprach und so brachte ich den Wayuu noch ein paar nützliche Strategien und Kampftechniken bei und zog dann wieder weiter. Ich hatte schon vor einiger Zeit Kunde von Eldorado, dem sagenhaften Goldland, erhalten und es reizte mich, mich selbst einmal auf die Suche danach zu machen, nachdem so viele bereits daran gescheitert waren.«

»Da warst du ja fast in derselben Region wie Maddy und Miguel einige Jahre später bei ihrer Forschungsreise mit Humboldt«, überlegte ich, »aber als Goldsucher kann ich mir dich nun wirklich nicht vorstellen.«

»Es war ja auch weniger das Gold, das mich gereizt hat, als das Abenteuer«, erklärte Francisco mit einem Augenzwinkern, »doch weder an noch in dem Bergsee Guatavita, in dem der Legende zufolge alle neuen Herrscher des Inka-Volkes Smaragde und Gold als Opfergaben versenkt hatten, war etwas davon zu entdecken. Es gab noch etliche weitere Legenden, die Eldorado mal als eine versunkene Stadt im Urwald, mal als einen alten Tempel interpretierten. Für keine davon habe ich irgendwelche Beweise gefunden. Da waren Maddy und Miguel mit ihrer Forschungsreise letztendlich fast erfolgreicher, da sie ja zumindest ein paar neue wissenschaftliche Erkenntnisse gemacht haben.« Er lächelte nachdenklich und machte eine kleine Pause.

»Ich war viel alleine unterwegs in jener Zeit und das machte mir auch nichts aus, denn es gab genug wilde Tiere dort, um meinen Durst zu löschen«, fuhr Francisco dann fort, »aber irgendwann bekam ich wieder das Bedürfnis nach Gesellschaft und so landete ich eines Tages schließlich in Buenos Aires, das inzwischen Hauptstadt des Vizekönigreiches des Río de la Plata geworden war.

Als die Koalitionskriege in Europa ausbrachen, besetzten britische Truppen die Stadt und so kämpfte ich plötzlich gegen deine Landsleute. Anschließend begann der Unabhängigkeitskampf in Buenos Aires und ich konnte es noch verstehen, dass die Bevölkerung endlich selbständig sein und nicht länger vom spanischen Vizekönig regiert werden wollte. Doch als dann Juan Manuel de Rosas an die Macht kam und die noch junge Republik wie ein Diktator führte, mochte ich nicht länger dort bleiben. Ich bekam Heimweh nach der Alten Welt, und da ich des ständigen Umherreisens ebenso überdrüssig war wie des Kämpfens, ließ ich mich hier auf Mallorca nieder, um Orangen anzubauen.

Es hat etwas sehr Befriedigendes, den ewigen Kreislauf der Natur zu beobachten und zu überwachen. Man hegt und pflegt die Pflanzen, später erntet man die Früchte und aus deren Samen zieht man dann wiederum neue Pflanzen. Meine Vorfahren haben schon damals die Ruhe und Kraft erkannt, die diesem Prozess innewohnt. Ich hingegen habe ein paar Jahrhunderte dafür gebraucht.«

Francisco bemerkte meinen leicht skeptischen Blick. »Ich will ja nicht ausschließen, dass mich eines Tages wieder die Abenteuerlust packt«, fügte er sodann hinzu, »aber momentan bin ich mit der Situation ganz zufrieden.«

»Bist du eigentlich in all den Jahren keinen Artgenossen begegnet?«, fragte ich neugierig.

»Doch«, antwortete Francisco, »einer von ihnen war ebenfalls Soldat in der piemontesischen Armee und er spielte ständig mit dem Risiko, zu offenbaren, was er war, da er seinen Blutdurst gerne bei Schlachten auslebte. Aber es blieb immer unentdeckt. Und im Vizekönigreich Peru bin ich bei meiner Suche nach Eldorado einer Azeman begegnet. Das ist eine Vampirart, die tagsüber die Gestalt einer menschlichen Frau hat und nachts die einer Fledermaus.«

»Eine Fledermaus?«, hakte ich ungläubig nach. »Ich habe das immer für ein hysterisches Gerücht gehalten. Obwohl ich ja mittlerweile selbst einen Gestaltwandler kenne …«

»Du kennst einen Gestaltwandler?«, fragte Francisco interessiert. »Woher denn? Und hast du ihn mal bei der Verwandlung beobachtet?«

Ich erzählte ihm von Fergus. »Und ich durfte tatsächlich schon einmal dabei zusehen, wie er sich verwandelt. Es ist ein faszinierender Anblick.«

»Ein Gerfalke«, sinnierte Francisco nachdenklich. »Es muss toll sein, fliegen zu können. Ich bin ein wenig neidisch auf ihn!«

»Ich auch«, gab ich zu. »Und hast du denn der Azeman bei ihrer Verwandlung zugesehen?«

»Ja, und ich war ebenso fasziniert wie du. Allerdings empfinden die Azemanes ihr Dasein als Fluch und würden es am liebsten beenden. Doch sobald eine Azeman einen derartigen Versuch unternimmt – und in Fledermausgestalt haben sie dazu die Möglichkeit, weil sie nur in Menschengestalt unverwundbar sind – werden sofort drei neue Azemanes geboren.«

»Sie werden geboren?«, fragte ich verwundert.

»Ja, sie kommen nachts als Fledermäuse zur Welt.«

»Erstaunlich! Aber anderen Artgenossen bist du nicht begegnet? Auch keinem Sybariten?«

Francisco schüttelte den Kopf. »Die Sybarites würden sich auf diesem Kontinent sicherlich nicht so wohlfühlen. Es gibt sehr viel Wildnis dort und im Verhältnis dazu noch reichlich wenig Luxus.« Er grinste mich an. »Aber nun erzähl mal, was dir in all den Jahren so widerfahren ist. Maddy hat mir ja schon von euren Erlebnissen während der Französischen Revolution erzählt. Irgendwie kurios, dass Saint-Just also ein Artgenosse von uns war und dennoch so von seiner Sache überzeugt, dass er freiwillig dafür in den Tod ging.«

»Der Mann war ein Fanatiker«, gab ich achselzuckend zurück.

»Und dann bist du mit Giles nach England zurückgegangen?«, fragte er.

Ich sah ihn unsicher an. »Ich … äh … ja, wir haben eine Zeitlang zusammengelebt.«

Francisco bemerkte meine Verlegenheit und lächelte mich etwas wehmütig an. »Gemma, ich habe schon vor langer Zeit begriffen, dass Giles deine große Liebe ist. Womöglich war es mir noch vor dir selbst klar.«

»Und du bist nicht wütend auf mich?«, fragte ich vorsichtig.

Er lächelte erneut. »Nein, wieso sollte ich? Du hast mir nie etwas vorgespielt. Und ich kann dir wohl kaum vorwerfen, dass du in jenen turbulenten Zeiten deine Gefühle selber nicht so genau kanntest. Letztendlich hätten wir zudem vermutlich gar nicht zueinander gepasst. Allerdings ist mir deine Freundschaft sehr viel wert.«

Mit diesen Worten reichte er mir seine Hand und ich ergriff sie dankbar. »Mir deine auch! Aber ich war nicht sicher, ob ich sie eventuell inzwischen verloren hätte.«

Wieder zwinkerte mir Francisco zu. »Gemma, ich glaube kaum, dass du imstande wärest, etwas zu tun, was dich meine Freundschaft kosten könnte.«

Erleichtert hakte ich mich bei ihm unter und wir spazierten eine Weile schweigend weiter.

»Ich bin allerdings nicht sicher, ob du mit deiner Einschätzung von Giles und mir richtig liegst«, nahm ich schließlich das Gespräch wieder auf. »Allem Anschein nach passen wir genauso wenig zueinander.«

»Willst du mir erzählen, was vorgefallen ist?«, fragte Francisco.

Ich berichtete Francisco von unseren Erlebnissen in London, von unserer Begegnung mit den Rittern des Dan, von meinem Engagement für die Frauenrechte und wie wenig Giles letztendlich damit zurechtgekommen war. »Offenbar sind wir einfach zu verschieden«, schloss ich.

Francisco lächelte.

»Was ist so witzig?«, fragte ich ihn stirnrunzelnd.

»Gemma, ich glaube, das Problem besteht eher darin, dass ihr beide euch zu ähnlich seid«, antwortete er nachsichtig. »Ihr seid beide recht starke und unabhängige Persönlichkeiten. Keiner von euch beiden eignet sich dazu, das Schoßhündchen des anderen zu spielen.«

»Du denkst, ich habe Giles zu einem Schoßhündchen degradiert?«, fragte ich betroffen.

Francisco schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich denke, dass er sich einfach gelangweilt hat. Du bist nicht die Einzige, die sich erst dann richtig lebendig fühlt, wenn sie für oder gegen eine Sache kämpfen kann. Und bei deinem derzeitigen Kampf fühlte Giles sich schlichtweg überflüssig.«

Nachdenklich sah ich ihn an. »Aber dann bedeutet das, dass wir nie zusammen sein können, weil wir beide Einzelkämpfer sind?«

»Nicht unbedingt«, widersprach Francisco, »aber es bedeutet, dass ihr euch beide eure Freiräume zugestehen müsst, wenn ihr euch liebt.«

Zögernd nickte ich, während wir weitergingen. Ich sah ein, dass Francisco recht hatte. Mir selbst würde es ebenso wenig genügen, mein ganzes Dasein lang einzig und nur Giles’ Geliebte zu sein. Ohne eigenes Engagement, eigene Abenteuer, eigene Erlebnisse oder Erfahrungen. Also konnte ich das schwerlich von Giles verlangen.

»Eines finde ich allerdings ziemlich interessant«, durchbrach Francisco nach einiger Zeit unser Schweigen.

»Und das wäre?«, fragte ich neugierig.

»Eure Begegnung mit den Rittern des Dan«, antwortete Francisco. »Ich bin in Florida nämlich auch auf einen von ihnen gestoßen. Fanatischer Bursche mit silberbestäubtem Schwert. Nachdem ich ihn erledigt hatte, fand ich in seinen Sachen genau so eine Münze, wie du sie beschrieben hast.«

Interessiert sah ich ihn an. »Demzufolge hat jener Anführer in London anscheinend doch die Wahrheit gesagt, als er behauptete, dass es noch mehrere von ihnen gäbe. Offenbar ist es ein Geheimbund von Vampirjägern, aber wir konnten leider nicht herausfinden, woher sie kommen oder woher sie ihr Wissen haben. War der Mann, den du getötet hast, der Einzige in der Gegend?«

Francisco nickte. »Ja. Wie ich jetzt nach deinen Informationen hinzufügen muss: leider. Ich würde gerne mehr darüber herausfinden.«

Grinsend knuffte ich ihn in die Seite. »Nun, wenn dich der Orangenanbau eines Tages doch zu langweilen beginnt, kannst du dich ja auf die Suche machen.«

Francisco erwiderte mein Grinsen. »Als ob du nicht genauso neugierig wärst. Schließlich begegnet man nicht alle Tage Menschen, die überhaupt von unserer Existenz Kenntnis haben.«

»Einige haben aber anscheinend zumindest eine leise Ahnung«, erwiderte ich nachdenklich und berichtete ihm von meiner Freundschaft zu Mary Shelley und dem Besuch von Fergus und mir in Byrons Sommer-Villa am Genfer See. Damals hatten sich die Gäste abends am Kamin die Zeit mit etlichen Schauergeschichten vertrieben und ich hatte Fergus mehr als einmal bremsen müssen, uns in seinem Übermut nicht als Vampire zu entlarven. Als alle aufgefordert wurden, eigene Geschichten zu schreiben, hatte Byrons Leibarzt Polidori eine Vampir-Erzählung zu Papier gebracht, Mary wiederum hatte eine Geschichte entwickelt, in der ein junger Schweizer namens Viktor Frankenstein einen künstlichen Menschen erschuf. Ein paar Jahre darauf wurden beide Erzählungen veröffentlicht.

Francisco hörte mir interessiert zu und grinste dann anerkennend. »Also wart ihr beide, du und dieser Fergus, womöglich die Inspiration für den ersten Vampir-Roman. Und obendrein noch Zeitzeugen bei der Entstehung von Frankenstein.«

»Mach dich nur lustig«, antwortete ich gespielt schnippisch. »Ich hatte damals große Mühe, Fergus davon abzuhalten, noch mehr ›Vampir-Kunststückchen‹ zu veranstalten!«

»Ich würde den Mann zu gerne mal kennenlernen«, erklärte er daraufhin erheitert.

 

Der Aufenthalt auf Franciscos Finca umgeben von duftenden Orangenbäumen tat mir gut. Ich war sehr erleichtert darüber, dass das Verhältnis zwischen ihm und mir nicht nur ungetrübt war, sondern inzwischen sogar einer entspannten Freundschaft Platz gemacht hatte. Das Örtchen Sóller war bezaubernd, der dazugehörige Hafen Port de Sóller nur einen gut einstündigen Spaziergang entfernt, ich war in der Gesellschaft meiner besten Freunde und in den umgebenden Bergen gab es noch ausreichend Wild, um unseren Durst zu löschen.

Dennoch spürte ich nach einigen Tagen immer noch eine gewisse bedrückende Rastlosigkeit, die nicht von mir weichen wollte.

Francisco schien dies ebenfalls zu bemerken. »Wie viel Zeit hast du eigentlich in den letzten Jahren alleine verbracht?«, fragte er mich eines Abends, als wir gemeinsam jagen gingen.

Überrascht sah ich ihn an. »Ich … ich weiß nicht«, überlegte ich, »im Grunde war ich fast immer in Gesellschaft von Freunden. Warum fragst du?«

»Du hast diesen Gesichtsausdruck, den ich auch an mir selbst feststellte, als ich damals in die Neuen Welt reiste: unruhig und auf der Suche nach etwas, ohne genau zu wissen, wonach.«

Ein wenig betreten stellte ich fest, dass er recht hatte. Er hatte relativ exakt meinen derzeitigen Gemütszustand beschrieben.

»Du hast dich in den vergangenen Jahrzehnten viel mit anderen beschäftigt«, fuhr Francisco fort, »hast dich um sie gekümmert, dich für sie engagiert. Dabei hast du dich selbst möglicherweise ein wenig aus den Augen verloren.«

»Und was schlägst du vor, soll ich dagegen tun?«, fragte ich ihn.

»Mal eine gewisse Zeit alleine verbringen«, antwortete er schlicht, »deine Gedanken sortieren, dich mit dir selbst beschäftigen, deine Wünsche, Ziele und Sehnsüchte erforschen.«

»Möchtest du mich wieder loswerden?«, fragte ich lächelnd.

Er lächelte zurück. »Du weißt, dass das nicht der Fall ist. Aber ich denke dennoch, dass es dir gut tun würde. Mir hatte es dereinst zumindest gut getan, als ich eine Zeitlang alleine die spanischen Vizekönigreiche in der Neuen Welt durchstreift hatte. Ich hatte viel Zeit und Gelegenheit gehabt, nachzudenken und mir über einiges klar zu werden.«

»Also soll ich die Kolonien bereisen?«

»So weit brauchst du gar nicht zu gehen. Auch Mallorca bietet eine Vielzahl an traumhaften und unberührten Flecken«, er wies auf die umliegenden Berge. »Allein die Serra de Tramuntana ist schon eine sehr abwechslungsreiche Naturschönheit. Wenn du sie einmal der Länge nach durchwanderst – am besten in menschlicher Geschwindigkeit, damit du die Muße hast, alle Ausblicke zu genießen – hast du Gelegenheit, mal wieder eins mit der Natur und dir selbst zu werden. Und dennoch würde es dich nicht allzu viel Zeit kosten, so dass wir deine Gesellschaft nicht zu lange entbehren müssten.«

»Also hast du mit diesem Vorschlag an mich und an euch gedacht?«, fragte ich lächelnd.

»Selbstverständlich«, gab Francisco schmunzelnd zu.

 

Ich ließ mir Franciscos Vorschlag durch den Kopf gehen. Und je mehr ich darüber nachdachte, desto besser sagte er mir zu. Obgleich ich nicht sonderlich davon überzeugt war, dass es meine Rastlosigkeit beseitigen würde, so gefiel mir doch der Gedanke, die mallorquinische Landschaft einmal näher zu erkunden. Allerdings wollte ich damit noch bis zum folgenden Frühjahr warten, da es dann zum Wandern angenehm kühl sein würde und die Vegetation entsprechend grüner war und daher viel mehr Abwechslung für das Auge bot.

Und so ließ ich es im März des folgenden Jahres schließlich zu, dass meine Freunde in Port de Sóller ein Schiff anheuerten, das mich nach Port d’Andratx brachte, einem kleinen Fischerhafen am südwestlichen Ende der Serra de Tramuntana. Von dort aus wollte ich den Gebirgszug einmal der Länge nach durchwandern, einige Zwischenstationen an nahegelegenen Örtchen machen und ansonsten die frische Luft, die Landschaft und die Natur genießen.

Ich hatte mich seit langer Zeit mal wieder mit Männerkleidung ausstaffiert, zum einen, weil es für die Wanderung schlichtweg praktischer war, und zum anderen, weil ich als Mann weniger Aufmerksamkeit erregen würde, falls ich auf der einsamen Route doch mal einem Schäfer oder Jäger begegnete.

 

Port d’Andratx war ein winziges kleines Nest, und obwohl unser Schiff zwischen all den Fischerbooten sicherlich ein bisschen hervorstach, nahm doch niemand groß Notiz von uns, als wir im Hafen ankamen. Ich verabschiedete mich herzlich, aber kurz von meinen Freunden, denn wir alle wussten, dass wir uns ja relativ bald wiedersehen würden, und waren schon wesentlich längere Trennungsphasen gewohnt.

Maddy umarmte mich und erklärte mit einem schelmischen Zwinkern: »Mal sehen, ob du deine Sinnkrise bewältigst.«

Ich knuffte sie freundschaftlich in die Seite. »Ich habe keine Sinnkrise!«, erwiderte ich lachend. Dann machte ich mich auf den Weg. Francisco hatte mir vorab grob die Route auf einer Karte gezeigt, aber da mein Orientierungssinn recht gut war und die Serra de Tramuntana parallel zur Küste verlief, machte ich mir keine großen Sorgen. Selbst wenn ich einen oder zwei Tage länger für meine Wanderung benötigen sollte, wäre dies nicht weiter schlimm, denn ich wollte mir ja ohnehin Zeit lassen.

 

Von Port d’Andratx aus wanderte ich eine Weile lang durch einen Kiefernwald und fand mich schon bald auf einem Trampelpfad wieder, der wiederholt den Blick auf die wundervolle Küste freigab. Obwohl ich mir jedes Mal Zeit ließ, die Aussicht zu genießen, hatte ich eigentlich viel zu früh die nächste Etappe erreicht. Nach einer Wegbiegung lag plötzlich das Dörfchen Sant Elm unter mir. Es schmiegte sich direkt an eine kleine Bucht mit türkisblauem, kristallklarem Wasser, in der kleine weiße Fischerboote um ein vorgelagertes Inselchen herum dümpelten. Weiter hinten im Meer ragte die Insel Sa Dragonera hervor, die so hieß, weil sie sich wie ein Drache aus dem Meer erhob, und rechts hinter dem Dorf erstreckten sich die Berge der Serra de Tramuntana bis zum Horizont.

Ich umrundete Sant Elm und schließlich gelangte ich in ein abgelegenes kleines Tal, das – wie ich von Francisco wusste – Val de Sant Joseph hieß. Dort stand ein verlassenes Trappistenkloster. Francisco hatte mir erzählt, dass dort noch vor wenigen Jahren Trappistenmönche gelebt hatten, die einst vor der Französischen Revolution geflohen waren. Daher waren die Gebäude des Klosters noch entsprechend gut erhalten.

Nachdem ich ein paar weitere kleine Täler durchquert hatte, in denen trotz der abgelegenen Lage immer wieder auch vereinzelte Hütten und Terrassenfelder zu entdecken waren, bestieg ich schließlich den Mola de s’Esclop, den höchsten Berg dieses Teils der Tramuntana. Für einen Menschen wäre er etwas zu unwirtlich, um ein geeignetes Nachtlager darzustellen, aber ich beschloss, hier für eine Weile Rast zu machen, da man von hier aus einen großartigen Blick über das Gebirge hatte. Während die Sonne an der Küste unterging und diese dabei in spektakuläre Rottöne tauchte, gönnte ich mir erstmalig die Muße, über den Sinn und Zweck dieser Wanderung nachzudenken.

Maddy hatte beim Abschied gescherzt, dass ich mich in einer Sinnkrise befände und vielleicht hatte sie damit doch nicht völlig unrecht. Ich hatte seit einiger Zeit irgendwie das Gefühl, dass es so viele lose Enden in meinem Leben gab und ich nicht in der Lage war, sie miteinander zu verknüpfen oder sie doch wenigstens in Einklang zu bringen.

Da war zum Beispiel meine Beziehung zu Giles. Ich wusste, dass ich ihn liebte und wenn man meinen Freunden Glauben schenken durfte, war auch ich ihm nicht völlig egal. Dennoch waren wir abermals getrennte Wege gegangen. Und so wie es aussah, würde es diese Phasen wohl immer wieder geben müssen, da wir es trotz unserer Gefühle füreinander nicht ständig miteinander aushielten. Dies zu akzeptieren fiel mir sehr schwer, erst recht, wenn ich sah, wie harmonisch und offenbar reibungslos Maddy und Miguel inzwischen schon seit über einem Jahrhundert miteinander lebten.

Über ein Jahrhundert! Dies war ebenfalls so ein Aspekt.

Der Faktor Zeit, der für mich und meine Artgenossen ja praktisch keine Rolle spielte.

Ich war mittlerweile fast 250, Giles sogar über 650 und Maddy »stolze« 775 Jahre alt. Und obwohl wir alle dank unseres tadellosen Gedächtnisses eine fast lückenlose Erinnerung an nahezu jeden Moment unseres Lebens hatten, gingen wir alle doch zumeist viel zu sorglos mit der Zeit um. Denn auch wenn sie für uns ein unbegrenztes Gut war, so war sie es doch nicht für die Menschen um uns herum. Wie viele gute Freunde hatten wir bereits verloren: Jean-Marc, Claudine, Alexandre, Honoré, Mary Wollstonecraft, Fanny Imlay. Ihre Zeit war kurz und kostbar gewesen und zumindest ein paar von ihnen hatten sie daher sehr sorgsam genutzt.

Und was hatte ich getan? Ich hatte gegen die Sybarites gekämpft.

Immerhin hatten meine Freunde und ich auf jenem »Schlachtfeld« einen Teilerfolg errungen, da einige hochrangige Sybarites das Zeitliche gesegnet hatten. Aber war der Kampf damit beendet? Sicherlich trieben doch trotzdem nach wie vor etliche Sybarites in verschiedenen Teilen der Welt ihr Unwesen. Hätte ich nicht hartnäckiger sein und alles daran setzen müssen, sie aufzuspüren?

Später hatte ich mich für die Ideale der Französischen Revolution eingesetzt. Ich hatte den Kampf um mehr Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde unterstützt. Doch hatten die Revolutionäre dann eine so übermächtige Lawine losgetreten, die sie letztendlich irgendwann selbst überrollte. Es war damals dadurch so viel Leid entstanden, dass es ziemlich schwer fiel, die Revolution als einen völligen Erfolg anzusehen.

Ebenso wenig war mein Kampf für die Frauenrechte vollendet. Ich hatte zwar mein Scherflein dazu beitragen können, dass den Frauen mittlerweile etwas mehr Gehör verschafft wurde. Dennoch war man noch unendlich weit davon entfernt, von einer »Gleichberechtigung« zu sprechen. Doch konnte ich jenen Kampf in England vorerst nicht weiterführen, wenn ich nicht wollte, dass meine Unsterblichkeit jemandem auffiel.

Die Ritter des Dan stellten ein weiteres loses Ende in meinem Leben dar. Sie waren wie aus dem Nichts aufgetaucht, wussten wer und was wir waren und waren unwiderruflich entschlossen, uns zu vernichten. Die kleine Gruppe in London hatten wir zwar getötet, aber damit war weder das Geheimnis der Vampirjäger gelöst, noch das Problem beseitigt, da es ja ganz offenkundig noch weitere von ihnen gab.

So langsam wurde mir klar, dass meine sogenannte »Sinnkrise« aus einem gewissen Unmut heraus entstanden war. Obwohl ich doch scheinbar unendlich viel Zeit zur Verfügung hatte, hatte ich es dennoch bislang nicht geschafft, etwas Sinnvolles zu erreichen oder eine Schlacht voll und ganz zu gewinnen.

Ich hatte meine Liebe gefunden, aber schaffte es nicht, eine dauerhafte Bindung mit ihm einzugehen.

Ich hatte eine grausame Vampirsekte geschwächt, aber nicht vernichtet.

Ich hatte Menschen bei ihrem Kampf um Freiheit und Gerechtigkeit unterstützt, jedoch ohne dass sie bislang die völlige Freiheit oder Gerechtigkeit erhalten hätten.

Ich hatte gegen einen neuen Feind gekämpft, ihn aber nicht komplett besiegt.

Nun, vielleicht war es reichlich arrogant von mir, zu glauben, dass ich überhaupt das Potential hätte, all diese Ziele zu erreichen.

Aber da ich doch zumindest Zeit im Übermaß zur Verfügung hatte, war ich der Ansicht, dass ich mich in Zukunft für diese Ziele durchaus noch ein wenig mehr anstrengen musste.

Trotzdem würde ich Prioritäten setzen müssen, da ich schließlich nicht alle Vorhaben gleichzeitig in Angriff nehmen konnte.

Diese Wanderung konnte mir vielleicht dabei helfen, mir über meine Prioritäten klarzuwerden.

 

Am nächsten Morgen erreichte ich die kleinen Örtchen Estellencs und Banyalbufar. Kurz vor Banyalbufar bestieg ich auf einem hohen Felsvorsprung den Torre des Verger, einen alten Wachturm aus dem 16. Jahrhundert, der zum Schutz vor Piraten errichtet wurde. Von dort aus hatte man einen fantastischen Ausblick auf den Ort, über die Steilküste und das unendlich blaue im Sonnenschein glitzernde Meer. Über einen weiteren Berg mit traumhafter Aussicht kam ich anschließend nach Valldemossa.

Nachdem ich mich ein wenig in dem Dorf umgesehen hatte, brach die Dämmerung herein, und ich beschloss, in den umliegenden Wäldern etwas Wild aufzustöbern, mit dem ich meinen Durst löschen konnte.

Ich erwischte nur ein paar Hasen und Kaninchen, doch sie genügten mir. Dann rastete ich auf dem Bergrücken des Caragolí und stieg früh am nächsten Morgen über von Steineichen gesäumte Waldpfade, Ölbaumterrassen und Landgüter zu dem bezaubernden Örtchen Deià hinab, das sich pittoresk an einen kleinen Hügel schmiegte.

Als ich an einem Terrassenfeld mit Olivenbäumen vorbeikam, hielt ich kurz fasziniert inne, weil sich mir dort ein sehr anrührender Anblick bot: Auf einer auf dem Boden ausgebreiteten Decke saß ein kleines Baby, wohl gerade so alt, dass es aufrecht sitzend konnte, und spielte mit einem Hündchen. Kind und Hündchen schienen gleichermaßen begeistert voneinander zu sein, denn während der Hund aufgeregt schwanzwedelnd dem Baby Hände und Füße leckte, quietschte das Kleine seinerseits vor Vergnügen. Schließlich kam die Mutter dazu, hob das Kind hoch und herzte es liebevoll. Idiotischerweise waren mir die Tränen in die Augen gestiegen und ich setzte unbemerkt meinen Weg fort.

 

Das nächste Etappenziel wäre normalerweise Sóller gewesen, aber da ich diesen Ort ja schon kannte, bestieg ich von Deià aus den Puig des Teix, um von dort aus Sóller weiter südlich zu umrunden. Auch vom Puig des Teix hatte man einen wunderschönen Ausblick auf große Teile der Tramuntana und so zwang ich mich zu einer weiteren Pause, um mich mit den Gefühlen auseinanderzusetzen, die mich da vorhin übermannt hatten.

Ich brauchte mir nichts vorzumachen, meine unfreiwillige Kinderlosigkeit war ein Aspekt meines unendlich währenden Lebens, der mich desöfteren mit Trauer erfüllte. Darum hatte mich jene Szene mit dem spielenden Baby gleichwohl zu Tränen gerührt.

Mein Leben währte zwar ewig, doch ich selbst war nicht imstande, neues Leben zu schenken. Ich sah stets jung aus und war doch schon so alt. Der Kreislauf des Lebens spielte sich unentwegt um mich herum ab, ich selbst würde jedoch nie ein Teil davon sein können. War meine Unsterblichkeit also ein Segen oder ein Fluch? Ich wusste es nicht. Oftmals erschien es mir beides zugleich zu sein.

Überrascht stellte ich fest, wie recht Maddy hatte: Überlegungen wie diese zeugten davon, dass ich mich wohl tatsächlich in einer handfesten Sinnkrise befand.

Ich dachte an die Situationen, in denen ich Gefahr gelaufen war, mein Dasein schon vorzeitig beendet zu sehen. Da war das große Feuer damals in London, das Annexionsduell mit Ancoats, der Kampf mit den Sybarites beim Tribunal, das Attentat von Saint-Just auf mich, die Attacke des Ritter des Dan – meine Unsterblichkeit hatte bereits einige Male auf dem Prüfstand gestanden und letztendlich war ich doch froh, immer noch da zu sein.

Vielleicht sollte ich daher nicht so viele Gedanken auf die Dinge verschwenden, die mir versagt blieben, sondern lieber stattdessen die vielen Möglichkeiten nutzen, die ich hatte?

 

Ich setzte meinen Weg fort, durchstreifte weitere Wälder aus Steineichen und Weißkiefern, kargere Buschwälder mit Wacholder, Erdbeerbäumen und Zwergpalmen, schroffe Felslandschaften und bestieg schließlich den höchsten Berg Mallorcas, den Puig Major. Ich war somit im wörtlichen Sinne auf dem »Gipfel« meiner Wanderung angelangt und überlegte, ob sie mich wohl gleichermaßen auf den Gipfel der Selbsterkenntnis führen würde.

Die mich umgebende Naturkulisse bot einen atemberaubenden Anblick und ich begann mich zu fragen, warum ich eigentlich gerade aus meinem Leben solch ein Drama machte.

Na schön, es gab ein paar lose Enden in meinem Leben und ich hatte vieles von dem, was ich erreichen wollte oder mir wünschte, noch nicht erreicht. Aber schließlich hinderte mich ja niemand daran, es weiterhin zu versuchen.

Manches davon konnte ich gezielt in Angriff nehmen, anderes wiederum nicht. Ich würde einfach akzeptieren müssen, dass es auch zum Leben dazugehörte, sich einmal treiben zu lassen, da man nun mal nicht alles erzwingen konnte.

So störte es mich zum Beispiel zwar, dass es womöglich irgendwo auf diesem Erdball noch Sybarites gab, die weiterhin ihr Unwesen trieben, aber wollte ich deswegen die ganze Welt bereisen, um sie aufzustöbern und zu jagen? Das wäre wahrscheinlich nur schwer in die Tat umzusetzen. Über kurz oder lang würden sich meine Wege eines Tages vermutlich sowieso wieder mit den ihrigen kreuzen, so wie es mir ja letztendlich auch mit meinen Freunden ging. Ich musste dann nur bereit sein, den Kampf gegen die Sybarites in die nächste Runde gehen zu lassen.

Ähnlich verhielt es sich mit den Rittern des Dan. Ich hatte keinerlei Anhaltspunkte über ihren Ursprung, ihre Motive oder gar ihre Aufenthaltsorte. Also würde ich einfach abwarten müssen, bis ich Gelegenheit hätte, mehr über sie herauszufinden. Ich konnte versuchen, mit Hilfe der Münze, die sie bei sich trugen, mehr über ihren geheimen Orden herauszufinden, ebenso wie ich stets meine Augen und Ohren offen halten konnte, um etwaige Neuigkeiten von verbliebenen Sybarites zu erfahren. Aber ich würde trotzdem akzeptieren müssen, dass sowohl das eine als auch das andere Unterfangen zu großen Teilen von Glück und Zufall abhingen.

Solange ich mir nur vornahm, diese und weitere Ziele, wie zum Beispiel den Kampf für die Frauenrechte, nicht aus den Augen zu verlieren und mich bei der Verfolgung dieser Ziele in Geduld zu üben, bekäme ich vielleicht die Chance, den einen oder anderen Erfolg dabei mitzuerleben. In meiner Beziehung zu Giles geduldig zu bleiben, würde in dieser Hinsicht vermutlich das schwerste Vorhaben werden, doch bedeutete er mir viel zu viel, um es nicht wenigstens zu versuchen.

Jetzt wollte ich erst mal eine gewisse Zeit mit meinen Freunden verbringen, da sie schließlich ebenso einen sehr wichtigen Faktor in meinem Leben darstellten.

Ich ließ meinen Blick über die großartige Landschaft wandern und spürte förmlich, wie mir ein wenig leichter ums Herz wurde. Diese Wanderung hatte tatsächlich geholfen, mir über meine Ziele, Wünsche und Sehnsüchte klarzuwerden und so machte ich mich fast beschwingt an den Abstieg vom Puig Major.

 

Am Abend erreichte ich das Santuari de Lluc, einen von Priestern verwalteten Wallfahrtsort. Da man hier den Besuch von vielen Pilgern gewohnt war, bot man mir ein Lager zur Nacht an und ich nahm das freundliche Angebot an. Am nächsten Morgen ging es weiter bergab Richtung Pollença. Mein Weg führte mich nun durch liebliche Frühlingswiesen, vorbei an Mandelbäumen, einigen Feigenbäumen und Akazien und etlichen Fincas mit Wassermühlen.

Mittags erreichte ich schließlich Port de Pollença, ein kleines Fischerdorf an der Küste, um von dort aus ein Schiff zurück nach Port de Sóller zu nehmen.

Ich hatte jetzt insgesamt sechs Tage für meine Wanderung benötigt und war somit – entgegen Franciscos Rat – doch ein wenig schneller als mit menschlicher Geschwindigkeit auf Wanderschaft gewesen. Trotzdem hatte diese Zeit genügt, um meine Rastlosigkeit loszuwerden und einmal in Ruhe meine Gedanken zu sortieren.

 

Nachdem ich nunmehr einige Tage am Stück zu Fuß unterwegs gewesen war, gönnte ich mir von Port de Sóller aus eine Kutsche, die mich zurück nach Sóller und zu Franciscos Plantage brachte. Als ich vor seiner Finca ausstieg und den Kutscher entlohnte, bot sich mir ein seltsamer Anblick.

Ich sah Franciscos Kopf hinter seiner Hecke hervorragen und er schien förmlich dahinzugleiten. Stirnrunzelnd näherte ich mich der Finca. Francisco war zwar sehr groß, aber normalerweise war die Hecke ein wenig höher als er. Und diese eigenartig gleitende Bewegung war mir auch sehr schleierhaft. Ich ging um die Hecke herum und sah, wie Francisco stolz grinsend auf einem merkwürdigen, länglichen Drahtgestell saß, an dem jeweils vorne und hinten ein großes Rad befestigt war und das von ihm offenbar über Pedale vorwärtsbewegt wurde. Jetzt geriet er dabei etwas ins Straucheln und Maddy und Miguel, die ihn dabei beobachteten, wollten sich fast ausschütten vor Lachen.

»Was zum Teufel tust du da?«, fragte ich amüsiert. »Und was ist das für ein eigentümliches Gerät?«

Francisco, der mich bis dahin noch nicht bemerkt hatte, versuchte sich zu mir umzudrehen, geriet dadurch allerdings vollends aus dem Gleichgewicht und kippte mit dem rollenden Drahtgestell zur Seite, was Maddys und Miguels Lachen noch verstärkte. Kichernd kamen die drei dann auf mich zu und begrüßten mich.

»Das eigentümliche Gerät nennt sich Veloziped«, erklärte Maddy grinsend, während sie mich umarmte. »Francisco hat es heute Morgen geliefert bekommen und musste es unbedingt ausprobieren.«

»Aha, und wozu ist es gut?«, fragte ich neugierig.

»Zur Fortbewegung«, erklärte Francisco begeistert. »Man kommt damit wesentlich schneller voran als zu Fuß.«

»Aber wir sind doch sowieso schon recht schnell«, entgegnete ich zweifelnd.

»Aber mit dem Veloziped bist du noch schneller«, beharrte Francisco. »Willst du es einmal ausprobieren?«

Ich sah ihn skeptisch an. »Und mich dann genauso auf die Nase legen wie du eben?«

»Ach was, ich war nur ein wenig unachtsam«, wischte Francisco meinen Einwand beiseite. »Komm, ich zeige es dir.«

Er erklärte mir, dass das Veloziped wie ein Pferd einen Sattel hatte, auf den ich mich setzen musste, und einen Lenker, den ich beim Fahren festhalten musste, damit mir nicht dasselbe Schicksal widerfuhr wie ihm gerade. Ich setzte mich auf den Sattel und folgte seinen Anweisungen, während er das komische Drahtgestell festhielt. »Und nun musst du die Füße vom Boden lösen und in die Pedale treten«, wies er mich an und ließ das Veloziped los.

Ich spürte, wie ich zur Seite kippte.

»Los, Gemma, treten!«, feuerte Maddy mich an und ich trat in die Pedale. Das erste Stück rollte ich mit dem Gefährt sehr wackelig voran, also trat ich schneller und schon bald hatte ich den Bogen raus und flitzte mit dem Veloziped über Franciscos Grundstück, während die drei mir applaudierten.

»Das macht tatsächlich Spaß!«, stellte ich grinsend fest, als ich zu ihnen zurückkehrte und von dem »Drahtpferd« abstieg.

Francisco erwiderte mein Grinsen. »Sag ich doch.«

Dann hakte mich Maddy unter und führte mich ins Haus. »So, nun komm aber erstmal herein und erzähl uns, wie deine Wanderung so verlaufen ist. Du willst dir doch sicherlich erstmal was anderes anziehen.«

Nachdem ich mich erfrischt und umgezogen hatte, berichtete ich meinen Freunden von meiner Wanderung und den Erkenntnissen, die ich daraus gewonnen hatte. »Du hattest recht«, schloss ich und sah Francisco dankbar an, »es hilft tatsächlich, mal eine Zeitlang alleine zu sein und sich auf sich selbst zu besinnen.« Er lächelte mich aufmunternd an.

 

Und so verbrachte ich – wie ich es mir vorgenommen hatte – in der nächsten Zeit ein paar recht sorglose Jahre in der Gesellschaft meiner Freunde. Wir halfen Francisco bei der Orangen-Ernte, machten Segeltouren, gingen zusammen auf die Jagd, erkundeten gemeinsam die Insel. Letzteres auch immer öfter mit dem Veloziped, da Francisco inzwischen für uns drei weitere »Drahtpferde« bestellt hatte. Nicht jeder steinige Weg war allerdings für diese Art der Fortbewegung ausgelegt und so brachten wir alle vier immer wieder einige haarsträubende Stürze zustande, die bei einem Menschen sicherlich ernsthafte Verletzungen zur Folge gehabt hätten, bei uns hingegen nur unkontrollierte Heiterkeitsausbrüche auslösten.

1860 wurde unsere Stimmung allerdings ein wenig getrübt, da ein verheerender Schädling die Bäume und Früchte in der ganzen Region von Sóller zerstörte und somit die Haupteinnahmequelle aller Menschen dort vernichtete. Viele Bauern traf diese Krise so hart, dass sie die Region verließen und nach Lateinamerika auswanderten.

Für Francisco bedeutet dies zwar nicht den Ruin, da der Orangenanbau für ihn ohnehin mehr eine Freizeitbeschäftigung als eine wirtschaftliche Notwendigkeit war. Aber wir alle waren inzwischen schon wieder so lange auf Mallorca, dass unsere Alterslosigkeit jemandem auffallen konnte, und so brachen auch wir erstmal unsere Zelte ab, um für einige Zeit die Länder am Mittelmeer zu bereisen.

Literarisch

 

Ich wollte unsere Reise durch die Mittelmeerregion nutzen, um eventuell ein wenig über die Ritter des Dan beziehungsweise zunächst einmal über Geheimbünde und Geheimorden im Allgemeinen herauszufinden. Ich kannte mich so gut wie gar nicht in diesem Bereich aus, daher suchten wir einige berühmte alte Bibliotheken wie die Ambrosiana in Mailand und die Biblioteca Medicea Laurenziana in Florenz auf, um dort ein wenig zu forschen.

Doch je mehr ich recherchierte, desto undurchsichtiger erschien mir die Thematik. Ich erfuhr, dass es diverse religiöse Orden wie zum Beispiel die Tempelherren oder die Katharer gab, die bereits im Mittelalter entstanden waren, Geheimgesellschaften wie die Freimaurer und die Rosenkreuzer oder auch uralte Geheimbünde, die schon in der Antike gegründet worden waren. Sie alle hatten unterschiedliche Motive, hielten unterschiedliche Rituale ab und verfolgten unterschiedliche Ziele. Gemein war all diesen Gruppen zumindest, dass sie alle ihre Mitglieder zu absoluter Verschwiegenheit verpflichteten. Nun gut, das kannte ich auch von den Sybarites.

So, wie sich die Ritter des Dan uns gegenüber verhalten und geäußert hatten, ging ich davon aus, dass sie eher religiös motiviert waren, aber ich konnte nichts über sie herausfinden, weder über ihren Leitgedanken noch über ihren Ursprung.

Ein alter Bibliothekar in der Laurenziana-Bibliothek gab mir den Hinweis, es einmal in den Klöstern des heiligen Berges Athos in Griechenland zu versuchen, weil in den dortigen Bibliotheken sehr seltene und antike Schriften aufbewahrt würden. Obgleich ich nicht wusste, ob die Wurzeln der Ritter des Dan wirklich so weit zurückgingen, wollte ich den Versuch dennoch gerne starten. Da nach Aussage des Bibliothekars jedoch Frauen der Zutritt zu allen Klöstern von Athos streng verboten war, würden Maddy und ich uns einmal mehr als Männer verkleiden müssen, doch darin hatten wir ja mittlerweile schon einige Übung.

Zu meinem Erstaunen wurde ich auf dem Berg Athos in einer Kloster-Bibliothek tatsächlich fündig und entdeckte auf einem alten Pergament ein exaktes Abbild jener Münze, die die Ritter des Dan damals in London bei sich getragen hatten: Der siebenzackige Stern mit dem Schwert darunter, umrandet von einer kreisförmigen Kette. Die Bezeichnung »Ritter des Dan« fehlte, aber der Schriftzug »Angeli Delentes«, »Zerstörende Engel«, war ebenfalls vorhanden. Das Pergament war datiert auf die Regierungszeit des achämenidischen Königs Kambyses II., laut Auskunft des Mönches, der der Bibliothek vorstand, entsprach dies in unserer Zeitrechnung etwa dem Zeitraum zwischen 529 v. Chr. und 522 v. Chr.

Verfasst war das Pergament in Altgriechisch, einer Sprache, die ich nicht beherrschte, doch da Maddy ja einst in Oxford einen Abschluss in Griechisch gemacht hatte, konnte sie mir ein wenig weiterhelfen. Stirnrunzelnd beugte sie sich über die alte Schrift. »Also, wenn ich es recht verstehe, steht hier, dass die Ritter des Dan die Leibgarde des Chaldäer Daniel waren, welcher am Hofe des babylonischen Königs Nebukadnezar II. diente«, versuchte sie zu übersetzen. »Sie verpflichteten sich auf Leben und Tod, sowohl die Unversehrtheit als auch seine gerechte Lehre zu schützen und zu verteidigen.«

»Der Prophet Daniel?«, fragte ich erstaunt. »Aber was hat das mit uns zu tun? Steht da auch was über Vampire?«

»Meine Griechisch-Kenntnisse reichen leider nicht aus, um den kompletten Text zu übersetzen«, erklärte Maddy entschuldigend. »Vielleicht sollten wir eine Abschrift des Pergaments anfertigen und sie einmal jemandem vorlegen, der eventuell etwas mehr davon versteht.« Das hielt ich für eine gute Idee und so fertigten wir eine genaue Kopie des Dokumentes inklusive aller Daten, Texte und Zeichnungen an und nahmen sie mit.

Wir suchten auf unserer Reise noch weitere alte Bibliotheken auf, doch unser Fund auf dem Berg Athos blieb vorerst der einzige Hinweis auf die Ritter des Dan, den wir fanden.

 

Ich berichtete auch Fergus, zu dem ich in jenen Jahren immer Briefkontakt gehalten hatte, von dem Pergament über die Ritter. Fergus war tatsächlich in die Neue Welt gereist, hatte nahezu die gesamten Vereinigten Staaten durchquert und sich im Westen unter anderem mit einigen schießwütigen Cowboys angelegt, bis er schließlich wieder in New York gelandet war. Dort hatte er – wie ich zu meiner Überraschung lesen musste – Giles wiedergetroffen, welcher mit ihm vereinbart hatte, 1890 gemeinsam mit ihm nach London zurückzukehren und ihn zu dem Treffpunkt mit mir auf der Kuppel der St. Paul’s Cathedral zu begleiten.

Gemischte Gefühle bestürmten mich, als ich diese Nachricht las. Einerseits hatte ich Giles schrecklich vermisst und freute mich daher unbändig, ihn wiederzusehen. Andererseits hatten wir vor unserer Trennung etliche Dispute gehabt und uns darum zwar halbwegs friedlich, aber nicht sonderlich liebevoll voneinander getrennt. Was, wenn seine Gefühle mittlerweile erkaltet waren? Er wollte Fergus zwar zu dem Treffpunkt mit mir begleiten, aber warum erfuhr ich das nur durch Fergus? Wieso hatte er mir das nicht selbst geschrieben? Meine Adresse hätte er ja schließlich von Fergus erhalten können.

 

Ich hatte noch ein halbes Jahr Zeit bis zu jenem geplanten Treffpunkt, deshalb beschloss ich, schon mal nach London zurückzukehren, um mir ein neues Domizil zu suchen und mich dort wieder einzurichten. Maddy und Miguel kamen mit, da Maddy Heimweh nach England hatte und sie beide Fergus auch gerne einmal kennenlernen wollten. Francisco hingegen zog es zurück nach Mallorca.

Das gemeinsame Stadthaus von Giles und mir am Berkeley Square hatten wir beide damals verkauft, obwohl es sehr raffiniert eingerichtet war. Aber es erschien uns praktischer und obendrein unauffälliger, bei einer Rückkehr lieber eine neue Bleibe zu suchen.

Da ich ja nicht wusste, wie es um Giles und mich stand, mietete ich mir vorerst nur eine Wohnung in der Nähe des Holland Parks. Gegebenenfalls konnten Giles und ich uns später immer noch ein gemeinsames Haus kaufen. Meine Wohnung war sehr fortschrittlich eingerichtet und besaß bereits elektrisches Licht sowie einen Telefonanschluss, wenngleich ich nicht wusste, wen ich hätte anrufen sollen, da niemand sonst, den ich kannte, ein Telefon hatte.

 

Einmal mehr war ich fasziniert davon, wie sich meine Heimatstadt in der Zwischenzeit gewandelt hatte. In fast allen großen Straßen gab es mittlerweile Straßenbeleuchtung, teilweise noch mit Gaslaternen, teilweise sogar schon elektrisch. Wieder waren viele neue und prachtvolle Gebäude hinzugekommen, wie zum Beispiel der gläserne Crystal Palace in Lewisham, der riesige Rundbau der Royal Albert Hall, die für Symphoniekonzerte errichtet worden war, neue Museen wie die National Gallery am ebenfalls neu errichteten Trafalgar Square oder das fast schon monumentale Victoria and Albert Museum mit seinen unzähligen interessanten Sammlungen. Noch nicht ganz fertig, aber dennoch bereits sehr beeindruckend war des Weiteren die Tower Bridge, die als Klappbrücke konzipiert war, um auf der Themse größere Schiffe durchzulassen.

Der Londoner Verkehr hatte sich ebenfalls merklich verändert. Das Eisenbahnnetz war massiv erweitert worden und mittlerweile gab es sogar eine Untergrundbahn, die Metropolitan Railway, die unterhalb der Erde fuhr und deren geräumige Waggons von Gaslaternen erhellt wurden. So war es mir nun möglich, diverse Stadtteile in relativ kurzer Zeit zu erreichen, ohne dabei meine doch etwas auffällige Vampirgeschwindigkeit einsetzen zu müssen.

Allerdings empfahl es sich auch tunlichst, diese Verkehrsmittel zu benutzen, denn oberirdisch waren die Straßen der Innenstadt zumeist fast noch stärker verstopft als in den vorherigen Jahrhunderten. Allein die Ecke Tottenham Court Road und Oxford Street passierten täglich Hunderte von Pferden gezogene Omnibusse, hinzu kamen zahlreiche Droschken und Heerscharen von Fußgängern auf dem Weg zur Arbeit.

Überhaupt kam mir London noch wesentlich bevölkerter vor als je zuvor, was daran lag, dass jährlich zehntausende Menschen aus ganz Großbritannien sowie anderen europäischen Ländern und sogar aus China und Indien hinzuzogen, weil sie sich hier eine Beschäftigung und Wohlstand erhofften. Dadurch dehnte sich London immer mehr aus, unzählige Vororte entstanden.

Zwar fanden viele der Einwanderer Arbeit, vor allem in den großen Stahl- und Baumwollfabriken. Da dort allerdings nur ein Hungerlohn gezahlt wurde, war Wohlstand nur den wenigsten beschieden. Ein Drittel der Einwohner lebte in Armut, viele verdingten sich als Tagelöhner, Frauen und Kinder schufteten ebenfalls in den Fabriken, um die Familie zu ernähren, die Elendsviertel wuchsen. Vor allem in den Slums im Süden und Osten der Stadt waren die Zustände besonders schlimm. Aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen gab es mehrere gewalttätige Streiks.

Im krassen Gegensatz dazu stand die Londoner Oberschicht, die im West End und der City die neuesten Moden aus Paris vorführte, auf der Regent Street flanierte und in modernen Kaufhäusern, wie dem von Charles Henry Harrod gegründeten Warenhaus, dem luxuriösen Kaufrausch frönte.

Königin Victoria, die den Thron bereits bestiegen hatte, bevor ich damals London verließ, und immer noch fest »im Sattel saß«, hatte sich um diese sozialen Gegensätze nie sonderlich gekümmert, sondern stattdessen zeit ihres Lebens ein größeres Interesse an der Außenpolitik und der Ausdehnung ihres Reiches gehegt. Unter ihrer Herrschaft war Großbritannien zu einem Weltreich mit mehr Kolonien als je zuvor geworden, seit 1877 führte die Königin sogar zusätzlich den Titel Kaiserin von Indien.

 

Immerhin hatte sich inzwischen hinsichtlich der Gleichberechtigung der Frauen ein bisschen was getan. Es gab mit dem von Emily Davies gegründeten College for Women ein erstes Frauencollege und auch an der University of London war es Frauen mittlerweile erlaubt zu studieren. Des Weiteren durften Frauen nun auch als Ärztinnen praktizieren, wenngleich sie dabei immer noch auf heftigen Widerstand ihrer männlichen Berufskollegen stießen. Darüber hinaus hatten sich zunehmend neue Dienstleistungsberufe entwickelt, die jetzt auch Frauen Bürotätigkeiten ermöglichten.

Maddy war über die veränderte Bildungssituation natürlich begeistert und schrieb sich sofort an der medizinischen Fakultät der University of London ein, während Miguel am angegliederten King’s College Philosophie studierte.

Wählen durften Frauen allerdings nach wie vor nicht, ein Missstand, den verschiedene Organisationen wie zum Beispiel die National Society for Women’s Suffrage vehement zu bekämpfen versuchte. Jene Gesellschaft war 1867 von Lydia Becker gegründet worden und ich schloss mich ihr schon bald an, um meinen vor über 90 Jahren begonnen Kampf für die Frauenrechte wieder aufzunehmen. Durch die Frauen, die ich dort kennenlernte, knüpfte ich neue Kontakte zu progressiven und feministischen Magazinen wie den Englishwoman’s Review, für die ich fortan Artikel schrieb. Unsere konservative Königin Victoria erachtete solche Emanzipationsbestrebungen jedoch als »gefährlich, unchristlich und unnatürlich«. Dem Premierminister William Gladstone erklärte sie diesbezüglich: »Die Königin ist selbst eine Frau und weiß, wie anormal ihre eigene Stellung ist.«

Ich versuchte darüber hinaus weiterhin, meine Recherche bezüglich geheimer Gesellschaften im Allgemeinen und den Rittern des Dan im Besonderen fortzusetzen. Miguel konnte mir hierbei schließlich aufgrund seiner Kontakte an der Philosophischen Fakultät weiterhelfen, da einer seiner Studienkollegen bereits mehrere Semester Altgriechisch studierte und ihm versprach, mal einen Blick auf das Pergament zu werfen, welches ich in der Kloster-Bibliothek des Berges Athos kopiert hatte.

Miguels Kommilitone bestätigte Maddys Übersetzung von den Rittern des Dan als Leibgarde des Propheten Daniel und als Bewahrer seiner Lehre und ergänzte, dass laut jenem Dokument die größten Feinde besagter »gerechten Lehre« Daniels die »Höllenkinder« und die »Etemmu« seien und dass die Vernichtung jener Feinde oberstes Gebot jedes Ritters des Dan sei.

Der Kommilitone sah mich neugierig an. »Ein eigenartiges Schriftstück, vor allem da es in Altgriechisch verfasst ist und nicht in Babylonisch oder Assyrisch. Woher haben Sie es?«

»Aus einer griechischen Kloster-Bibliothek«, antwortete ich ihm, »und womöglich ist es bereits eine Übersetzung eines anderen Dokumentes.«

»Und Sie beschäftigen sich also mit Altertumsforschung?«, fragte er interessiert. »Haben Sie eine Idee, wer mit den ›Höllenkindern‹ und den ›Etemmu‹ gemeint sein kann?«

Ich warf Miguel einen flüchtigen Blick zu, den dieser vielsagend erwiderte. »Ich habe leider nicht die leiseste Ahnung«, antwortete ich dem Kommilitonen mit bedauerndem Lächeln.

Nachdem er gegangen war, sahen Maddy, Miguel und ich uns an. »Höllenkinder und Etemmu«, fragte Maddy stirnrunzelnd, »sollen wir damit gemeint sein?«

Ich zuckte nur ratlos mit den Schultern. »Du hast nicht zufällig noch einen Studienfreund, der sich auch mit babylonischer Geschichte auskennt?«, fragte ich Miguel mit schiefem Lächeln.

»Leider nein«, bekannte er.

 

Ein paar Tage später berichtete uns Miguel aber dann doch noch von einem weiteren Studienkollegen, der mir allerdings möglicherweise auf andere Art und Weise behilflich sein konnte. Der Kommilitone hieß Hamilton Bannings und war sowohl Miguel als auch anderen Studienkollegen durch sein schrulliges Faible für das Okkulte aufgefallen.

»Man munkelt, dass Bannings einem geheimen Orden angehört, der sich mit magischen Ritualen beschäftigt«, erzählte Miguel grinsend. »Wenn du möchtest, könnte ich euch ja mal miteinander bekanntmachen. Wenn du vorgibst, sein Interesse zu teilen, lädt er dich ja vielleicht einmal ein, und du kannst etwas mehr über solche Geheimgesellschaften herausfinden.«

»Das könnte zwar ganz amüsant sein, aber nach allem, was ich inzwischen darüber weiß, sind Frauen bei solchen Gesellschaften gar nicht zugelassen«, gab ich zu bedenken.

Miguel zwinkerte mir zu. »Wer sagt denn, dass du als Frau auftreten solltest? Ich könnte dich doch als meinen guten Freund ›Gerald‹ vorstellen, schließlich würdest du diese Rolle nicht das erste Mal spielen.«

»Mich als Mann auszugeben, war aber noch etwas einfacher, als viele deiner Geschlechtsgenossen ihr Haar ebenso lang getragen hatten wie wir unseres«, entgegnete ich zweifelnd. »Inzwischen tragen alle Männer ihr Haar schon seit einiger Zeit kurz. Ich könnte zwar einen Hut tragen, aber wenn ich ihn drinnen dann nicht abnehmen würde, wäre das auch wiederum auffällig.«

»Und wenn wir dein Haar abschneiden?«, schlug Maddy vor.

Ich sah sie entsetzt an.

»Nicht so kurz wie das von Miguel«, beeilte sich Maddy sofort hinterher zuschieben, »aber vielleicht so auf Schulterlänge, viele Dandys tragen es heutzutage noch in dieser Länge. Und es würde bei dir ja auch gar nicht so sehr auffallen, weil du es nach der derzeitigen Mode ja sowieso immer hochgesteckt trägst.«

 

Die Aussicht, acht Zoll meines Haares zu opfern, begeisterte mich zwar nicht sonderlich, aber meine Neugierde war dann doch stärker. Und so ließ ich es zu, dass Maddy mein Haar abschnitt, schlüpfte in einen klassisch eleganten Anzug aus Cutaway, Weste, gerade geschnittenen Hosen und Krawattenschal und begleitete Miguel in seinen Herrenclub, wo er mich mit Hamilton Bannings bekanntmachte.

Bannings trug sein Haar sogar noch etwas länger als ich, sein Anzug war auffallend eng geschnitten, und wenn mich nicht alles täuschte, hatte er darüber hinaus ein wenig Puder benutzt.

Ich sah an Miguels funkelnden Augen, dass er ein Grinsen unterdrückte, als er mich Bannings als »Sir Gerald Galveston« vorstellte.

»Der gute Miguel erzählte mir, dass Sie sich auch für das Übersinnliche interessieren?«, eröffnete Bannings mit einer für einen Mann erstaunlich hellen Stimme das Gespräch, während Miguel hinter ihm bei den Worten »guter Miguel« mit den Augen rollte. »Beschäftigen Sie sich schon länger damit?«

»Erst seit kurzem«, versetzte ich, »aber in mir ist die Überzeugung gereift, dass es zwischen Himmel und Erde doch noch mehr Dinge geben muss, als sich der unbedeutende Verstand eines einfachen Erdenbürgers vorzustellen vermag. Es liegt eine große Weisheit in vielen alten Mythen und es ist an uns, diese Weisheit zu erkennen und sie verantwortungsvoll zu nutzen.«

Miguel kaschierte einen angesichts meines Geschwätzes aufkommenden Lachanfall mit einem plötzlichen Husten und ich warf ihm einen warnenden Blick zu. Selbstverständlich gab es mehr Dinge, als sich die meisten Menschen vorzustellen vermochten, immerhin waren Miguel und ich der lebende – oder wenn man so wollte: der »untote« – Beweis dafür. Doch Bannings war offenbar ein typischer Vertreter jener schwärmerischen Anhänger alles vermeintlich Mystischem.

Daher schien er auch voll und ganz meiner Ansicht zu sein. »Das ist wohl gesprochen, Galveston!«, lobte er mich. »Gibt es denn bestimmte Mythen, die es Ihnen ganz besonders angetan haben?«

»Vor allem die altägyptische Mythologie fasziniert mich«, antwortete ich ernsthaft, da ich von Miguel wusste, dass dies Bannings’ Steckenpferd war, »sie schafft es wie keine andere, die kosmische Ordnung und die irdische Gerechtigkeit miteinander in Einklang zu bringen.«

Bannings strahlte mich begeistert an. »Alter Knabe, ich hätte es nicht treffender formulieren können. Hatten Sie denn schon mal Kontakt zu entsprechenden Zirkeln?«

»Leider nein«, schüttelte ich bedauernd den Kopf. »Ich bin mit meinen Ansichten bislang nicht auf sonderlich viel Verständnis gestoßen.«

Bannings sah sich vorsichtig um, dann beugte er sich verschwörerisch zu mir herüber. »Man muss heutzutage leider sehr aufpassen, mit wem man über diese Dinge spricht«, wisperte er. »Viele Leute sind schrecklich engstirnig und ablehnend gegenüber Magie und Mysterien eingestellt.«

»Philister!«, bekräftigte ich abschätzig.

Bannings nickte zustimmend. »Aber nicht alle denken so«, fügte er feierlich hinzu. »Zufällig habe ich sehr gute Kontakte zu Kreisen, die die kosmische Wahrheit jener uralten Mythen entschlüsselt haben und deren weise Lehren und machtvolle Kräfte für sich zu nutzen wissen. Die Welt der Magie steht jenen offen, die Manns genug und bereit sind, sie zu betreten!«

»Oh, ich wäre mehr als bereit!«, heuchelte ich Begeisterung.

Erfreut, mich offenbar geködert zu haben, musterte Bannings mich selbstgefällig. »Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann!«

 

Eine knappe Woche später erhielt »Sir Gerald Galveston« einen Brief, in dem er vom »Heiligen Tempel der Göttin Isis« dazu aufgefordert wurde, sich um Punkt zwölf Uhr nachts des darauf folgenden Tages bei der Nadel Kleopatras, einem alten ägyptischen Obelisken, der Großbritannien von der ägyptischen Regierung geschenkt worden war, am Victoria Embankment am Nordwestufer der Themse einzufinden. Dort würden mich dann zwei Tempeldiener abholen und zur »heiligen Stätte« führen, damit ich die »Jünger der Göttin Isis« dort von meiner aufrichtigen Gesinnung und meinem offenen Herzen überzeugen und mich so gegebenenfalls als würdiger Anwärter auf die Mitgliedschaft erweisen konnte.

Als ich den vereinbarten Treffpunkt in der nächsten Nacht aufsuchte, stand dort zu meinem Erstaunen bereits ein Mann. Er war recht groß, hatte rötlich-braunes Haar und trug einen Bart. Ich fragte mich, ob er wohl einer jener im Brief erwähnten Tempeldiener war, doch der Umstand, dass er mich ebenso misstrauisch musterte wie ich ihn, sprach eher dagegen.

In dem Moment tauchten zwei weitere Männer in langen Mänteln und Halbmasken auf und mir dämmerte, dass der Bärtige offenbar wie ich ein Mitgliedsanwärter war. Die beiden Tempeldiener zogen zwei feingewebte Leinensäcke hervor und bedeuteten uns, uns diese über den Kopf zu ziehen. »Der Weg zum heiligen Tempel wird euch erst dann offenbart werden, wenn ihr euch der Mitgliedschaft würdig erwiesen habt!«, erklärte einer der beiden mit dumpfer Stimme.

Solchermaßen vorübergehend der Sehkraft beraubt, wurden wir daraufhin von den beiden Tempeldienern durch die nächtliche Stadt geführt. Dank meiner außerordentlich verstärkten Sinne gelang es mir ganz gut, sämtliche Geräusche und Gerüche dieser Strecke zu interpretieren, so dass ich dennoch ein recht sicheres Gespür dafür bekam, wo sie uns hinführten.

Wir gingen noch eine kurze Zeit lang westwärts an der Themse entlang, bogen dann rechts ab, überquerten bald darauf den Trafalgar Square und erreichten schließlich über ein paar Seitenstraßen die Piccadilly. Auf das Klopfzeichen unserer Begleiter hin öffnete man uns eine knarzende und offensichtlich schwere Holztür und führte uns über mehrere Gänge und Treppen offenbar in ein Gewölbe. Alsdann zog man uns die Leinensäcke vom Kopf.

Ich sah mich um und empfand eine Art Déjà-vu. Vor fast zweihundert Jahren hatte ich mich bereits einmal um die Mitgliedschaft in einer obskuren Gemeinschaft beworben und war zu jenem Zweck gleichfalls in ein Gewölbe geführt worden.

Damals wie heute stand ich in einem großen Saal, der von unzähligen Kerzen und Fackeln beleuchtet wurde. Zwar gab es heutzutage mittlerweile elektrisches Licht, doch unterstützte der Fackelschein die geheimnisvolle und feierliche Atmosphäre natürlich wesentlich besser.

Es gab allerdings einen großen Unterschied: Während meine Freunde und ich uns damals bei den Aufnahmefeierlichkeiten der Sybarites den erwartungsvollen Blicken einer Meute dekadenter Vampire gegenübersahen, standen der bärtige Mit-Anwärter und ich nun inmitten einer Gruppe von maskierten und kurios kostümierten Menschen. Sie trugen allesamt cremefarbene knöchellange Wickelröcke und darüber kurze, bis zur Taille reichende Umhänge in demselben Ton. Ihre Gesichter waren von Halbmasken bedeckt und ihr Haar von bis auf die Schultern fallenden Tüchern. In der Mitte stand offenbar ihr Anführer, anstelle eines Tuches trug er auf dem Kopf eine eigenartige Krone, die wie ein metallenes Kuhgehörn mit einer Scheibe darin aussah.

Zwischen ihm und uns stand ein von zwei ägyptischen Säulen getragener Rundbogen.

Die beiden Tempeldiener, die uns hergeführt hatten, stellten sich jetzt neben den Anführer und begannen in einem Singsang zu sprechen, wobei sie sich jeweils Satz für Satz abwechselten.

»Dies ist der Heilige Tempel der Göttin Isis.«

»Er ist der Hort ihrer unendlichen Güte, ihrer kosmischen Allmacht und ihrer vollkommenen Weisheit.«

»Ihr seid gekommen, um den Bund mit den Jüngern der Isis einzugehen und die ehrenvolle Bürde zu tragen, alle Geheimnisse dieses Tempels für alle Ewigkeit zu wahren.«

»Dafür wird euch die unermessliche Ehre des Arkanums zuteil, ihr werdet den Pfad zu Glück und Unsterblichkeit beschreiten und das Geheimnis allumfassender Weisheit erfahren.«

»Der Hohepriester des Tempels wird nun zu euch sprechen.«

»Seid ihr bereit, die Weihen zum Tempeljünger zu empfangen?«, fragte daraufhin der Anführer mit der komischen Krone laut.

Der Bärtige und ich antworteten mit einem festen »Ja!«.

»Dann sprecht mir nach!«, forderte der Hohepriester uns auf. »Ich verpflichtete mich, bei allem, was mir heilig ist, die Geheimnisse dieses Ortes für alle Ewigkeit zu wahren …«

Wir sprachen es ihm nach.

»… ich werde der Göttin Isis ein demütiger Diener sein und frohlockenden Herzens ihre Weihe empfangen …«

Wir wiederholten es.

»… ich entsage allen meinen bisherigen kleinmütigen Lehrmeinungen und akzeptiere fortan einzig die universelle Wahrheit des Tempels und die mystische Kraft der Isis.«

Auch das wiederholten wir.

Dann berührte der Hohepriester mit einer Art Zepter den vor uns stehenden Rundbogen, woraufhin sich zu meiner Überraschung kleine Flammen daran entlang zu züngeln begannen, ohne dass der Bogen dabei allerdings verbrannte. »Nun durchschreitet das Tor in euer neues Leben!«, forderte er uns auf.

Wir taten wie uns geheißen und schritten durch den schwach brennenden Rundbogen.

In dem Moment nahmen alle umstehenden Jünger ihre Masken ab. Ich warf einen neugierigen Blick in die Runde. Keine Ahnung, was ich erwartet hatte, aber sie wirkten eigentlich alle sehr durchschnittlich auf mich. In einer Ecke entdeckte ich Hamilton Bannings, der mir verstohlen mit dem kleinen Finger zuwinkte.

Der Hohepriester wandte sich mir nun zu und legte mir ein Tuch über die Haare, wie es auch die anderen Jünger trugen. »Gerald Galveston, du bist jetzt wiedergeboren als ›Maged, der Noble‹. Trage diesen Namen in Ehren und erweise dich ihm als würdig.«

Anschließend drehte er sich zu dem Bärtigen um und wiederholte die Prozedur mit dem Tuch. »Abraham Stoker, du bist jetzt wiedergeboren als ›Babak, das Väterchen‹. Trage diesen Namen in Ehren und erweise dich ihm als würdig.«

Damit war der offizielle Teil der Zeremonie beendet und der Hohepriester führte uns herum, um uns den anderen Jüngern vorzustellen.

 

Maddy und Miguel warteten zu Hause in meiner Wohnung, um zu erfahren, wie meine Aufnahme im »Heiligen Tempel der Göttin Isis« abgelaufen ist.

»Und wo befindet sich nun dieser Tempel?«, begann Maddy neugierig.

»In einem Kellergewölbe unterhalb der Egyptian Hall«, antwortete ich grinsend. Die Egyptian Hall war ein Museum und eine Veranstaltungshalle für Kunstausstellungen in der Piccadilly und hatte eine einem ägyptischen Tempel nachempfundene Fassade.

»Na, das passt ja«, lachte Maddy. »Und was treiben die so?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Allem Anschein nach vorwiegend reichlich viel Hokuspokus.« Ich berichtete den beiden von der Kostümierung der Mitglieder und von der Zeremonie.

Den Trick mit dem brennenden Rundbogen fand Maddy sehr interessant. »Möglicherweise war etwas Salpeter an der Spitze des Zepters angebracht und der Rundbogen mit einer leichtentzündlichen Substanz präpariert«, überlegte sie.

»Zumindest war es ein eindrucksvoller Effekt«, bestätigte ich schmunzelnd. »Solche Effekte und Spielereien scheinen bei den Jüngern des Isis-Tempels im Vordergrund zu stehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mit einem geheimen Orden wie den Rittern des Dan sonderlich viel gemein haben. Aber vielleicht finde ich ja bei der nächsten Zusammenkunft etwas mehr heraus.«

»Wann findet die denn statt?«, fragte Miguel.

»In 14 Tagen«, antwortete ich.

 

Doch zuvor stand am nächsten Tag ein anderer Termin an, dem ich mit weitaus mehr Spannung und Aufregung entgegengefiebert hatte: mein Wiedersehen mit Fergus und Giles auf der Kuppel der St. Paul’s Cathedral. Es war jetzt auf den Tag genau 50 Jahre her, seit Fergus und ich uns dort oben voneinander verabschiedet hatten und darum bestieg ich nach Anbruch der Dämmerung erwartungsvoll die Kathedrale. Obwohl Maddy und Miguel sich ebenso auf Giles freuten und auf Fergus sehr neugierig waren, wollten sie lieber in meiner Wohnung auf uns alle warten, damit ich die beiden erst mal für mich alleine hatte.

Ich saß in gespannter Erwartung auf dem Kuppeldach der Kathedrale und betrachtete am Horizont die glutroten Streifen der untergehenden Sonne, als ein wohlbekannter schriller Schrei den emporquellenden Lärm aus den immer noch verstopften Straßen durchschnitt. Kurz darauf sah ich den vertrauten Gerfalken auf mich zugleiten. Ich erhob die Hand zum Gruß, den er mit einem weiteren Schrei erwiderte, dann umkreiste er im eleganten Flug einmal die Kuppel und tauchte zwischen den Häusern ab.

Sekunden später kam Fergus in Menschengestalt zu mir heraufgeklettert. Mein freudiges Lächeln erlosch, als ich den Ausdruck auf seinem Gesicht sah.

»Giles wird nicht kommen«, stellte ich tonlos fest. Es war keine Frage, denn der mitfühlende Blick in Fergus’ ernstem Gesicht ließ keinen Zweifel daran.

Binnen Sekunden legte sich eine eiserne Klammer um mein Herz und der Sonnenuntergang erschien mir mit einem Mal schal und freudlos. Fergus setzte sich neben mich und nahm tröstend meine Hand in seine. »Er hat es sich wohl anders überlegt?«, fragte ich mit brüchiger Stimme.

Fergus machte eine verlegene Geste. »Ich verstehe das selbst nicht so genau«, bekannte er ratlos. »Als ich ihn in New York traf, war er ganz begeistert von der Idee, mit mir gemeinsam zurückzukehren und dich hier wiederzutreffen. Er sagte, dass er zuvor noch ein paar Dinge zu erledigen hätte, wollte sich aber eine Woche, bevor unser Schiff nach London ablegte, mit mir treffen, um alles für die Rückreise vorzubereiten. Er erschien aber nicht am vereinbarten Treffpunkt. Ich wartete eine Weile, schließlich begann ich, ihn zu suchen. Ich durchsuchte ganz New York, am Boden und von der Luft aus. Giles war spurlos verschwunden.«

»Offenbar hatte er seine Pläne geändert«, bemerkte ich brüsk. Dann holte ich tief Luft und zwang mich zu einem Lächeln. Fergus war ein treuer Freund. Ich wollte es nicht zulassen, dass unser Wiedersehen durch Giles’ Unzuverlässigkeit getrübt wurde.

»Nun musst du mir aber erzählen, was du in all den Jahren so erlebt hast. Deine Briefe klangen ja zum Teil sehr abenteuerlich«, erklärte ich betont fröhlich. »Allerdings würde ich vorschlagen, dass wir zuerst meine Freunde Maddy und Miguel aufsuchen, damit du nicht alles doppelt berichten musst. Sie sind schon ganz gespannt auf dich.«

 

Als ich mit Fergus in meine Wohnung kam, begrüßten Maddy und Miguel ihn sehr herzlich. Maddy sah kurz suchend hinter uns, dann bemerkte sie meinen Gesichtsausdruck und drückte nur wortlos meine Hand. Ich war froh, dass sie mich so gut kannte und keinerlei Aufhebens davon machte, dass Giles offensichtlich nicht bei uns war.

Die restliche Nacht unterhielten wir uns angeregt und erzählten einander, was wir in den letzten 50 Jahren so erlebt hatten. Fergus berichtete von allerlei abenteuerlichen Erlebnissen in der Neuen Welt, doch am allermeisten interessierte Maddy und Miguel natürlich seine Fähigkeiten als Gestaltwandler.

»Würdest du es uns irgendwann einmal zeigen?«, fragte Maddy mit leuchtenden Augen. Die drei verstanden sich großartig, deswegen waren sie recht schnell zum vertrauten »Du« übergegangen.

»Gerne«, antwortete Fergus schmunzelnd. »Wir können morgen ja alle zusammen auf die Jagd gehen und dann bekommt ihr eine kleine Kostprobe.«

Maddy und Miguel waren begeistert von seinem Vorschlag und so war es beschlossene Sache.

 

Wir trafen uns im Epping Forest zu Jagd und das rief in mir alte Erinnerungen wach, denn das letzte Mal hatte ich hier gemeinsam mit Giles gejagt. Ich war dankbar dafür, dass meine Freunde über Giles’ Abwesenheit keine Worte verloren, aber dennoch fiel es mir schwer, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich dieser Umstand bedrückte.

Offenbar hatte ich mit meiner Befürchtung, dass seine Gefühle für mich erkaltet waren, recht gehabt. Dieser Gedanke hatte in mir einen rücksichtslos tobenden und gleichwohl unfassbar kalten Schmerz ausgelöst. Ich hasste dieses Gefühl, doch ich war nicht imstande, etwas dagegen zu tun.

Maddy ahnte wohl, wie es in meinem Inneren aussah, denn sie warf mir öfter einen prüfenden Blick zu, während wir ein Stückchen hinter Fergus und Miguel durch die Wälder des Epping Forest spazierten.

»Du willst nicht darüber sprechen, nicht wahr?«, fragte sie schließlich teilnahmsvoll.

»Es gibt nichts zu sagen«, presste ich zwischen den Zähnen hervor.

»Denkst du nicht vielleicht, dass …«, begann sie vorsichtig.

»Nein!«, unterbrach ich sie barsch. »Es spielt keine Rolle, was ich denke. Er hat seine Entscheidung getroffen und er hat sie mir durch sein Fernbleiben mehr als deutlich mitgeteilt.«

Maddy schwieg betreten.

Ich hatte Fergus ja schon einmal bei seiner Verwandlung zugesehen, doch es war trotzdem nach wie vor ein faszinierendes Schauspiel.

Maddy und Miguel beobachteten sprachlos, wie Fergus über eine Lichtung rannte, sein Körper dabei immer schmaler und kleiner wurde, während sich gleichzeitig seine Züge verformten, seine Kleidung zu Boden rutschte, Federn aus seiner Haut wuchsen und er schließlich nach vollendeter Verwandlung mit einem eleganten Flügelschlag in die Lüfte emporstieg.

»Das ist grandios!«, flüsterte Miguel beeindruckt.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752124767
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Dezember)
Schlagworte
Historischer Vampirroman Freundschaft Vampirroman Vampirjäger New Orleans Vampire unsterblich Fantasy Urban Fantasy Historisch Abenteuer Reise Romance

Autor

  • Hope Cavendish (Autor:in)

Hope Cavendish schreibt in verschiedenen Genres – doch egal, ob nun Vampire oder Menschen die Protagonisten in ihren Büchern sind, das Menschliche steht in ihren Geschichten im Vordergrund. In Braunschweig aufgewachsen, lebt Hope mittlerweile schon seit vielen Jahren im Ruhrgebiet und liebt es, ihre Leser mit ihren Büchern in andere Welten entführen zu dürfen.
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Titel: Zeitgenossen - Pakt mit den Rittern des Dan (Bd. 3)