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Kruento - Der Schleuser

von Melissa David (Autor:in)
392 Seiten
Reihe: Kruento, Band 5

Zusammenfassung

Eine Vampirin auf der Flucht, ein einsilbiger Schleuser und Gefühle, die alles durcheinanderbringen.

Delina soll den brutalen Blutfürsten der Sjüten heiraten und erkennt mit Entsetzen, welch schreckliches Schicksal ihr mit dieser Verbindung bevorsteht. Als ihr überraschend die Chance zur Flucht angeboten wird, ergreift sie diese kurzerhand und flieht Hals über Kopf in die USA. Thor, der wortkarge Schleuser des Bostoner Clans, stellt sie unwillig und nur dank eines mächtigen Fürsprechers unter seinen persönlichen Schutz. Abgeschreckt und fasziniert zugleich, merkt Delina schnell, dass mehr in Thor steckt, als der einsilbige, dunkelhäutige Krieger preisgeben will. Aber auch der Schleuser spürt, dass die schöne Vampirin aus Europa mehr als ein Job für ihn ist. Doch nicht nur die Schatten ihrer Vergangenheit stehen ihnen im Weg, auch ganz reale Bedrohungen stellen die Gefühle, die beide schon bald füreinander hegen, vor große Herausforderungen.

Jedes Buch ist in sich abgeschlossen.

Die Reihe im Überblick
Kruento - Heimatlos (Novelle)
Kruento - Der Anführer (Band 1)
Kruento - Der Diplomat (Band 2)
Kruento - Der Aufräumer (Band 3)
Kruetno - Der Krieger (Band 4)
Kruento - Der Schleuser (Band 5)
Kruento - Der Informant

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Klappentext


Delina soll den brutalen Blutfürsten der Sjüten heiraten und erkennt mit Entsetzen, welch schreckliches Schicksal ihr mit dieser Verbindung bevorsteht. Als ihr überraschend die Chance zur Flucht angeboten wird, ergreift sie diese kurzerhand und flieht Hals über Kopf in die USA.

Thor, der wortkarge Schleuser des Bostoner Clans, stellt sie unwillig und nur dank eines mächtigen Fürsprechers unter seinen persönlichen Schutz. Abgeschreckt und fasziniert zugleich, merkt Delina schnell, dass mehr in Thor steckt, als der einsilbige, dunkelhäutige Krieger preisgeben will. Aber auch der Schleuser spürt, dass die schöne Vampirin aus Europa mehr als ein Job für ihn ist. Doch nicht nur die Schatten ihrer Vergangenheit stehen ihnen im Weg, auch ganz reale Bedrohungen stellen die Gefühle, die beide schon bald füreinander hegen, vor große Herausforderungen.

Impressum



E-Book

1. Auflage November 2018

205-346-01

Melissa David

Mühlweg 48a

90518 Altdorf

Blog: www.mel-david.de 

E-Mail: melissa@mel-david.de 



Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss

www.juliane-schneeweiss.de

Bildmaterial: © Depositphotos.com


Lektorat, Korrektorat:

Jana Oltersdorff



Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form bedürfen der Einwilligung der Autorin.

Personen und Handlungen sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Kruento





Der Schleuser

Band 5


von

Melissa David

Vorwort


Lieber Leser,


dieses Buch enthält ein Glossar, das sich im Anschluss der Geschichte befindet. In diesem Glossar werden unbekannte Begriffe erklärt. Wenn du das Glossar vorab lesen möchtest, bitte hier klicken.

Um auch die Vampirbegriffe, die im Buch verwendet werden, zu verstehen habe ich unbekannte Wörter beim ersten Auftauchen direkt zur Erklärung verlinkt. Du musst also nur draufklicken. In der Regel kommst du mit „zurück“ wieder zur aktuellen Textstelle.

Ich hoffe, dir ist das Glossar eine Hilfe, um die Welt der Kruento besser zu verstehen. Solltest du technische Probleme haben, kannst du dich gerne unter melissa@mel-david.de an mich wenden.

Du möchtest noch tiefer in die Welt von Kruento eintauchen? Auf meinem Blog findest du spannende Artikel mit Hintergrundinformationen über die Kruento.


Nun wünsche ich dir viel Spaß beim Lesen. Mache dich bereit, und tauche ein in die Welt der Kruento.


Deine Melissa David

Kapitel 1


Thor parkte den SUV mit den verdunkelten Scheiben direkt vor dem Backsteinhaus der sicheren Unterkunft und stieg aus. Die Abläufe waren ihm inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen. Er streckte sich auf geistiger Ebene aus und suchte die Umgebung ab. Keine Gefahr zu spüren. Die Anwesenheit der vierköpfigen Familie war gut verborgen in der sicheren Unterkunft und damit nicht spürbar – genau so, wie es sein sollte. Er war der einzige weitere Kruento in der Nähe. Während er über die Straße zum Haus ging, blieb er wachsam und suchte routiniert weiter sein Umfeld ab. Er durfte nicht unachtsam werden, nie. Jede noch so kleine Nachlässigkeit konnte verheerende Folgen haben. Die New Yorker Kruento hatten es schon einige Male geschafft, ihn aus dem Hinterhalt anzugreifen. Er konnte es sich nicht leisten, die sichere Unterkunft zu verlieren. Die Vampirfamilie wäre dagegen entbehrlich, sie waren ohnehin dem Tod geweiht. So zu sterben hatten sie allerdings nicht verdient, und deswegen würde er alles daransetzen, dass sie im Verborgenen blieben.

Mit schnellen Schritten betrat er das Haus. Es verfügte über keinen Aufzug, was ihn nicht störte. Mühelos ließ er die drei Stockwerke hinter sich. Von außen sah die Wohnungstür aus wie jede andere. Nur er wusste von dem Maca-Depot im Türblatt, das den Duft der Kruento verschleierte. Thor hämmerte in einem vorher ausgemachten Rhythmus gegen die doppelt verstärkte Holztür, die auch den Kräften eines Kruento für ein paar Minuten standhalten würde.

Er liebte seinen Job als Schleuser. Er gehörte einem Clan an und hatte seine Leute dennoch nicht ständig um sich. Aufgrund der Distanz von Boston zu New York gab es etliche Verpflichtungen, die er als Soya nicht wahrnehmen musste, ohne dass es ihm jemand übel nahm. Die Kruento, die in sein Leben traten, verschwanden spätestens nach ein paar Tagen wieder. Er war sein eigener Herr, bestimmte seine Arbeit und sein Tempo. Niemand redete ihm rein. Die Schleusertätigkeit war der perfekte Job für ihn. Dennoch gab es Schattenseiten, zum Beispiel die Tatsache, dass der New Yorker Clan nichts unversucht ließ, um ihn zu sabotieren und er deshalb immer auf der Hut sein musste. Auch die eine oder andere Entscheidung verabscheute er und doch hatte er bisher jeden Auftrag zu Ende ausgeführt.

Mori Esmu, ein rundlicher Vampir, um einiges kleiner als der Schleuser und mit einem deutlichen Bauchansatz, ließ ihn eintreten.

„Schleuser“, grüßte der Mori ihn ehrfürchtig und vermied Blickkontakt.

„Packt eure Sachen, wir müssen los!“, sagte Thor tonlos und verschränkte die Arme vor der Brust, während er auf die Familie wartete.

„Natürlich!“ Hastig wies der Mori seine Frau und die beiden Kinder an, sich fertig zu machen. „Ich bin so froh, dass der Dominus es sich anders überlegt hat“, sagte das Familienoberhaupt erleichtert.

„Hm“, brummte Thor. Es lag ihm fern, dem Mori die Illusion zu nehmen. Sollte er daran doch glauben. So würden sie freiwillig mitgehen. Wenigstens das. Für ihn war es auch so schon schwer genug, diese Aufgabe zu erledigen. 

Missmutig drehte er sich um und sah in das kleine Wohnzimmer mit der Couch und dem altertümlichen Röhrenfernseher. Warum brauchte die Familie so lange? Wie die meisten Flüchtlinge hatten auch sie kein Gepäck dabei, nur das, was sie am Leib trugen.

Eine hochgewachsene Vampirin, die Samera des Moris, betrat den Flur. Sie überragte ihren Mann um mindestens einen Kopf. Die langen blonden Haare trug sie sorgfältig hochgesteckt. Eine hübsche Vampirin, aber selbst sie hatte er nicht unterbringen können.

„Fertig?“ Die Ungeduld war seiner Stimme deutlich anzumerken.

Der Mori nickte, und Thor wies mit einer Kopfbewegung Richtung Tür. Sie sollten voran gehen, er musste die Wohnung verschließen.

Der Mori ging als Erster, seine Samera Damer folgte ihm. Dann kam ihr Sohn Riu, der erst vor kurzem die Renovation überstanden hatte. Leider war seine Dominanz nicht sonderlich ausgeprägt. Kämpferische Fähigkeiten besaß er auch nicht. Thor hatte sich wirklich Mühe gegeben, aber es war unmöglich, den Jungen zu vermitteln.

Dann kam seine Schwester Nasana. Sie war nicht ganz so hochgewachsen wie ihre Mutter, hatte aber ihre großen Augen und die feinen Gesichtszüge geerbt. Die blonden Haare waren akkurat hochgesteckt. Nur Vampirinnen aus der Alten Welt steckten ihre Haare auch im Alltag hoch, in der Neuen Welt wurde das nur noch zu offiziellen Anlässen praktiziert. Thor hatte in seiner Tätigkeit als Schleuser inzwischen schon so viel gesehen und längst aufgehört, sich zu wundern. Andere Länder, andere Sitten. Ob und wie die Flüchtlinge sich anpassten, gehörte nicht zu seinem Job. Das überließ er den Clans, die die Verantwortung für die Flüchtlinge übernahmen.

Nasana hatte das Ephebenalter bereits hinter sich gelassen. Warum hatten ihre Eltern es versäumt, sie zu verheiraten? Eine ungebundene Vampirin in dem Alter, noch dazu völlig mittellos – welche Chancen hatte sie schon?

Thor schluckte und schloss für einen Moment die Augen. Er konnte sie nicht alle retten. Was ihm möglich war, tat er. Er war nur der Schleuser, sein Aufgabengebiet hatte Grenzen, die ihm an diesem Tag einmal mehr vor Augen geführt wurden. Er hatte wirklich alles versucht. Es gab einfach keinen anderen Ausweg. Er musste es zu Ende bringen.

Thor zog die Tür zur sicheren Unterkunft hinter sich zu und schloss sorgfältig ab. Schon morgen würde er wieder hier sein. Die nächste Lieferung traf noch diese Nacht ein. Ein Vater mit seiner Tochter. Er konnte nur hoffen, dass der Vampir dominanter war als Mori Esmu und dass Blance, der Dominus aus Los Angeles, Verwendung für die beiden Flüchtlinge hatte.

Thor rüttelte an der Tür, schindete damit noch ein paar Sekunden Zeit, ehe er sich umdrehte und der Familie folgte, für die es in der Neuen Welt keine Zukunft gab.


* * *


Wie ein verzaubertes Märchenschloss tauchte das herrschaftliche Anwesen des Blutfürsten vor Delina auf. Die Limousine kroch im Schritttempo den anderen imposanten Wagen hinterher. Dadurch hatte Delina genügend Zeit, die schillernde Umgebung in sich aufzusaugen. Marmorskulpturen lockerten die Blumenbeete zu ihrer Rechten auf, während die dicht stehenden Rotbuchen die Sicht auf das Dahinterliegende versperrten.

Die Einfahrt vor ihnen war mit unzähligen, im Boden eingelassenen Spots ausgeleuchtet, ebenso wie der Fjord zu ihrer Linken. Die Gäste, die nicht wie sie mit dem Auto fuhren, kamen mit dem Boot, und so hatte sich auch dort eine lange Schlange gebildet.

Je näher Delina dem imposanten Haus kam, umso nervöser wurde sie. Diese Nacht würde ihr Leben verändern.

Es hatte niemanden sonderlich überrascht, als der Blutfürst verkündete, sich abermals zu verbinden. Schon vor ein paar Jahren war die Nachricht in aller Munde gewesen, bis die Auserwählte spurlos verschwand. Eine Welle an Gerüchten folgte. Mina Nellisha habe die Renovation nicht überlebt. Andere behaupteten, das Mädchen habe sich ins Ausland abgesetzt. Wieder andere glaubten, sie sei mit einem Vampir durchgebrannt. Welche Version der Wahrheit entsprach, schien niemand zu wissen und da den Gerüchten keine neue Nahrung geliefert wurde, verstummten sie bald wieder.

Sie würde nie die Nacht vergessen, als ihr Vater freudestrahlend nach Hause kam und begeistert erzählte, dass der Vetusta persönlich um Delinas Hand angehalten hatte. Nach der ersten Überraschung blieb die Freude, aber auch ein gewisses Unbehagen. Es war schön, ihren Vater so überglücklich zu sehen. Durch die bevorstehende Verbindung war sie nun endlich keine Enttäuschung mehr für ihn. Der Soya hatte sich sehnlichst einen Sohn gewünscht, stattdessen war sie, ein Mädchen, geboren worden. Egal, was Delina tat, egal, wie sehr sie sich anstrengte, der Soya ließ sie stets spüren, dass eine Tochter nicht gut genug war.

Gleichzeitig wuchsen die Bedenken. Sie hatte den Vetusta bisher nicht persönlich kennengelernt. Sie hatte immer gewusst, dass der Tag kommen würde, an dem ihr Vater ihr einen Homen suchte. Mit einem aufstrebenden Dan, der eines Tages den Titel als Soya erben würde, hätte sie durchaus gerechnet, oder möglicherweise einem der unverheirateten Soyas, aber nie mit dem Blutfürsten selbst. Würde sie überhaupt den Ansprüchen gerecht werden können, die an die Samera des Vetusta gestellt wurden? Sein Titel und seine Macht flößten ihr eine riesige Portion Respekt ein.

In ihren Kleinmädchenfantasien hatte sie sich gewünscht, eines Tages eine Verbindung aus Liebe einzugehen, und noch war sie nicht bereit, ihren Traum aufzugeben. Vielleicht war der Vetusta ganz anders als sein ihm vorauseilender Ruf. Schließlich war sie ihm noch nie begegnet. Bestimmt entsprachen die Gerüchte, die sich um ihn rankten, nicht den Tatsachen. Der Blutfürst konnte privat sicher auch ganz anders sein, als er sich in der Öffentlichkeit zeigen musste. Dort wurde von ihm erwartet, dass er keine Schwäche zeigte und einen Clan führte. Hinter verschlossenen Türen mochte er dennoch sanft sein.

Sie hatten das Haus beinahe erreicht. Auf der Fahrerseite kam ein ausladender Springbrunnen in Sicht. Drei steinerne Frauen saßen auf einem Becken und hielten auf ihren Händen ein weiteres Wasserbecken, auf dem eine vierte Frau thronte. Tauben zierten den Brunnen, aus den Mündern spritzten kleine Fontänen. Delina hatte schon viel über diesen Brunnen gehört. Er war das Gesprächsthema Nummer eins gewesen, als er vor zwei Jahrzehnten gebaut worden war. Böse Zunge behaupteten damals, die drei Frauen seien die ehemaligen Gefährtinnen des Blutfürsten, die vierte Frau, der die Gesichtszüge fehlten, sollte die zukünftige Samera darstellen. Delina duckte sich, um an ihrem Vater vorbei einen Blick auf die Frauenskulptur in der Mitte erhaschen zu können und wirklich, sie hatte kein Gesicht. Würden die Steinmetze eines Tages dieser Frau ein Antlitz geben? Sollte Delina die Vorlage dafür sein?

Endlich hatten sie das Ende der Schlange erreicht. Die Tür der Limousine wurde geöffnet. Zuerst stieg der Mori aus und reichte seiner Samera die Hand. Dann durfte Delina folgen. Es tat gut, sich nach zwei Stunden Autofahrt endlich wieder bewegen zu können. Das schneeweiße Kleid, ein Traum für jedes Mädchen, war so eng geschnürt, dass Delina nicht tief einatmen konnte. Das mit winzigen Perlen bestickte Kleid hatte ihre Tante Aril, die unverheiratete Schwester ihres Vaters, ausgesucht und dabei keinen Gedanken an Delinas Bewegungsfreiheit verschwendet. Gut, dass ihre Rasse auch über längere Zeit ohne Luft auskam, sonst wäre sie längst in Ohnmacht gefallen.

Ihre Mutter drehte sich zu ihr um. Seit der Nachricht, dass Delina sich verbinden würde, war ihre Mutter immer blasser geworden. Beinahe die gesamte Zeit der Nacht verbrachte sie auf ihrem Zimmer. Das vom Weinen aufgeschwollene Gesicht konnte auch heute durch eine dicke Schicht Make-up nicht vollkommen verborgen werden. Ein trauriges Lächeln umspielte ihre Lippen, dann wandte sie sich wieder ihrem Homen zu und schritt stumm an seiner Seite der breiten Freitreppe entgegen. Mori Jerric hatte den Kopf hoch erhoben und strahlte vor Glück. Delina spürte die neugierigen Blicke der Gäste. In der Einladung war unmissverständlich um Abendrobe in bunten Farben gebeten worden. Das Privileg der weißen Kleider war den Heiratskandidaten vorbehalten. Eine sjütische Tradition, deren Sinn sich Delina nicht erschloss. Schließlich wusste sie bereits, dass der Blutfürst sie wählen würde. Warum dann eine Auswahl, aus der sie gewählt wurde?

Noch bevor sie die breite Freitreppe erreichten, kam eine unscheinbare Vampirin in einem schwarzen Hosenanzug und weißer Bluse direkt auf sie zu.

„Mi!“, grüßte sie ehrfurchtsvoll. „Ich bin hier, um dich abzuholen. Bitte folge mir!“

Fragend sah Delina ihren Vater an, der sich zu ihr umgedreht hatte. Er nickte und gab ihr damit die Erlaubnis, der Vampirin zu folgen.

Delina hatte damit gerechnet, dass sie an den anderen Gästen vorbei ins Haus gehen würden, doch die Vampirin führte sie an der Treppe vorbei. 

„Wohin bringst du mich?“, erkundigte Delina sich angespannt.

Sie folgten einem schmalen Weg, der zwischen den Rotbuchen verschwand. Als sie durch den Sichtschutz traten, erstreckte sich vor ihnen ein riesiger Garten. Blumen, wohin das Auge nur reichte. Das war kein Garten mehr, das war vielmehr ein Park.

„Bitte!“, ermahnte die Vampirin Delina, die fasziniert stehen geblieben war, um die überwältigenden Blumenbeete und Figuren aus Buchsbäumen zu bewundern. „Wir müssen uns beeilen. Der Blutfürst wird ungehalten werden, wenn er auf dich warten muss.“

Delinas Augen weiteten sich. Sie würde den Vetusta treffen? Noch vor der Zeremonie? Hastig schloss sie zu der Vampirin auf, die sie zielstrebig weiterführte. Sie spürte, wie die Nervosität zunahm und die Begeisterung für den wunderbaren Park erlosch. Ihre Gedanken konzentrierten sich nun ganz auf ihren zukünftigen Homen. Sie wollte einen guten Eindruck bei ihm hinterlassen. Er sollte zu dem Entschluss kommen, dass sie die Richtige war. Sie wollte ihren Vater und ihre Familie stolz machen. Und vielleicht … vielleicht war er ein Mann, den sie lieben konnte, auch wenn er sechshundert Jahre älter war als sie und sie seine vierte Samera werden würde. Wenn sie ihm nur schnell einen Sohn gebären konnte oder für den Anfang wenigstens eine Tochter. Denn das sollte der Grund gewesen sein, warum er Desideria, die dritte Samera, verstoßen hatte. In Schande war sie zu ihrer Familie zurückgekehrt, bis ihr Vater starb. Da ihr Bruder Toke Borg, das neue Familienoberhaupt, nicht bereit gewesen war, für sie zu sorgen, hatte sie sich das Leben genommen. Eine traurige Geschichte und ein Schicksal, das ihr hoffentlich erspart bleiben würde.

Eine weiß gestrichene, mit Gaslichtern beleuchtete Holzterrasse kam in Sicht. Die Vampirin ging direkt darauf zu.

Delina wunderte sich etwas über den ungewöhnlichen Treffpunkt, wagte jedoch nicht, ihre Verwunderung in Worte zu fassen. Sie wollte nicht, dass ihre Klage dem Vetusta zu Ohren kam und er, noch ehe sie ihm persönlich gegenübertreten konnte, ein schlechtes Bild von ihr hatte. Sie war keine hochnäsige und verwöhnte Vampirin. Ihre Eltern hatten sie gut erzogen, und sie beherrschte alle Regeln der Innoka.

„Bitte, warte hier einen Moment, Mi“, bat die Vampirin und verschwand durch eine angelehnte Terrassentür im dunklen Haus.

Delina blieb zurück. Hoffentlich musste sie nicht zu lange warten. Sehnsüchtig sah sie sich nach einer Sitzgelegenheit um. Die Pfennigabsatz-Schuhe bereiteten ihr schon nach dem kleinen Fußmarsch Unwohlsein. Gerne hätte sie sich hingesetzt, um ihren Füßen etwas Erholung zu gönnen. Leider war nur weit und breit kein Stuhl oder eine Bank zu sehen, und die Steinbrüstung sah nicht sonderlich einladend aus. Sie fürchtete außerdem, ihr weißes Kleid dadurch schmutzig zu machen.

Ein Schatten löste sich aus der Dunkelheit, und Delina schrak zusammen, als ein Mann die Terrasse betrat. War das der Blutfürst? Sie war sehr behütet aufgewachsen, und ihre Eltern waren stets bemüht gewesen, ihre Reinheit zu bewahren. Nie war sie mit einem ungebundenen Vampir allein gewesen. Wenn ihre Eltern nicht dabei sein konnten, dann begleitete Tante Aril sie. Doch nun war sie ganz allein. Der Vampir trat ins Licht. Sie sah die blonden Haare und blickte in azurblaue Augen. Ängstlich wich sie zurück. Das war nicht der Blutfürst, dennoch war ihr der Mann nicht gänzlich unbekannt. Es handelte sich um Soya Ducin, einen ungebundenen Vampir. Schon allein deshalb hätte ihr Vater sie nie in seine Nähe gelassen.

Berne Nox“, grüßte er sie höflich.

„Berne Nox“, murmelte sie und schlug die Augen nieder. Was wollte der Soya hier? War er gekommen, um sie zu holen? Würde er sie zum Blutfürsten führen? Wo war die Vampirin, die sie hergebracht hatte? Ein Anflug von Panik keimte in ihr auf.

„Du bist also die Auserwählte“, stellte er fest und runzelte die Stirn.

War das gut oder schlecht? War er ein Feind oder ein Freund? Delina konnte ihn nicht einschätzen. Sie wusste lediglich, dass er als Soya einer der einflussreichsten Vampire im Clan war. Ihr Vater hatte nie ein schlechtes Wort über den blonden Vampir verloren, der in der Gunst des Blutfürsten ganz oben stand.

„Wie geht es dir?“, erkundigte er sich höflich, und Delina war froh, dass er noch immer auf Distanz blieb.

„Ich bin überglücklich, die Samera des Vetusta zu werden“, entgegnete sie tonlos. Die Worte hatte sie so oft vor dem Spiegel geübt, aber dennoch wusste sie, dass sich die Phrase in diesem Augenblick hohl anhörte.

Die Lippen des Soyas verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln. „Gewiss.“ Seine azurblauen Augen bohrten sich tief in sie, schienen bis in ihr Innerstes vorzudringen. Gleichzeitig spürte sie seinen mächtigen Geist, der über ihren strich. Hastig vergewisserte sie sich, dass ihre Schutzwälle intakt waren, und atmete erleichtert auf, als sie diese unversehrt vorfand. Der Soya versuchte nicht, in sie einzudringen, zog sich im nächsten Augenblick sogar komplett zurück.

„Alles Gute, Delina.“ Ein letzter eindringlicher Blick, dann drehte er sich um und verschwand in der Dunkelheit.

Verblüfft stand Delina da, starrte dem Soya hinterher. Was war das für eine seltsame Begegnung gewesen? Was …?

Bevor sie noch weiter darüber nachgrübeln konnte, kehrte die Vampirin zurück, um Delina abzuholen.


* * *


Es war weit nach Mitternacht. Auch wenn der Verkehr in einer Großstadt wie New York nie ganz zum Erliegen kam, spürte man doch, dass deutlich weniger Autos unterwegs waren. Auf direktem Weg hätte Thor gut eine halbe Stunde gebraucht, doch er hatte beschlossen, sich viel Zeit zu lassen. So drehte er eine Extrarunde durch Harlem und machte einen Abstecher in die Bronx. Sie waren jetzt bereits eine Stunde unterwegs, und noch länger konnte er die Fahrt kaum hinauszögern, ohne Fragen aufzuwerfen. Sämtliche – nicht vorhandene – Verfolger hatten sie ohne jede Frage abgeschüttelt. Innerlich resignierend beschloss er, dass die Zeit gekommen war. Bis zu ihrem Zielort am Rande von New York war es nicht mehr weit.

Nicht nur seine Anspannung, sondern auch die der Familie wuchs mit jeder verstreichenden Minute. Er wusste, wie das Unvermeidliche aussah, das auf ihn zukommen würde. Die Familie, die mit ihm im Auto saß, war dagegen absolut ahnungslos. Sie schwankten zwischen Hoffen auf eine Zukunft in der Neuen Welt und Bangen, ob der Dominus aus Dallas sie aufnehmen würde. Thor würde ihnen nicht sagen, dass Dominus Donell bereits nach Dallas zurückgekehrt war. Er hatte sich die Familie vor zwei Tagen angesehen, war dazu sogar persönlich aus Dallas hergekommen. Allerdings hatte er sich gegen Mori Esmu entschieden, weil dieser ihm viel zu unterwürfig war. Er brauchte Leute mit Rückgrat, mit Kampfwillen, die die Zähne zusammenbeißen konnten. Und damit war die Familie raus aus dem Rennen.

Thor erreichte das etwas abseits gelegene Industrieviertel. Ein paar Querstraßen weiter gab es einige verlassene Fabrikgebäude. Der perfekte Ort für das, was er plante. An einen ähnlichen Platz, ein anderes Industriegebiet am anderen Ende von New York, hatte er die Familie bereits vor zwei Tagen gebracht. Dort hatten sie sich mit Dominus Donell getroffen. Thor bog ab, umfuhr im großen Bogen den Zielort, ehe er sich ihm von hinten näherte. Die Einfahrt stand offen. Er gab noch einmal Gas, schoss durch das geöffnete Metalltor und bremste erst direkt vor dem Gebäude scharf ab. Das schockierte Aufkeuchen der weiblichen Familienmitglieder nahm er mit einem kleinen Lächeln zur Kenntnis.

„Hier sind wir!“, erklärte er und deutete auf die Metalltür, die direkt vor ihnen lag.

Sie stiegen aus. Der Mori schob seine Familie ungeduldig vorwärts. Thor wartete, bis sie hinter der Tür verschwunden waren. Er musste noch etwas aus dem Kofferraum holen und öffnete die Heckklappe. Nie würde er das, was jetzt kam, routiniert ausführen. Es war jedes Mal anders, und es fiel ihm jedes Mal schwer. Er hatte gelernt, damit umzugehen, wusste, dass er seinen Verstand ausschalten musste. Keine Gewissensbisse, keine Reue. Das gehörte zu seinem Job. Es gab Dinge, die getan werden mussten. Für den Clan und auch für seine Rasse. Nichts wäre für den Frieden gefährlicher als eine Reihe Clanloser, die unkontrolliert durch die Neue Welt streiften.

Der Kofferraum war so gut wie leer. Er enthielt nur einen Benzinkanister und ein japanisches Langschwert, eingehüllt in eine Decke. Thor griff nach dem Katana, einer Maßanfertigung, die perfekt in der Hand lag. Seine Hand schloss sich fest um das Saya, die Schwertscheide. Beherzt schloss er den Kofferraum und betrat die Fabrikhalle.

„Sind wir hier richtig?“, fragte Mori Esmu irritiert.

„Ja.“

„Wann wird der Dominus eintr…“ In diesem Moment fiel der Blick des Moris auf die Waffe in der Hand des Schleusers. „Was …?“, stammelte er entsetzt und wich zurück.

Der Moment war gekommen. Er musste handeln, und zwar schnell. Jede Sekunde, die er zögerte, verlängerte er das Leiden der Familie. Mit einer geschmeidigen Bewegung zog er das Katana aus der Scheide. Ihm am nächsten stand der Mori, schützend vor seiner Frau und der Tochter. Thor hob das Schwert, rannte auf sie zu. Er sah, wie der Mori panisch den Arm hob, seine Familie schützen wollte. Er holte aus und durchtrennte mit einem einzigen Schlag die Hälse der drei Vampire. Der durchdringende Schrei von Riu hallte durch die Halle. Der Ephebe versuchte fortzulaufen. Doch er hatte keine Chance, nicht gegen einen Soya wie ihn. Mit einem gezielten Schlag gegen die geistigen Schutzschilde des Jungen drang er in dessen Kopf ein und nötigte ihn stehenzubleiben. In Bruchteilen von Sekunden war er hinter ihm, sodass er dem Epheben nicht ins Gesicht sehen musste, während er ihm den Kopf abtrennte. Er holte aus und köpfte ihn. Der Schädel schlug mit einem dumpfen Geräusch am Boden auf und rollte noch etwas weiter. Der Körper fiel in sich zusammen. Auch wenn der Ephebe nicht viel Blut in seinem Körper gehabt hatte und in den nächsten Stunden hätte trinken müssen, war noch genug von dem roten Lebenssaft vorhanden, um den Beton zu tränken.

Es war geschafft! Reglos verharrte Thor, sah zu, wie das Blut sich verteilte. Ein paar Meter weiter lagen in einer riesigen Blutlache die anderen drei Körper. Er schloss die Augen, wollte das Bild, welches sich schon jetzt in seinem Kopf eingebrannt hatte, nicht sehen. Es war noch nicht ganz vorbei. Der schwierigste Teil seines Auftrags war erledigt, aber noch konnte er sich nicht dem Vergessen hingeben. Er hatte noch etwas zu tun. Das blutverschmierte Katana wischte er an dem noch halbwegs sauberen T-Shirt des Epheben ab. Dann erhob er sich, steckte das Schwert zurück in die Scheide und verließ die Fabrikhalle. Aus dem Kofferraum holte er den Benzinkanister und ging zurück zu den Leichen. Großzügig verteilte er den Inhalt des Kanisters zwischen den leblosen Körpern. In ein paar Minuten würde alles in Flammen aufgehen und so heiß und vollständig verbrennen, dass die anrückende Feuerwehr alle Hände voll zu tun hatte, den Brand einzudämmen. Die Fabrik war verlassen, dem Eigentümer würde er sogar einen Gefallen damit tun, das alte Gebäude niederzubrennen. In den Trümmern würde man keine Überreste finden – zumindest nicht von den Kruento. Seine Rasse war robust, aber sie hatten eine Schwäche: Sie brannten gut. Er zog ein Streichholz heraus, zündete es an und ließ es zu Boden fallen. Schnell breiteten sich die Flammen aus, züngelten am Boden entlang. Thor stand vor einem Meer aus Feuer und sah zu, wie die Körper von der Hitze verzehrt wurden. Langsam drehte er sich um und verließ das Gebäude. Er fühlte nichts, als er in sein Auto einstieg und in die dunkle Nacht davonbrauste. Dieser Zustand sollte möglichst lang anhalten, deswegen würde er sich auf direktem Weg nach Manhattan machen. Dort, in einem unscheinbaren dreistöckigen Mietshaus, verbarg sich sein Stammbordell. Nur exklusiven Mitgliedern wurde der Zugang gewährt. Es waren immer ein paar Mädchen frei. Zwei von ihnen würde er heute beglücken. Die eine konnte sich um seine körperlichen Bedürfnisse kümmern, von der Zweiten würde er sich nähren. Die restliche Nacht wollte er nur vergessen.

In der Ferne hörte er Sirenengeheul. Er wusste, wohin sie fuhren. Er war jedoch in entgegengesetzter Richtung unterwegs. Die Straßen waren frei, und so drückte er aufs Gas, auch wenn das hieß, ein paar Verkehrsregeln zu brechen.

Kapitel 2


Das Haus war von innen mindestens so beeindruckend wie von außen. Durch die Terrassentür waren sie in das Haus gelangt. Sie befanden sich in einer Bibliothek oder etwas Ähnlichem. Unmengen von Büchern drängten sich in Regalen bis unter die Decke. Gerne hätte Delina sich in einen Sessel gesetzt und in den Büchern geschmökert, doch ihre Begleiterin drängte sie zum Weitergehen. Der Flur mit seinem Marmorboden und den weiß gestrichenen Wänden war schlicht gehalten. Nur der Stuck mit den goldenen Verzierungen ließ die Exklusivität des Hauses erahnen. Die Vampirin wählte ein flottes Tempo. Delina gab sich Mühe, den Anschluss nicht zu verlieren, und wäre beinahe in die junge Frau hineingelaufen, als diese abrupt stehen blieb.

„Warte hier noch einen Moment. Der Vetusta wird gleich kommen“, erklärte sie und schob Delina in ein geräumiges Wohnzimmer. Die Tür wurde hinter ihr zugezogen, und sie war allein. Unbehaglich sah sie sich um, musterte die barocken Möbel. Überall sattes Purpur und verschnörkeltes, golden gestrichenes Holz. Die farblich passenden Vorhänge und der dekadente Kronleuchter ließen den Raum nur noch überladener wirken.

Ihr Blick glitt zur Standuhr. Noch eine halbe Stunde bis Mitternacht, dann sollte die Zeremonie beginnen. Wann würde der Vetusta kommen? Sie musste doch noch zu den anderen Mädchen gebracht werden, die gemeinsam mit ihr in die Halle einzogen. Erst dort würde er sie offiziell erwählen. Drei Stunden lang würde die Feier dauern, den krönenden Abschluss bildete ihre Verbindung mit dem Blutfürsten. Während für sie ein neues Leben begann, würden die Gäste nach Hause gehen, in ihre gewohnte Umgebung, und die morgige Nacht würde für sie wie jede sein.

Delinas Hände zitterten. Sie sah auf das samtene Sofa und überlegte, ob sie es wagen sollte, sich zu setzen. Aber dann würde das Kleid ihr das Atmen noch mehr erschweren. Ein Umstand, der nicht unbedingt dazu beitrug, dass sie ruhiger wurde. Quälend langsam verstrichen die Minuten. Es war beinahe eine Erlösung, als Delina Geräusche hörte. Die Tür wurde polternd aufgerissen. Ihr Hals war wie zugeschnürt, und sie musste das Atmen nun völlig einstellen. Der Vampir vor ihr war so ganz anders, als sie ihn sich vorgestellt hatte. Haldor Salverson war kleiner als erwartet. Durch die hohen Absätze und die aufgesteckten Haare war sie vermutlich ebenso groß wie er. Unter seinem schwarzen Frack spannten sich die Muskeln, als er sich in Bewegung setzte und eintrat. Mit einem lauten Knall warf er die Tür hinter sich ins Schloss. Trotz seiner geringen Größe war unverkennbar, dass er der Vetusta war. Seine Ausstrahlung schüchterte sie auf der Stelle ein. Eine dichte Aura aus Macht und purer Dominanz umgaben ihn. Dieser Mann machte durch seine bloße Präsenz klar, dass er Widerspruch nicht duldete und alles nach seiner Vorstellung laufen musste.

Langsam kam er näher. Delina hatte Angst, ihn direkt anzublicken, und so klebten ihre Augen auf den blank polierten Lackschuhen.

„Du bist also Delina.“ Seine Stimme war kalt und berechnend und jagte ihr einen Schauer über den Rücken.

„Sieh mich an!“, donnerte er ihr einen unmissverständlichen Befehl entgegen.

Delina tat, was er verlangte, und blickte in wässrig grüne Augen, denen jedes Mitgefühl fehlte. Ehe sie es sich versah, stand er direkt vor ihr, seine Hand umfing ihr Kinn und hob es an. Der Druck seiner Finger schmerzte, doch sie würde keinen Laut von sich geben.

Hätte er nicht diesen harten Zug um den Mund gehabt, hätte er mit seinen rötlich-blonden Locken, die sein aristokratisches Gesicht mit den hohen Wangenknochen umrahmten, gut ausgesehen. Selbst für einen Vampir war er eine Schönheit, ein geheimnisvoller Engel. Ein direkter Kontrast zu der Kälte in seinen Augen. In diesem Moment wurde ihr klar, dass er nie in der Lage sein würde, sie zu lieben. Da war nichts Weiches in ihm, alles war hart, ein Mann, der nicht anders konnte, als mit Brutalität zu herrschen – in allen Bereichen.

„Nett“, erklärte er abfällig grinsend. „Ich denke, wir werden eine ganze Menge Spaß zusammen haben. Ich hatte schon lange keine Jungfrau mehr im Bett, und vielleicht taugst du zum Kinderkriegen.“

Delina stand reglos da. Sie hätte ihm auch nicht antworten können, wenn sie gewollt hätte, da er sie noch immer festhielt. Unvermittelt trat er zurück und ließ sie los. Sie schwankte und konnte sich glücklicherweise an einem Sessel abstützen.

„Wir sehen uns!“ Etwas Unheilvolles schwang in seiner Stimme mit. Ohne ein weiteres Wort verließ er den Raum und ließ Delina irritiert und verängstigt zurück.

Fassungslos starrte sie dem Blutfürsten hinterher, unfähig, das soeben Erlebte zu begreifen. Das sollte der Mann sein, mit dem sie eine Verbindung einging, mit dem sie fortan ihr Leben teilte? Alles in ihr schrie auf. Es wäre Selbstmord, sich mit einem Vampir wie ihm zu verbinden. Er würde sie umbringen. Sie wollte nicht seine Samera werden. Sie hatte den Gerüchten nicht glauben wollen und musste nun feststellen, dass die Realität noch viel, viel schlimmer werden würde. Ein unvorstellbares Grauen, das sie sich nicht einmal in ihren Albträumen hätte ausmalen können.

Der Fluchtinstinkt drohte sie zu überwältigen. Doch es gab keinen Ort, an dem sie sich verstecken konnte. Nichts, wo er sie nicht finden würde. Es gab keinen Ausweg!

Als die Tür erneut geöffnet wurde, befürchtete sie schon, der Vetusta sei zurückgekehrt. Es war glücklicherweise nur die Vampirin, die sie abholen und zu den anderen Mädchen bringen wollte.

„Bitte folge mir!“, bat sie mit leiser Stimme.

Delina blinzelte den Tränenschleier fort, was ihr allerdings nur notdürftig gelang. Mit gesenktem Kopf folgte sie der Vampirin. Für die Schönheit der Räume hatte sie diesmal kein Auge. Sie konnte nur an den Vetusta denken und fürchtete sich mit jeder Sekunde mehr vor ihm.

„Hier sind wir!“ Die Vampirin öffnete eine Tür zu ihrer Linken.

Wortlos trat Delina ein. Eine Reihe von neugierigen Augenpaaren musterten sie. Es waren fünf Mädchen, vermutlich ähnlich alt wie sie. In ihren weißen Kleidern und sorgfältig zurechtgemacht, waren sie hübsch anzusehen. Es gelang Delina jedoch nicht, sich ihrer Vorfreude anzuschließen. Liebend gern hätte sie ihren Platz als Auserwählte an eine von ihnen abgetreten. Andererseits wünschte sie diese Zukunft keiner von ihnen.

„Macht euch bereit!“, drängte die Vampirin zum Aufbruch. Ihre Stimme war so leise, dass sie im aufgeregten Getuschel der Mädchen unterging.

„Bitte, stellt euch auf!“, versuchte sie es noch einmal, diesmal etwas lauter.

Die Mädchen verstummten, beeilten sich, sich in eine Reihe zu stellen. Es gab ein kleines Gerangel um die Reihenfolge, die Delina vollkommen egal war. Mutlos nahm sie den letzten Platz ein.

„Es geht los!“, strahlte das dunkelhaarige Mädchen, das vor Delina stand. Sie kannte die Vampirin nur vom Sehen. Sie wohnte am anderen Ende des Sjütenreiches. Ihr Vater hatte auch keinen so hohen Posten inne wie Delinas Vater.

„Hm …“ murmelte sie tonlos. Sie konnte die Freude einfach nicht teilen, dazu war ihr zu elend zumute. Fühlte sich so das Vieh, wenn es zur Schlachtbank geführt wurde? Delina schluckte, doch der dicke Kloß in ihrem Hals löste sich einfach nicht auf.

Mechanisch setzte sie sich in Bewegung und folgte den anderen Mädchen.


* * *


Sie befanden sich auf der Empore. Unter ihnen wartete die Innoka ungeduldig. Über die Brüstung erhaschte Delina einen kurzen Blick und erschauderte, als sie die Massen der versammelten Vampire sah. Kein Mitglied der Innoka glänzte durch Abwesenheit. Sie waren gesammelt der Einladung ihres Vetustas gefolgt und warteten nun gespannt auf seine neue Braut.

Delina verspürte einen Anflug von Übelkeit, als sie die breite Treppe sah, die sie in wenigen Minuten mit den anderen Mädchen hinabschreiten würde. An einer von unten nicht einsehbaren Stelle hielten sie an.

„Wenn der zwölfte Glockenschlag verklungen ist, werdet ihr hinuntergehen.“

Die Erste in der Reihe war eine kleine Rothaarige, von der Delina nur wusste, dass sie Siv hieß.

„Woher wissen wir, wo wir anhalten müssen?“, erkundigte sie sich nervös.

„Das werdet ihr schon merken.“ Die Vampirin nickte ihnen noch einmal aufmunternd zu, warf Delina noch einen bedauernden Blick zu und verschwand in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

Die Glocke ertönte, und mit jedem Schlag wurde es ruhiger im Saal. Beim elften Glockenschlag waren alle Stimmen verstummt. Der zwölfte Schlag erklang, und Siv setzte sich in Bewegung. Delina zögerte, wusste jedoch, dass es für sie kein Entrinnen gab und beeilte sich aufzuschließen, während Siv bereits hoheitsvoll die Treppe hinab schritt. Delina schluckte. Irgendwo dort unten standen ihre Eltern. Ihre Mutter, die wohl eine vage Ahnung gehabt hatte, was auf sie zukommen würde, und ihr Vater, den sie zum ersten Mal in ihrem Leben stolz gemacht hatte. Diese beiden konnte sie unmöglich enttäuschen. Wie es von ihr erwartet wurde, nahm sie sich zusammen, verbarg alle Unsicherheit, alle Zweifel tief in ihrem Inneren. Blieb nur zu hoffen, dass das aufgesetzte Lächeln echt genug wirkte, um alle zu täuschen.

Unter Beifall bewegten sie sich durch die Menge. Delina hielt nach ihren Eltern Ausschau, konnte sie bei den vielen Vampiren jedoch nicht entdecken. Schließlich erreichten sie den Thron. Rechts und links davon warteten aufgereiht alle sechs Soyas des Clans. Erleichtert entdeckte sie ihren Vater neben Soya Ducin, der zur Rechten des Blutfürsten stand. Hastig wandte sie den Blick von ihm ab und musterte den Vampir, der auf den Thron saß – ihren zukünftigen Homen. Haldor Salverson war in einen eleganten Frack gekleidet. Die rot-blonden Locken waren in der Tat ein wenig zu lang, was ihm jedoch einen verwegenen Ausdruck verlieh. Seine wässrig grünen Augen waren direkt auf sie gerichtet, als er seinen Mund zu einem spöttischen Lächeln verzog und sich mit einer geschmeidigen Bewegung erhob. Alles an ihm zeugte von Kraft und Dominanz. Die mächtige Aura, die ihn umgab, legte sich um sie und ließ sie erneut erschaudern. Er war furchteinflößend.

Der Blutfürst würdigte die anderen Mitbewerberinnen keines Blickes, sondern kam direkt auf sie zu.

Demanda mi Samera“, erklärte er in der alten Vampirsprache.

Ihr Vater trat einen Schritt nach vorn. „Loka mimare“, antwortete er stolz.

Versteinert stand Delina da, unfähig, sich zu regen. Sie starrte zuerst nur auf den Boden, dann fiel ihr ein, dass das unhöflich aufgefasst werden konnte, und hob den Kopf. Sie wagte es jedoch nicht, den Vetusta anzublicken. Stattdessen begegnete sie Soya Ducins Blick. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, er wollte ihr etwas sagen. Vielleicht schickte er ihr eine Botschaft, doch sie hatte keine mentale Verbindung zu ihm. Die Präsenz des Blutfürsten war außerdem so allumfassend, dass sie sich nicht traute, sich auf geistiger Ebene auszustrecken. Davon abgesehen konnte sie ohnehin nur mit ihrem Vater auf diesem Weg kommunizieren.

Unsanft packte der Vetusta ihre Hand, und Delina konnte ein schmerzhaftes Aufkeuchen gerade noch unterdrücken. Grob schob er ihr einen goldenen Ring mit einem riesigen, blutroten Rubin an den Finger. Entgeistert starrte Delina auf den viel zu großen Stein, der einfach nicht zu ihrer Hand passen wollte, und fragte sich, was nun von ihr verlangt wurde. Ihr Kopf fühlte sich an wie Watte, sie war kaum in der Lage, ihre Umgebung wahrzunehmen. Da spürte sie ein Fordern auf geistiger Ebene. Es war ihr nicht möglich, sich dem zu entziehen.

Bedanke dich gefälligst!, hörte sie die erboste Stimme ihre Vaters.

Das war es, was sie tun sollte.

Lita“, murmelte Delina. Jetzt konnte sie es nicht länger vor sich hinschieben, sie musste ihren zukünftigen Homen ansehen. Sie hatte gedacht, sie sei vorbereitet, doch die Kälte in seinen Augen ließ sie erneut frösteln. Ein eiskalter Hauch strich über ihren Geist, fuhr die Konturen ihrer Schutzmauern nach. Nicht mehr lange, dann würde er nicht nur ihr Äußeres abtasten. Er würde in ihrem Inneren sein, und sie würde durch seine Kälte erfrieren.

„Nur noch wenige Stunden, dann wirst du mein sein!“, sagte er leise, so dass nur sie ihn verstand. Es war kein Versprechen, mehr eine Drohung.

Reglos stand sie da, ließ alles über sich ergehen und kämpfte gegen den unbändigen Drang an, sich von ihm loszureißen und fortzulaufen. Doch wohin sollte sie fliehen? Ihre Familie würde sie nicht vor diesem gefährlichen Vampir beschützen können. Sie wollte sich nicht mit ihm verbinden. Tapfer blinzelte sie und hoffte, dass er ihre Verzweiflung nicht bemerkte. Sie rang sich zu einem Lächeln durch.

Langsam ließ er ihre Hand los. „Drei Stunden“, murmelte er verheißungsvoll. „Ich werde von dir trinken, also sorge dafür, dass du genug Blut in dir hast.“ Ohne auf ihre Reaktion zu warten, ließ er ihre Hand los und wandte sich von ihr ab.

Mit dem Abgang des Blutfürsten zerstreute sich auch die Menge schnell. Die Vampire strömten in alle Himmelsrichtungen davon. Aus den Nebenräumen erklang Tanzmusik, sie hatte gehört, dass es Spieltische gab, und sicher würden auch die Blutsklaven nicht fehlen. Ihr Vater hatte darauf bestanden, dass sie sich vor dem Ankleiden nährte. Das hatte sie getan und war ihm unendlich dankbar für seine Umsicht. Unter diesen Umständen, hier auf der Feier, wäre es ihr unmöglich gewesen, auch nur einen einzigen Schluck Blut herunterzubekommen. Sie hatte geahnt, dass heute die Nacht sein würde, in der ein Vampir von ihr trank. Noch nie hatte sie es zugelassen. Ein einziges Mal hatte ihr Vater von ihr getrunken, bei ihrer Renovation, aber das hatte nichts Sexuelles an sich gehabt. Schon allein bei dem Gedanken daran, dass der Blutfürst sie berühren würde, erfasste sie Übelkeit.

Delina war froh, nicht mehr im Mittelpunkt zu stehen. Noch immer fühlte sich alles absolut surreal an. War das der Schock? Sie suchte gerade nach einer Möglichkeit, sich die nächsten Stunden unsichtbar zu machen, als sie angesprochen wurde.

„Herzlichen Glückwunsch, meine Liebe“, erklärte eine Vampirin, die eine weitläufige Bekannte ihrer Eltern war. Das Kleid schien etwas zu eng zu sein, zumindest sahen die Brüste aus, als wollten sie jeden Moment aus dem Dekolleté hüpfen.

„Du kannst dich wirklich glücklich schätzen“, pflichtete ihre Begleiterin, eine rundliche Vampirin mit einer quietschenden Stimme, bei.

Delina nickte hastig und drängte sich an den beiden Frauen vorbei. Auch wenn es unhöflich war, die deutlich älteren Vampirinnen einfach so stehen zu lassen, sie fühlte sich dieser Art von Konversation im Augenblick einfach nicht gewachsen. Sie brauchte einen Moment für sich, etwas Ruhe und Zeit durchzuatmen.

Weit kam Delina jedoch nicht, da wurde sie von einer weiteren Gruppe Vampiren aufgehalten, die sie überschwänglich beglückwünschten. Es dauerte, bis sie sich mit einer Entschuldigung verabschieden und flüchten konnte. Die nächstgelegene Tür zum ersten Nebenraum hatte sie beinahe erreicht. Dort wurde getanzt. Eilig, bevor sie jemand aufhalten konnte, ging sie weiter, direkt auf die nächste Tür zu. Sie hielt sich am Rand des Raumes. Eine Nische, halb hinter einer Säule verborgen, schien ihr geeignet, um einen Moment innezuhalten und sich zu sammeln. Sie schloss die Augen und wünschte sich, sie möge aus diesem Albtraum erwachen.

„Du solltest eine glücklich strahlende Braut sein“, schreckte sie eine männliche Stimme auf.

Hastig riss sie die Augen auf. Sie wollte allein sein, und doch hatte man sie entdeckt. An die Säule gelehnt, mit dem Rücken zu ihr stand ein Vampir. Der Geruch kam ihr bekannt vor, und sie brauchte einen Moment, um ihn Soya Ducin zuzuordnen. Was wollte der Soya von ihr, und warum unterhielt er sich nicht offen mit ihr?

„Ich bin überglücklich“, erklärte sie wenig überzeugend.

„Wer kann es dir verübeln?“

Delina war überrascht, dass er ihr die Worte abnahm, aber gleichzeitig auch erleichtert.

„Ich bin hier, um dir ein Angebot zu machen.“

Sie horchte auf. Was konnte der Soya ihr schon anbieten? Er hatte sich wohl kaum in der letzten halben Stunde unsterblich in sie verliebt und war bereit, den Zorn des Blutfürsten auf sich zu ziehen, indem er sie vom Fleck weg heiratete.

„Dieses Angebot werde ich dir genau einmal machen. Draußen steht ein Wagen, der dich weit fortbringen kann.“

Sie glaubte, sich verhört zu haben. War das ein Fluchtangebot? Für eine Sekunde war sie versucht, freudestrahlend auf das Angebot einzugehen, doch dann fiel ihr ein, dass sie nicht fliehen konnte. Egal, wo der Soya glaubte, sie in diesem Clan verstecken zu können, ihr Vater würde sie finden und zu dem Blutfürsten zurückbringen.

„Du musst nur alles hinter dir lassen.“

Delina schloss die Augen. Das hörte sich so wundervoll an. Ein Traum von Freiheit. Einer Freiheit, die es jedoch nie für eine Vampirin geben konnte. Sie konnte nicht allein überleben, das war schlichtweg unmöglich. Sie brauchte einen Rinoka, einen männlichen Vampir, der sie beschützte.

„Du kannst mich nicht weit genug fortbringen“, murmelte sie traurig und verdrückte eine Träne.

„Der Schleuser kann es.“ Er stieß sich ab, wandte sich nicht zu ihr um und verschwand in der Menge.

Es war gut, dass sie in der Nische verborgen stand, denn sonst hätte man ihr die Überraschung deutlich angesehen. Sekunden verstrichen, ehe ihr Körper so sehr zu zittern begann, dass sie sich an der Wand abstützen musste. In ihren Ohren rauschte es. Soya Ducin hatte den Schleuser erwähnt. Jener ungreifbare Vampir, der ihresgleichen in die Neue Welt brachte, ihnen dort zu einem Neuanfang verhalf. Sie hatte die fantastischsten Geschichten von dort gehört. Einer Welt, die so unglaublich schien, dass sie unmöglich Realität sein konnte. Und das Beste daran, sie war so weit fort, dass der Vetusta keinen Einfluss haben würde. Kannte der Soya den Schleuser tatsächlich? Sie musste alles hinter sich lassen, ihre Freunde, ihre Eltern, das Leben, wie sie es bisher gekannt hatte. Doch was würde nach der Vereinigung mit dem Vetusta davon noch übrig bleiben? Unwillkürlich beschleunigte sich ihr Herzschlag und wenn es Delina gekonnt hätte, hätte sie tief Luft geholt. Doch in diesem verdammten Kleid war das einfach nicht möglich. Sie schloss die Augen, rang um Fassung. Die Lösung all ihrer Probleme war zum Greifen nahe. Eine Flucht. Warum zögerte sie eigentlich noch? Schließlich wollte sie nicht die Samera des Blutfürsten werden. Er würde sie umbringen. In einen goldenen Käfig gesperrt, wäre nur die Frage, ob sie an seiner Grausamkeit oder seiner Kälte starb. Aber was würde sie in der neuen Welt erwarten? Welche Chancen hatte sie als Vampirin? Ganz allein in einem fremden Land, vollkommen ausgeliefert? Ausgeliefert war sie hier jedoch auch. Schlimmer als die Willkür des Blutfürsten konnte die Neue Welt nicht sein. Delina öffnete die Augen. Sie hatte eine Entscheidung getroffen. Sie musste das Risiko eingehen, war bereit, alles aufs Spiel zu setzen. Denn alles andere würde sie jeden einzelnen Tag ihres Lebens bereuen.


* * *


Delina brauchte drei Anläufe, bis es ihr gelang, eine Tür zu finden, durch die sie den Feierlichkeiten entkommen konnte. Es war allerdings eine Terrassentür, und so fand sie sich im Garten wieder. Es war ihr egal. Wichtig war nur, dass die Freiheit zum Greifen nahe war und sie alles daransetzen musste, um von hier fortzukommen. Der Garten war schon ein erster Schritt, es war besser, als im Haus zu sein. Ratlos sah sie zur einen, dann zur anderen Seite. In welcher Richtung lag die Einfahrt, wo dieses Auto parkte? Wohin sollte sie gehen? Sie lief los. Mehr als falsch liegen konnte sie nicht und wenn sie jemandem in die Arme lief, würde sie einfach behaupten, sie wollte ein wenig frische Luft schnappen und hätte sich dabei verlaufen. Der Weg schlängelte sich durch üppige Blumenbeete. Überall tauchten die Gasleuchten die Umgebung in warmes, angenehmes Licht. Delina befürchtete schon, sich falsch entschieden zu haben, als sie um die Ecke bog und vor sich die hell erleuchtete Einfahrt erblickte. Erleichtert verlangsamte sie das Tempo und blieb hinter einem hochgewachsenen Busch stehen, der die Form einer riesigen Eule hatte. Von hier aus konnte sie die gesamte Einfahrt überblicken, ohne gesehen zu werden. Suchend sah sie sich nach dem wartenden Fahrzeug um. Hatte der Soya sie in eine Falle gelockt? Hatte er nur testen wollen, wie weit sie gehen würde? Nein, das durfte nicht sein. Er war ihr einziger Ausweg.

Eine Limousine fuhr vor. Einige Vampire entstiegen ihr und eilten die Eingangstreppe hinauf, wo sie von den Bediensteten in Empfang genommen wurden. Die Limousine umfuhr den Brunnen und kroch dann in Schrittgeschwindigkeit die lange Auffahrt hinunter.

Delinas Mut sank. Der Hoffnungsschimmer, an den sie sich so verzweifelt geklammert hatte, zerplatzte wie eine Seifenblase. Eine Flucht war unmöglich. Ihr würde nichts anderes übrig bleiben, als sich dem Unvermeidlichen zu stellen. Ihr Schicksal war besiegelt.

Delina wollte sich gerade abwenden, als ihr Blick auf einen schwarzen Mercedes fiel, der unauffällig etwas abseits parkte. Sollte das …? Sie wagte nicht zu atmen, hatte Angst, dass sich das schwarze Gefährt als Täuschung herausstellte. Als ob sie dadurch das Auflösen der Illusion vermeiden könnte, fokussierte sie mit zusammengekniffenen Augen den Mercedes. Auf dem Fahrersitz saß jemand. Die Seiten- und die Heckscheibe waren verdunkelt. War das das richtige Auto? Sollte sie es wagen? In leicht geduckter Haltung schlich sie vorwärts, achtete peinlich genau darauf, dass niemand sie sah. Die Bediensteten waren im Inneren des Hauses verschwunden. Der Vorplatz und die Einfahrt lagen verwaist da. Nur Sekunden, dann hatte sie den parkenden Mercedes erreicht.

Delinas Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Ihre Zukunft, ihr ganzes Leben hing von den nächsten Augenblicken ab. War dieses Auto ihre Rettung?

Sie klopfte zaghaft. Nichts rührte sich. War die Rückbank leer? Sie nahm all ihren Mut zusammen, legte die Hand um den Türgriff und zog die Tür auf.

„Bitte lass es das richtige Auto sein!“, betete sie wie ein Mantra vor sich hin.

„Es ist das richtige Auto“, sagte eine inzwischen schon vertraute Männerstimme, und der Duft des Soyas hüllte sie ein. „Steig ein!“

Delina ließ sich das kein zweites Mal sagen und kletterte zu Soya Ducin auf die Rückbank. Kaum hatte sie die Autotür zugezogen, fuhr der Mercedes auch schon an.

Jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie hatte ihr Leben in die Hände eines Soyas gelegt, den sie kaum kannte, ja, der sogar dafür bekannt war, ein enger Vertrauter des Vetusta zu sein. Wie hoch standen ihre Chancen, dass er sie tatsächlich zu dem Schleuser bringen konnte? Bestand überhaupt die Möglichkeit, dass er ihn kannte - einen Vampir, der einen Ozean entfernt auf der anderen Seite der Welt lebte? Wenn der Soya ihr nun eine Falle gestellt hatte, war sie soeben zielgerichtet hineingelaufen. Ängstlich blickte sie zu ihm.

„Ich wusste, dass du kommst.“ Er lächelte sie freundlich an. Völlig entspannt saß er da, als ob er schon unzählige Male die zukünftige Samera des Blutfürsten außer Reichweite gebracht hatte. Delina erstarrte, musste an ihre Vorgängerin denken, die kurz vor der Vereinigung spurlos verschwunden war.

„Steckst du auch hinter dem Verschwinden von Mi Nellisha?“

„Bedaure“, der Soya schüttelte den Kopf. „Der Mi bin ich nie begegnet. Sie fortzubringen, wäre jedoch sehr viel komplizierter gewesen als bei dir. Du bist kein Blutmädchen mehr.“

Delina sah Soya Ducin mit großen Augen an. „Du kennst den Schleuser wirklich“, stellte sie fest.

„Ja!“

Ungläubig schüttelte Delina den Kopf. Sie konnte es noch immer nicht fassen. Ausgerechnet ein nahestehender Vertrauter des Blutfürsten kannte den Schleuser. Sie versuchte sich zu erinnern, was sie über den Soya wusste. Es war kläglich wenig. Weder wusste sie, wie nah er tatsächlich dem Vetusta stand, noch womit er seinen Lebensunterhalt bestritt.

„Wohin bringst du mich?“ Sie hatte sich diesem Vampir vollkommen ausgeliefert. Mit einem einzigen Schlag könnte er sie vernichten, er musste nur anhalten und die Innoka rufen.

„Du musst die Verbindung zu deinem Vater lösen“, sagte der Soya noch immer vollkommen gelassen.

Das war nicht möglich. Die Verbindung zu ihrem Rinoka war ihr Halt, ihr sicherer Anker. Sie war eine Vampirin, sie konnte nicht allein überleben. „Das kann ich nicht“, stammelte sie.

„Da vorne endet Haldors Grundstück. Wenn wir das Tor passieren, musst du alle Verbindungen gekappt haben. Ich habe dir gesagt, dass du alles hinter dir lassen musst.“

Delina schluckte.

„Das sind die Bedingungen. Trennst du dich nicht, brechen wir ab und halten an.“

Beide Optionen waren nicht berauschend, aber den Zorn des Blutfürsten auf sich zu ziehen, wäre schlimmer als jedes andere Szenario. Delina konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ihr Leben lag in Trümmern, und nichts würde es je wieder kitten können. Nichts würde sein wie zuvor. Wenn sie sich von ihrem Vater löste, gab es kein Zurück mehr.

Durch den Tränenschleier blickte sie den Soya an.

„Jetzt“, sagte er bestimmt und hielt ihren Blick fest.

Sie vertraute ihm. Nicht nur sie riskierte bei dieser Flucht eine ganze Menge, auch er ging ein hohes Risiko ein. Im Gegensatz zu ihr hatte er sogar die Wahl gehabt. Er hätte ihr die Möglichkeit zur Flucht nicht anbieten müssen.

Delina schloss die Augen, zog sich in ihren Kopf zurück und suchte den Ort auf, wo das Band in ihrer Seele verankert war. Sie war selten hier gewesen. Der Ursprung ihrer Verbindung war ihr bisher belanglos erschienen. Er war existenziell, immer da, aber bedeutungslos. Sie starrte das zarte Band an, trat näher an die Verbindungsstelle heran. Eine unglaublich wichtige Verbindung, von außen unzerstörbar. Nur sie oder ihr Vater konnten es lösen. Wenn sie es durchtrennte, wüsste ihr Vater sofort, dass etwas nicht stimmte und würde umgehend den Vetusta informieren. Sie musste eine Entscheidung treffen. Bevor sie es sich doch noch einmal anders überlegen konnte oder der Soya seine Drohung anzuhalten wahrmachte, zog sie an dem Band. Ein scharfer Schmerz durchfuhr sie. Einem Reflex folgend, griff sie nach dem losen Ende der Verbindung, wollte es sich wieder einverleiben. Doch ihre Hände griffen ins Dunkel, das Band entschwand in der Dunkelheit. Die Schwärze erfüllte sie, hüllte sie ein. Erdrückend und beinahe übermächtig. Hilflos streckte sie sich auf geistiger Ebene aus, suchte nach Halt.

Es fühlte sich an, als fiele sie in ein unendliches schwarzes Loch. Da war niemand, der sie auffing. Sie war vollkommen allein. War das der Zustand, an den sie sich gewöhnen musste? Konnte man sich daran überhaupt gewöhnen? Vielleicht wäre eine Verbindung mit dem Blutfürsten doch besser gewesen als dieses endlose Nichts, das Alleinsein. Es zehrte schon jetzt an ihren Nerven und würde sie in den Wahnsinn treiben.

Eine starke Präsenz tauchte vor ihr auf, zog sie zu sich. Ihre Schilde waren weit geöffnet. Sie war ein hilfloses Opfer. Problemlos drang die Präsenz in sie ein. Mächtig und stark, hell leuchtend. Das warme Licht erfüllte sie, als eine neue Verbindung ihre Seele vervollständigte. Noch bevor sie es richtig realisieren konnte, war ihr neuer Rinoka bereits wieder aus ihrem Kopf verschwunden.

Delinas Sicht klärte sich. Sprachlos starrte sie den Soya an. Sie fühlte die Verbindung zu ihm, die unglaubliche Ruhe, die er ausstrahlte und die nun auch ihr Innerstes erfüllte. Was hatte sie getan? Prüfend tastete sie ihn ab, fand jedoch nur feste Schilde vor.

„Unsere Verbindung wird nicht von Dauer sein“, erklärte er scharf, und Delina zog sich von den Schutzmauern zurück, als hätte sie sich verbrannt. Nicht dauerhaft? Was sollte das heißen? Er würde doch mit ihr kommen, sie begleiten?

„Wir sind auf dem Weg zum Flughafen. Du wirst nach New York fliegen.“

Und er? Er konnte sie doch nicht allein lassen.

„Was ist mit dir?“, keuchte sie.

„Mein Platz ist hier. Du wirst die Reise in die Neue Welt allein antreten.“

Nein! Das war unmöglich. Sie konnte nicht allein gehen. Er war ihr Halt, wer hielt sie, wenn er nicht mitging?

„Es soll sehr schön dort sein.“ Seine Aufmunterung war vergebens.

„Du wirst nicht mitkommen?“, fragte sie ängstlich.

Er schüttelte leicht mit dem Kopf. „Das ist leider nicht möglich.“

Aber sie konnte diese Reise nicht allein antreten. Sie brauchte einen männlichen Vampir, der sie beschützte. Allein war sie verloren. Niemand würde einer schutzlosen Vampirin helfen. Wie sollte sie allein in einer ihr völlig unbekannten Welt zurechtkommen?

„Sobald du im Flugzeug bist, werde ich das Band lösen“, fuhr der Soya unbeirrt fort. „In New York wird dich der Schleuser in Empfang nehmen. Er wird dein Rinoka sein, bis geklärt ist, wo du in Zukunft leben wirst.“

„Der Schleuser?“, hauchte Delina und konnte es einfach nicht fassen. Natürlich hatte sie von dem Vampir gehört, von dem jeder nur hinter vorgehaltener Hand sprach. Er war die Eintrittskarte in die Neue Welt. Er entschied, ob man eine Zukunft hatte. Niemand von denen, die Delina kannte, hatte ihn je zu Gesicht bekommen, denn die, die ihn sahen, kamen nicht zurück. Seine Macht war so viel weitreichender als die des sjütischen Blutfürsten. Mit diesem mächtigen Vampir sollte sie sich verbinden - wenn auch nur auf Zeit?

„Du musst dich nicht vor ihm fürchten. Er ist ein Freund“, versicherte ihr der Soya.

Das half Delina jedoch nicht wirklich. Nervös blickte sie aus dem Fenster, sah in der Ferne bereits die Lichter des Flughafens. Hatte sie die richtige Entscheidung getroffen? Sie musste ihre Zweifel beiseiteschieben, denn für eine Rückkehr war es jetzt zu spät.

„Wann hast du das letzte Mal gegessen?“

„Am frühen Abend“, antwortete sie wahrheitsgemäß.

„Gut, dann sollte der Hunger auf dem Flug kein Problem sein. Du wirst sieben Stunden in der Luft sein. Gegen vier Uhr morgens solltest du in New York ankommen. Der Schleuser holt dich und die anderen direkt am Flughafen ab.“

Delina schluckte. Der Plan hörte sich vernünftig an und konnte sogar funktionieren.

„Warum tust du das?“, fragte sie und blickte Soya Ducin neugierig an. Der Soya hatte in ihrem Clan eine gute Stellung, musste sich lediglich dem Blutfürsten beugen. Er war ein Mann, hatte niemanden, auf den er Rücksicht nehmen musste. Warum also verriet er ihren Clan, indem er ihr zur Flucht verhalf? So ruhig und selbstsicher, wie er sich verhielt, war ihr klar, dass er das nicht zum ersten Mal tat. Vermutlich war er derjenige, der all die Vampire in die Neue Welt brachte.

Völlig unbeeindruckt zuckte der Soya die Schultern. „Weil ich der Ansicht bin, dass jeder Vampir das Recht hat, sein Leben selbst zu gestalten.“

Delina starrte ihre Hände an, die verkrampft in ihrem Schoß lagen. Warum war er erst jetzt in ihr Leben getreten? Warum waren sie sich nicht schon viel früher begegnet? Er wäre ein Mann gewesen, dem sie vertrauen und in den sie sich verlieben könnte. Er war ein guter Vampir, und als Soya wäre er eine akzeptable Partie für ihren Vater gewesen.

„Nein, Delina“, sagte er sanft und legte seine Hand auf ihre verkrampften Finger. „Höre auf, darüber nachzudenken. Ich bin nicht der Richtige für dich. Mein Leben ist gefährlich, das kann ich keiner Samera zumuten. Du hast etwas Besseres verdient.“

Er hatte es natürlich über das Band gespürt. Traurig nickte sie, auch wenn sie dem Soya nicht ganz zustimmen konnte. Sie wäre bereit gewesen, das Risiko an seiner Seite einzugehen. Dann hätte sie den Clan der Sjüten nicht verlassen müssen. Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Die Würfel waren gefallen.

Kapitel 3


Thor liebte diesen exklusiven Club. Niemand vermutete in dem dreistöckigen Mietshaus ein Etablissement dieser Art. Die Kundschaft war erlesen, ebenso wie ihre Wünsche. Pearl hatte ihre Mädchen fest im Griff, und ihre oberste Priorität war die Kundenzufriedenheit. Kein Wunsch blieb unerfüllt, war er auch noch so ausgefallen.

Parkplätze waren in der Tiefgarage ausreichend vorhanden, so dass Thor ohne großes Aufsehen die Örtlichkeiten betreten konnte. Er nahm die Mädchen immer im Doppelpack – welche, das war ihm egal. Sie hatten alle reichlich Alkohol intus, wodurch das Blut schal schmeckte. Solange sie jedoch keine Drogen nahmen, störte er sich nicht daran.

Er meldete sich am Empfang an und erledigte dort die Formalitäten. Dann betrat er den großen Raum im Erdgeschoss, der auf den ersten Blick eher einem Restaurant glich. 

Er sah auf die Uhr. Drei Stunden blieben ihm, bevor er mit den Vorbereitungen für seinen nächsten Auftrag beginnen musste. Genug Zeit, um zu vergessen.

Es mochte an seiner vampirischen Ausstrahlung liegen oder einfach an der Tatsache, dass seine Haut so dunkel wie Schokolade war. Die weiblichen Wesen flogen auf ihn wie Motten auf das Licht. Und so war es auch diesmal. Im Nu war er umringt von sechs eifrigen Schönheiten. Gelangweilt ließ er seinen Blick über die Mädchen schweifen, bis sein Blick an einer feurigen Rothaarigen hängen blieb. Kennen war übertrieben, aber er erinnerte sich an sie. Bereits zwei Mal hatte er sie mit auf ein Zimmer genommen und es kein einziges Mal bereut. Sie konnte ausgezeichnet mit dem Mund umgehen und mochte es auch ein wenig heftiger. Er wurde bereits hart, wenn er nur daran dachte. Für heute wäre sie die richtige Wahl. Er legte einen Arm um das Mädchen, das ihn mit einem eingeübten Augenaufschlag ansah und ihn anstrahlte, als hätte sie soeben im Lotto gewonnen. Ein Hauch von Vorfreude ergriff ihn. Drei Stunden konnten unter Umständen viel zu kurz sein. Achtlos griff er mit der freien Hand nach einem der anderen Mädchen. Es war eine kurvige Blonde, die sich im unschuldigen Lolita-Stil zurechtgemacht hatte. Normalerweise nicht unbedingt seine erste Wahl, denn er mochte wilden, ungestümen Sex, bei dem er zu jeder Zeit die Kontrolle hatte. Das Beste daran war jedoch der Moment, wenn er zum Höhepunkt kam, sich alles um ihn in Luft auflöste und diese verdammte, beschissene Welt für Sekunden den Atem anhielt. Er musste an nichts denken, die Erde blieb einfach stehen, bevor das Hier und Jetzt ihn wieder einholte. Das war der Grund, warum er hier war. Aber das Blut schmeckte bei allen gleich, daher war es völlig einerlei, ob Lolita oder nicht.

Wortlos dirigierte er seine Ausbeute in den hinteren Bereich zu den Räumen, die den Gästen zur Verfügung standen. Es gab verschieden eingerichtete Zimmer, je nach Neigung. Thor hatte keine großen Ansprüche. Ein Bett, zur Not auch nur ein Sessel. Deshalb störte es ihn nicht, dass seine Begleiterinnen eine Wahl trafen. Er realisierte allerdings auch erst, wo sie sich befanden, als sich die Zimmertür hinter ihnen geschlossen hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte er umzudrehen. Er war hier schon einmal gewesen, und die Erinnerungen daran waren nicht allzu prickelnd, dafür aber noch äußerst lebhaft. Er musterte das große Bett mit den angeblich so stabilen Metallpfosten und dem Gestänge an der Decke. Keine zehn Pferde würden ihn ein zweites Mal auf dieses Bett bringen. Hastig sah er sich um und war beinahe erleichtert, als er einen Sessel entdeckte, der etwas abseitsstand. Eigentlich war er für einen Beobachter gedacht, doch heute würde er ihn zur Spielwiese machen. Er zog die beiden Mädchen mit.

„Zeig mal, was deine flinke Zunge kann“, bat er die Rothaarige, die sich mit einem lasziven Augenaufschlag zu Boden sinken ließ und sich an seiner Hose zu schaffen machte. Aufreizend langsam fuhr sie über seine Erregung. Er schloss die Augen und wollte nur vergessen. Als er jedoch die Augen öffnete und das verdammte Bett vor sich sah, versteifte er sich unwillkürlich, und die Erinnerung an seinen zweiten Besuch hier holte ihn ein.

Er kannte seine Schwächen, wusste, dass er nie die Kontrolle abgab. Dingen, die er nicht beherrschen konnte, ging er aus dem Weg. Keine Ahnung, wie er auf die Idee gekommen war, dass es ganz nett wäre, den unterwürfigen Part einzunehmen. Er hatte sich von dem Mädchen ans Bett fesseln lassen, hatte sogar auf die Eisenketten bestanden. Vor seinem geistigen Auge erschien das Mädchen mit den langen, klimpernden Ohrringen, deren Anblick sich tief in sein Gedächtnis eingebrannt hatte. Sie saß rittlings auf ihm, hatte ihn tief in sich aufgenommen. Es war ihm wahnsinnig schwergefallen, reglos dazuliegen, ihre wippenden Bewegungen über sich ergehen zu lassen. Er kämpfte gegen das Verlangen an, sich einfach loszureißen. Hilfesuchend fokussierte er ihre wippenden Ohrringe. Das half allerdings auch nicht lange.

Mit einem Ruck wurde sein Reißverschluss aufgezogen, und eine warme Hand wanderte in seine Shorts. Augenblicklich war er zurück in der Gegenwart. Er stöhnte, tief und kehlig, und wünschte sich, dass sich die Kleine etwas mehr beeilte. So nahm er ihren Kopf zwischen seine Hände und dirigierte sie in seinen Schritt. Sie verstand sofort und beeilte sich, ihm die Hose abzustreifen. Die Shorts fielen gleich mit zu Boden. Um es ihr etwas leichter zu machen, stieg er aus der Hose heraus und positionierte sich auf dem Sessel.

Die Blonde hielt es für eine gute Idee, sich aufs Bett zu legen und sich dort zu räkeln. Er betrachtete sie, musste aber wieder an das Mädchen mit den wippenden Ohrringen denken, als sie kurz davor war, den Gipfel der Lust zu erklimmen. Er hatte eigentlich ziemlich lange durchgehalten, ziemlich lange gegen das Gefühl der Machtlosigkeit angekämpft. Dann war es zu viel gewesen. Er hatte sich nicht mehr unter Kontrolle gehabt. Die Eisenstangen, die ihn hätten halten sollen, bogen sich wie schmelzendes Plastik unter Wärmeeinstrahlung. Selbst das Deckengestänge gab einfach nach, riss aus seiner Verankerung und hätte sie beinahe auf dem Bett begraben, wenn er seine Gespielin nicht gerade noch rechtzeitig davongezogen hätte. 

Nein, er wollte sie nicht länger auf dem Bett liegen sehen.

Komm her!, befahl er ihr wortlos.

Sie setzte sich auf, erhob sich und kam mit wiegenden Hüften auf ihn zu. Er klopfte auf die Lehne neben sich und gab ihr zu verstehen, dass sie sich dort niederlassen sollte. Hingebungsvoll reckte sie sich ihm entgegen, und er griff an ihre vollen Brüste. Sie biss sich auf die Lippen und stöhnte. Thor griff fester zu. Von wegen Lolita. Sie war ein Biest, wie die anderen hier auch, und er würde keine Hemmungen haben, sich an ihr zu laben. Mit einer Hand streifte er den störenden BH nach unten und widmete sich ihrem entblößten Fleisch.

Die Rothaarige kniete noch immer vor ihm am Boden, leckte und saugte abwechselnd an ihm. Er griff in ihre vollen Haare und dirigierte ihren Kopf. Gehorsam folgte sie seinen wortlosen Anweisungen. Er zog sie wieder ein Stück von sich weg, denn wenn sie so weiter machte, würde er gleich in ihren Mund kommen, und das wollte er heute nicht. Bevor er sich jedoch einer ihrer anderen Körperöffnungen zuwandte, würde er erst einmal seinen Durst stillen.

Sein Handy vibrierte. Es lag am Boden, steckte in der Gesäßtasche seiner Hose. Nein, jetzt nicht! Er vergrub seinen Kopf zwischen den vollen Brüsten seiner Gespielin. Die Fänge kribbelten bereits vor Vorfreude im Kiefer, das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Gleich durfte er der süßen Verlockung nachgeben, durfte von ihrem Blut kosten. Sein Mund schloss sich um eine der Brustwarzen, während seine Hand die andere Brust knetete. Da er die Hand vom Kopf der anderen genommen hatte, hatte sie nun wieder alle Freiheiten, die sie ausreizte. Es kostete ihn all seine Selbstbeherrschung, um an sich zu halten. Die Kleine wusste verdammt gut mit ihrer Zunge umzugehen. Ein kehliges Gurgeln entwich seiner Brust. Das Tier war entfesselt. Mühelos drang er in den Geist der Blutwirtin ein, verbot ihr, einen Laut von sich zu geben. Seine Fänge schossen hervor, bohrten sich in das weiche Fleisch ihrer weiblichen Rundungen. Er spürte, wie das Blut in seinen Mund schoss, und trank gierig. Die Menschenfrau reckte sich ihm entgegen, war völlig benebelt. Die Nahrungsaufnahme, verbunden mit der oralen Behandlung, steigerte seine Libido ins Unermessliche. Hastig beendete er seine Mahlzeit, schloss die Wunde mit seinem Speichel und leckte genüsslich alle Spuren auf. Dann hob er den Kopf und sah sie direkt an. Noch immer schwebte sie zwischen den Welten, unansprechbar. Doch für seine mentalen Befehle war sie dennoch empfänglich.

Vergiss die letzte Stunde!

Sie nickte dümmlich.

Und verschwinde!

Mit einem glücklichen Lächeln erhob sie sich, zupfte ihre Kleidung zurecht und verließ den Raum.

Etwas irritiert aufgrund des schnellen Abgangs der Kollegin, hob das andere Mädchen den Kopf. Thor nutzte die Pause, um sie an den Haaren von sich zu ziehen. Ihr knallroter Lippenstift war ziemlich verschmiert. Er stand auf, drängte sie, sich auf den Sessel zu knien. Sie hatte deutlich weniger Brustumfang als ihre Freundin. Er probierte aus, wie weit sie sich vorbeugen konnte. Ihr Po lag halb entblößt vor ihm. Mit dem Zeigefinger fuhr er unter den dünnen Stoff, der ihre Scham bedeckte, und zog daran. Er gab augenblicklich nach. Es würde ihm großes Vergnügen bereiten, sie von hinten zu nehmen. Als er mit dem Finger durch ihre Nässe strich, grunzte sie versonnen auf. Sie war bereit, mehr als bereit. Mit beiden Händen umschloss er ihr Gesäß und brachte sie in Position, während er sich langsam in sie schob.

„Ja!“, quiekte sie.

Thor spürte zuerst die Vibration und hörte dann das Surren seines Handys. Schon wieder versuchte jemand, ihn anzurufen. Er warf einen bösen Blick auf die Hose, als könnte er dadurch das Handy zum Verstummen bringen. Es summte natürlich weiter. Der verfluchte Anrufer konnte warten.

Mit Eifer stieß er weiter in die Kleine, gab seine Zurückhaltung immer mehr auf. Er wollte verdammt noch mal einfach vergessen. Immer wieder stieß er in sie, suchte nach seinem Vergnügen. Dass das Mädchen stöhnte und keuchte, turnte ihn nur noch mehr an. Er mochte es, wenn die Frauen ihre perfekten Masken ablegten und zu rolligen Tieren wurden. Dann fühlte er sich nicht mehr ganz so allein auf der Welt. Denn auch in ihm schlummerte eine Bestie, die er nur mühsam unter Kontrolle halten konnte.

Sein Höhepunkt nahte. Er musste aufpassen, dass er nicht in ihr kam, schließlich wollte er keinen Bastard riskieren. Immer wieder zog er sich beinahe ganz aus ihr zurück, um dann wieder tief in sie zu stoßen. Unnachgiebig bewegte er sich in ihr. Als er spürte, wie seine Eier sich zusammenzogen, wusste er, dass er nicht mehr lange aushalten würde. Ein letzter Stoß, noch einmal kostete er die wunderbare Enge und die angenehme Wärme aus. Mit einem hemmungslosen Knurren zog er sich aus ihr heraus und ergoss sich auf ihrem Rücken. Der selige Zustand des Vergessens. Nichts zählte mehr, die Welt stand für einen Moment still. Er verspürte das Bedürfnis, auch auf geistiger Ebene mit ihr zu verschmelzen, wusste aber gleichzeitig, dass der Verstand des Mädchens das nicht verkraften würde, ohne sie zu einer willenlosen Sklavin zu machen. Viel zu schnell holte die Realität ihn wieder ein. Leere breitete sich in ihm aus. Reglos starrte er auf die milchige Flüssigkeit, die sich langsam verteilte und auf den Sessel tropfte.

„Ich habe noch nie etwas so Geiles erlebt“, stöhnte seine Gespielin und drehte ihm ihr verschwitztes Gesicht zu, das von nassen Haarsträhnen umrahmt wurde. Ihre Augen waren noch immer glasig, die Wonne der Vereinigung stand ihr ins Gesicht geschrieben.

Er fühlte sich schmutzig und verspürte das dringende Bedürfnis nach einer Dusche. Jedes der Zimmer hatte ein angeschlossenes Bad. Er erhob sich und machte sich auf die Suche. Er dauerte nicht lange, und er wurde fündig. Ohne sich nach dem Mädchen umzusehen, ging er hinein und hoffte, dass sie verschwunden war, wenn er zurückkam.


* * * 


Als Thor aus dem Bad kam, war das Zimmer tatsächlich leer. Seltsamerweise erfasste ihn eine gewisse Erleichterung. Nackt wie er war, ging er zum Sessel, bückte sich und hob seine Kleidung auf. Noch ehe er die Hose anziehen konnte, begann sein Handy abermals zu vibrieren. Er zog das Mobiltelefon aus der Tasche und warf einen schnellen Blick auf das Display.

Testa“, murmelte Thor, als er Ducins Namen las. Wenn der Soya es so oft versuchte, musste es wichtig sein Thor nahm das Gespräch an.

„Ja?“

„Dir auch Berne Nox“, grüßte der Sjüte.

„Was willst du?“ Mit Ducin hatte er durch seine Schleusertätigkeit viel zu tun. In den letzten Monaten war Ducin jedoch mehr als ein wichtiger Verbündeter geworden. Und vor allem hatte er mehr als einmal sein Leben für den Bostoner Clan riskiert. Er hatte Sam, Jendrael und Arnika zur Ausreise verholfen. Auch Etina und Rastus hatte er bei deren Flucht maßgeblich unterstützt. Dafür hatte er nicht nur Thors Respekt bekommen, sondern war auch so etwas wie ein Freund geworden. „Ist das Paket unterwegs?“, fragte Thor. War etwas mit den Flüchtlingen schiefgegangen? War er zu spät? Eine Uhr am Handgelenk war nur hinderlich, deswegen las er die Uhrzeit von seinem Mobiltelefon ab. Er lag absolut in seinem Zeitplan, was also veranlasste den Soya zu diesem Anruf?

„Es gab eine Planänderung.“

Also doch. Vielleicht kamen die Flüchtlinge nicht. Dann musste er unverzüglich Blance anrufen und hoffen, dass der Dominus noch nicht auf dem Weg war.

„Was meinst du damit?“, fragte Thor nach, hörte jedoch nur mit halbem Ohr zu.

„Das Paket ist unterwegs und ein Päckchen ebenfalls.“

Der Sjüte konnte sich seiner Aufmerksamkeit jetzt sicher sein.

„Testa!“ Thor fuhr sich über seinen raspelkurz geschorenen Hinterkopf. „So war das nicht abgemacht.“ Er war auf einen männlichen Vampir mit einer Tochter eingestellt. Mehr würde er auf die Schnelle auch nicht unterbringen können. Es hatte ihn ohnehin einiges an Mühe gekostet, die Neuankömmlinge nach Los Angeles zu vermitteln. Zumindest standen die Chancen dafür ganz gut. Blance Beersfood, der dortige Dominus, war anfänglich nicht sonderlich begeistert gewesen, und es hatte Thor einiges an Überredungskünsten gekostet, sich zumindest die beiden Flüchtlinge anzusehen.

„Welches Päckchen?“, hakte er deshalb unwillig nach. In den letzten Monaten waren unglaublich viele fränkische Vampire zu ihnen geflohen. Alleinstehende Vampire, die sich in der Neuen Welt einen höheren Rang versprachen, ganze Familien, die sich um die Sicherheit ihrer Kinder sorgten, und sogar Mitglieder der Innoka. Die Fluchtwelle stellte die Neuweltler vor ein Problem. Er tat alles, was in seiner Macht stand. Jendrael hatte alle möglichen Verbindungen spielen lassen, und auch Darius, der Anführer ihres Clans, hatte mobilisiert, was ging. Nach reiflicher Überlegung wurden zwei neue Clans gegründet, das funktionierte allerdings nur, weil die Soyas Aneng und Werner mit ihren Familien übersiedelten. Gerade bei Neugründung konnte man nicht uneingeschränkt weiter Vampire aufnehmen, und auch die Belastbarkeit der anderen Clans war nahezu ausgereizt.

„Etwas ganz Besonders“, erklärte Ducin.

Thor schnaubte. Besonders waren Flüchtlinge alle, dennoch half ihm das nicht, wenn er keine Heimat für sie fand. Das Päckchen würde er wohl oder übel in eine Lagerhalle bringen müssen, wo es das Schicksal der Familie von heute Morgen teilen würde.

„Ich habe bereits unzählige Male versucht, dich zu erreichen.“

Thor ignorierte den Vorwurf. Er stieg mit dem Telefon am Ohr in seine Hose. Er war beschäftigt gewesen. Mehr als genug Zeit opferte er für die Schleusertätigkeit, da konnte er doch einmal eine halbe Nacht unerreichbar sein.

„Wie alt ist er?“ Im Kopf ging er bereits die Clans durch, die einen einzelnen Vampir noch verkraften konnten. Nur sehr ungern überließ er einen Vampir seinem Schicksal. Wenn das Päckchen Kampferfahrung hatte, könnte er ihn eventuell Arjun nach Chicago schicken. Der dortige Dominus hatte immer noch Probleme mit einem nicht autorisierten Clan.

„Sie“, korrigierte Ducin ihn.

Thor glaubte, sich verhört zu haben. Er hatte sich gerade das T-Shirt über den Kopf gezogen.

„Kannst du das nochmal sagen?“

„Sie.“

Sie?“ Sämtliche Alarmglocken sprangen an. Eine allein reisende Vampirin? Ein Albtraum. Was sollte er mit ihr? Es war unmöglich, sie in einem Clan unterzubringen. Ein Vampir war schon schwierig, aber eine Vampirin gänzlich unmöglich.

„Es tut mir verdammt leid, dass es so kurzfristig ist. Ich hätte dich gerne vorgewarnt.“

„Und wie stellst du dir das jetzt vor? Was soll ich mit ihr machen?“ Thor war richtig angepisst. Er schlüpfte in seine Lederjacke und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen. Ein kurzer Zwischenstopp in seiner Wohnung, dann musste er sich auf den Weg zum Flughafen machen.

„Ich habe sie nicht ihrem Schicksal überlassen können.“

„Und was denkst du, welches Schicksal sie hier erwartet?“ Er schüttelte fassungslos den Kopf.

„Sie ist die Auserwählte.“

Thor stieß einen leisen Pfiff aus. „Du hast die Kleine deines Chefs gekidnappt?“

„Nein“, brummte Ducin. „Erstens war sie noch nicht mit ihm verbunden, und zweitens war ihre Flucht freiwillig. Sie hat etwas Besseres verdient als diese Verbindung.“

Im Prinzip konnte Thor die Beweggründe des Sjüten verstehen, doch er fragte sich immer noch, was die Sache mit ihm zu tun hatte. Sie waren kein Wohltätigkeitsverein, und er konnte nicht unbegrenzt Vampire hier aufnehmen, noch dazu eine alleinstehende Vampirin. Sie war nicht einmal überlebensfähig.

„Das ist nicht mein Problem, wenn du den Samariter spielen musst. Warum hast du sie nicht behalten?“

„Das weißt du sehr gut.“ Ducin blieb ruhig.

Thor hatte eine ungute Vorahnung. Es würde noch etwas kommen.

„Was soll ich mit ihr tun?“, wollte er genervt wissen.

„Sie in Empfang nehmen und auf sie aufpassen.“

Gut, dass er sich gerade im Aufzug befand und nichts in Reichweite war, gegen das er treten konnte. „Bist du völlig übergeschnappt?“, blaffte er Ducin an.

„Du kannst dich bestimmt ein paar Tage um sie kümmern.“

Thor fehlten die Worte. Sich um Flüchtlinge zu kümmern, war sein Job. Das bedeutete, sie in die sichere Unterkunft zu bringen und sie zu vermitteln. Das, was Ducin von ihm verlangte, ging weit darüber hinaus. Diese Vampirin brauchte einen Babysitter, einen männlichen Beschützer, und dafür war er gänzlich ungeeignet. Er würde sich keine Frau ans Bein binden, schon gar keine Angehörige der verdammten Innoka.

„Das kannst du nicht von mir verlangen“, stieß er mühsam beherrscht hervor.

„Nur vorübergehend. Betrachte es als einen persönlichen Gefallen unter Freunden.“

Thor kniff die Augen zusammen. Er hasste den verfluchten Sjüten dafür, dass der gerade sein As ausspielte. Beide wussten sie genau, dass er unter diesen Umständen dem anderen Soya die Bitte nicht abschlagen konnte. Sie standen in Ducins Schuld und hatten alle gewusst, dass der Tag kommen würde, an dem er einen Gefallen einfordern würde. Warum musste Thor derjenige sein? Dennoch verbot es ihm sein Stolz, dem Freund die Bitte abzuschlagen. Auch wenn sie – und das konnte er schon förmlich riechen – nichts als Ärger einbringen würde.

„Eine Woche und keine Sekunde länger“, stimmte Thor missmutig zu.

„Perfekt. Ich werde zwischenzeitlich mit dem Anführer sprechen, vielleicht hat er noch ein Zimmer für sie frei.“

Dort würde er also einen weiteren Gefallen einfordern. Er hatte keine Ahnung, wie der Anführer sich entscheiden würde, und unterm Strich war ihm dies auch reichlich egal. Er würde sieben Tage den Babysitter spielen und keine Sekunde länger. Entweder er würde sie innerhalb dieser sieben Tage irgendwo abliefern, oder ihre Reise würde doch in einer Lagerhalle enden.

Ein anderer Gedanke keimte in Thor auf. Was bedeutete diese Frau dem sjütischen Soya? Dass er sie nicht bei sich behalten konnte, ohne in direkte Konfrontation mit seinem Blutfürsten zu gehen, war ihm natürlich klar. Brachte er sie deswegen in die Neue Welt, damit sie auf ihn warten konnte? Liebte er diese Frau? Seine Neugier war zumindest geweckt.

„Da ist noch etwas“, warf Ducin ein.

Thor schwante Böses. Er schloss schon einmal vorsorglich die Augen. „Hm …?“

„Sie wird völlig verängstigt ankommen.“

Eine abfällige Antwort, warum er eine Vampirin in einem solchen seelischen Zustand auf die Reise schickte, lag ihm bereits auf den Lippen. Doch er konnte sich die Spitze gerade noch verkneifen.

„Ich habe ihr eingeschärft, sich mit niemandem außer dir zu verbinden.“

Als ihm die Tragweite von Ducins Worten bewusst wurde, stieß er einen ganzen Schwall wüster Verwünschungen aus.

„Nur vorübergehend.“

Sie war also wirklich allein. Hatte keinen männlichen Begleiter dabei. Nicht einmal einen nichtsnutzigen unterwürfigen Vampir. Und weil Ducin wegen der Dringlichkeit nicht einmal in der Lage gewesen war, für dieses Problem eine Lösung zu suchen, sollte er nicht nur ihr Babysitter, sondern auch noch ihr Rinoka sein. Das war absolut unmöglich. Er wusste, was es hieß, als Soya für einen Mori Verantwortung zu übernehmen, aber eine Vampirin war etwas völlig anderes. Das war Familie, und damit hatte er absolut nichts am Hut. Er war einfach nicht dafür gemacht. Er war ein Einzelgänger, verdammt.

„Bitte!“

Thor wusste, dass er verloren hatte. Er konnte Ducin unmöglich diese Bitte abschlagen.

„Ich hasse dich dafür“, murmelte er verdrossen.

Am anderen Ende hörte er das amüsierte Auflachen des Sjüten. Wenn er ihm gegenübergestanden hätte, hätte er ihm definitiv eine verpasst. Aber er schwor sich, es Ducin eines Tages heimzuzahlen.

„Sollte ich sie kennen?“, brummte er übellaunig.

„Nein, sie ist völlig unbedarft.“

Wenn sie die Auserwählte des Blutfürsten war, musste sie der Innoka angehören. Er hasste diese Vampire, die sich allesamt für etwas Besseres hielten.

„In drei Tagen bekomme ich eine neue Ladung von den Spaniern. Ich brauche drei, maximal vier Tage, dann kann ich dein Päckchen nach Boston bringen.“

„Ich danke dir, Thor.“

Er fühlte sich schlecht. Ducins Worte waren aufrichtig, und dennoch konnte er sie nicht annehmen. Es gab nichts, wofür man ihm danken musste. Er würde es nicht gern machen, aber er würde es tun. Schon jetzt wusste er, dass die nächsten sieben Tage die Hölle werden würden. Aber er würde zu seinem Wort stehen und auf die Vampirin aufpassen. Er würde sogar ihr verdammter Rinoka werden. Sieben Tage – nur sieben Tage. Danach war wieder alles wie davor.

„Bye“, verabschiedete er sich knapp und legte auf. Gedankenverloren stand er noch einen Moment da, dann besann er sich auf seine Aufgabe. Er würde einen Abstecher in seine Wohnung machen und anschließend das Paket und das Päckchen in Empfang nehmen.

Kapitel 4


Delina saß zusammengekauert in der Enge. Sie zitterte am ganzen Körper, Schweißperlen standen ihr auf der Stirn. Ihr Körper rebellierte, und je länger dieser Zustand andauerte, umso elender fühlte sie sich. Das Schlimmste war jedoch die furchtbare Leere, die sie verspürte und die ihr den Verstand vernebelte. Konnte eine Vampirin durchdrehen, weil sie keinen Rinoka hatte? Sie hatte so viel Angst wie noch nie in ihrem Leben, und das lag weder an der Dunkelheit noch an dem beengten Raum.

Die Taschenlampe, die ihr Soya Ducin gegeben hatte, lag achtlos neben ihr. Sie brauchte kein Licht, das würde auch nicht helfen, die Panikattacken zu besiegen. Auch wenn es keinen Unterschied machte, schloss sie die Lider und ging zum wiederholten Male das Geschehen durch. Dabei fragte sie sich verzweifelt, ob sie nicht den dümmsten Fehler ihres Lebens begangen hatte. Der Soya hatte ihr versichert, dass alles gut werden würde, und daran klammerte sie sich. Denn das war die einzige Hoffnung, die ihr geblieben war.

Soya Ducin war mit ihr zum Flughafen gefahren. Die kleine Frachtmaschine war bereits startklar gewesen. Bis auf eine Luke waren alle geschlossen. Als sie aus dem Auto stiegen und mit schnellen Schritten auf das Flugzeug zu hasteten, spürte sie die Anwesenheit von weiteren Vampiren. Je näher sie kamen, umso deutlicher nahm sie deren Präsenz wahr. Der Soya half ihr beim Einsteigen und drückte ihr eine Taschenlampe in die Hand.

„Wenn du in der Luft bist, werde ich dich loslassen“, erklärte Soya Ducin ihr.

Das Entsetzen musste ihr ins Gesicht geschrieben sein, denn er fügte hastig hinzu: „Du musst dich nicht fürchten. Bleib einfach bei dir.“ Er warf einen vielsagenden Blick auf eine Ladeluke und sprach weiter: „Du darfst dich nicht auf geistiger Ebene ausstrecken, hörst du. Er mag ein männlicher Vampir sein, aber er wird dir nichts geben können. Sein Bestreben liegt darin, eine Zukunft für seine Tochter zu schaffen.“

Delina versuchte, tapfer zu sein, und nickte.

„Es wird nicht leicht werden, aber du schaffst das. Wenn du landest, wird der Schleuser dich in Empfang nehmen. Mit ihm wirst du dich verbinden.“

Sie erschauderte. Sie sollte sich mit dem Schleuser verbinden? Dem Vampir, der über das Leben und Scheitern der Flüchtlinge entschied? Ein weiterer Umstand bereitete ihr Sorge.

„Woran erkenne ich ihn?“

„Er ist der einzige dunkelhäutige Vampir, den ich je gesehen habe.“

Delina war verwirrt. Es gab keine dunkelhäutigen Vampire. Sie hatten alle eine helle Hautfarbe. Bevor sie nach dem Namen des Schleusers fragen konnte, schloss der Soya die Luke.

Hastig knipste sie die Taschenlampe an, doch gegen die Stahlwände, die immer näher rückten, konnte sie nichts tun. Da war es ihr doch lieber, in der Dunkelheit zu sitzen. Sie schaltete die Lampe aus.

Der schwere Vogel rollte über das Startfeld und erhob sich in die Luft. Tief durchatmen war in dem engen Kleid noch immer nicht möglich. Für eine Reise war sie ohnehin gänzlich unangemessen gekleidet. Sie versuchte, eine bequeme Position zu finden, was nahezu unmöglich war. Egal, wie sie saß, das Atmen schmerzte, und mit jedem Zug hatte sie das Gefühl, dass die Schnürung sich enger um ihren Oberkörper schloss. Daher versuchte sie, das Atmen auf ein Minimum zu reduzieren.

Der Moment, in dem sich das Rinokaband auflöste, veränderte alles. Delina schrie auf, versuchte sich irgendwo festzuhalten, doch da war nichts, was ihr Halt gab. Das drängende Gefühl, sich auf die geistige Ebene zu begeben und einen Anknüpfungspunkt zu suchen, war so überwältigend, so übermächtig, dass sie all ihren Willen benötigte, um sich dagegen zu wehren. Es war furchtbar zu wissen, dass ein männlicher Vampir in Reichweite war, sie sich ihm jedoch nicht öffnen durfte. In diesem Zustand verharrte sie. Einmal spürte sie, wie etwas über sie strich. Ihre Schilde waren fest geschlossen, und sie wagte auch nicht, sie nur ein winziges Stück zu öffnen, um hinaussehen zu können. Völlig in sich zurückgezogen, wartete sie auf die Ankunft in der Neuen Welt.

Tränen rannen über ihre Wangen, ihr Körper zitterte immer schlimmer. Sie sehnte sich danach, Ruhe zu finden, wünschte sich, dass die Dunkelheit sie verschluckte und jeden Gedanken, jede Qual fortspülte.

Wie lange der Flug nun schon andauerte und wie lange sie bereits vor sich hin wimmerte, wusste sie nicht. Jeder Muskel ihres Körpers schmerzte. Aber sie durfte nicht nachlässig werden, sich nicht auf die geistige Ebene begeben. Sie musste stark bleiben, sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Ihr Kopf flog unsanft gegen die Stahlwand, als das Flugzeug abrupt an Höhe verlor. Ein Absturz? Oder waren sie im Begriff zu landen? Delina hoffte, dass Letzteres der Fall war. Sie hob ihre Arme schützend über den Kopf, damit sie einen weiteren Schlag abfangen konnte. Normalerweise hätte sie ihren Kopf zwischen die Knie gelegt, aber mit dem Kleid war das nicht möglich.

Das Flugzeug sank noch immer und neigte sich nun auch noch gefährlich auf eine Seite. Delina versuchte, alles um sich herum auszublenden. Wenn sie richtig lag, hatte sie es bald geschafft. In Kürze würde sie die Neue Welt betreten. Tapfer schluckte sie die Angst hinunter, verbot sich jeden Gedanken an die Zukunft. Zuerst einmal musste sie lebend aus dem Flugzeug steigen und den Schleuser finden. Einen unbekannten Vampir, einen mit schwarzer Hautfarbe. Ein Neger, wie ihre Eltern diese Bevölkerungsgruppe stets nannten, ein Afroamerikaner, wie er nach den derzeitigen ethischen Maßstäben genannt werden sollte.

Wie sollte sie ihn ansprechen? Welchen Titel trug er? Hörte er auf Schleuser? Wie war sein Name? Unzählige Fragen schossen ihr durch den Kopf und lenkten sie von der Tatsache ab, dass sie noch immer an Höhe verloren. Völlig unvorbereitet ging ein Ruck durch das Flugzeug. Es hatte zur Landung angesetzt. Die Bremsen unter ihr quietschten, und sie musste sich mit den Armen abstützen, um nicht quer durch den Raum geschleudert zu werden.

Angespannt wartete Delina ab. Die Turbinen erstarben, und das Flugzeug stand. Sie lauschte, soweit es mit dem Rauschen in ihren Ohren möglich war. Nichts. Quälende Minuten wartete sie, fürchtete, dass sie die letzten in ihrem Leben waren, bevor ihr Verstand sich verabschiedete.

Ein Scheppern. Metall, das verschoben wurde und dabei ein langgezogenes Quietschen von sich gab. Es war ziemlich laut, ganz in ihrer Nähe.

Licht fiel zu ihr herein. Erst nur ein Spalt, dann wurde die Luke weit geöffnet. Es war viel zu hell. Delina musste die Augen zusammenkneifen und hob schützend eine Hand. Zumindest war es kein Sonnenlicht. Das erkannte sie daran, dass die Lichtstrahlen auf ihrer Haut nicht stachen. Echtes Sonnenlicht vertrug sie nicht sonderlich gut, dazu war sie noch zu jung.

Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Helligkeit. Sie blinzelte, versuchte das Verschwommene scharf zu stellen. Die Konturen gingen immer noch ineinander über, dann schärfte sich ihr Blick. Ein afroamerikanischer Militärangehöriger mit Woodland-Tarnmuster-Anzug stand vor ihr. Die tief ins Gesicht gezogene Mütze verbarg seine Augen. Als er den Kopf hob und sie unverwandt aus unergründlichen braunen Augen anstarrte, war sie sich sicher, dem Schleuser gegenüberzustehen. Da spürte sie auch schon, dass etwas auf geistiger Ebene bei ihr anklopfte. Sie hatte sich so lange danach gesehnt, nicht mehr allein zu sein, dass sie sich ohne weiteres Nachdenken öffnete. Sie war schutzlos und verwundbar, völlig der Gnade des fremden Vampirs ausgesetzt, und im Gegensatz zu Soya Ducin war er kein Angehöriger ihres Clans.

Sie spürte die fremde Präsenz, die sich zwischen ihren halboffenen Schilden hindurchzwängte und in ihren Kopf eindrang. Sie hatte keine Zeit, sich zu fragen, ob sie das wirklich wollte, ob sie bereit war, sich ihm völlig zu offenbaren. Doch er war viel zu schnell. In atemberaubender Geschwindigkeit durchforstete er sie und fand schließlich ihre schutzlose Seele. Etwas blitzte auf, und hastig griff Delina nach dem Rettungsanker. Es war nicht schwer, das Band in ihrer Seele zu verankern. Sekundenlang sprühten Regenbogenfunken vor ihren Augen, ehe ihre Welt wieder ins Lot gerückt wurde. Es war gut, dass sie noch immer saß, sonst hätte es ihr unweigerlich den Boden unter den Füßen weggezogen. So heftig hatte sie die Verbindung zu Soya Ducin nicht mitgenommen. Lag es daran, dass sie so lange völlig allein gewesen war?

„Die Reise ist vorbei, Mi“, erklärte der Schleuser mit einer rauen Stimme, die ihr eine angenehme Gänsehaut verursachte. Er streckte ihr auffordernd die Hand entgegen.

Delina starrte ihn an, brauchte einen Moment, ehe sie zögernd ihre kleine Hand in seine große legte. Mühelos zog er sie zu sich heran, umfasste ihre Taille und stellte sie neben sich auf den Boden. Sie war groß, doch er überragte sie trotz ihrer hochhackigen Schuhe noch um einige Zentimeter. Im nächsten Augenblick spürte sie eine Hand auf ihrem Brustbein. Langsam fuhr er ihren entblößten Hals entlang, strich über ihre Wange. Delina erzitterte. Noch nie hatte ein Mann sie je so berührt, noch nie hatte sie jemandem solche Körperprivilegien gestattet. Doch er war ihr Rinoka, und sie konnte sich ihm nicht entziehen.

Endlich trat er zurück, ließ von ihr ab. Reglos starrte sie ihm hinterher, als er das Flugzeug entlangging und eine weitere Klappe öffnete. Ein männlicher Vampir und eine dunkelhaarige Vampirin kletterten aus der Maschine heraus.

„Wir müssen los!“ Ohne auf jemanden zu warten, marschierte der Schleuser auf das parkende Militärfahrzeug zu.

„Komm!“, drängte der Vampir und schob seine Begleiterin vor sich her.

Delina sah sich nach dem Schleuser um, der bereits in seinem Fahrzeug saß. Angst erfasste sie, dass er sie in diesem fremden Land allein zurücklassen würde. Hektisch rannte sie auf das Auto zu, dabei war es ihr völlig egal, dass sich so ein Verhalten nicht geziemte. Sie musste einsteigen, bevor er ohne sie abfahren konnte.


* * *


Sein schlimmster Albtraum war wahr geworden. Thor fragte sich, wie Ducin, der sich als sein Freund bezeichnet hatte, ihm so etwas Grausames antun konnte. Ihm waren fast die Augen aus dem Kopf gefallen, als er die Ladeklappe öffnete und darin die hübscheste Vampirin vorfand, die er je gesehen hatte. Selbst das schmutzige Hochzeitskleid und die ramponierte Frisur konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie eine Schönheit war. Delina. Der Name passte wirklich zu ihr. Mit großen, weit aufgerissenen blau-grauen Augen hatte sie ihn ängstlich angeblickt. Kein aufreizendes Wimpernklimpern, kein unechter Haarkranz auf dem Augenlid.

Thor hatte Ducin versprochen, die Vampirin unter seinen Schutz zu stellen. Er roch den ihr noch anhaftenden schwachen sjütischen Geruch, spürte aber auf geistiger Ebene, dass sie mit niemandem verbunden war. Nur wenige Meter von ihr entfernt befand sich ein anderer männlicher Vampir. Sie hätte sich jederzeit nach ihm ausstrecken können, hatte dies jedoch nicht getan. Das zeugte von einem starken Verstand. So verkrampft, wie sie dasaß, den Geist hinter dicken Schutzschilden versteckt, hatte sie lange in diesem Zustand ausgeharrt.

Wortlos starrte sie ihn an, und die Frage, ob er derjenige war, der ihr Schutz bieten würde, war ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Er streckte sich geistig nach ihr aus, und kaum berührte er ihre Mauern, öffnete sie sich ihm. Ohne Hindernisse konnte er in ihren Kopf vordringen. Verdammt. Ihr Geist war noch viel schöner als ihr äußeres Erscheinungsbild. Egal, wo er hinblickte, sah er makellose Reinheit. Nie zuvor hatte er etwas so Prunkvolles gesehen. Sie glich einem sauberen Tuch, und er hoffte, dass er sie durch das Band zu ihm nicht verschmutzte, dass seine Fehlerhaftigkeit nicht auf sie abfärbte. Er erreichte ihr Innerstes, den Kern ihrer Seele, und hielt für einen kurzen Augenblick inne. Ihr Wesen war so fehlerlos, so unnahbar schön. Sie war einfach perfekt.

Er bot ihr die Verbindung an und sah zu, wie sie das lose Ende ergriff und es in sich verankerte. Als ob der Teufel hinter ihm her war, verließ er ihren Kopf und schwor sich, ihn nie wieder zu betreten. Hastig vergewisserte er sich, dass seine Schutzschilde standen, und zog noch ein paar zusätzliche Schutzwälle hoch. Sie mochten zwar verbunden sein, aber er würde nie zulassen, dass sie in seinen Kopf gelangte. Nie durfte sie erfahren, wie vermurkst er war, wie kaputt und schmutzig.

„Die Reise ist vorbei, Mi.“ Seine Stimme war viel zu rau, und er brachte ihren Namen nicht über die Lippen. Als sie ihm die Hand reichte, zog er sie aus ihrem Gefängnis, umfing ihre Hüfte und stellte sie sicher auf den Boden. Sie war groß für eine Frau. Lange, schlanke Glieder und eine wunderbare porzellanfarbene Haut. Er konnte nicht anders, als sie zu berühren, rechtfertigte sich damit, dass er ihr Rinoka war und sie markieren musste. Ihre Haut war so unglaublich zart, so verletzlich, und gleichzeitig war sie doch nicht so zerbrechlich wie die Menschenfrauen, mit denen er sich sonst vergnügte. Augenblicklich wurde er hart. Er biss sich auf die Zunge, um einen derben Fluch zu unterdrücken. Er musste sie loslassen. Sofort. Thor floh regelrecht vor ihr, öffnete die Klappe, um die anderen Passagiere herauszulassen.

„Wir müssen los!“, sagte er kurz angebunden und steuerte auf das Militärfahrzeug zu, das er immer benutzte, um die Flüchtlinge abzuholen. Damit kam er am schnellsten auf das Flughafengelände und wieder zurück. Zeit war kostbar. Wenn er zu lange brauchte, würde der New Yorker Clan sich ihnen in den Weg stellen, allen voran ihr Dominus Radim. Darauf konnte er getrost verzichten.

Er setzte sich in den Militärjeep mit den vier Plätzen, die Hände gegen das Lenkrad gestemmt und wartete, bis die Flüchtlinge sich bequemten einzusteigen. Im Rückspiegel sah er, wie Delina auf ihn zurannte. Spöttisch verzog er den Mund. Als ob er ohne sie fortfahren würde. Ducin würde ihn mindestens zwei Köpfe kürzer machen. Er wäre nicht einmal überrascht, wenn er deswegen postwendend in die nächste Maschine nach Boston stieg.

In diesem Augenblick erreichte Delina den Jeep und kletterte hinter ihm ins Fahrzeug. Er wollte nicht, dass sie hinten saß. Sie gehörte ihm - zumindest auf Zeit. Und solange sie zu ihm gehörte, war ihr Platz neben ihm.

„Komm vor!“, grummelte er. Sollte doch der Vampir mit seiner Tochter hinten Platz nehmen.

Er spürte, wie Delina erstarrte. Im Rückspiegel sah er, dass die anderen den Jeep gleich erreichen würden.

„Wird's bald!“, donnerte er.

Delina schickte sich an, nach vorne zu klettern. Ihr Kleid war ihr dabei ziemlich im Weg. Dann saß sie neben ihm. Thor musterte sie von der Seite. Sie musste tatsächlich ziemlich überstürzt aufgebrochen sein, wenn sie sich nicht einmal die Zeit genommen hatte, sich umzuziehen. Inzwischen war der ehemals weiße Stoff ziemlich ergraut und würde nur noch für die Tonne zu gebrauchen sein.

Als endlich alle einen Platz gefunden hatten, gab er Gas. Sie fuhren ein Stück über das Rollfeld, direkt zu einem Seiteneingang. Ständig wechselte er die Route, verließ das Gelände nie auf demselben Weg, auf dem er gekommen war. Die New Yorker mochten alles daransetzen, ihn aufzuhalten, aber er setzte alles daran, es ihnen so schwer wie möglich zu machen.

An der Kontrollstelle verlangsamte er sein Tempo, griff neben sich, um dem diensthabenden Wachmann die Unterlagen zu geben. Er hatte ein Jahr gebraucht, bis er darauf gekommen war, dass es mühsamer war, falsche Pässe anfertigen zu lassen. Diplomaten und Militärangehörige mit den richtigen Dokumenten reisten außerhalb der Kontrollinstanzen. Der Wachmann richtete seine Taschenlampe auf die Vampire und versank dann wieder in den Papieren. Etwas schien ihm nicht ganz zu behagen. Nicht wirklich verwunderlich, denn die Dokumente waren vollkommen zusammenhanglos.

„Ich fürchte …“, begann der Wachmann zögernd und blickte auf. Ein fataler Fehler. Thor hatte darauf gewartet und nutzte den Zeitpunkt, um in den Verstand des Menschen einzudringen. Es war keine große Sache. So ähnlich hatte er es bereits unzählige Male gemacht. Ein paar falsche Erklärungen hier, ein paar verzerrte Erinnerungen da, und schon reichte ihm der Wachmann die Unterlagen zurück und wünschte ihnen eine gute Fahrt.

Sie hatten das Flughafengelände verlassen und reihten sich zügig in den zähfließenden New Yorker Verkehr ein.

„Mein Name ist Egan Brunet, und das ist meine Tochter Christelle“, stellte der Vampir sich vor.

Es war Thor vollkommen egal. Er wusste bereits, wie sie hießen. Außerdem musste er sich auf den Verkehr konzentrieren. Sie mussten schleunigst das Militärauto gegen den SUV tauschen.

„Wohin bringst du uns?“ Egan begriff einfach nicht, dass es an der Zeit war, den Mund zu halten. Thor kannte diese Art von Vampiren. Früher oder später würde der Typ Ärger machen, und er hoffte, dass es später der Fall sein würde. Optimalerweise dann, nachdem er die beiden an Dominus Blance übergeben hatte.

„Wer ist die Vampirin? Sie riecht nach ihm!“, wisperte die Tochter, die direkt hinter ihm saß. Sie konnte noch so leise flüstern, er hatte ein verdammt gutes Gehör.

„Psst.“

Zumindest der Mori besaß einen gewissen Grad an Anstand.

„Warum steht sie unter seinem Schutz und wir nicht? Sie kam doch auch mit uns an“, beschwerte sich Christelle nun schon etwas lauter.

Auch Delina musste ihre Worte gehört haben, denn sie versteifte sich wieder. Gerne hätte er eine Hand nach ihr ausgestreckt, sie getätschelt und ihr versichert, dass sie sich um das Geschäft der dummen Pute keine Gedanken zu machen brauchte.

„Du hast gesagt, ich finde hier einen starken Homen.“

„Christelle!“ Unmissverständlich machte Mori Egan deutlich, dass sie endlich still sein sollte. Beinahe erleichtert registrierte Thor, dass sie sich daran hielt. Sie mochte nun verstummt sein, aber dennoch wusste er, dass er vorsichtig bleiben musste. Und noch etwas wurde ihm klar. Er würde Delina nicht bei ihnen in der sicheren Unterkunft lassen können.

Die nächste Kurve nahm er besonders scharf. Seine Passagiere wurden nach rechts gedrückt. Delina streckte reflexartig den Arm aus, um sich festzuhalten und ihren Körper auszubalancieren. Aus dem Augenwinkel nahm er jede ihrer Bewegungen wahr. Er hätte nichts dagegen gehabt, wenn sie ihn berührte hätte.

Ohne sein Tempo zu verringern, fuhr er in die Tiefgarage, in der er den zweiten Wagen geparkt hatte. Er benutzte nie nur ein Auto und selten zweimal denselben Ort zum Wechseln. Die Parklücke neben dem schwarzen SUV war frei. Er bremste erst im letzten Moment ab. Delina neben ihm keuchte erschrocken auf. Er unterdrückte ein Grinsen. Sie konnte schließlich nicht wissen, dass er alles unter Kontrolle hatte.


* * *


„Aussteigen!“, gab Thor den knappen Befehl.

„Warum? Was wollen wir hier?“, verlangte Egan zu wissen.

Thor ignorierte den Vampir. Er sah, dass Delina ihm Folge leistete, und das reichte ihm für den Moment. Er würde ohnehin ein paar Minuten benötigen, um sich umzuziehen. Doch zuerst öffnete er Delina die Beifahrertür und gab ihr mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass sie dort einsteigen sollte. Dann ging er zum Kofferraum und zog seine Wechselwäsche hervor. Achtlos warf er die Kappe und die Militärjacke hinein, ebenso wie die Hundemarke. Über das beigefarbene T-Shirt zog er seine schwarze Lederjacke. Die Hose wechselte er nicht. Das brauchte er auch nicht. Solche Hosen waren derzeit in Mode und wurden von vielen Zivilisten getragen. Binnen kürzester Zeit wurde aus einem Angehörigen des Militärs ein ganz normaler Bürger.

„Einsteigen!“, bellte Thor. Er würde es ihnen nicht noch einmal sagen.

Egan verstellte ihm den Weg zur Fahrerseite. Breitbeinig stand er da, die Arme vor der Brust verschränkt. Glaubte er etwa, damit Eindruck auf ihn zu machen? Thor hatte bei weitem andere Kaliber vor sich gehabt, gegen die er sich behaupten musste. Besonders dominant war Egan Brunet nicht.

„Nicht bevor ich weiß, wohin es geht!“, verlangte er zu wissen.

Thor seufzte. Es lag ihm fern, einen Kampf herauszufordern. „Ich bringe euch in eine sichere Unterkunft.“ Er hoffte, dass sich der Mori mit dieser Aussage zufriedengeben und endlich einsteigen würde. Sein Tag war lang gewesen, und er war müde. In ein paar Stunden würde die Sonne aufgehen, und bis dahin musste er mit Delina zu Hause sein.

„In eine sichere Unterkunft?“, schnaubte Christelle. „Ich dachte, wir bekommen ein neues Zuhause.“

„Wie hast du dir das vorgestellt? Du kommst her und setzt dich ins gemachte Nest? Es wäre sinnvoll, wenn du anfängst, deine Zunge im Zaum zu halten, denn so bezweifle ich, dass der Dominus bereit ist, dich in den Clan aufzunehmen.“ Thor hatte es einfach nicht mehr ausgehalten. Er hatte es wirklich versucht, hatte sich beherrscht. Aber genug war einfach genug.

„So sprichst du nicht mit meiner Tochter. Hast du eigentlich eine Ahnung, wer wir sind? Ich bin ein respektabler Mori, einem mächtigen Soya direkt unterstellt“, brauste Egan auf.

Thor seufzte und verdrehte innerlich die Augen. So viel zu dem Ärger, der sich nun früher einstellte, als ihm lieb war. Eigentlich hatten sie keine Zeit für eine Auseinandersetzung, aber wenn der Mori unbedingt darauf bestand.

Du“, begann er und schob in Seelenruhe den linken Ärmel seiner Lederjacke nach oben, „bist in meiner Welt ein Niemand. Du bist keinem Soya unterstellt, keinem Clan angehörig. Weißt du, wie wir in der Neuen Welt mit Clanlosen wie dir gewöhnlich verfahren? Wir jagen sie und machen sie einen Kopf kürzer.“

Die Augenbraue des Moris zuckte verdächtig, doch noch hatte er nicht aufgegeben. In aller Seelenruhe schob Thor den zweiten Ärmel nach oben.

„Mein Name ist Soya Thorvid, und ich gehöre dem Bostoner Clan an. Ich bin hier der Schleuser und wenn du auf einen Kampf aus bist, sollst du ihn haben. Aber wir haben keine Zeit, ich werde nicht zimperlich sein.“

Unauffällig duckte der Mori sich und beeilte sich, seine Tochter zum Auto zu schieben und ihr hastig ins Innere zu folgen. Thor wartete, bis die Tür hinter ihnen zugeschlagen war, dann ging er zur Fahrerseite und setzte sich hinter das Steuer. Über den Rückspiegel warf er dem Mori noch einen finsteren Blick zu. Dieser wirkte nun nicht mehr so aufgeblasen. Er hatte gemerkt, dass er zu weit gegangen war, wusste nun, wo sein Platz war. Thor hoffte, dass er nicht noch einmal Ärger machte. Christelle dagegen war noch immer uneinsichtig. Er überlegte einen Augenblick, ob er auch ihr eine Abreibung verpassen sollte, entschied jedoch, dass sie es nicht wert war. Unzufrieden saß sie auf der Rückbank und starrte ihren Vater finster an. Von ihm nahm sie keine Notiz. Das nutzte er, um sie etwas genauer in Augenschein zu nehmen. Sie war ein ganzes Stück kleiner als Delina und viel rundlicher. Ihre aufgesteckten dunkelbraunen Haare wirkten stumpf. Ihr Gesicht war langweilig. Sie war weder eine besondere Schönheit, noch besaß sie etwas, das ihm in Erinnerung bleiben würde. Thor wollte gerade fortsehen, als sie ihn durch den Rückspiegel direkt anblickte. Die Augenbrauen zornig zusammengezogen. Die Situation gefiel ihr eindeutig nicht. Aber das war nicht sein Problem. Sie sollte dankbar sein, dass sie es bis hierher lebend geschafft hatte. Andere hatten nicht so viel Glück gehabt. Manchmal kamen ihm trotz aller Vorsicht die New Yorker zuvor, manchmal fingen diese sie später noch ab.

Thor fuhr am IFC Center vorbei. Gleich würden sie die sichere Unterkunft erreichen, dann wäre er sie endlich los und musste sich nur noch mit Delina auseinandersetzen. Doch zumindest tat sie, was er ihr sagte. Er hielt den SUV vor dem Eingang des roten Backsteingebäudes, in dem sich unzählige Wohnungen befanden. Die sichere Unterkunft befand sich im dritten Stock, eine kleine Zweizimmerwohnung.

Wir liefern die zwei hier hab, dann fahren wir weiter. Ich möchte, dass du trotzdem mit hochkommst! Er sah, wie Delina zusammenzuckte, als er das erste Mal ihre Verbindung zur Kommunikation nutzte. Mit großen Augen sah sie ihn an und beeilte sich auszusteigen. Thor wartete, bis sie das Auto umrundet hatte und begleitete sie zum Eingang. Egan und seine Tochter folgten.

Der Aufzug war immer noch defekt, aber er benutzte ohnehin lieber die Treppe. Er spürte Delinas Präsenz dicht hinter sich. Was mochte in ihrem Kopf vorgehen? Ja verdammt, er war echt versucht, in ihren Kopf einzudringen und nachzusehen. Er war ihr Rinoka und genoss dadurch gewisse Privilegien. Nur zu gerne wollte er wissen, was sie über ihn dachte. Doch auch wenn er hin und wieder ein Arschloch und sich für nichts zu schade war, das würde er nicht tun.

Sie waren vor der Wohnungstür angekommen. Er kramte den Schlüssel hervor und sperrte auf. Eigentlich benötigten sie kein Licht, dennoch knipste er die Deckenleuchte an und ließ die Flüchtlinge eintreten. Der Flur war und blieb klein und als er sich nach Delina auch noch hineinquetschte und die Tür hinter sich zuzog, musste er verdammt nah an sie heranrücken. Er brauchte mehr Platz und stieß wahllos eine Tür auf, die am nächsten lag. Hastig stolperte er hinein, nur um festzustellen, dass er im Schlafzimmer gelandet war. Das alte Doppelbett mit dem blau-karierten Bezug lud zum Verweilen ein. Nein, hier konnte er nicht bleiben. Thor wollte gerade das Zimmer verlassen, als er beinahe mit Christelle zusammenstieß und dies nur vermeiden konnte, indem er zurückwich.

„Hier sollen wir bleiben?“, fragte sie entsetzt. „Und so soll ich schlafen?“ Abfällig betrachtete sie das Bett.

„Im Wohnzimmer steht eine Couch“, zischte er. „Oder ein Küchenstuhl tut es zur Not auch.“ So ein verwöhntes Miststück! Es brodelte gewaltig in ihm.

Noch ehe Christelle aus der Haut fahren konnte, ließ er sie stehen und flüchtete in den Flur. Sein Blick fiel auf Delina, die dort stand und wartete. Kein einziges Wort hatte sie verloren. Hätte er es nicht besser gewusst, hätte er Christelle für eine Angehörige der Innoka gehalten und nicht Delina. Zumindest, bis sie sich bewegten, denn wo die rundliche Vampirin ungelenk und behäbig war, strahlte Delina eine unglaubliche Grazie aus, die ihre makellose Herkunft bescheinigte. So etwas wurde einem nicht in die Wiege gelegt, so wurde man erzogen.

„Vater“, hörte er Christelle sich im Nebenraum beschweren. „Ich kann hier nicht bleiben. Es gibt nur ein einziges Schlafzimmer und keinen Ort, an den ich mich zurückziehen kann.“

„Du kannst das Zimmer haben, ich werde auf der Couch schlafen“, besänftigte Mori Egan seine Tochter.

„Aber es ist so schäbig.“

„Einen Tag wird es schon gehen“, beschwichtigte ihr Vater sie. „Denk an das, was ich dir versprochen habe.“

Thor hätte wirklich gerne Mäuschen gespielt. Es interessierte ihn brennend, was der Mori seiner Tochter versprochen hatte.

Er trat in die Küche. „Ich wünsche euch angenehme Ruhe und melde mich morgen wieder. Geht nicht aus dem Haus, öffnet niemandem die Tür. Ich werde zweimal klopfen und nach einer Pause nochmal dreimal lang. Erst dann werdet ihr öffnen, sonst nicht.“

Artig nickte der Mori, und Thor hoffte, dass sie sich wirklich daranhielten. Er hatte keine Lust, den Dreck hinter ihnen wegzuräumen.

„In der Küche liegt ein Handy. Meine Nummer ist eingespeichert, sollte ein Notfall sein. Keine Anrufe ins Ausland!“ Wieder nickte der Mori. Es war schon häufiger vorgekommen, dass Flüchtlinge versuchten, in ihre Heimat zu telefonieren. Sollten sie es versuchen, würde er eine Nachricht bekommen.

Er wandte sich um und nickte Delina zu. Gemeinsam verließen sie die Wohnung und ließen Mori Egan mit seiner nervigen Tochter endlich hinter sich.

Kapitel 5


Delina war erleichtert, als sie dem Schleuser durch das dunkle Treppenhaus folgte und Christelle und ihr Vater zurückblieben. Sie hatte die Feindseligkeit der Vampirin deutlich gespürt, dabei hatte sie ihr doch nichts getan. Anstatt eifersüchtig zu sein, sollte Christelle sich glücklich schätzen, ihre Familie um sich zu haben. Sie hatte einen Vater, der bereit war, alles für sie zu tun, der alles für sie aufgegeben hatte, um ihr ein Leben in der Neuen Welt zu ermöglichen. Und Christelles Zukunftsaussichten waren bei weitem rosiger als ihre. War das der Vampirin nicht bewusst? Mit einem männlichen Vampir an ihrer Seite war Christelles Leben in sicheren Händen. Delina hätte sich nichts sehnlicher gewünscht als einen Vater, der sie an die Hand genommen hätte und mit ihr geflohen wäre. Sie musste schlucken und die Tränen zurück blinzeln. Sie wusste nur zu gut, dass das ein Traum war und bleiben würde. Soya Jerric hätte sich nie gegen den Blutfürsten gestellt, so viel Rückgrat besaß er nicht. Selbst wenn er nicht alles gut fand, was der Vetusta tat, würde er es nie wagen, ihn zu kritisieren. Selbst wenn sie als seine Tochter leiden würde. Christelle wusste wirklich nicht, welches Glück sie hatte.

Delinas Blick heftete sich auf den breiten Rücken des vor ihr gehenden Vampirs. Auf Gedeih und Verderb war sie dem Schleuser ausgesetzt, einem absolut fremden Vampir. Es war ihr bereits vor dem Abflug klar gewesen, dass der Schleuser ein dominanter Vampir sein musste, schließlich musste er sich bei Bedarf durchsetzen können. Optisch war er eine beeindruckende Erscheinung, aber auch äußerst beängstigend. Womit sie nicht gerechnet hätte, war der Titel eines Soyas, den er trug, noch dazu nicht nur eines beliebigen Clans, sondern dem ersten in der Neuen Welt. Den Bostoner Clan kannte jeder, und sie war wirklich gespannt darauf, ob das, was sie darüber gehört hatte, tatsächlich der Wahrheit entsprach. Ein Rat, der einen Clan führte, bestehend aus acht Soyas, und der Schleuser war ein Teil davon. Sie war definitiv neugierig, mehr über den Schleuser zu erfahren. Aber sie würde nicht den Mut aufbringen, ihn zu fragen. Sie traute sich ja noch nicht einmal, ihn direkt anzusehen. Wenn er sie musterte, hatte Delina das Gefühl, er konnte in ihr lesen wie in einem offenen Buch. Das ängstigte sie mehr, als sie zugeben wollte.

Sie erreichten das parkende Auto. Wortlos stieg sie ein, ebenso der Schleuser. Er ließ seinen Blick über das Backsteingebäude schweifen, dann startete er den Motor und fuhr los. 

Von der Beifahrerseite hatte sie einen guten Beobachtungsposten. Während er sich auf die Straße konzentrieren musste, hatte sie Zeit, ihn aus dem Augenwinkel zu beobachten.

Er war ziemlich groß, musste in etwa zwei Meter messen. Unter seinem enganliegenden Shirt zeichneten sich deutliche Muskeln ab, und Delina zweifelte keine Sekunde daran, dass er äußerst fit und durchtrainiert war. Anders würde er den Job als Schleuser wohl kaum bewältigen können. Sie musste an den Augenblick denken, als er beinahe auf den Mori losgegangen wäre. Beschämt drehte sie den Kopf und blickte aus dem Fenster. Er sollte nicht sehen, dass sie heimlich gehofft hatte, sie würden miteinander kämpfen. Zu gerne hätte sie ihn in Aktion gesehen. Gleichzeitig erschrak sie über ihre Gedanken. Wie konnte sie sich so etwas nur wünschen? Voller Scham über sich selbst schloss sie die Augen.

„Du musst müde sein.“

Seine tiefe Stimme passte unglaublich gut zu ihm, seiner geradlinigen, manchmal etwas ruppigen Art. Aber gerade das gefiel ihr. Er hatte es nicht nötig, sich zu verstellen, musste niemandem gefallen. Er meinte jedes Wort so, wie er es sagte. Dort wo sie herkam, in der Innoka, war es anders. Sie hatte es schon immer gehasst, jedes einzelne Wort sorgfältig abzuwägen. Aufzupassen, dass man sich keine Feinde machte, denn das konnte der Untergang in ihrer Welt sein.

„Wir sind bald da.“

Jetzt fühlte sie sich genötigt, ihm zu antworten. „Das ist gut“, murmelte sie verlegen, wusste nicht, was sie sonst sagen sollte. Aber es war zumindest keine Lüge. Sie fühlte sich wirklich vollkommen erschöpft. Der Flug hatte ihr ziemlich viel Energie geraubt. Der Kampf gegen den inneren Drang, sich zu verbinden, war kräftezehrend gewesen. Wenn sie daran zurückdachte, welches schreckliche Gefühl es gewesen war, ohne Rinoka zu sein, wollte die Panik sie wieder überrollen. Das konnte sie nicht zulassen, nicht in der Nähe des Schleusers, der so stark und unbesiegbar wirkte. Bei ihm durfte sie sich keine Schwäche erlauben.

Es war wirklich keine lange Fahrt mehr. Bevor Delina es sich versah, war der Schleuser scharf nach links abgebogen und brauste die Einfahrt einer Tiefgarage hinab. Sie waren angekommen. War das eine weitere sichere Wohnung? Würde er sie den Tag über allein lassen? Delina wusste nicht, was sie mehr fürchtete. Den ganzen Tag mit ihm zusammen zu sein oder alleingelassen zu werden, in einer ihr völlig unbekannten Großstadt, in der sie sich nicht zurechtfand.

Mit gemischten Gefühlen folgte sie ihm und betrat den Aufzug. Die Türen schlossen sich, als der Schleuser einen Schlüssel ins Schloss steckte und eine Nummer drückte. Sie hasste Aufzüge. Sie waren eng, und so ganz vertraute sie dieser Technik nicht. Sie hatte zwei gesunde Beine und konnte diese benutzen. Doch im Beisein des Schleusers wagte sie nicht, Kritik zu üben. Starr stand sie da, wagte kaum zu atmen. Er war ihr viel zu nahe. Im Schneckentempo krochen die Sekunden dahin, dann – endlich – öffneten sich die Aufzugtüren, und sie befanden sich direkt in einem Apartment. Erleichtert stolperte Delina aus dem Aufzug.

„Da wären wir“, sagte der Schleuser, ging an ihr vorbei und warf seine Lederjacke auf eine Kommode im Eingangsbereich. Er würde also hierbleiben.

Die Wohnung sah so ganz anders aus als die sichere Unterkunft. Dort war alles schäbig, etwas in die Jahre gekommen. Die Möbel waren zusammengeschustert. Dieses Apartment war großzügig geschnitten, modern eingerichtet, die einzelnen Elemente perfekt aufeinander abgestimmt. Der Holzboden verlieh der Wohnung etwas Warmes. Die ausgesuchten Möbel, ein Couchtisch und eine Essecke, waren aus noch dunklerem Holz. Die weißen Wände waren größtenteils kahl. Vereinzelt hingen moderne Kunstwerke, die ebensogut in eine Galerie gepasst hätten. Eine überdimensionale Skulptur füllte eine ganze Ecke aus. Die auf Hochglanz polierte weiße Küche wirkte vollkommen unbenutzt. Genau so hätte sie in einem Katalog abgebildet werden können.

„Das Bad“, murmelte er in diesem Augenblick und stieß die Tür auf. Das weiße Keramikwaschbecken und die gleichfarbigen Badezimmermöbel hoben sich kaum von den weißen Fliesen ab. Etwas Abwechslung boten die grauen Handtücher, aber davon abgesehen, sah auch das Bad völlig unbenutzt aus.

Die nächste Tür führte in ein Schlafzimmer, der einzige bewohnte Ort in dieser Wohnung. Wieder derselbe Holzboden, dazu schwarze Möbel, aber auch ein paar persönliche Gegenstände auf dem Sideboard. Über einem Stuhl hing eine Tarnjacke, ähnlich der, die der Schleuser am Flughafen getragen hatte.

Das war seine Wohnung, wurde Delina mit einem Mal klar. Er hatte sie in sein privates Reich gebracht.

„Du kannst hier schlafen“, erklärte er, ging zum Kleiderschrank und holte ein paar zusammengelegte Kleidungsstücke hervor. Er sammelte noch ein paar persönliche Gegenstände ein und war gerade im Begriff, das Zimmer zu verlassen.

„Nein“, stieß Delina verzweifelt hervor. Das war sein Zimmer. Sie konnte doch nicht sein Zimmer nehmen, in seinem Bett schlafen. Sie war …

„Doch.“ Er ging mit den Sachen auf dem Arm an ihr vorbei. „Du schläfst hier! Am besten sofort!“ Die Tür fiel krachend hinter ihm ins Schloss, noch ehe Delina ihm widersprechen konnte. So stand sie reglos da und wusste nicht, was sie tun sollte. Mit großen Augen starrte sie das Bett an, als ob es jeden Moment zum Leben erwachen könnte. Sie konnte unmöglich auf der Matratze schlafen, wo er sonst schlief. Das war sein Bett, und er war ein völlig Fremder. Ein Fremder, der aber nun ihr Rinoka war. Würde er am Tag zu ihr kommen und mit ihr das Bett teilen wollen? War das sein Preis dafür, dass er sie unter seinen Schutz stellte? Sie hatte von solchen Deals gehört, in ihrer Heimat allerdings noch nie eine Vampirin getroffen, die so ein Arrangement eingegangen war. Doch das Land der Sjüten war weit fort. Sie konnte sich den Luxus nicht leisten, Träumen hinterherzujagen. Sie musste sich der Realität stellen und wenn er zu ihr kam, würde sie ihm geben müssen, was er wollte. Sie erschauderte, wenn sie nur daran dachte, wie er sie berührt hatte. Sie wusste, wie eine Vereinigung funktionierte - zumindest so rein theoretisch. Ihre ungebundene Tante hatte ihr in allen Einzelheiten erläutert, was ein Homen von ihr erwartete. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Delina stand zitternd vor dem Bett und fürchtete sich davor, sich darauf niederzulassen. Dort würde sie keine Ruhe finden. Ihr Blick fiel auf den schwarzen, langflorigen Teppich, der vor dem Bett lag. Sie griff nach dem Kopfkissen und legte es auf den Boden. Dann holte sie sich noch die Decke vom Bett und machte es sich auf dem Teppich gemütlich. Der Duft des Schleusers, der in der Decke hing, hüllte sie ein. Es war ein tröstliches Gefühl, denn es versprach Sicherheit.

Die viel zu lange Nacht forderte ihren Tribut, und ihr fielen die Augen zu.


* * *


Unruhig wälzte Thor sich von der einen auf die andere Seite und fand einfach keine bequeme Position. Die Decke war zu kurz, das Kissen zu klein. Zuerst hatte er sich auf das Sofa gelegt, aber seine Beine hingen weit über die Lehne hinaus. Deshalb hatte er sich den Sessel zurechtgerückt, sodass er die Beine auf dem Sofa ablegen konnte.

Er lauschte dem Ticken der Uhr und dem monotonen Rauschen des Verkehrs. Schlaf fand er nicht. Die Frau, die ein Zimmer weiter lag, beschäftigte ihn viel zu sehr. Zum ersten Mal überhaupt hatte er eine Frau mit in sein Apartment gebracht. Schon allein das war eine Premiere. Dass es sich dabei noch um eine Vampirin handelte, machte die Sache nicht weniger kompliziert. Der absolute Supergau jedoch war, dass sie die schönste, reinste und perfekteste Person war, die ihm je begegnet war. Zehn Meilen gegen den Wind war ihr anzusehen, dass sie der Innoka angehörte, dass sie ein Teil dieser selbstherrlichen, sich für etwas Besseres haltenden Vampire war. Jede ihrer Bewegungen war anmutig, jedes Wort, das aus ihrem Mund kam, wohl überlegt. Sie hatte ein untrügliches Gefühl dafür, wann es an der Zeit war, etwas zu sagen und wann es besser war zu schweigen. Alles was sie tat, machte sie perfekt. Mit jedem Atemzug führte sie ihm unbewusst nur allzu deutlich vor Augen, was für ein Bastard, ein Nichtsnutz er doch war. Er konnte seine Herkunft nicht leugnen, das dunkle Erbe seiner afrikanischen Mutter, einer Sklavin. Er war in einer Zeit geboren worden, als die schwarze Bevölkerung unter der Knechtschaft der Weißen schuften musste, als es eine Zweiklassengesellschaft gab. Dieses Denken war so tief in ihm verankert, dass er sich noch heute damit schwertat. Manchmal beneidete er die Menschen für ihre kurze Lebensdauer, für das Vergessen über die Generationen hinweg. So war es den Menschen in diesem Jahrtausend möglich, einen schwarzen Präsidenten an die Spitze des Landes zu wählen. Er dagegen konnte sich noch daran erinnern, wie sie für einen Hungerlohn auf den Baumwollfeldern in der Hitze geschuftet hatten, ihren Herrn vollkommen ausgeliefert.

Auch wenn er anders war, das Erbe seines Vaters nach seiner Renovation die Oberhand gewann, blieb er diesen schwarzen Sklaven in Gedanken doch immer verbunden.

Hastig erhob Thor sich. Er konnte es einfach nicht mehr länger ertragen. Ziellos streifte er durch die Räume. Er ging in die Küche, den Ort, den er in seinem Apartment am seltensten betrat. Aber eine Wohnung ohne Küche zu finden, war schlichtweg unmöglich. Und ab und an war ein Wasserhahn in der Nähe auch ganz gut. Ein klarer Kopf war eine gute Idee. Er ließ das kalte Wasser über die Hände laufen und spritzte es sich ins Gesicht. Doch auch das half ihm nicht wirklich. Sein Blick fiel auf die geschlossene Zimmertür seines Schlafzimmers. Warum er genau darauf zuging und leise die Tür öffnete, konnte er nicht sagen. Er erstarrte, als er das leere Bett sah. Wo war Delina? Hastig kam er näher und wäre dabei beinahe über die am Boden zusammengerollte Vampirin gestolpert. Warum um Himmels Willen schlief sie auf dem harten Boden? War das eine Tradition im sjütischen Clan? Sie gehörte verdammt noch mal ins Bett. Vorsichtig tastete er sich auf geistiger Ebene vor, stellte fest, dass sie tief und fest schlief. Kein Wunder. Sie hatte eine harte Nacht hinter sich. Sollte er es wagen, sie ins Bett zu legen, würde er sie dabei wecken?

Musik unterbrach seine Gedanken. Er blickte auf, brauchte nur den Bruchteil einer Sekunde, um zu realisieren, dass das die Notfallmelodie seines Handys war. Er fluchte, machte kehrt und verließ das Schlafzimmer. Im Wohnzimmer auf dem Couchtisch lag das Mobiltelefon, das unbeirrt vor sich hin dudelte.

„Ja?“, bellte er hinein, ohne auf das Display zu sehen. Es gab genau zwei Möglichkeiten. Die Flüchtlinge versuchten, ins Ausland zu telefonieren, oder es gab in der sicheren Unterkunft einen Notfall. In beiden Fällen wusste er, dass Mori Egan oder seine Tochter am anderen Ende der Leitung sein würden.

„Schleuser?“, keuchte der Mori aufgeregt.

Eine seltsame Ruhe überkam Thor, während er sich in den Sessel sinken ließ. Wenn der Mori noch in der Lage war zu telefonieren, konnte es ganz so schlimm nicht sein. „Was ist los?“

„Meine Tochter ist verschwunden.“

Thor blinzelte. „Verschwunden?“, hakte er nach. Er hatte eine vage Vermutung, konnte es jedoch nicht glauben. Das dumme Ding würde doch nicht so unvernünftig sein, die sichere Unterkunft zu verlassen. Noch dazu bei Tageslicht.

„Sie hat die Wohnung verlassen.“

Sie war so unvernünftig. „Vollia!“ Wie konnte sie nur so dumm sein?

„Es geht ihr gut, ich spüre sie.“

Thor fragte sich, warum der Mori seine Tochter nicht aufgehalten hatte.

„Dann hol sie verdammt nochmal zurück“, schnaubte er. Ein mentaler Befehl, und ihr blieb nichts anderes übrig, als den Befehlen ihres Rinokas Folge zu leisten.

„Das habe ich bereits versucht, aber sie kommt nicht zurück. Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll.“

Diverse mögliche Szenarien schossen Thor durch den Kopf. Er hoffte, dass etwas ziemlich Harmloses dafür verantwortlich sein mochte, warum die Vampirin dem Ruf nicht folgte. Er ärgerte sich über dieses dumme, verzogene Gör. Indem sie die sichere Unterkunft verließ, riskierte sie ihr Leben. Es kam durchaus auch vor, dass ein Krieger des New Yorker Clans am Tag unterwegs war und wenn sie auf so einen traf, konnte er für nichts garantieren.

„Ich kann sie suchen“, schlug der Mori hilflos vor.

„Nein!“, beeilte Thor sich zu sagen. „Ich mache mich auf den Weg. Bleib, wo du bist und wage es ja nicht, einen Fuß vor die Tür zu setzen.“

„Ja.“ Es klang beinahe so, als wäre der Mori über diesen Befehl froh, als hätte er Angst, sich bei Tageslicht hinauszuwagen.

Jede Minute zählte, daher musste Thor sich beeilen. Er schlüpfte aus der Jogginghose. Normalerweise schlief er nackt, aber in Anbetracht der Tatsache, dass nebenan eine Vampirin lag, hatte er darauf verzichtet. Schnell zog er noch das verschwitzte T-Shirt aus und streifte sich ein frisches über. Auf dem Couchtisch lag der Dolch, den er stets am Körper trug und nur zum Schlafen abnahm. Er schnallte ihn sich wieder um und griff nach seiner Lederjacke. Erst dann besann er sich darauf, dass er nicht allein war. Sollte er einfach gehen? Er wollte nicht, dass Delina erwachte und sich fürchtete, weil er verschwunden war. Einen Zettel wollte er ihr auch nicht einfach so hinterlassen. Auch wenn die Zeit drängte, lief er ins Schlafzimmer und rüttelte Delina wach.

„Was ist?“, murmelte sie schlaftrunken und rieb sich die Augen.

Verdammt, wie konnte man in diesem Zustand so unverschämt gut aussehen?

„Ich muss weg. Es ist mitten am Tag. Egal wie lange es dauert, ich möchte, dass du hierbleibst.“

Delina riss die Augen auf und starrte ihn ängstlich an.

Schon bereute er die Entscheidung, sie geweckt zu haben. „Keine Sorge, ich komme wieder. Du bist hier in Sicherheit, versprochen. Niemand kann dich aufspüren, solange du in diesen vier Wänden bleibst.“

Artig nickte sie.

Es war mehr ein Reflex, den er nicht unterdrücken konnte und der ihn wohl ebenso verwunderte wie sie. Er beugte sich über sie und küsste sie auf die Stirn. Es war eine völlig harmlose Berührung, dennoch schossen tausend Blitze durch seinen Körper. Eilig erhob er sich und verließ Delina, war froh, die Wohnung verlassen zu können.

Um diese Uhrzeit würde er mit dem Auto ewig brauchen. Auch wenn er ungern am Tag rannte, würde er heute eine Ausnahme machen. Es war der schnellste Weg, um an sein Ziel zu gelangen. Er musste zur sicheren Unterkunft. Von dort konnte er Christelles Spur aufnehmen. Dann blieb ihm nur zu hoffen, dass er das unglaublich dumme Frauenzimmer fand.


* * *


Von der sicheren Unterkunft aus war es nicht schwer, Christelles Weg nachzuvollziehen. Mit Schirmmütze und Sonnenbrille nahm Thor die Verfolgung auf. Bei Tageslicht war es um einiges anstrengender, als es bei Nacht gewesen wäre. Er musste sich unauffällig verhalten. In menschlichem Tempo ging er durch die Straßen. Die Hände in die Taschen der Lederjacke gesteckt, sah er aus wie ein ganz normaler Mann, der durch die Gegend spazierte. Vielleicht etwas ziellos und an seiner Umgebung desinteressiert. Der äußere Schein trog. Hinter den dunklen Gläsern seiner Sonnenbrille versteckt, musterte er die Umgebung genau. Keine Winzigkeit, keine noch so kleine Belanglosigkeit entging ihm. Er atmete tief ein, analysierte die einzelnen Gerüche und folgte diesem überaus süßen Kokosduft, der beinahe schon unangenehm in der Nase stach. Eine Spur zu künstlich, etwas zu überladen für seinen Geschmack. Aber das kam ihm jetzt zugute. Der penetrante Geruch war relativ einfach nachzuverfolgen. 

Thor kam die Gegend bekannt vor, aber erst als er die vielen Studenten erblickte, wusste er, dass er sich in der Nähe einer Uni befand. Unglaublich, wie viele Menschen zu dieser Uhrzeit unterwegs waren. Wenn er nachts durch die Straßen streifte, waren sie viel leerer. Nur hier und da beeilte sich ein Student, der die Zeit in der Bibliothek vergessen hatte, nach Hause zu kommen. Ein paar Straßen weiter reihten sich Cafés und Bars aneinander. Auch dort war Thor schon häufiger gewesen. In der Nacht waren die Tische immer voll besetzt, jetzt war beinahe nichts los.

Thor ging weiter und wunderte sich, wie weit Christelle gekommen war. Was hatte sie in dieser Gegend gewollt? Warum war sie überhaupt hierhergekommen? Das Ganze auch noch bei Tageslicht. Er konnte einfach nicht verstehen, warum sie die Wohnung verlassen hatte. Gut, es war kein Fünfsternehotel, aber eine saubere Unterkunft und verdammt nochmal sicher.

An einer Ecke hielt er an und blieb irritiert stehen. Er atmete nochmal tief ein und runzelte die Stirn. Der eindeutige Kokosduft, dem er bis hierher gefolgt war, war plötzlich verschwunden. Hatte er die Spur verloren? Er fluchte ausgiebig in sämtlichen Sprachen, die er beherrschte, und steckte seine Nase noch einmal in den Wind. Aber auch jetzt konnte er nicht mit Sicherheit sagen, ob sie hier gewesen war. Leise vor sich hin schimpfend, ging er die Straße zurück. Nur ein paar hundert Meter, dann blieb er abermals stehen. Hier war der Kokosduft ganz eindeutig wahrzunehmen. Langsam machte er kehrt und lief den Weg wieder zurück. Ganz bewusst ließ er sich viel Zeit, konzentrierte sich ganz auf seinen Geruchssinn. Als er wieder an der Kreuzung stand, war der Geruch verschwunden. Das konnte doch nicht sein. Christelle hatte sich doch nicht einfach in Luft auflösen können. Verdammt. Da war nichts mehr. Kein Duft von Kokos, nicht einmal ein Hauch davon. Aufmerksam blickte er sich um, suchte die Umgebung erst mit den Augen, dann auf geistiger Ebene ab. Wenn ein Geruch von jetzt auf gleich so spurlos verschwand, gab es nur eine Erklärung dafür, und die gefiel ihm überhaupt nicht. Nur die Maca-Pflanze konnte den Geruchssinn von Vampiren dermaßen täuschen. Er benutzte die Pflanze selbst sehr gerne, um sich vor den New Yorker Vampiren zu verbergen. Aber da er die Pflanze definitiv hier nicht benutzt hatte, konnten nur die New Yorker dahinterstecken. Wenn sie Christelle in die Finger bekommen hatten, dann konnte er für sie nichts mehr tun. Unschlüssig blickte er in alle Himmelsrichtungen, wusste nicht, wo er mit der Suche weitermachen sollte. Schließlich entschied er sich, nach Norden zu gehen, stellte jedoch schon nach einigen hundert Metern fest, dass er in dieser Richtung nichts finden würde. So machte er kehrt und lief die Straße in die entgegengesetzte Richtung. Immer weiter. Aber auch dort konnte er keinen Kokosduft finden. Unschlüssig, ob er wieder zum Ausgangspunkt zurückkehren oder ganz aufgeben sollte, stand er da, als sein Telefon klingelte. Die Notfallmelodie. Hoffentlich hatte der Mori bessere Nachrichten als er.

„Ja?“

„Sie ist weg!“ Der Vampir war völlig aufgebracht, und Thor musste den Hörer vom Ohr nehmen, sonst fürchtete er, sein Trommelfell würde platzen.

„Ich bin schon dabei, sie zu suchen.“ War Egan jetzt völlig verwirrt? Er hatte doch schon vor einer Stunde angerufen, dass seine Tochter verschwunden war. Deshalb hatte Thor sich doch erst auf den Weg gemacht.

„Nein, sie ist weg!“ Der Mori ließ sich nicht beruhigen.

„Weg?“ Thor beschlich eine üble Vermutung.

Er hoffte, dass Mori Egan sie nicht bestätigte, doch genau das tat er. „Die Verbindung ist abgebrochen. Einfach so.“

Thor schloss die Augen. Es hatte keinen Sinn weiterzusuchen. Wenn Christelle das Rinokaband gelöst hatte, war es aus. Mit dem Mori an seiner Seite hätte er vielleicht noch eine Chance gehabt, sie in New York zu finden, doch so war jede Hoffnung verloren. Wenn Christelle Glück hatte, hatten die Vampire mit ihr Erbarmen gezeigt und sie schnell getötet. Alternativ war sie gezwungen worden, das Band zu ihrem Rinoka zu durchtrennen, und hatte nun einen Neuen. Der New Yorker Clan war nicht gerade zimperlich mit der Auswahl von neuen Rekruten. Sie nahmen alles, was sie fanden. Den Vampiren nahmen sie den Blutschwur ab, die Frauen wurden einem loyalen Vampir unterstellt. Sie waren brutal. Wer nicht gehorchte, wurde kurzerhand geköpft. Radim führte seinen Clan mit harter Hand und duldete keinen Widerspruch. Thor hoffte wirklich für Christelle, dass ihr dieser Weg erspart geblieben war.

„Ich breche die Suche ab.“ Er konnte noch Stunden hier herumstehen, die Straßen ein oder auch zwei Dutzend Mal ablaufen, aber bringen würde es dennoch nichts. Radim war nicht dumm. Er wusste, wie er das Maca benutzen musste. Die Suche war aussichtslos. Er würde Christelle nicht finden. Dieses Schicksal war ihrer eigenen Dummheit geschuldet.

„Nein!“ Wieder brüllte der Mori ins Telefon. „Du musst etwas tun. Du musst sie finden. Sie ist meine Tochter.“

Thor hatte Mitleid mit dem Mann. Er mochte Christelle nicht sonderlich, und es lag ihm fern, um sie zu trauern. Aber seit Delina in sein Leben getreten und er ihr Rinoka geworden war, konnte er halbwegs nachvollziehen, was es hieß, für einen anderen verantwortlich zu sein. Würde Delina etwas zustoßen - und er kannte sie kaum - würde er Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um sie zu retten. Die Beziehung zwischen dem Mori und seiner Tochter musste noch viel intensiver sein. Das war Familie, da herrschte noch einmal ein ganz anderer Zusammenhalt.

„Es tut mir sehr leid“, murmelte Thor. Er hätte sich ebenfalls einen anderen Ausgang der Geschehnisse gewünscht, doch ihm waren die Hände gebunden.

Er hörte Egan am anderen Ende schluchzen und konnte sich bildlich vorstellen, wie der Mori zusammenbrach. Er war ein Vater, der alles für seine Tochter getan hatte, der sein Leben für Christelles Zukunft aufgegeben hatte. Und jetzt hatte er alles verloren. Thor wusste, dass er das Schicksal der Flüchtlinge nicht so nah an sich heranlassen durfte. Er war der Schleuser. Wenn ihn jede Tragödie so mitnahm, würde er daran zugrunde gehen. Er konnte diesen Job nur machen, wenn er sich emotional zurückzog, sich komplett abschottete.

„Ich komme nach Einbruch der Dunkelheit“, sagte er.

Der Mori brauchte Zeit für sich, musste den Verlust seiner Tochter verarbeiten. Auch Thor brauchte etwas Abstand, musste sich sammeln.

In Gedanken noch bei Christelle, steckte er sein Handy in die Hosentasche. Inzwischen war es ziemlich warm geworden. Die Menschen liefen in T-Shirts herum. Thor zog seine Lederjacke aus und warf sie über die Schulter. Einen Vorteil hatte seine dunkle Hautfarbe. Er war gegen Sonnenlicht viel weniger empfindlich als seine weißen Brüder. Schon als Ephebe hatte die Sonneneinstrahlung seine Haut nicht verbrannt. Es stach unangenehm, aber ein Zischen und Verbrennen, wie er es bei Gleichaltrigen gesehen hatte, war ihm fremd. Er konnte nicht behaupten, dass er es liebte, am Tag spazieren zu gehen, aber es machte ihm auch nichts aus.

Ziellos ging er die Straße entlang. Block um Block ließ er hinter sich. Er wollte nicht nach Hause gehen. Dort würde nur Delina auf ihn warten - vermutlich schlafend - und er würde wieder keine Ruhe finden, so lange er sie in seiner Nähe wusste.

Kapitel 6


Der Thronsaal war abgedunkelt, wie zu der Zeit, als der alte Blutfürst noch lebte. Von dem Glanz und der Macht, die damals das Château beherrschten, war nicht mehr viel übrig geblieben. Die riesigen Säulen hatten lange Risse abbekommen, in den Steinwänden klafften riesige Löcher. Der Schutt lag am Boden und zeugte von dem Kampf der Vampire.

Sebum, der auf dem steinernen Thron saß, der wie durch ein Wunder nichts abbekommen hatte, starrte vor sich hin. Die Haut war fahl, der Körper abgemagert. Da saß er, der gestürzte Blutfürst. Ganz allein in der Ruine seiner Herrschaft.

Er hatte resigniert. Der Kampfesfunke, der stets in seinen Augen geglommen hatte, war erloschen. Sein Reich lag in Trümmern. Sie hatten ihm alles genommen, für das es sich zu kämpfen lohnte. Nichts war ihm geblieben. Müde schloss er die Augen. Schlaf fand er schon lange nicht mehr. Der Tag glich der Nacht. Er saß einfach hier und ließ die Zeit vorbeirinnen. Es gab nichts mehr zu tun. Diese verdammten Bastarde hatten alles zerstört, was er so mühsam aufgebaut hatte. Von ihrem ehemals starken Clan existierte nichts mehr. Seine Soyas, die Grundpfeiler seiner Macht, waren tot, verschwunden oder hatten sich dem Feind angeschlossen.

Schritte waren zu hören. Ohne aufzublicken wusste Sebum, dass Itan kam. Er war der Einzige, der sich hier außer ihm aufhielt. Alle anderen hatten das Weite gesucht. Selbst die Blutsklaven hatten sie fortgeschafft.

Itan war der Einzige, der mit ihm die Reise in die Neue Welt überlebt hatte. Sein Sohn, weil er ihn zum Hafen vorgeschickt hatte, und er, weil er in letzter Sekunde aus dem explodierenden Haus springen konnte. Die Rückreise war mühsam gewesen. Es war ein Wunder, dass sie auf der Überfahrt nicht draufgegangen waren. Ihre Nahrungsquellen hatten ebenso wenig überlebt wie seine besten Männer, seine Leibgarde. Auch Hip hatte es erwischt und erst jetzt, wo er fort war, merkte er, wie sehr er sich doch auf den Soya verlassen hatte.

„Vater?“ Die große Tür zum Saal stand offen. Es war niemand da, der sich darum kümmerte, sie zu schließen, und soweit war Sebum noch nicht gesunken, als dass er in seinem Château den Hausmeister spielte.

„Vater?“ Itan kam näher, dann verstummten seine Schritte.

Noch immer saß er mit geschlossenen Augen da. Wartete. Eigentlich wollte er Itan nicht sehen, wollte viel lieber allein sein. Es roch nach Mensch. Itan hatte Nahrung dabei. Seit Wochen hatte er den Thronsaal nicht mehr verlassen, doch jetzt, wo ihm jedoch der verführerische Duft eines Mannes in die Nase stieg, meldete sich der Hunger mit Vehemenz. Er blickte auf, sah seinen Sohn an.

„Du siehst schrecklich aus“, verkündete Itan und stieß ihm den Menschen entgegen.

Sebum kniff die Augen zusammen. Er hatte keine Lust, sich mit Itan zu unterhalten. Er konzentrierte sich auf die Nahrungsquelle, die auf ihn zutaumelte. Mit einer schnellen Bewegung, die seiner Rasse innewohnte, schnellte er vor, ergriff sich die Beute und zog sie zu sich. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen, seine Fänge waren längst ausgefahren. Grob stieß er sie in den Hals des Mannes und begann hastig zu trinken. Er schämte sich für seine Unbeherrschtheit und wandte sich von Itan ab. Der hingegen schien sich daran nicht zu stören.

„Du musst aufhören, dich hier zu verkriechen! Wir müssen uns etwas überlegen.“

Noch immer trank er gierig und versuchte, die nervige Stimme seines Sohnes zu verdrängen. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Er musste sich erst wieder an die Blutmenge gewöhnen, die nun durch seinen Körper gepumpt wurde. Es überraschte ihn, dass er so ausgehungert gewesen war. Viel hätte wohl nicht mehr gefehlt, und er wäre in eine Starre verfallen.

Der Mensch in seinen Armen wurde immer schwerer, sank in sich zusammen. Er hielt ihn mit eisernem Griff fest, war nicht bereit, auch nur einen Blutstropfen zu verschwenden. Er spürte genau den Moment, als das Herz aufhörte zu schlagen. Gleich war es vorbei. Viel Blut befand sich nicht mehr in diesem menschlichen Körper. Es wurde zunehmend schwerer zu trinken. Aber das machte nichts. Er hatte genug. Ohne die Wunden am Hals zu verschließen, ließ er den Blutsklaven los. Er fiel seltsam verdreht zu Boden, die Augen weit geöffnet, und blieb reglos liegen. Mit dem Fuß stieß er den Körper an, schubste ihn von seinem Thron. Er war Abfall, eine leblose Hülle, die entsorgt werden musste.

„Bist du nun bereit, endlich etwas zu unternehmen?“

Sebum schluckte seinen Ärger hinunter. Ihm missfiel, wie Itan mit ihm sprach. „Es gibt nichts, was ich unternehmen könnte.“

„Du bist der Blutfürst!“ Verärgert streckte Itan die Hand nach ihm aus, deutete mit dem Finger auf ihn.

„Der Blutfürst von was?“ Er machte eine ausladende Bewegung und deutete auf den Staub und Schutt um ihn herum.

„Du bist der Blutfürst der Franken, es wird Zeit, dass du dein Reich zurückeroberst, Vetusta.“

Schon sehr lange hatte ihn niemand mehr so genannt.

„Steh endlich auf von deinem Thron und beginne wieder zu leben.“

„Wofür?“

„Sie haben uns bestohlen. Sie haben uns den Thron fortgenommen. Das kannst du doch nicht einfach so hinnehmen. Wir müssen ihn uns zurückholen. Du bist der rechtmäßige Blutfürst.“

Müde verzog Sebum den Mund zu einem abfälligen Grinsen. „Hast du vergessen, was uns bei unserer Rückkehr hier erwartet hat?“, erinnerte er Itan.

„Nein, das habe ich nicht“, ereiferte sein Sohn sich. „Die Chevalier-Brüder haben uns hier aufgelauert. Jourdain, der dir den Blutschwur abgeleistet hat und der sich selbst zum neuen Vetusta gekrönt hat, ist von der Bildfläche verschwunden. Er hat Angst vor dir, weil er weiß, dass du ihn besiegen kannst. Du hast Macht über ihn.“

Sebum wandte den Kopf ab. Er wollte nicht an den Kampf zurückdenken, als sie das Château betreten hatten. Justinian, Clarentine, Keylan und eine ganze Reihe ihrer Untergebenen hatten ihnen aufgelauert. Sie waren nur zu zweit gewesen. Müde und abgekämpft von der langen Reise, völlig unbewaffnet. Es war ein ungleicher Kampf gewesen, den sie nur verlieren konnten.

„Du musst wieder zu Kräften kommen, regelmäßig trinken. Wir werden trainieren und uns Verbündete suchen.“

Freudlos lachte Sebum auf. „Verbündete? An wen hast du gedacht? Etwa an Dioméde, der von Gale gestürzt wurde? Oder Fredolin und Diego, die in der Versenkung verschwunden sind? Werner und Aneng sollen in die Neue Welt geflohen sein und Josef ist zu den Sjüten übergelaufen. Sag mir, wer uns ein guter Verbündeter sein könnte?“

Itan ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er zog aus seinem Gürtel einen Dolch hervor und warf ihn Sebum vor die Füße. Er starrte das silberne Ding an und fragte sich, was er damit machen sollte.

„Drüben in Frankreich sind deine Moris, die Männer, die dir den Blutschwur geleistet haben, die dir direkt unterstellt sind. Wenn du wieder zu Kräften gekommen bist, brechen wir auf und versammeln sie um uns.“

„Ein neuer Soya soll dort herrschen“, wandte Sebum ein.

Itan verschränkte die Arme vor der Brust. „Pépe wurde von Jourdain zum Soya ernannt. Du kennst ihn. Er wird der Erste sein, den du unterwirfst. Und wenn wir genug Leute zusammen haben, werden wir die Soyas Fredolin und Diego suchen. Die Chevalier-Brüder können sich noch so sehr schützend vor Jourdain stellen. Wir brauchen nur genug Männer, um an ihm vorbeizukommen. Wenn du Jourdain gegenübertrittst, kannst du ihn herausfordern, und diesen Kampf kann er nicht gewinnen.“

Sebum blickte seinen Sohn nachdenklich an, ließ sich das, was er gesagt hatte, durch den Kopf gehen. Immer und immer wieder. Der Plan war eigentlich gar nicht so übel. Je länger er darüber nachdachte, musste er sich eingestehen, dass er nahezu brillant war.

Langsam erhob er sich, ergriff den Dolch, den Itan ihm vor die Füße geschmissen hatte. „Wann brechen wir auf?“

Itan lächelte. Er wusste, dass er gewonnen hatte. „In einer Woche. Du musst trinken und wieder zu Kräften kommen.“

Sebum nickte. Er war bereit dazu. Wenn es eine Möglichkeit gab, seinen Thron zurückzubekommen, würde er es versuchen. Und wenn es Jahrzehnte dauern sollte, er würde Jourdain zwischen die Finger bekommen und ihn zerquetschen wie ein lästiges Insekt.


* * *


Delina schlug die Augen auf und starrte an die Decke. Sie war weiß. In ihrem Kopf begann es zu rattern. Das war nicht ihr Zimmer. Wo war sie? Was machte sie hier? Hatten ihre Eltern sie … Abrupt setzte sie sich auf, sah sich um. Alles war ihr fremd, unbekannt. Mit einem Mal kamen die Erinnerungen zurück, stürzten auf sie ein. Der Blutfürst und das Gespräch mit ihm, ihre Flucht und Soya Ducin, der lange Flug und der Schleuser. Alles fiel ihr wieder ein. Der unbekannte Duft, der ihr aber gleichzeitig so vertraut war. Der ganze Raum roch nach ihm. Nach einem fremden Clan, nach Macht und Dominanz. Eindeutig männlich. Sie mochte den Geruch nach feuchter Erde, er war so urtümlich, so bodenständig – genau wie der Schleuser.

Delina stand auf. Ihre nackten Füße sanken in den langflorigen Teppich ein, und sie stutzte. Hatte sie sich nicht zum Schlafen auf den Boden gelegt? Sie drehte sich um und starrte das Bett an. Wie war sie dorthin gekommen? Eine verschwommene Erinnerung kehrte zurück. Der Schleuser hatte sie geweckt, ihr gesagt, dass er fortmüsse. Hatte sie zu dem Zeitpunkt im Bett gelegen? War sie nachts aufgestanden oder hatte er sie herübergetragen? Die Vorstellung, wie er zu ihr kam, während sie schlief, ließ Delina unruhig werden. Von einem Mann berührt zu werden – noch dazu von ihm. Sie schluckte. Normalerweise hätte sie jetzt Angst verspüren müssen, aber das tat sie nicht. Lag es daran, dass ihr Körper ihn als Rinoka akzeptierte, dass er sich Freiheiten und Körperprivilegien herausnehmen durfte? Delina hatte darauf keine Antwort.

Sie lauschte, aber in der Wohnung waren keine Geräusche zu hören. Er war also noch unterwegs. Perfekt. Sie brauchte eine Dusche und etwas zum Anziehen. Das ramponierte grauschimmernde Kleid konnte sie unmöglich noch einmal anziehen. Es war reif für die Mülltonne. Unschlüssig, ob sie sich einfach am Kleiderschrank bedienen durfte, ging sie hinüber und schob die Türen langsam auf. Der Schrank war groß, die sich darin befindende Kleidung überraschend übersichtlich. Ein paar Jeans und Lederhosen und T-Shirts. Mehr nicht. Delina zog eine Hose heraus, die war jedoch nicht nur viel zu lang, sondern auch viel zu groß. Darin würde sie versinken. Die T-Shirts waren auch nicht viel besser, aber zumindest tragbar. Sie musste sich nur vorstellen, es wäre ein kurzes Kleid, die passende Länge hatten sie durchaus. Aus Mangel an Alternativen nahm sie ein graues T-Shirt mit und machte sich auf den Weg ins Bad. Sie wollte sich beeilen, denn sie hatte keine Ahnung, wann der Schleuser zurückkam.

Das Badezimmer war ebenso spartanisch eingerichtet wie der Rest der Wohnung. In einem der Schränke fand sie schließlich Shampoo und Duschgel. Sollte es sie verwundern, dass es in diesem Haus Duschgel mit Pfirsichgeruch gab? Nein, es stand ihr nicht zu, sich darüber Gedanken zu machen. Was der Schleuser in seiner Wohnung trieb, ging sie nichts an. Sie legte Handtücher bereit und betrat die Dusche. Es war herrlich, das angenehm temperierte Wasser auf der Haut zu spüren, aber die Sorge, der Schleuser könnte jeden Moment zurückkommen, veranlasste sie zur Eile. Delina stieg gerade aus der Dusche und griff nach einem Handtuch, als sie hörte, wie die Aufzugtür sich öffnete. Er war zurück.

So schnell sie konnte, rubbelte sie sich trocken und zog das T-Shirt über. Sie brauchte unbedingt anständige Kleidung, vor allem Unterwäsche. Schließlich konnte sie diese nicht ewig tragen. Suchend sah Delina sich um, aber ein Föhn war nirgendwo zu finden. So knotete sie die Haare einfach so zusammen und band sie fest.

Sie war fertig und konnte sich nicht länger im Badezimmer verkriechen. Sie musste sich ihrem Rinoka stellen. Mit klopfenden Herzen öffnete sie die Tür und trat hinaus.

Ihre Blicke begegneten sich, und Delina war froh, den Türrahmen im Rücken zu spüren. Er saß im Wohnzimmer in einem der Sessel und schien auf sie gewartet zu haben. Sein Gesicht wirkte abgespannt und müde, aber dennoch sahen seine Augen sie viel zu aufmerksam an.

„Hast du gut geschlafen?“, fragte er mit seiner dunklen Stimme, die ihr eine Gänsehaut über den Rücken jagte.

Delina nickte.

„Ich habe dir etwas zum Anziehen besorgt“, erklärte er und deutete auf eine großformatige Papiertüte, die er auf dem Esstisch abgestellt hatte.

„Danke“, murmelte Delina. Könnte sie sich einfach die Tüte schnappen und im Schlafzimmer verschwinden, um sich anzuziehen? Oder erwartete er … Sie erstarrte. Wie verhielt sie sich angemessen? Er war ihr Rinoka, ihr Beschützer.

„Geh und zieh dich an. Wir müssen bald los.“

Reglos stand Delina da, starrte den Schleuser an. Er wollte mit ihr fortgehen? Wohin? Musste sie sich Sorgen machen?

Er verdrehte die Augen, erhob sich und kam auf sie zu. Delina wäre gern zurückgewichen, doch das ging nicht, ohne die Tür zu öffnen. So sah sie ihn mit erschrockenen, weit aufgerissenen Augen an. Vielleicht wäre es besser, keine Angst zu zeigen. Sie versuchte diese zu verdrängen, was ihr nur notdürftig gelang. Der Schleuser war jedoch auch ihr Rinoka, und sie würde ihm nicht entrinnen können.

Er griff im Vorbeigehen nach der Papiertüte. Dicht vor ihr blieb er stehen und drückte ihr die Tüte in die Hand. Gleichzeitig beugte er sich leicht über sie, sodass sie seinen Duft noch intensiver wahrnahm. Tannennadeln und feuchte Erde. Sein Geruch umgab sie, hüllte sie vollkommen ein.

„Ich kann deine Angst riechen“, raunte er ihr ins Ohr.

Delina zuckte zusammen.

„Nicht ich bin es, vor dem du dich fürchten musst. Ducin würde mich einen Kopf kürzer machen, wenn ich dich nicht unversehrt in Boston abliefere.“

„Boston?“, stieß Delina atemlos hervor. Der Bostoner Clan, der Erste in der Neuen Welt, war legendär. Dort sollte sie hinkommen? Sie hatte gehört, es sei ein Privileg, dort aufgenommen zu werden.

Der Schleuser trat einen kleinen Schritt zurück, damit er sie anblicken konnte.

„Ducin hat Himmel und Hölle für dich in Bewegung gesetzt und eine ganze Reihe an Gefallen eingefordert. Ich hoffe, du bist es wert.“

Mit großen Augen sah sie zu ihm auf.

„In welcher Beziehung stehst du zu Ducin?“, verlangte der Schleuser zu wissen.

Delina öffnete den Mund und schloss ihn gleich wieder, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Sie hatte absolut keine Ahnung, wie sie ihm das erklären sollte. „Ich … ich kenne ihn nicht“, stammelte sie. „Wir sind uns gestern zum ersten Mal begegnet.“

Der Schleuser kniff die Augen zusammen, als müsse er prüfen, ob er ihren Worten trauen konnte.

„Ich bin sehr froh, dass er mich hergebracht hat.“ Sie schluckte. „Ich bin froh, dass du …“ Sie brach ab, wusste nicht, wie sie es formulieren sollte.

„Dass ich …?“

Hastig blickte sie zu Boden, fixierte ihre nackten Füße. „Dass du mich beschützt“, flüsterte sie leise und wusste, dass er jedes Wort verstand.

Er streckte die Hand aus, umfing ihr Gesicht und drückte mit dem Daumen ihr Kinn nach oben, sodass sie ihn ansehen musste.

„Mein Schutz hat einen Preis, aber den hat Ducin bereits bezahlt.“

Delina musste an sich halten, damit sie vor Erleichterung nicht einfach zusammenbrach. Sie musste ihm nichts geben, davon abgesehen, dass sie nicht wirklich etwas zu bieten gehabt hätte. Soya Ducin hatte sich darum gekümmert. Was mochte der Preis gewesen sein? Was verlangte der Schleuser sonst? Körperprivilegien? Ihr wurde beängstigend warm. Seine Hand lag noch immer auf ihrer Wange, und er machte auch keine Anstalten, sie fortzunehmen.

„Du bist so unglaublich beherrscht. Was bringt dich aus der Fassung?“, fragte er nachdenklich und brachte Delina damit auf den Boden der Tatsachen zurück.

Sie spürte die Hitze. Ihr Körper schien zu glühen. Sie musste von hier fort! Er. Sie war kurz davor, die Kontenance zu verlieren. Hastig machte sie sich von ihm los und brachte ein paar Meter Abstand zwischen sie.

„Warum solltest du mich aus der Fassung bringen wollen?“, fragte sie unsicher. Spürte er, wie nahe er daran gewesen war? Doch was hatte er davon, wenn sie völlig verzweifelt wäre? Sie kämpfte mit jedem Atemzug darum, Haltung zu bewahren. Nie würde sie ihm eingestehen, dass er sie längst aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Schon seit seinem ersten Auftauchen war sie völlig neben der Spur.

„Deine undurchdringliche Maske, wie es nur ein Mitglied der Innoka beherrscht.“ Angewidert spuckte er die Worte aus, und Delina war entsetzt über den Hass, der in seiner Stimme mitschwang. „Ich frage mich, was dahintersteckt.“

Jetzt bekam es Delina mit der Angst zu tun. Sie wussten beide, dass er einen Zugang zu ihrem Kopf hatte, dass er hineinspazieren konnte, wann immer er es wollte. Es gab kein Geheimnis, das sie vor ihm verbergen konnte.

Delina nahm all ihren Mut zusammen und reckte das Kinn. „Ich frage mich, wer der Schleuser wirklich ist. Gibt es einen Vampir, der dich richtig kennt?“ Sie war in die Offensive gegangen. Ein letzter verzweifelter Versuch, sich zu wehren.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739450612
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Mai)
Schlagworte
Gefährte Urban-Fantasy Clan Fantasy Romance Seelenverbindung Liebe Vampir Seelengefährte Urban Fantasy

Autor

  • Melissa David (Autor:in)

Ich schreibe Bücher, die dein Herz berühren und dich in fantastische Welten abtauchen lassen.
Melissa David wurde 1984 in einem historischen Städtchen in Bayern geboren. Lange bevor sie schrieb, hatte sie den Kopf schon voller Geschichten. Seit 2015 ist sie als Selfpublisherin unterwegs.
Der enge Kontakt zu ihren Lesern ist ihr eine Herzensangelegenheit, die sie über Facebook, ihren Blog und den zweiwöchentlichen Newsletter pflegt.
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Titel: Kruento - Der Schleuser