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Blind für die Wahrheit

von Mathilda Grace (Autor:in)
300 Seiten
Reihe: Chicago - Reihe, Band 2

Zusammenfassung

Cord Wilks hat seine Zukunft seit jeher klar vor sich gesehen. Er möchte eine Frau und Kinder, weil eine eigene Familie immer sein größter Wunsch war. Für das Sexuelle gibt es schließlich einschlägige Clubs oder Callboys. Nur hat er mit Mitte Vierzig immer noch keine passende Frau gefunden und sein schwules Sexleben liegt brach, seit er Connor Alexander kennengelernt hat. Jenen Traumatherapeuten, der seinem Schwager geholfen hat, ins Leben zurückzufinden, und der ihn auf eine Art und Weise ansieht, die Cords Nacken jedes Mal aufs Heftigste prickeln lässt. Blöd nur, dass Connor kein Interesse an einer heißen Affäre hat und auch nicht im Traum daran denkt, neben seiner zukünftigen Ehefrau das fünfte Rad am Wagen zu spielen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Prolog

Cord

 

 

 

 

»Du willst nicht mich, Cord. Du suchst bloß ein dummes, kleines Blondchen, das sich mit deiner Vorstellung einer heilen Familie zufrieden gibt. Die dich heiratet, für dich zwei Kinder wirft und sich dann um Haus und Herd kümmert, während du dich abends durch fremde Betten vögelst und tagsüber kleine Kinderseelen rettest.«

Amber wirft mir einen angewiderten Blick zu und legt ihre Unterwäsche zurück in die Tasche, die sie erst vor einer Stunde ausgepackt hat, um das Wochenende bei mir zu verbringen. Ein Wochenende, das nun nicht mehr stattfinden wird, und ich schätze, es wird auch kein anderes geben. Jedenfalls nicht mit ihr. Dabei frage ich mich immer noch, was falsch gelaufen ist. Wir haben uns zur Begrüßung geküsst, ich hatte für uns ein Abendessen gekocht und dachte, wir könnten vorher noch eine heiße Nummer dazwischenschieben. Vielleicht hätte ich nicht versuchen sollen, sie zu überreden?

»Ich dachte, du wärst der Richtige. Das dachte ich wirklich, denn ich habe dich sehr gern, Cord. Aber irgendetwas stimmt nicht mit dir. Ich bin nicht hergekommen, um Sex zu haben, ich wollte Zeit mit dir verbringen. Dich besser kennenlernen, aber ich schätze, das interessiert dich überhaupt nicht. Du magst ein sehr guter Kinderpsychologe sein, aber privat, als Mensch, bist du einfach nur ein Arschloch.« Sie legt sich den Riemen ihrer Tasche über die Schulter und sieht mich mitleidig an. »Such dir Hilfe. Wir leben im 21. Jahrhundert, Frauen sind schon längst keine Gebärmaschinen oder Haushälterinnen mehr. Die Zeiten haben wir, Gott sei Dank, hinter uns.«

»Amber ...«

»Nein!«, unterbricht sie mich rigoros und drängt sich an mir vorbei aus dem Schlafzimmer. »Ich bin keine Nutte und ich lasse mich nicht so behandeln.«

Wie bitte? Das ist doch wohl nicht ihr Ernst. »Ich habe dich nie wie eine … Amber!«

»Was?« Sie fährt sichtlich erbost zu mir herum. »Gefällt dir die Wahrheit nicht? Wir hatten immer nur Sex, Cord. Er war toll, das bestreite ich nicht, und ich kann auch nicht behaupten, dass du kein aufmerksamer Mann wärst. Aber es läuft immer alles nur zu deinen Bedingungen. Du gibst nichts von dir preis. Wenn ich frage, wie es deinem Bruder geht, blockst du ab. Will ich wissen, wie dein Tag war, blockst du ab. Ich kann dir alles erzählen und du hast immer einen Rat für mich, aber du lässt mich nicht an dich heran. Gäbe es nicht die ganzen Bilder an den Wänden, wüsste ich nicht mal, dass du eine Familie hast. Wir treffen uns seit Monaten und ich habe keinen von ihnen je getroffen. Du siehst es nicht so, ich weiß, aber du behandelst mich wie eine Nutte, die man sich nach Hause bestellt, sobald man Druck hat. Das einzige, was zwischen uns dabei fehlte, war die Bezahlung. Leb wohl, Cord.«

Die Tür knallt hinter Amber zu und zurück bleibt Stille, bis Sammy sich aus dem Wohnzimmer traut und leise jaulend um meine Beine streicht. Ich nehme ihn hoch und kraule ihn hinter den Ohren, weil er das liebt und weil er scheinbar der einzige ist, der mich so nimmt, wie ich bin.

Mein Handy piept und das kann eigentlich nur einer sein. Ich ziehe es aus der Tasche und rufe die Nachricht auf.

 

Sie hat sexy Beine und ist stinksauer.

Ich schätze, mein Hintern bleibt weiter unberührt.

 

Dieses gottverdammte Arschloch. Wieso tut er das? Warum lässt er mich nicht einfach in Ruhe? Ich hätte mich nie auf sein bescheuertes Spiel einlassen sollen, aber beim ersten Mal fand ich es aufregend und irgendwie auch lustig, dabei sollte ich es in meinem Alter eigentlich besser wissen. Doch jetzt ist es zu spät und ich werde ihn nicht mehr los. Wahrscheinlich steht er wieder draußen auf der anderen Straßenseite und beobachtet mein Haus. Wie ein unheimlicher Stalker, der er nicht ist, und das ist auch der einzige Grund, warum ich noch nie die Polizei gerufen habe. Für ihn gehört das zum Spiel und es ist ein Spiel, das er gewinnen will, seit er mir ins Gesicht gesagt hat, dass er mich ficken will und dass er mich auf gar keinen Fall mit einer Ehefrau teilen wird.

Anschließend gab irgendwie ein Wort das andere, bis ich zum Schluss zugestimmt hatte, sein Spiel zu spielen.

Es war einfach zu verlockend. Ich bekomme seinen Arsch, wenn ich eine Frau finde, die sich auf mich einlässt. Auf meine Pläne für Haus, Kinder und Familie. Und er bekommt meinen Arsch, sollte ich fünf Mal versagen. Amber war Nummer vier und langsam beschleicht mich der Verdacht, dass ich auch bei der letzten Nummer den Kürzeren ziehen werde. Danach wäre ich fällig, aber das wird nicht passieren. Niemals. Eher springe ich von einer Brücke, als ihm oder überhaupt irgendeinem Kerl meinen Arsch zu überlassen.

Der Psychologe in mir zieht gerade eine Augenbraue sehr langsam nach oben, denn er weiß, was mit mir los ist. Genauso wie Amber es wusste, obwohl ihr eine Erklärung fehlt. Sie wird auch niemals eine erhalten. Keiner wird das. Ich werde allein damit fertig. Wozu bin ich schließlich Psychologe geworden? Ich kenne alle Tricks, alle Techniken.

Morgen habe ich die Stimme in mir, die mich in den letzten Monaten immer heftiger in seine Richtung drängt, wieder zum Verstummen gebracht.

Ich brauche Doktor Connor Benjamin Alexander nicht.

Und ich werde dieses verfluchte Spiel gewinnen!

 

 

Kapitel 1

Cord

 

 

 

 

Braungebrannt und mit einem breiten Grinsen im Gesicht baut sich Garrett dicht vor mir auf. Er sieht gut aus. Zufrieden. Glücklich. Fröhlich. Genauso wie seine beiden Männer, die ihm schmunzelnd folgen, je einen Koffer an beiden Händen.

Als Garrett mir eine Nachricht schrieb und fragte, ob ich sie vom Flughafen abholen würde, war das keine Frage, die einer Antwort bedurfte. Natürlich hole ich sie ab, immerhin möchte ich wissen, wie es Garretts ewigem Sorgenkind geht. Und ich wollte mir auch ein Bild von ihm und Kade machen, aber auf den ersten Blick scheint alles in Ordnung zu sein. Der Urlaub hat ihnen sichtlich gut getan und der Roadtrip einmal kreuz und quer durch Australien hat bei allen für reichlich Farbe auf der Haut gesorgt, auch wenn mir Garretts Nase etwas zu rot erscheint. Er hatte eindeutig einen Sonnenbrand.

Ich lasse mich lächelnd umarmen, auf die Schulter klopfen, schüttle Hände und sehe dann befriedigt dabei zu, wie sie sich auf Sheila und Sammy stürzen, die ich im Auto gelassen hatte. Jetzt im Winter kann man das tun, denn ich wollte sie nicht mit in den überfüllten Flughafen nehmen. Die Wiedersehensfreude dauert vor allem bei Tyler eine Weile und schließlich gesellt sich Garrett zu mir.

»Was ist los? Du bist irgendwie seltsam.«

»Seltsamer als sonst?«, frage ich neckend und mein Bruder lacht leise, bevor er den Kopf schüttelt.

»Nein, einfach anders. Als wärst du mit deinen Gedanken sonst wo, aber nicht hier.«

Er hat recht, aber das werde ich ihm nicht erzählen. Mein Bruder ist heute glücklich und soll es bleiben. Der Weg dahin war weit genug. Sie haben so lange und unzählige Rückschläge gebraucht, um Tyler zurückzubekommen, da haben sie sich ein bisschen Ruhe und Frieden redlich verdient. Ich komme schon zurecht, das tue ich schließlich immer.

»Ein neuer Klient«, sage ich schlicht, was keine Lüge ist, da ich seit heute die Akte von Thomas James Christansen, genannt TJ, auf dem Tisch habe.

Ein 15-jähriger Trotzkopf, der von mir für das Jugendamt psychologisch begutachtet werden soll, nachdem sie ihn wegen Verdachts auf familiäre Gewalt aus seiner Familie genommen haben. Trisha, die zuständige Sachbearbeiterin, mit der ich in den letzten Jahren schon mehrmals zusammengearbeitet habe, befürchtet, dass der Junge vom Vater geschlagen wird, doch nach dem Anschauen eines Gesprächs, das sie im Jugendamt mit TJ geführt und für mich auf Video aufgenommen hat, habe ich das Gefühl, dass der schlaksige Teenager größere Probleme hat, als nur einen prügelnden Vater. Obwohl das allein bereits furchtbar genug wäre.

»Schlimm?«, fragt Garrett leise und mitfühlend, hakt aber nicht weiter nach, als ich nur nicke, denn er weiß, dass mir die Schweigepflicht heilig ist und er hat genug Anstand, Bruder hin oder her, nicht weiter nachzuhaken. Das würde er nie tun, sobald es um meine Klienten geht, aber ich sehe ihm deutlich an, dass er sich Sorgen macht, also werfe ich meinen Plan, die drei zu Hause abzusetzen und zurück in die Praxis zu fahren, kurzerhand über den Haufen.

»Gehen wir was essen? Ich lade euch ein«, erkläre ich und deute auf Garretts Nase. »Und dann will ich alles über diesen roten Zinken in deinem Gesicht wissen, der eindeutig zu viel Sonne abbekommen hat.«

»Cord!«

Lachend ziehe ich ihn hinter mir her zu meinem Wagen. Ich bin gut im Ablenken und außerdem möchte ich noch ein paar Worte mit Tyler wechseln. Ich wäre ein Idiot, wenn ich mir die Gelegenheit, das zu tun, durch die Lappen gehen lasse.

Meine leichte Sorge erweist sich im Laufe der kommenden Stunde allerdings als unbegründet. Tyler geht es gut und Kade geht sehr viel ungezwungener mit ihm um, als noch vor einem knappen Dreivierteljahr, nachdem er und Garrett Huskydame Sheila für Tyler besorgt hatten. Connor hat recht, sie brauchen uns nicht mehr, obwohl ich den Psychologen in mir vermutlich nie ganz werde abschalten können, sobald es um Garrett und seine Männer geht. Er ist nun mal mein kleiner Bruder und ich will, dass er glücklich ist.

»Mum hat gefragt, wann wir mal wieder zum Essen bei ihr und Dad vorbeischauen«, sagt Garrett in die angenehme Stille hinein, die sich gebildet hat, seit wir in dem kleinen Park, den wir uns nach dem Essen gesucht haben, damit die Hunde noch eine Runde toben können, allein auf der Bank sitzen und Tyler und Kade zusehen, wie sie lachend Äste für Sheila und Sammy werfen. Sammy liebt die Hundedame der drei und umgekehrt ist es genauso. Ich habe schon darüber nachgedacht, ihn Tyler zu schenken, weil ich in letzter Zeit immer lange arbeite und es für Sammy die bessere Entscheidung wäre, wenn er in einem Zuhause lebt, wo man sich angemessen um ihn kümmert. Bei dem alten Foolish war das kein großes Problem, aber Sammy ist noch so jung. Er braucht die Gesellschaft und vor allem eine vernünftige Erziehung.

Meine drei Katzen stört es nicht, wenn ich den ganzen Tag außer Haus bin, aber für Sammy muss ich immer öfter eine Lösung finden, denn ihn in die Praxis mitzunehmen, war zwar anfangs eine gute Idee, ist aber im Augenblick nur sporadisch machbar, seit ich damit begonnen habe, mit mehreren Klienten zu arbeiten, die an Tierallergien leiden.

»Cord?«

Ich sehe entschuldigend zu Garrett. »Ja, ich weiß. Sie denkt, ich arbeite zu viel und hat mir letzte Woche angedroht, dich auf mich anzusetzen, sobald ihr wieder da seid.«

Er gluckst leise. »Ach daher weht der Wind. Und? Hat sie recht? Arbeitest du zu viel?«

»Ich denke ernsthaft darüber nach, Sammy deinem zweiten Mann zu schenken.«

Garrett sieht mich überrascht an. »Was? Aber ...«

Er bricht ab, als ich seufze und wieder zu den Hunden und Tyler und Kade sehe. »Ich habe mehrere Kinder mit Allergien, die jede Woche in die Praxis kommen, und mit meinem neuen Klienten bald so viel zu tun, dass er ständig allein wäre, wenn ich niemanden finde, bei dem er bleiben kann. Und ich will ihn auch nicht andauernd Mum und Dad aufs Auge drücken. Tyler ist nach Sammy genauso verrückt wie nach Sheila, es wäre das Beste für ihn.«

»Cord, du liebst diesen Hund.«

Natürlich liebe ich Sammy, darum zögere ich ja auch schon so lange, doch ich muss eine Entscheidung treffen. Für mehr Zeit für ihn und damit weniger Zeit für meine Klienten, oder ich wähle die Kinder, was bedeutet, Sammy muss noch länger hintenanstehen, aber das werde ich ihm nicht antun. Es wäre nicht richtig und das hat er nicht verdient. Ich kann mich nicht aufteilen und ich kann auch nicht einfach einige meiner leicht verletzlichen Klienten abgeben. Nicht jetzt, wo ich sie endlich erreicht habe und sie mir vertrauen, dass ich ihnen helfe. Dass ich für sie da bin, solange sie mich brauchen.

Der einzige, mit dem ich derzeit noch nicht mal angefangen habe zu arbeiten, ist Thomas, doch den will ich nicht an einen Kollegen weitergeben, auf keinen Fall. Warum das so ist, kann ich mir im Moment noch nicht erklären, aber ich werde mir die Zeit nehmen es herauszufinden, wenn Trisha ihn morgen zum ersten Mal in meine Praxis bringt.

Was mich wieder auf Sammy zurückbringt und ich schaue mit einem lachenden und einem weinenden Auge zu, wie mein Beagle an Tyler hochspringt, der ihn lachend hinter den Ohren krault. Es muss sein. Selbst wenn es mich umbringt.

»Ich will ihn nicht weggeben, Garrett, aber mir fehlt einfach die Zeit für ihn, und das ist ihm gegenüber nicht fair. Tyler und Kade nehmen Sheila mit in die Werkstatt.« Ich sehe meinen Bruder fragend an. »Glaubst du, es würde sie stören, wenn er ab sofort …?«

»Natürlich nicht, du Idiot«, fährt Garrett mir ins Wort und verschränkt mit verärgertem Blick die Arme vor der Brust. »Du sollst ihn einfach nicht weggeben müssen.«

»Sammy ist großartig, Garrett. Ich habe nur die Wahl, ihn zu euch zu geben oder meine jungen Patienten an Kollegen zu verweisen, und das kann ich einfach nicht. Nicht jetzt, wo ich endlich zu ihnen durchgedrungen bin, verstehst du?«

»Das hätte Connor bei Tyler auch nicht getan.«

Ich verkneife mir ein erleichtertes Seufzen. Er versteht es. Es gefällt ihm nicht, aber dennoch versteht er mich. Wie konnte ich überhaupt daran zweifeln? »Diese Kinder brauchen mich. Ich kann meine Gespräche mit ihnen jetzt nicht aufgeben. Das würden sie mir nie verzeihen.«

»Und deine drei Felltiger?«, fragt Garrett, was mich grinsen lässt.

»Fressen mir weiterhin die Haare vom Kopf und sind froh, wenn sie mein Bett für sich alleine haben.«

Garrett lacht und legt einen Arm um meine Schultern. »Na gut, großer Bruder, weil du es bist. Um das Essen bei unseren Eltern am Wochenende kommst du aber trotzdem nicht herum, das ist dir doch klar, oder?«

Ich stutze irritiert. »Dieses Wochenende? Davon war vorhin aber noch nicht die Rede.«

»Das habe ich dir ja auch verschwiegen«, feixt Garrett und erhebt sich, bevor ich ihn dafür finster ansehen kann. »Tyler? Kommst du mal? Cord will dich etwas fragen.«

 

Ein paar Stunden später ist Sammy mit seinen Sachen, dem Hundekorb und jeder Menge Streicheleinheiten auf dem Weg in sein neues Zuhause, wo er sich schnell einleben wird. Tyler war von dem neuen Familienzuwachs begeistert und dank ihm und seiner unübersehbaren Freude bin ich von neuen Fragen aus Kades Richtung verschont geblieben. Zumindest für heute, obwohl ich mir keine Illusionen mache, dass das so bleibt. Er will wissen, was los ist, seine Blicke haben ihn verraten, und er ist bei weiten nicht so leicht zu beruhigen wie Garrett. Ich kann bei Kade nicht den Bruderbonus ausspielen, denn seit ich mich im Zuge von Tylers Therapie um ihn gekümmert habe, hat er seinen Beschützerinstinkt auf mich ausgeweitet.

Eine amüsante Geste – dachte ich anfangs zumindest. Bis er damit begann, ab und zu bei mir anzurufen, um zu fragen, wie es mir geht. Er war dabei die ersten Male derartig subtil, dass mir überhaupt nicht auffiel, dass seine Fragen wegen Tyler nur ein Vorwand waren. Dieser Mann ist gut und im Gegensatz zu Garrett, der absolut nicht lügen und sich auch nicht sonderlich gut verstellen kann, ist Kade in beidem richtig versiert. Und so brauchte es einen ganzen Sommer, bis ich dahinterkam, was er wirklich bezweckte und ihn höflich aber bestimmt abblockte.

Aufgegeben hat er deshalb aber nicht, im Gegenteil. Er hat einfach die Taktik gewechselt und ist von subtiler Höflichkeit auf direkte Ansprachen umgeschwenkt, was bedeutet, dass er, genau wie Connor Alexander, alle Nase lang uneingeladen vor meiner Haustür auftaucht. Doch während der werte Doc meist im Wagen sitzen bleibt und mich nur aus der Ferne beobachtet, klingelt Kade ungeniert an der Tür und lädt sich ungefragt, mit einer Tüte voll chinesischer Köstlichkeiten als Bestechung, zum Essen ein. Und leider liebe ich chinesisches Essen.

Darum weiß ich auch jetzt schon, dass ich davon in einigen Tagen wieder genug für zwei oder drei weitere Mahlzeiten im Kühlschrank zu stehen haben werde, aber bis dahin bleibt mir ausreichend Zeit, endlich wieder Klarschiff zu machen, mein Haus auf Vordermann zu bringen und mir eine gute Taktik zu überlegen, wie ich morgen früh den ersten Kontakt zu Thomas herstellen und am Wochenende das geplante Essen bei meinen Eltern, samt ihren gefühlt eintausend neugierigen Fragen über mein Leben, schadlos überstehen kann.

Es fühlt sich seltsam an, als ich nach dem Staubsaugen, Bad putzen und Müll wegbringen ins Wohnzimmer trete und mein Blick wie gewohnt zum Fenster schweift, wo jetzt etwas fehlt. So ohne Sammy und seinen großen Schlafkorb wirkt die Stelle leer und ich bin einen Augenblick lang versucht, die Palme ein Stück nach rechts zu verschieben, die vor dem Mauerstück zwischen meinen beiden bodentiefen Fenstern steht. Aber was würde das bringen? Das bringt mir Sammy auch nicht zurück und egal wie sehr ich mir sage, dass es richtig war, er fehlt mir jetzt schon, denn Sammy hat mich von der Sekunde an geliebt, als Garrett ihn mir vor anderthalb Jahren grinsend in die Arme gedrückt hat. Und ich musste nicht mal viel dafür tun. Hunde sind so herrlich unkomplizierte Tiere, die einem beinahe alles verzeihen und selbst dann noch begeistert an der Tür auf einen warten, wenn man sie den ganzen Tag allein gelassen hat.

Sammy hat meinem Haus Leben eingehaucht und das fehlt jetzt. Zumindest mir, denn ich bezweifle, dass Oscar, Sherlock und Harry Potter sonderlich traurig darüber sind, nicht mehr von begeistertem Bellen aus ihrem Schönheitsschlaf gerissen zu werden, sobald ich nach Hause komme. Wo stecken die drei überhaupt? Seit ich den Staubsauger rausgeholt habe, sind sie verschwunden. Wie immer. Da hat man drei riesige Kater mit genügend Fell, um sich einen Wintermantel daraus anfertigen lassen zu können, doch sobald sie meinen Staubsauger sehen, sind sie kleiner als der berühmte Fingerhut. In der Kratztonne hockt jedenfalls keiner meiner Felltiger und auch ihr großer Kratzbaum in der Ecke ist verwaist.

Mein Blick wandert durch das Wohn- und Esszimmer. Ich habe nicht viele Möbel und damit auch nicht viele Verstecke. Ein Esstisch zu meiner Rechten, weiter in der Mitte steht eine gemütliche Wohnlandschaft, davor ein Tisch und gegenüber in die Wand ist ein Kamin eingelassen, der von überquellenden Bücherregalen gesäumt wird. Ein Stück über dem Kamin hängt ein Flachbildfernseher, den ich ewig nicht mehr benutzt habe. Ich lese lieber, das war schon immer so.

Zwischen den beiden Schiebetüren, die auf meine geflieste Terrasse hinausführen, steht eine Kommode und verteilt im Raum zwei pflegeleichte Palmen. Gäbe es nicht die unzähligen Familienschnappschüsse an der Wand neben der Tür, könnte mein Wohnzimmer aus einem Musterhaus stammen.

Ein Gedanke, der mir nicht zum ersten Mal kommt, aber ich habe bisher nie einen Sinn darin gesehen, etwas an meiner Einrichtung zu ändern. Wozu auch? Erst wenn ich Kinder und eine Frau habe, wird aus diesem Haus ein echtes Zuhause für mich werden. Solange reicht das hier, entscheide ich ebenfalls nicht zum ersten Mal und gehe durch die Diele zur Treppe, die ins Obergeschoss führt. Wahrscheinlich liegen die drei friedlich beisammen in meinem Bett.

Oben gibt es, direkt angeschlossen an mein Schlafzimmer, ein großes Bad mit Wanne und einer Dusche. Den Gang runter habe ich ein zweites, kleineres Duschbad einbauen lassen. Für die Kinder. Sie werden ihre Privatsphäre wollen, wenn sie älter werden, und eines Tages werde ich mein Arbeitszimmer wohl in ein zweites Kinderzimmer umwandeln müssen. Ich möchte zwei oder drei Kinder, mehr geht räumlich einfach nicht. Und ich hoffe, dass ihre zukünftige Mutter sich nicht zu sehr daran stört, dass die Hälfte unseres Ehebetts im Augenblick wieder einmal besetzt ist.

Mit einem amüsierten Schnauben lehne ich mich mit der Schulter gegen den Türrahmen. »Euch ist schon bewusst, dass ihr unten einen deckenhohen Kratzbaum und eine kuschelige Kratztonne habt? Vom Sofa gar nicht zu reden.«

Sie gewähren mir nicht mal einen Blick. Stattdessen drehen sich ein weißes, ein braunes und ein schwarzhaariges Ungetüm im nächsten Moment gemeinsam einmal um die eigene Achse, so als hätten sie sich abgesprochen, und dann werde ich weiter stoisch ignoriert. Das ist so typisch für die Brüder, dass ich mir ein Lachen verkneifen muss.

»Und euch habe ich aus dem Tierheim gerettet. Verwöhnte Bande«, murmle ich kopfschüttelnd und mache mich auf den Weg nach unten. Es wird Zeit, etwas zu essen, und hinterher werde ich mich noch für ein paar Stunden in meine Fallakten vertiefen, die ich mir auf dem Heimweg, nachdem ich Garrett, seine Männer, Sheila und Sammy nach Hause gebracht hatte, aus der Praxis geholt habe.

Ein neuer Klient bedeutet jedes Mal einen vollständigen Neuanfang für mich und Thomas James Christansen soll nicht denken, dass ich, nur weil ich mit dem städtischen Jugendamt zusammenarbeite, zu deren oft völlig überarbeiteten und dazu chronisch unterbezahlten Psychologen gehöre, die Gutachten nach reiner Aktenlage im Akkord verfassen, weil sie für eine vernünftige Begutachtung überhaupt keine Zeit haben.

Ich nehme mir die Zeit, die ich für meine jungen Klienten brauche, und genau aus diesem Grund schickt das Jugendamt immer wieder Verdachtsfälle zu mir, obwohl ich mehr koste als so mancher meiner Kollegen. Garrett hat einmal scherzhaft zu mir gemeint, warum ich mir nicht ein paar der sogenannten Reichen und Schönen als Patienten an Land ziehe, die für ihre Haus- und Hofpsychiater gerne mal ein Vermögen ausgeben, aber dafür bin ich nicht der Typ. Ich will Menschen, vor allem Kindern und Jugendlichen, wirklich helfen, und mich nicht mit den Kinkerlitzchen verwöhnter Leute herumärgern, die schon einen Nervenzusammenbruch kriegen, wenn die Handtasche nicht zum Kleid passt oder die Paparazzi sie betrunken in einer Bar erwischt haben. Dass das bei unserem traurigen Witz von einem Gesundheitssystem nicht gerade leicht ist, weiß ich aus langjähriger Erfahrung leider nur zu gut, aber ich versuche es trotzdem immer wieder aufs Neue.

Mein Telefon klingelt, während ich dabei bin, mir ein extra dick belegtes Sandwich zu machen, und weil ich eine Hand mit Salami und die andere mit Käse voll habe, benutze ich meinen kleinen Finger, um den Anruf entgegenzunehmen, ohne vorher auf das Display zu sehen. Wahrscheinlich hat Garrett nichts zu tun oder Mum will wissen, ob ihr Jüngster gut heimgekommen ist, da sie ihn auf gar keinen Fall stören möchte, weil er ja nun mal heute erst wieder nach Hause gekommen ist.

»Wer stört mich bei meinem Abendessen?«

»Du hattest einen schönen Nachmittag, habe ich gehört.«

Mir rutscht die Salamipackung aus den Fingern und landet auf den Küchenbodenfliesen. »Mist.«

Connor lacht leise. »Du bist immer so höflich zu mir. Weißt du, ich könnte eines schönen Tages auf die Idee kommen, mir darauf etwas einzubilden.«

Das glaube ich ihm unbewiesen. Arroganter Mistkerl. »Wie soll das bitteschön gehen, bei dem großen Ego, das du bereits mit dir herumträgst?«

»Gut gekontert, Cord, das muss ich dir lassen.«

»Nicht wahr?«

»Was gibt es zum Abendessen?«

Ich schaue auf meine Küchenarbeitsfläche, die aussieht, als hätte jemand ein Massaker aus Salatblättern, Wurst, Käse und Mayonnaise auf ihr veranstaltet. »Sandwiches.«

»Wie langweilig. Ich biete mehr.«

Nicht darauf einlassen, denke ich noch und frage ihn dann doch, weil ich leider nicht anders kann. Der Mann macht mich wahnsinnig. »Vergiss es. Ich will gar nicht wissen, was du dir heute Abend für ein Fünf-Gänge-Menü zauberst.«

»Er sind keine fünf Gänge. Unter der Woche werden es nur an guten Tagen mehr als zwei. Die Gourmetküche hebe ich mir für die Wochenenden und für dich auf.«

»Ich war noch nie bei dir essen«, erinnere ich ihn eisig, weil ich selbiges auch gar nicht vorhabe, nur scheint er das ständig zu vergessen oder, was bei Connor Alexander genauso möglich ist, er ignoriert es einfach, in der Hoffnung, eines Tages seinen Dickkopf durchsetzen zu können.

»Ein Grund mehr für mich weiterhin zu üben. Irgendwann wirst du der duftenden Verführung meiner Küche folgen.«

»Werde ich nicht«, halte ich dagegen, obwohl mir bei der Vorstellung, mich in seinem Haus aufzuhalten, eine Gänsehaut über den Rücken läuft. Ich weiß, wo er wohnt, obwohl ich mich immer noch mächtig darüber ärgere, dass ich mich überhaupt dazu herabgelassen und ihm hinterher spioniert habe.

An jenem Abend fand ich es nur recht und billig, gleiches mit gleichem zu vergelten, immerhin lungert er auch ständig vor meiner Haustür herum. Keine drei Stunden später kam ich mir vor wie ein Vollidiot und bin wieder nach Hause gefahren. Und da er meinen unerwünschten Besuch bei sich seither nicht erwähnt hat, bin ich offenbar unentdeckt geblieben.

Gott sei Dank.

»Außerdem hat das Geruchstelefon noch keiner erfunden«, erkläre ich Connor trocken. »Du kannst mir also viel von einer angeblich duftenden Verführung in deiner Küche erzählen.« Schon während ich die Worte ausspreche, wird mir bewusst, wie zweideutig man sie verstehen kann. »Ich meine ...«

»Du willst in meiner Küche verführt werden?«, unterbricht mich Connor, der sich diese Steilvorlage nicht entgehen lassen kann. Was habe ich auch anderes erwartet?

»Nein!«

»Ich verstehe, du willst vorher natürlich eine ausführliche Aufzählung meiner geplanten Küchenverführung. Soll ich jede Einzelheit bis ins Detail beschreiben oder reicht dir fürs Erste ein grober Überblick?«

Um Himmels willen, bloß nicht, ist mein nächster Gedanke, denn wenn ich eines in den vergangenen drei Monaten gelernt habe, in denen er mir von Woche zu Woche etwas energischer nachstellt, dann, dass Connor Alexander ein wahrer Zauberer mit Worten sein kann. So wie ich ihn einschätze, würde es ihm sogar gelingen einem Inuit Schnee zu verkaufen. Oder einem Beduinen Sand. Oder mir ein sehr gutes Essen. Er versucht es jedenfalls regelmäßig, seit Amber im letzten Jahr, ein paar Tage nach Halloween, aus meinem Leben verschwunden ist. Und irgendwie scheint er ein inneres Gespür dafür entwickelt zu haben, sobald ich wieder anfange, mich erneut nach einer Frau umzusehen, denn kaum habe ich die nächste, mögliche Mutter meiner zukünftigen Kinder ins Auge gefasst, bringt er sich mit einem Anruf wieder in Erinnerung, was bei den letzten beiden Frauen dazu führte, dass sie nach einem ersten Date genauso schnell wieder aus meinem Leben verschwanden, wie sie darin aufgetaucht waren.

Es kommt mir langsam so vor, als gönne Connor mir nicht, mich zum fünften Mal wegen unserer blöden Wette scheitern zu sehen, doch das Schlimmste daran ist, dass mich das nicht mal ein klein wenig ärgert. Wenn ich nicht scheitere, kann er die Wette nicht gewinnen und mein Arsch bleibt unangetastet. Allerdings finde ich dann auch keine Ehefrau für die Familie, die ich mir wünsche. Ich bin mir noch nicht sicher, was davon das Schlechtere für mich ist. Im Augenblick weiß ich nur, dass eine neue Frauensuche erst mal warten muss, bis ich Thomas kennengelernt habe und einschätzen kann, ob er meine Hilfe nötig hat und sie vor allem auch will.

»Hattest du schon einmal die Akte eines möglichen neuen Patienten auf deinem Tisch und wusstest, ohne ihn je gesehen zu haben, dass er deine Hilfe braucht?«, frage ich Connor, ohne darüber nachzudenken, doch als ich ihn hinterher bitten will, das Gesagte wieder zu vergessen, kommt kein einziger Ton aus meinem Mund.

Was hat er nur an sich, dass ich seit fast einem Jahr alles versuche, um ihn von mir fernzuhalten und dennoch jedes Mal mit ihm rede, sobald er anruft oder an meiner Tür klingelt? Er ist nicht mal mein Typ. Nicht dass ich einen festgelegten Typus von Mann hätte. Bei Frauen weiß ich genau, was ich will, doch die Männer, mit denen ich mich heimlich vergnüge oder besser gesagt vergnügt habe, bis Connor Alexander auf der Bildfläche erschien, müssen einfach nur verfügbar sein und Lust auf eine schnelle Nummer haben. Ob klein oder groß, dick oder dünn, blond oder braunhaarig – ein Arsch ist ein Arsch. Und selbst wenn ich auf bärtige Riesen mit ergrauten Schläfen jenseits der Vierzig abfahren würde, wäre ich nicht so lebensmüde, mich jemals auf einen einzulassen.

»Ja«, sagt Connor auf einmal und ich blinzle irritiert. Dann fällt mir meine vorherige Frage wieder ein.

»War deine Annahme richtig? Brauchte er deine Hilfe?«

»Ja.«

»Hast du sie ihm gegeben?«

»Soweit ich konnte, ja.«

Wie meint er das? Ich runzle die Stirn. »Das heißt?«

»Er ging mir nach einigen Wochen zu nah, um ihn noch als reinen Patienten ansehen zu können. Seine Geschichte hat mich an die meines Bruders erinnert.«

Der Selbstmord. Garrett hat mir davon erzählt und ich mag mir nicht einmal vorstellen, wie schlimm es damals für Connor gewesen sein muss, den eigenen Bruder auf eine so furchtbare Art und Weise zu verlieren. Dabei hätte man ihm durchaus helfen können. Er könnte heute noch leben, wenn die US-Army weniger Geld in Waffen investieren und sich stattdessen mehr um die psychischen Probleme jener Soldaten kümmern würde, die sie schon seit Jahrhunderten von einer Hölle in die nächste schickt, um sie schlussendlich eiskalt sich selbst zu überlassen, sobald diese Männer und Frauen nicht mehr so funktionieren wie gewünscht.

Tyler ist für diese verfehlte Politik das beste Beispiel, doch er hatte Connor und dafür werde ich ihm immer dankbar sein, denn ohne seine Hilfe – wer weiß, wo Garrett und Kade heute wären. An Tyler will ich in dem Fall gar nicht denken, denn ich weiß, wo er heute wäre, hätte er den Absprung nicht geschafft.

»Dein Klient … Hast du ihn an einen Kollegen verwiesen?«

»Nach einem langen Kampf, ja.«

Ich weiß sofort, was er meint. »Er wollte es nicht und warf dir vor, ihn loswerden zu wollen.«

»Natürlich. Viele reagieren so, wenn ein Fall einer Seite zu persönlich wird, das weißt du selbst am besten. Aber am Ende hat er verstanden, aus welchem Grund ich seine Behandlung nicht länger fortsetzen konnte und durfte.«

Ich nicke gedankenverloren, denn diese Erfahrung habe ich ebenfalls bereits gemacht und es war keine, die ich unbedingt wiederholen wollen würde. Kinderseelen sind so zerbrechlich, obwohl mir jeder 13-jährige jetzt sofort widersprechen würde. Teenager sind noch mal eine ganz eigene Gattung, die sich oft für sehr cool und allwissend hält. Mit ihnen muss ich noch viel behutsamer umgehen, als beispielsweise mit einem 8-jährigen Klienten, der in seiner geistigen Entwicklung schlichtweg noch nicht so weit ist wie ein Teenager. Dennoch sind es vor allem Teenager, die mir, selbst nach Abschluss einer Therapie, jedes Mal lange im Gedächtnis bleiben.

»Hast du noch Kontakt zu ihm?«, frage ich daher, obwohl mir klar ist, dass mich das im Grunde nichts angeht und er mir das eigentlich auch nicht sagen darf. Oder es zumindest nicht tun sollte. Doch daraus kann ich ihm keinen Vorwurf machen, falls er mir jetzt antwortet, immerhin habe ich mit der Fragerei angefangen. Wieder einmal. Verflixt.

»Sporadisch. Er schickt mir Postkarten zu Weihnachten und meinem Geburtstag. Ich rufe ihn dafür an. Er braucht das und mir tut es gut zu hören, dass er heute glücklich ist.«

Es gelingt mir nur mit Mühe, ein Seufzen zu unterdrücken. Er ist ein sehr guter Traumatherapeut und vermutlich ein noch viel besserer Mensch. »Du bist ein guter Arzt, Connor.«

»Ich weiß.«

Ich kann das Grinsen in seiner Stimme hören und schnaube leise. »Arrogant bist du auch.«

»Das gefällt dir doch … Also? Möchtest du einen Teller von meiner köstlichen Tomatensuppe, mit ofenwarmem Baguette und einer selbstgemachten Kräuterbutter?«

Soweit kommt es noch. »Nein!«

»Na gut, dann esse ich eine Portion für dich mit.«

Connor legt auf, bevor ich noch etwas sagen kann, und ich bin so verdattert von diesem abrupten und für mich auch recht überraschend kommenden Gesprächsende, dass mir erst einige Zeit später auffällt, dass Oscar, Sherlock und Harry Potter dabei sind, sich über den Inhalt der auf dem Boden liegenden Salamipackung herzumachen.

 

 

Kapitel 2

Connor

 

 

 

 

»Köstliche Tomatensuppe, mit ofenwarmem Baguette und einer selbstgemachten Kräuterbutter?«, wiederholt mein bester Freund, Darren Walker, feixend und lässt seinen Blick betont auffällig über seinen Tresen schweifen, bevor er erleichtert die Luft ausstößt. »Puh, ich dachte schon, du hättest meinen Club in eine von diesen Schnöselküchen verwandelt, ohne mir etwas davon zu sagen.«

Er lacht, als ich mit einem Seufzen die Augen verdrehe und ihn tadelnd ansehe. »Lauschen ist unhöflich.«

»Ohne etwas zu trinken an meiner Bar zu sitzen und völlig schamlos am Telefon mit heißen Männern zu flirten, die hier keine Gäste sind, ebenfalls«, kontert er und lacht erneut, als ich ergeben die Hände in die Luft recke. »Irgendwann hetzt er dir dafür die Bullen auf den Hals.«

Ich muss ungewollt schmunzeln. »Weil ich mit ihm flirte? Wohl kaum.«

»Nein, weil du ständig bei ihm vorbeifährst und sein Haus beobachtest«, hält Darren dagegen und schüttelt den Kopf, was ich nicht kommentiere, weil wir darüber nicht zum ersten Mal diskutieren. Er hält es für unprofessionell und hat damit auch recht, ich kann aber dennoch nicht damit aufhören. Cord Wilks ist meine ganz persönliche Büchse der Pandora und ich will da sein, wenn sich der Deckel öffnet, ganz egal, was dann aus uns beiden wird. »Du solltest das wirklich sein lassen, bevor er die Geduld mit dir verliert. Seit wann läuft ein Dom denn seinem Sub hinterher?«

»Darren ...«

»Ja, ja«, grollt er. »Du bist kein Dom und er ist kein Sub. Er wird auch nie einer sein, bla bla … Ich kenne die Schallplatte, du legst sie schließlich seit Monaten regelmäßig auf. Aber ich sage dir, dass das Bullshit ist. Wäre er nicht interessiert, hättest du längst eine Klage am Hals, und wärst du nicht so verrückt nach ihm, dass er dir das Gehirn vernebelt, würdest du einfach an seiner Tür klingeln und die Fronten ein für allemal klären.«

Wenn es so einfach wäre, dann wäre ich diesen Weg längst gegangen, doch ich muss vorsichtig sein. Und behutsam. Das spüre ich jedes Mal, wenn ich ihn sehe oder mit ihm rede. Cord ist immer in Alarmbereitschaft, auch wenn ich der Einzige in seinem Umfeld zu sein scheine, dem das auffällt. Wenn ich bei ihm zu schnell zu weit vorpresche, macht er für immer dicht.

»Dann verliere ich ihn.«

»Ach so? Hast du heute Morgen im Kaffeesatz gelesen und weißt daher, wie er reagieren wird?«

Ich schenke Darren einen warnenden Blick, der ihn jedoch nicht im Mindesten beeindruckt. Er kennt mich einfach zu gut und er lässt sich von mir absolut nichts sagen. Da kann ich der in seinen Augen beste Traumatherapeut von Chicago sein – mit dem perfekten bösen Blick, wie er es gerne nennt – so viel ich will. Darren und ich haben in den vergangenen zwanzig Jahren zu viel zusammen erlebt, sodass wir im jeweils anderen lesen können, wie in einem aufgeschlagenen Buch.

Ich wünschte mir, so leicht ginge es bei Doktor Cord Wilks auch. Doch der Mann ist ein Buch mit sieben Siegeln für mich, von denen ich bisher keins auch nur angekratzt habe, und das macht mich langsam aber sicher vollkommen fuchsig. Seit ich ihn wegen seines Bruders Garrett vor zwei Jahren kontaktiert habe, lässt er mich nicht los, und ich weiß, dass es ihm ebenso geht, aber Cord hat eine dermaßen dicke Mauer aus Abwehr und Misstrauen um sich herum aufgerichtet, dass ich bis heute nicht geschafft habe, ihm näher zu kommen. Dabei will ich genau das, und zwar am liebsten gestern. Doch irgendetwas ist in Cords Leben vorgefallen, das der Grund für diese ständige Abwehrhaltung und diesen albernen Unsinn mit einer Ehefrau, die er angeblich sucht, ist.

Ich werde aus ihm nicht schlau und ich hätte mich niemals zu dieser albernen Wette hinreißen lassen sollen. Das weiß ich, aber damals hielt ich sie in einem kurzen Anfall von geistiger Umnachtung für eine gute Idee. Sie hat allerdings nur dazu geführt, dass ich in den letzten Monaten zusehen musste, wie Cord eine Frau nach der anderen verschlissen hat und dabei immer wütender auf mich wurde. So geht es nicht weiter. Ich muss mir irgendetwas einfallen lassen, bevor er Frau Nummer fünf kennenlernt, die ihm mehr bedeutet, aber die er am Ende genauso wenig an seiner Seite halten können wird, wie all die anderen zuvor, obwohl durchaus die Gefahr besteht, dass er das nie vor mir und vor allem vor sich selbst zugeben wird.

Cord Wilks steht nicht ausschließlich auf Frauen, doch aus irgendeinem Grund hat er panische Angst davor, einen Mann als festen Partner auch nur in Betracht zu ziehen.

Mögliche Gründe dafür gibt es leider unzählige, wenn das jemand weiß, dann ich, immerhin habe ich beruflich oft genug mit traumatisierten Menschen zu tun. Und genau darum kann und will ich nicht wild herum spekulieren. Früher oder später wird er mir sagen, was passiert ist, und bis es soweit ist, werde ich weiter um einen festen Platz in seinem Leben kämpfen, ob ihm das nun gefällt oder nicht.

»Connor? Bist du dir wirklich sicher bei ihm?«

Ich sehe zu Darren, der mein Gedankenkarussell offenbar sehr genau beobachtet hat, denn sein Blick ist ernst. Er macht sich Sorgen. Um mich genauso wie um Cord, den er nicht mal kennt. Nur wird das nichts für ihn ändern, denn Darren und ich wissen aus schmerzlicher Erfahrung leider nur zu gut, wie schlimm es enden kann, wenn man sich nicht unter Kontrolle hat, oder, wie in seinem Fall, viel zu viel davon besitzt und erst loslässt, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist, um es mal so salopp auszudrücken. Dass wir heute immer noch Freunde sind, verdanken wir nur seinem Ehemann Adrian und das werden wir dem niemals vergessen.

»Ich war mir noch nie bei etwas so sicher, Darren.«

Er betrachtet mich noch einige Augenblicke, dann nickt er und lächelt. »Mann, ich wünsche dir alles Glück der Welt, das weißt du, und wehe, dieser Mistkerl ist es nicht wert, dass du so lange auf ihn wartest.«

»Er ist es wert und ich werde so lange auf ihn warten, wie ich warten muss, um sein Vertrauen zu gewinnen.«

»Ich will ihn kennenlernen. Und das ist keine Bitte, klar?«

Ich gluckse heiter. »Das wirst du, Darren. Sobald ich sicher sein kann, dass er nicht tot umfällt, wenn ich ihn in deinen von der Eingangstür bis hin zur verstaubten Dachluke verdorbenen Fetischclub bringe.«

Darren schnaubt abfällig. »Hey, das 'Black Shine' hat keine verstaubte Dachluke.« Im nächsten Augenblick grinst er. »Aber verdorben sind wir hier alle, das kann ich nicht leugnen.«

Ein gutes Stichwort für mich. »Apropos verdorben, wo hast du eigentlich deinen Ehemann gelassen?« Nach der Frage wird Darrens Grinsen überheblich, was mir alles sagt. »War er etwa schon wieder böse?«

»Sehr böse. Er denkt gerade im Keller darüber nach.«

Ich muss lachen. »Du hast ihn ins Verlies gesperrt?«

»Er war heute wirklich sehr böse.« Darren zieht sein Handy aus der Tasche. »Und er hat sein Handy in der Hand, um mich zu rufen, sobald er bereit ist, Buße zu tun.«

»Wie lange wartest du darauf schon?«

Nach der Frage setzt Darren einen Gesichtsausdruck auf, mit dem er wie eine sehr glückliche und zudem äußerst satte Katze vor der leeren Milchschale wirkt. »Drei Stunden.«

Und mehr will ich gar nicht wissen. Wie ich Adrian kenne, hat er Darren solange getriezt, bis der ihm den frechen Hintern versohlt und ihn anschließend zur Strafe auf die Sklavenbank geschnallt hat. Was bei den beiden etwa einmal pro Woche der Fall ist, da bekommt man als bester Freund des Paares Routine darin, Adrian irgendwo splitterfasernackt zu finden, und sei es im Badezimmer, mit dem Gesicht zur Wand. So wie neulich, als ich bei ihnen zum Abendessen eingeladen war. Das Darren und ich dann jedoch zu zweit essen mussten. Sehr zu meiner Belustigung übrigens. Die zwei haben sich eindeutig gesucht und gefunden, holpriger Start hin oder her.

Ich schüttle amüsiert den Kopf. »Ihr seid unmöglich.«

»Und du liebst uns trotzdem«, kontert Darren trocken und zwinkert mir zu. Tja, wo er recht hat …

Wir klatschen uns lachend ab und Darren stellt mir eine kleine Flasche Wasser vor die Nase, weil er weiß, dass ich unter der Woche nur selten etwas trinke, ehe er sich ein Bier nimmt. Wir verlassen die Theke und suchen uns einen Platz an einem der momentan noch leeren Tische, die überall an den Seiten des Tanzbereichs verteilt sind.

In zwei, drei Stunden wird es voller werden, das ist immer so, und besonders an den Wochenenden hat Niko draußen an der Tür jede Menge zu tun, um dafür zu sorgen, dass wirklich nur Besucher in Darrens Club kommen, die wissen, was sie in diesem Etablissement erwartet. Für Neulinge und Neugierige ist das 'Black Shine' trotz Bar und Tanzbereich zu speziell, und deshalb öffnet er ihn beiden Besuchergruppen nur noch einmal im Monat zu einer Themennacht für Unerfahrene.

»Kommst du am Wochenende mal wieder rein? Adrian hat nach dir gefragt.«

»Ich kann ihn ja im Verlies besuchen, bevor ich gehe«, sage ich, ohne es ernst zu meinen, denn ich würde mich nie in eine Session zwischen den beiden einmischen, es sei denn, ich hätte das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Aber Darren und Adrian sind ein Traumpaar und werden es auch bleiben, darauf würde ich sogar mein letztes Hemd verwetten. Trotzdem muss Darren mir jetzt einen finsteren Blick zuwerfen, schon aus Prinzip.

»Wenn du dafür nackt am Andreaskreuz landen willst, nur zu. Ich wette, dir hat schon lange keiner mehr den geilen Arsch versohlt.«

Ich seufze gespielt theatralisch. »Was für ein Angebot. Aber du weißt, ich hebe mich für meinen zukünftigen Mann auf.«

»Oh, du meinst Mister affengeiles Fahrgestell, umwerfend graue Augen, schwarze Haare, in die du gerne mal fest greifen willst, plus Riesenabwehrmauer um sein Herz?«

Er sagt das nicht abfällig, nur ein wenig spöttisch, um mich mit meiner Verliebtheit zu necken, aber ich ziehe eine gequälte Grimasse und Darren wird sofort wieder ernst.

»Er ist der Eine, oder? So wie Adrian es für mich ist.«

Ich beschränke mich auf ein Nicken, weil alles andere eine Lüge wäre und Darren ohnehin weiß, was mit mir los ist. Das wissen alle meine Freunde im Club, denn seit ich Cord kenne, habe ich keine Nacht mehr in den Spielzimmern verbracht und bin nie wieder mit einem Gast nach Hause gegangen. Und das wird sich auch nicht ändern, denn ich will nur noch Cord, auch wenn der Weg in sein Herz sehr lang und steinig sein wird.

»Wie geht’s denn seinem Schwager?«

Darren kennt keine genauen Details, das verbietet mir die Berufsethik, aber er und Adrian wissen etwas mehr als unsere übrigen Freunde, denn ich vertraue ihnen und ich bin es ihnen schuldig. Außerdem würden sie nie etwas nach außen dringen lassen, das ich ihnen anvertraue.

»Tyler hat mir eine Nachricht geschrieben, als sie gelandet waren. Wir treffen uns morgen auf einen Kaffee.«

Darren nickt. »Gute Idee, das lenkt dich ein bisschen ab. Du grübelst mir in den letzten Wochen eindeutig zu viel.«

Das ist mir bewusst, aber ich kann nicht anders. Cord klang am Telefon so allein und einsam, aber ich befürchte, ihm ist das überhaupt nicht bewusst. Oder aber, was noch viel schlimmer wäre, er weiß es und verdrängt es. Vor allen, die ihm wichtig sind, denn ich bezweifle, dass Garrett oder seine Eltern auch nur die geringste Ahnung von unserer dummen Wette und den ständigen Frauen haben, die er mit in sein Bett nimmt und von denen er bislang keine einzige seiner Familie vorgestellt hat. Er hat sich so stark auf diesen angeblichen Lebenstraum mit einer hübschen Ehefrau und zwei bis drei Kindern versteift, dass es höllisch schwer werden wird, ihm klarzumachen, dass dieser Weg der Falscheste ist, den er einschlagen kann.

Cord würde mit einer Frau niemals glücklich werden, und das sage ich nicht nur, weil ich ihn liebe, das sage ich, weil ich es weiß. Ich erlebe seit Monaten praktisch hautnah mit, wie er sich um Frauen bemüht und sie ihn am Ende trotzdem, eine nach der anderen, wutentbrannt verlassen, da sie spüren, dass er ihnen nicht gehört und es auch nie tun wird. Ich habe ihn bei ein paar seiner Dates beobachtet und er war der perfekte Gentleman für jede dieser Frauen. Doch er war bei keiner von ihnen mit dem Herzen dabei und das lässt sich keine Frau auf Dauer von einem Mann gefallen. Jedenfalls keine von diesen intelligenten Schönheiten, die er sich immer aussucht.

Solche Frauen wünschen sich einen starken Partner an ihrer Seite, und keinen Kerl, für den sie so austauschbar sind, wie es für Hugh Hefner seine Bunnys waren.

»Und? Was hast du als nächstes vor, Cord betreffend?«, will Darren schließlich wissen und boxt mir spielerisch gegen den Oberarm, als ich die Lippen schürze und schweige. »Hey, keine Geheimnisse unter Freunden.«

»Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Morgen treffe ich mich mit Tyler und dann sehe ich weiter.«

»Du willst also spontan bleiben?«

Ich nicke. »Cord ist zu klug für große Pläne. Er würde sich darauf einstellen und gegensteuern, und sobald ich ihm auch nur einen einzigen Vorteil gegen mich zugestehe, verliere ich ihn, bevor ich ihn überhaupt hatte.«

 

Tyler Mason sind solche Überlegungen indes vollkommen fremd, stelle ich am nächsten Tag wieder einmal zufrieden fest, als er sich über das große Stück Schokoladenkuchen hermacht, das ich ihm zum Kaffee spendiert habe.

Er ist nicht dumm, im Gegenteil, aber seine Gefangenschaft in Afghanistan hat ihn verändert und heute ist es im Umgang mit ihm am besten, wenn man direkte Sätze oder einfache und klare Aussagen nutzt. Würde ich diesen Weg bei Cord gehen, käme ich nicht sehr weit, aber Tyler vertraut mir und darum beantwortet er meine Fragen nach seinem Wohlbefinden ohne Argwohn und erzählt mir dann begeistert von Sammy, den sie gestern bei sich aufgenommen haben, weil Cord so viel arbeitet und nicht mehr genügend Zeit für ihn hat.

Die Aussage entlockt mir ein Stirnrunzeln, das Tyler nicht entgeht. Und mir entgeht nicht, wie er darauf reagiert. Er hat etwas, ist aber unsicher, ob er darüber sprechen soll. Ich sehe ihm seinen inneren Zwiespalt an und ich weiß, dass ich darauf reagieren muss. Manchmal braucht er einen Schubs, um sich zu entscheiden, ob er mit mir sprechen möchte oder ob er noch nicht bereit dazu ist. Ich akzeptiere seine Entscheidung immer, obwohl es mir diesmal schwerer fallen wird als sonst, weil es um Cord geht.

»Möchtest du darüber reden?«

Tyler schiebt das letzte Drittel seines Kuchens zur Seite, als wäre ihm der Appetit vergangen, und sieht sich unruhig nach allen Seiten um. Aber wir sind im Moment die einzigen Gäste des kleinen Klinikcafés, in dem wir uns getroffen haben, da ich so im Notfall schnell erreichbar bin und er sich hier eindeutig sicherer fühlt, als er es in einem Café in der Innenstadt voller Menschen tun würde.

»Ich liebe Sammy und Sheila.«

»Ich weiß«, stimme ich ihm zu, als er nicht weiterspricht. »Und du wirst dich gut um Sammy kümmern, solange Cord es nicht selbst tun kann.«

Tyler nickt. »Ja.«

Ich warte geduldig auf seine nächsten Worte.

»Er ist falsch«, sagt Tyler nach einiger Zeit und runzelt über seinen eigenen Satz die Stirn. Er scheint sich nicht ganz sicher, wie er das, was er mir sagen will, richtig ausdrücken soll. Also warte ich weiter ab und gebe ihm Gelegenheit, andere Worte zu finden. »Er ist wie ich damals. Er sagt, dass es ihm gut geht, aber das tut es nicht.«

»Er spielt euch etwas vor?«

Tyler sieht mich an und nickt heftig. »Ja. Er lächelt, aber es ist nicht echt. Kade weiß es auch.«

»Und Garrett?«

»Ich bin mir nicht sicher.«

»Ahnt er etwas?«, frage ich und Tyler nickt erneut. »Hast du mit deinen Männern schon darüber gesprochen?« Diesmal ist seine Antwort ein Kopfschütteln, während sein Blick nervös über die Umgebung gleitet. »Weil du dir nicht sicher bist?«

Noch ein Kopfschütteln und in der Sekunde wird mir sein Dilemma klar. Tyler weiß genau, dass mit Cord etwas nicht stimmt, weil er selbst Garrett und Kade über Monate hinweg eine heile Welt vorgespielt hat, und sein Schwager macht jetzt das gleiche. Er hat schlichtweg Angst, mit Garrett darüber zu sprechen, denn er will ihn nicht beunruhigen und Cord würde ohnehin alles abstreiten, so wie Tyler es früher getan hat.

»Du magst Cord«, stellt er plötzlich in den Raum und reißt mich damit aus meinen Gedanken.

»Natürlich mag ich ihn. Dich mag ich schließlich auch.«

Er grinst kurz, dann schüttelt er den Kopf und zieht seinen Teller mit dem Schokoladenkuchen wieder zu sich. Scheinbar hat er sich weit genug beruhigt, sodass sein Appetit langsam zurückkehrt. Sehr gut.

»Nein. Du magst Cord.«

Er betont das Wort magst in einer Art und Weise, die mir klarmacht, dass ich mit dem Vorhaben mich gegenüber ihm, Garrett und Kade bedeckt zu halten, was meine Gefühle für Cord angeht, grandios gescheitert bin. Allerdings überrascht mich das auch nicht sonderlich. Tyler ist viel empfindsamer für die Stimmungen anderer Menschen, als ihm selbst vermutlich je bewusst sein wird. Und es ist nur fair, ihm gegenüber jetzt ehrlich zu sein. Er verdient es.

»Ich mag Cord nicht nur, ich liebe ihn.«

Tyler nickt und isst weiter.

»Das darf dein Schwager aber noch nicht wissen.«

Er stockt und sieht zu mir auf. Sein forschender Blick hält meinen eine ganze Weile fest, bevor er sich wieder dem Rest seines Kuchens zuwendet. »Cord hat Angst.«

Das hat er also ebenfalls bemerkt. »Ja«, sage ich nur, denn ich möchte wissen, was ihm dazu noch im Kopf herumgeht.

»Er ist wie ich.«

Leider kommt auch diese Aussage nicht sehr überraschend für mich. Ich wollte nicht spekulieren, was wohl der Grund für Cords Verhalten sein könnte, aber natürlich habe ich mir schon Gedanken gemacht und einige Vermutungen aufgestellt. Dass Tyler mir jetzt eine dieser Vermutungen bestätigt – es war zu erwarten, so kalt das im ersten Augenblick klingen mag.

Tyler hat viel durchgemacht und Opfer erkennen einander. Eine Aussage, die zwar nicht immer, aber sehr häufig zutrifft. Besonders dann, wenn beide Betroffene gefühlsmäßig nicht zu eng aneinander gebunden sind. Familien sind oft anders, weil sie schlichtweg zu nah miteinander verbunden sind. Manche wollen es nicht sehen, andere schieben sämtliche Anzeichen rigoros zur Seite, und wieder andere haben das berühmte Brett vor dem Kopf, weil das Opfer die Rolle von 'mir geht es super' so perfekt spielt, dass Partner, Geschwister oder die Eltern aus den sprichwörtlichen Wolken fallen, wenn sie erfahren, was ihrem Kind, dem Bruder, der Schwester oder dem Ehemann, der Ehefrau widerfahren ist.

»Du bist dir sicher«, stelle ich in den Raum, denn er hat mir keine Frage gestellt, sondern eine Aussage getroffen. Und das tue ich nun ebenfalls.

Tyler nickt. »Ja.«

»Tyler?« Ich warte geduldig, bis er zu Ende gekaut hat und mich ansieht. Wachsam. Wartend. Hoffnungsvoll. Und in der Sekunde begreife ich, warum er davon angefangen hat. Mir ein Lächeln verkneifend schüttle ich den Kopf. »Du weißt, dass ich das nicht darf.«

»Aber du magst ihn.«

»Tyler ...«

»Du magst ihn«, beharrt er auf seiner Entscheidung und ich muss ungewollt schmunzeln, weil mich das an Cord erinnert, der genauso ein Dickkopf sein kann.

»Ich liebe ihn«, korrigiere ich Tyler sanft. »Und genau das ist auch das Problem. Es verstößt gegen meine berufliche Ethik, jemanden zu betreuen, in dessen Fall ich persönlich viel zu tief involviert bin, und durch Garrett, Kade und dich bin ich das. Von meinen eigenen Gefühlen für ihn ganz zu schweigen. Er ist mein Freund, Tyler, ich darf ihm nicht auf die gleiche Weise helfen, wie ich dir bei deiner Therapie geholfen habe. Er würde es ohnehin nicht zulassen.«

»Dann hilf ihm anders«, fordert Tyler und schiebt den nun leeren Kuchenteller von sich. »Er braucht Hilfe.«

»Erinnerst du dich, was ich dir dazu in der Klinik sagte?«

Die Frage hätte ich mir lieber verkneifen sollen, denn Tyler erinnert sich sehr gut und das gefällt ihm gar nicht. Der böse Blick in meine Richtung spricht Bände. Nur wird das nichts an den Tatsachen ändern. Ich darf und kann Cord nicht helfen. Es würde gegen alles verstoßen, was ich gelernt habe. Außerdem muss er Hilfe wollen und zulassen, und im Moment würde er nicht einmal zugeben, dass er überhaupt ein Problem hat. Mir sind als Traumatherapeut die Hände gebunden. Das gefällt mir genauso wenig wie Tyler, aber ich habe keine Wahl.

»Sei sein Freund.«

Tyler wird nicht so schnell aufgeben, das hat er sich selbst betreffend schließlich auch nicht getan. Ich weiß nur nicht, wie ich ihm klarmachen soll, dass das nicht so einfach ist.

»Liebe ihn.«

Und das wird noch viel schwerer sein, als den Therapeuten in mir zum Schweigen zu bringen. Ich seufze leise und trinke meinen Kaffee aus, bevor ich erneut Tylers Blick suche. Heute entdecke ich in den blauen Augen keine Angst mehr. Dafür ist die Sorge um Cord nicht zu übersehen und die gibt am Ende den Ausschlag für mich, es wenigstens zu versuchen. Aber nur als Freund. Nicht als Therapeut.

»Ich kann dir nichts versprechen.«

Er legt den Kopf schräg. »Feigling.«

Das war deutlich. Ich starre Tyler baff an, doch er weicht weder meinem Blick aus noch nimmt er seine Anschuldigung zurück. Er hält mich also für einen Feigling. Donnerwetter. Das muss ich erst einmal sacken lassen und ich tue es, indem ich mich auf dem Stuhl zurücklehne und die erste Verletztheit zur Seite schiebe, um ganz rational darüber nachzudenken. Tyler liebt Garrett und Garrett liebt seinen Bruder. Dass Tyler seinem Mann helfen möchte, ist verständlich und verrät mir viel über die Tiefe seiner Gefühle für ihn.

Und es sagt mir ebenfalls eine Menge über mich selbst, weil ich Tylers Vorwurf nicht komplett von mir weisen kann. Ja, ich bin feige, mich mit meiner Ethik herauszureden, obwohl sie zu mir gehört wie mein Bart oder die Liebe zu meiner Arbeit. Nur liebe ich Cord ebenfalls und früher oder später muss ich mich ohnehin mit der Tatsache auseinandersetzen, dass mein Beruf und mein Privatleben miteinander kollidieren werden, sollte aus uns das werden, was ich mir erhoffe. Ja, es wäre unethisch, Cord als Therapeut zu helfen, aber habe ich denn wirklich eine Wahl? Ich kann meinen Beruf schlecht von mir abstreifen wie am Abend den Anzug. Ich werde immer ein Traumatherapeut sein, ob mit oder ohne Cord an meiner Seite. Und ich werde instinktiv versuchen ihm zu helfen, sobald es mir erst gelungen ist, sein Vertrauen zu gewinnen.

Ethik hin oder her, ich werde mit diesen Bedenken, dass ich niemals objektiv an die Sache herangehen kann, leben müssen, und sollte es tatsächlich hart auf hart kommen, kann ich nur hoffen, dass es mir gelingt, rechtzeitig die Reißleine zu ziehen und Cord davon zu überzeugen, sich psychologische Hilfe zu suchen. Ich kenne einige erfahrene Kollegen, bei denen er gut aufgehoben wäre, sofern er mit ihnen zurechtkommt.

»Du hast recht, Tyler.«

Er sackt mit einem erleichterten Seufzen in sich zusammen und lächelt mich an. »Du hilfst ihm.«

Was soll ich darauf schon antworten außer Ja? Darum nicke ich einfach. »Ich werde es versuchen, aber ich werde ihn nicht zwingen. Wenn er es absolut nicht will, müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen.« Mir kommt ein Gedanke. »Und kein Wort zu Garrett oder Kade.«

Tyler runzelt die Stirn. »Warum nicht?«

»Cord ist ein sehr guter Psychologe. Wenn Garrett Bescheid weiß, würde sein Bruder das merken. Falls Garrett das Thema selbst anschneidet, ist das in Ordnung, aber was wir heute hier besprochen haben, muss unter uns bleiben.«

Tyler nickt nur, doch sein ernster Blick verrät mir, dass er sehr wohl begriffen hat, wie wichtig sein Schweigen in diesem Fall ist, und ich weiß, dass ich mich in dieser Hinsicht absolut auf ihn verlassen kann. Wenn dieser Ex-Marine mir sein Wort gibt, dann hält er es auch.

 

 

Kapitel 3

Cord

 

 

 

 

Trotz pur.

Gepaart mit Angst und Resignation.

Eine problematische Mischung, denn wenn ein 15-jähriger schon derart enttäuscht vom Leben ist, dass er aufgegeben hat und niemandem mehr glaubt und vertraut, stehen die Chancen leider ziemlich gut, dass er noch lange vor seiner Volljährigkeit in der erstbesten Leichenhalle endet, weil er sich entweder das Leben nimmt oder auf der schiefen Bahn landet und dort den kürzeren zieht.

Aber ich werde den Teufel tun und zulassen, dass Thomas James Christansen auf der Straße oder in einem Sarg landet. Er ist ein kluger Junge, das haben mir mein erstes Gespräch heute und die Tests, die Trisha im Jugendamt mit ihm gemacht hat, eindeutig bewiesen. Zumindest jene Tests, bei denen Thomas sich dazu herabließ, die Aufgaben zu lösen. Irgendwann hatte er nämlich keine Lust mehr und ist dazu übergegangen, zu den Fragen sarkastische Kommentare zu verfassen, die mich beim Lesen mehr als einmal zum Grinsen gebracht haben.

Wie gesagt, dieser Junge ist definitiv nicht dumm oder in einer anderen Weise geistig oder körperlich benachteiligt. Ich muss nur einen Weg finden, ihn mit seiner Intelligenz und dem Willen weiterzukommen herauszufordern, dann kann ich ihn für mich gewinnen. Und für eine gute Zukunft, die er sich auf keinen Fall verbauen soll. Trisha ist meiner Meinung und fürs Erste werden wir uns zweimal die Woche treffen, um zu reden. Worüber auch immer er möchte. Die Schule, die ihn langweilt, weil er schlicht zu clever für den Standardunterricht ist. Sein Elternhaus, in das er nicht zurück will. Den Schulsport, an dem sein Herz hängt, obwohl er keine Ambitionen hat, ein Sportler zu werden oder sich auf diesem Wege ein Stipendium für eine Universität zu sichern. Er läuft gern und ist Mitglied in einem Team an seiner Highschool, die er deswegen weiter besuchen will, um nicht aus dem Team geworfen zu werden, sonst hätte Trisha ihn von der Schule genommen, um das Risiko so weit es geht zu verringern, dass sein Vater in der Schule auftaucht.

Der Mutter scheint völlig egal zu sein, was mit ihrem Sohn geschieht, hat Trisha in ihren Bericht an mich geschrieben. Den Vater hält sie allerdings für ein Risiko für TJ, wie er genannt werden will, und hat deswegen bereits den Schuldirektor und den hiesigen Sicherheitsdienst der Schule informiert. Solange TJ dort weiter lernt und auch trainiert, muss seine Sicherheit gewährleistet werden. Aus diesem Grund hat das Jugendamt seinem Vater eine Unterlassungsverfügung zugestellt, die ihm bis auf Weiteres unter Strafandrohung untersagt, sich seinem Sohn und dem Schulgelände zu nähern.

Gut so.

Obwohl TJ bislang kein einziges Wort zu dem blauen Auge, den Prellungen an seinen Rippen und auf beiden Armen, die für mich unverkennbar von Handabdrücken stammen, sowie der Platzwunde am Kinn gesagt hat, habe ich in meiner Zeit als Psychologe genug derartige Verletzungen gesehen, um sie als harte Faustschläge und Tritte identifizieren zu können. TJ wird geschlagen und es liegt jetzt an Trisha und mir, zu verhindern, dass das weiter geschieht.

Ich drehe das Wasser der Dusche ab und höre gleich darauf ein penetrantes Klingeln unten an der Haustür. Stöhnend öffne ich die Tür der Duschkabine, weil ich ahne, wer das ist. Und da ich aus Erfahrung weiß, dass er sich nicht so einfach vertreiben lassen wird, kann ich mir den Versuch, ihn zu ignorieren, auch gleich ganz sparen.

Als es noch mal klingelt, verdrehe ich frustriert die Augen. »Wenn er nicht mein Schwager wäre ...«

Mit einem Handtuch um die Hüften öffne ich Kade wenig später die Tür und werfe ihm einen genervten Blick zu, weil er das erwartet und weil er mich fragen würde, ob ich krank bin, falls ich bei seinem Auftauchen betont höflich und gelassen reagiere. Beim ersten Mal habe ich das getan, aber danach nie wieder, und mit der Zeit ist diese Begrüßung zwischen uns zu einem Selbstläufer geworden. Es ist auch nicht so, als wäre das Ganze nicht amüsant. Ich mag Kade. Er ist ein netter Kerl, das war er schon immer, nur auf die ernsten Gespräche zwischen uns, die irgendwie jedes Mal der Grund für seine Besuche sind, könnte ich verzichten.

Ich verschränke meine Arme vor der Brust und lehne mich gegen den Türrahmen. »Hallo, Nervensäge.«

»Hallo, mein Lieblingsschwager.« Er hält drei prall gefüllte Tüten in seinen Händen hoch. »Chinesisch, so wie du es liebst. Fühlst du dich schon verführt?«

»Nicht im Mindesten.«

Er hebt die Tüten ein bisschen höher. »Warte noch ein paar Sekunden, bis dir der Duft erst so richtig in die Nase steigt. Du wirst es gar nicht abwarten können, dein kleines Handtuch zu verlieren und unanständig zu werden.«

So ein Mistkerl. Ich darf auf keinen Fall lachen, sonst habe ich verloren, denn das würde er mich nie vergessen lassen. Na warte, denke ich und hole Luft.

»Wenn ich mich recht entsinne, hast du zwei Ehemänner zu Hause, mit denen du bis gestern in Australien warst, was mich zu der Überlegung führt, wieso, zum Teufel, du dich nicht mit ihnen durch die Laken wälzt oder, was ich eigentlich erwartet hatte, aus welchem Grund du nicht an einem gewaltigen Jetlag leidest, sondern mit drei Tüten voller köstlichem, chinesischen Essen bei mir vor der Tür stehst, anstatt, wo du eh schon wach und offensichtlich putzmunter bist, was um diese Uhrzeit eine wirkliche Zumutung ist, das nur nebenbei gesagt, eure Koffer auszupacken, um eure mit Sicherheit fürchterlich vor sich hin müffelnde Wäsche zu waschen?«

Kade fängt an zu grinsen. »Wie oft hast du diesen Satz vor dem Spiegel geübt, damit du ihn mir heute an einem Stück um die Ohren hauen kannst? Geht´s dir gut? Brauchst du vielleicht Sauerstoff? Soll ich einen Krankenwagen bestellen?«

Ich sollte ihm die Tür vor der Nase zuschlagen, nur leider würde er dann Garrett anrufen und ihm vermutlich eine wahre Horrorgeschichte über seinen Bruder erzählen, und dann hätte ich ruckzuck meine Familie am Hals. Es ist also einfacher, ihm einen finsteren Blick zuzuwerfen, der Kade nicht im Mindesten kümmert, und ihn anschließend reinzulassen. Wenn ich mich schon an einem Freitagabend mit diesem Mann herumschlagen muss, kann ich das genauso gut mit vollem Magen tun.

»Hast du mir die großen Frühlingsrollen mitgebracht?«

»Ja.«

»Die scharfe Suppe?«

»Extra für dich, Schwager.«

»Gut.« Ich deute Richtung Küche. »Du weißt ja, wo alles ist. Bedien dich. Ich ziehe mir schnell was über.«

Als ich kurz darauf in die Küche komme, sieht es dort aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Seufzend ignoriere ich das Durcheinander aus Pappschachteln, Essensverpackungen und einer vergessenen Coladose, die über der weit offen stehenden Besteckschublade auf der Arbeitsplatte steht. Manchmal frage ich mich, ob Kade das mit Absicht macht, um mich zu ärgern, denn zu Hause ist er nicht so ein Chaot, das hätte Garrett mir längst erzählt.

»Was ist mit der Cola?«

»Kannst du behalten. Ich hab zu viel gekauft«, antwortet er aus dem Essbereich im Wohnzimmer und lacht. »Oscar, das ist nicht für dich, sondern für dein Herrchen. Runter vom Tisch.«

Ich schließe die Besteckschublade, greife mir noch die Rolle Küchentücher und folge ihm dann nach nebenan. Meine Küche hat einen türlosen Durchgang zum Essbereich, der direkt dem Wohnzimmer angeschlossen ist. Ziemlich praktisch, wenn man beide Hände voll hat. Wenn man allerdings Katzen hat, wird das Ganze gelegentlich unpraktisch, denn mittlerweile sitzt die freche Bande am anderen Ende des Tisches und beäugt gierig unser Abendessen, das von Kade mit einem amüsierten Blick bewacht wird.

»Hast du die armen Kerle wieder nicht gefüttert?«, neckt er mich und gluckst, als ich schnaube. Natürlich habe ich die drei gefüttert, als ich nach Hause kam, und das weiß Kade auch. Ich scheuche sie vom Tisch, bevor ich mich wortlos setze und mir die heutige Auswahl ansehe. »Sammy geht es übrigens prima. Er und Sheila haben letzte Nacht zusammen in ihrem Korb am Fenster geschlafen. Ty war kaum von ihnen wegzubekommen und hätte wahrscheinlich im Wohnzimmer übernachtet, wenn Garrett und ich nicht harte Geschütze aufgefahren hätten.«

Alles andere hätte mich auch gewundert. Ich entscheide mich für die gebratenen Nudeln und drei Frühlingsrollen. Auf die Soße dazu verzichte ich allerdings, ohne schmecken sie mir am besten.

»Sagst du mir, warum wir uns um Sammy kümmern?«

»Nein.«

Kade hält darin inne, sich Reis auf den Teller zu schaufeln und sieht mich überrascht an. »Wow. Normalerweise versuchst du mindestens fünf Minuten mich abzulenken und das Thema zu wechseln, bevor du mich abwürgst. Muss ich mir ernsthafte Sorgen um dich machen?«

»Nein.«

»Shit«, murmelt Kade und lehnt sich zurück. Das Essen ist vergessen. »Was ist los?«

»Nichts.«

»Quatsch. Du bist schon seit letztem Herbst so seltsam und als du uns am Flughafen abgeholt hast, wusste ich sofort, dass irgendwas im Busch ist. Ty weiß es übrigens auch.«

»Garrett?«

Er macht eine abwägende Bewegung mit der Hand. »Er hat definitiv eine Ahnung, weiß aber noch nicht so wirklich, was er damit anfangen soll.«

»Sorg dafür, dass es so bleibt.«

Das sitzt. Kade schweigt eine halbe Ewigkeit, während ich mich über das Essen hermache, als hätte ich seit Tagen nichts mehr bekommen. Schließlich schüttelt er den Kopf und schiebt seinen Teller von sich.

»Okay, jetzt mache ich mir wirklich Sorgen.«

Ich verdrehe nur frustriert die Augen, weil ich den Mund mit Frühlingsrolle voll habe.

»Was?«, springt Kade sofort darauf an. »Soll ich lügen? Ich mache mir Sorgen. Schon länger. Irgendwas ist mit dir und das hat nichts mit deinem Job zu tun. Jedenfalls nicht nur. Du hast schon oft schwere Fälle und viele Klienten auf einmal gehabt, aber bisher hast du das immer super gemanagt. Dass du ohne jede Vorwarnung Sammy zu uns abschiebst ...«

Bei meinem warnenden Blick verstummt er abrupt und ich kaue schnell runter. »Ich habe Sammy nicht abgeschoben, wie einen alten Latschen, sondern eine Entscheidung getroffen. Die richtige übrigens. Er braucht stabile Verhältnisse und die kann ich ihm nicht geben, solange ich mehrere Klienten mit teilweise schweren Tierhaarallergien habe.«

»Und das finde ich auch sehr verantwortungsvoll von dir«, stimmt Kade mir zu und öffnet uns beiden je eine Cola. »Aber ich weiß, dass das nicht alles ist, und ob du das jetzt abstreitest oder nicht, ist mir scheißegal. Ich weiß, dass was nicht stimmt. Schon seit Oktober. Zumindest ist es mir da zum ersten Mal so richtig bewusst geworden.«

Als er Oktober erwähnt, habe ich prompt eine Idee. Es ist zwar nicht die feine englische Art, Kade so auflaufen zu lassen, aber die Zeit passt perfekt und er wird es mir abkaufen, wenn ich es richtig anfange. Es ist zumindest einen Versuch wert und darum schiebe ich meinen Teller von mir, obwohl auf ihm noch eine Frühlingsrolle liegt, was Kade sofort registriert, denn sein Stirnrunzeln spricht Bände. Er weiß, wie sehr ich nach diesen Frühlingsrollen verrückt bin.

»Du bist manchmal echt eine Nervensäge«, erkläre ich in dem richtigen Tonfall für solche Fälle, denn sofort wird Kades Blick mitfühlend.

»Was ist los?«, fragt er erneut, als ich nicht weiterspreche, sondern seufzend aus dem Fenster sehe.

»Amber.«

»Wer ist Amber?«

»Niemand. Jedenfalls nicht mehr.«

»Oh Shit, du hattest …?«

Er bricht ab, weil ich abwinke, seinem Blick aber weiterhin ausweiche, damit ich sicher sein kann, dass es wirklich klappt. Ich sollte mich in Grund und Boden schämen, meinen eigenen Schwager so zu manipulieren, aber in dem Fall ist mir wirklich jedes Mittel recht, auch auf die Gefahr hin, dass ich eines Tages dafür büßen werde.

»Genau, ich hatte. Vergangenheitsform. Und es war schön, solange es funktionierte, aber mehr werde ich zu dem Thema nicht sagen.«

»Tut mir leid, Cord.«

»Vergiss es«, murmle ich und gebe mich gelassen, während ich mit der Coladose zwischen meinen Fingern spiele. »Es hat halt nicht gepasst.«

»Aber du hast dir gewünscht, dass es das tut.«

Das habe ich damals tatsächlich, mein folgendes Nicken ist keine Lüge. Ich bin mir mittlerweile nur nicht mehr so sicher, warum ich überhaupt wollte, dass es zwischen Amber und mir funktioniert. Ja, ich habe den Traum einer Ehefrau und Kinder, nur habe ich mittlerweile auch einen lästigen Stalker mit Bart und wunderschönen, hellgrünen Augen, der sich immer mehr in meine Gedanken schleicht, obwohl ich alles tue, um das zu verhindern.

»Sag mal, was ist denn eigentlich aus dem geplanten Essen bei meinen Eltern geworden?«, wechsle ich gekonnt das Thema und Kade lässt sich ablenken, denn er gluckst und schiebt mir die Tasse zu, in die er meine scharfe Suppe umgefüllt hat. Da sie immer noch leicht dampft, muss er sie, während ich mich angezogen habe, in die Mikrowelle gestellt haben.

»Sonntag, also übermorgen, pünktlich um zwölf Uhr, sonst kriegen wir alle was mit ihrem Kochlöffel übergebraten. O-Ton deine Mutter«, sagt er und nimmt sich einen Nachschlag vom Reis. »Ach ja, Garrett hat vor, ihr einen riesigen Strauß Blumen zu besorgen, also bist du für die Schokolade zuständig.«

Ich nehme den ersten Schluck und genieße das brennende Gefühl, als sich die Schärfe der Suppe überall in meinem Mund ausbreitet. Dann stöhne ich gespielt resigniert. »Das heißt also, ich muss mindestens zwei Tüten mit den teuersten Pralinen in diesem Laden kaufen, den ihr im Einkaufscenter entdeckt habt, in der Hoffnung, dass Mum wenigstens eine abbekommt, weil mein Schwager mit seiner Schwäche für Süßigkeiten garantiert versuchen wird, sie ihr zu klauen?«

Kade grinst mich breit an. »Du hast es erfasst.«

 

Unter viel Gelächter und mit vereinten Kräften schaffen wir es am Sonntag tatsächlich, dass Tyler sich nur eine von den von mir gekauften zwei Tüten Pralinen unter den Nagel reißt.

Wie kann man nur so eine Naschkatze sein und dabei nicht ständig mit seinem Gewicht kämpfen müssen? Das Gegenteil ist der Fall, obwohl Tyler längst nicht mehr aussieht, als hätte er zwanzig Kilo Untergewicht. An seine muskulöse Figur aus seiner Armeezeit wird er aber nie mehr herankommen, glaube ich. Dazu fehlt ihm heute der Ehrgeiz Sport zu machen. Doch das muss er auch nicht. Es reicht, dass er weiter regelmäßig isst und darauf achten Garrett und Kade jeden Tag.

Mir könnte ein wenig sportliche Betätigung hingegen nicht schaden. Ich bin nicht übergewichtig, daran liegt es nicht, doch die vielen Stunden, die ich mir in meiner Praxis den Hintern breit sitze, sind für einen gesunden Lebenswandel nicht gerade das Wahre. Vor allem jetzt, wo meine Runden mit Sammy nicht mehr zu meinem Alltag gehören. Ich sollte mir einen Ausgleich schaffen, bevor ich faul werde. Spaziergänge. Oder Joggen. Ein Gang ins Fitnessstudio ist auch eine Überlegung wert, aber ich kenne mich. Das wäre rausgeworfenes Geld, vor allem bei den unregelmäßigen Arbeitszeiten, die ich habe. Und wenn ich mir vorstelle, mich nach einem langen Tag in der Praxis um neun Uhr abends auf ein Laufband quälen zu müssen – nein, damit fange ich gar nicht erst an, der Frust wäre vorprogrammiert.

Dann lieber mehr Spaziergänge oder Joggingrunden. Dabei könnte ich auch gleich nachprüfen, was mein Hausbeobachter so treibt, sobald ich ihn erwische.

Und ich habe Glück, denn am folgenden Montag, nachdem ich mich tatsächlich aufgerafft habe, den Müll wegzubringen und diese Tätigkeit mit einer Spazierrunde die Straße entlang zu verbinden, ertappe ich Doktor Connor Alexander keine fünf Minuten später auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Sein Wagen ist mir schon aufgefallen, als ich nach Hause kam, doch da saß er noch drin. Jetzt kommt er mir aus Richtung des Cafés zwei Straßen weiter entgegen, in das ich selbst gerne gehe, weil es ein Familienbetrieb ist, der erstens rund um die Uhr geöffnet hat und zweitens echt leckere Kekse und Muffins anbietet. Da er mit einem Thermokaffeebecher jongliert und nebenbei mit seiner Geldbörse kämpft, bemerkt er mich nicht. Ich warte, bis wir auf gleicher Höhe sind, ehe ich ihm den Kaffeebecher aus der Hand ziehe, der abzustürzen droht.

»Ich sollte dich anzeigen.«

Connor zuckt ertappt zusammen, um im nächsten Moment mit den Schultern zu zucken. »Warum tust du es nicht?«, fragt er lässig und schiebt seine Geldbörse in die Hosentasche. »Bitte sehr, übrigens.«

»Was?«

»Für den Kaffee.«

Ich schnaube. »Den hast du ja wohl kaum für mich geholt, du verhinderter James Bond.«

»Nein, aber da du ihn mir gestohlen hast, werde ich mich mit den Vanillemuffins mit Nuss- und Schokoladenstückchen zufriedengeben.«

Ich kämpfe gegen das in mir aufsteigende Grinsen an. »Sei froh, dass Tyler nicht in der Nähe ist, sonst hätte er dir die Tüte längst abgejagt.«

Connor betrachtet mich amüsiert, während ich mich über seinen Kaffeebecher hermache. Ich sage nicht nein, als er mir wenig später einen Muffin anbietet. Den zweiten isst er selbst und ich schätze, wir geben ein ziemlich seltsames Bild ab, wie wir da auf dem Gehweg stehen. An einem Montagabend, lange nach Einbruch der Dunkelheit, er in einem schwarzen Mantel und Lederschuhen, ich in einer ausgeleierten Freizeithose und mit abgetragenen Turnschuhen.

Der Rest von ihm ist im Übrigen auch nicht zu verachten und würde ich auf diesen Typ Mann abfahren, hätte ich wohl schon vor Wochen versucht, ihn ins Bett zu kriegen. Aber er ist nicht für einen One-Night-Stand zu haben und diese dämliche Wette zwischen uns habe ich ebenfalls nicht vergessen. Davon mal abgesehen ist Connor Alexander richtig gutaussehend mit seinen kurzen, blonden Haaren, die an den Schläfen genauso ergraut sind wie sein Vollbart, der ihm erstaunlicherweise sehr gut steht. Ich bin nicht der Barttyp, weder bei mir selbst noch bei anderen Männern, doch zu ihm passt es. Bei seiner Größe und dem trainierten Körper ist das auch kein Wunder.

Ich habe ihn im Zuge von Tylers Therapie in Hemden, im Anzug und auch im körperbetonten T-Shirt gesehen und weiß sehr genau, wovon ich rede. Für Millionen von Männern und Frauen auf der Welt sind Kerle wie er der feuchte Traum ihrer einsamen Nächte, und um das zu wissen, müsste ich nicht mal Psychologe sein. Er hat diese Art an sich, dieses Beschützende. So als würde man instinktiv wissen, dass man sich in einem schwachen Moment jederzeit an seine breiten Schultern lehnen kann und er einen beschützt.

Vermutlich suche ich deswegen immer wieder den Kontakt zu ihm. Ich bin kein kompletter Dummkopf, der die Anzeichen nicht erkennt oder nicht sehen will.

Connor zieht mich an, sowohl auf eine körperliche als auch auf eine geistige Weise. Er ist klug, was alle meine bisherigen Affären und Bettgeschichten waren, denn ich habe keinen Sex mit Idioten oder Dummköpfen. Das mag auf Außenstehende arrogant klingen, aber wenn ich mit jemandem Zeit verbringe, will ich mich mit ihm oder ihr auch unterhalten können. Und ich habe das ungute Gefühl, dass ich mit Connor tagelang über alles reden könnte, ohne dass uns die Themen ausgehen.

Mit Amber konnte ich das ebenfalls, erinnere ich mich und runzle im nächsten Moment die Stirn, als mir wieder einfällt, dass ich sie dennoch aus meinem Leben getrieben habe. Genau wie die anderen Frauen vor ihr. Und über die wenigen Männer in meinem Bett denke ich lieber nicht weiter nach, denn meist haben wir es nicht mal aus den Clubs heraus geschafft. Für Sex braucht es schließlich kein Bett, und an das letzte Mal, dass ich einen Mann mit zu mir nach Hause genommen habe, kann ich mich auf die Schnelle gar nicht erinnern. Die Frauen waren alle bei mir, sie hatten sogar Zahnbürsten und Wechselkleidung in meinem Badezimmer, beziehungsweise in meinem Schrank.

Für einen Mann habe ich noch nie Platz bei mir geschaffen. Würde ich für jemanden wie Connor eine Ausnahme machen? Nein! Doch. Auf gar keinen Fall! Vielleicht? Mein Stirnrunzeln wird tiefer, während ich Connor anstarre, der meinen Blick mit seiner ihm typischen Ruhe erwidert, während er seinen Muffin genießt. Wie macht er das nur immer, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen? Irgendwann muss ich ihn das mal fragen. Falls ich ihn vorher nicht doch noch verklage, da er ständig vor meinem Haus herumlungert. Und mir dabei köstlichen Kaffee und einen Muffin spendiert.

Ich kann den Richter beinahe vor mir sehen, wie er sich vor Lachen ausschüttet, bevor er die Klage abweist und mir danach wahrscheinlich feixend vorschlägt, dass wir es einfach mal mit einem normalen Date versuchen sollen.

Der Gedanke ist so lächerlich, dass ich plötzlich schlechte Laune bekomme, für die es eigentlich keinen Grund gibt, aber das ändert auch nichts daran, dass ich auf einmal nur noch von Connor weg will, denn er ist schuld. Woran auch immer. Und wenn ich schon dabei bin, kann ich ihm auch gleich noch mal deutlich sagen, was ich von seinem Stalking halte.

»Du bist ein penetranter Mistkerl und ich will nicht, dass du noch ein einziges Mal vor meiner Haustür herumstehst!«, erkläre ich ihm deshalb verärgert und mache abrupt kehrt, um nach Hause zu laufen. Und zwar im Eilschritt, ohne dabei zu rennen. Diese Genugtuung gebe ich Connor nicht, dass ich vor ihm weglaufe.

Soweit kommt es noch.

 

 

Kapitel 4

Connor

 

 

 

 

Am Mittwochabend steht ein Päckchen vor meiner Tür. Es hat keinen Absender, also hat selbiger es offenbar persönlich bei mir vorbeigebracht. Ich tippe auf Darren oder Adrian, doch als ich es in der Diele öffne, fällt mir fast mein Thermobecher entgegen. Grinsend suche ich im Inneren nach einer Nachricht, aber natürlich hat er mir keine hinterlassen. Er ist so ein sturer Bock. Kopfschüttelnd trage ich alles in die Küche, räume den Becher in den Schrank, nachdem ich überprüft habe, ob Cord ihn abgewaschen hat, und suche mir dann die Zutaten für ein Abendessen zusammen.

Dabei kommt mir eine Idee, die ich natürlich umgehend in die Tat umsetze, und seine abfällige Antwort lässt nicht lange auf sich warten.

Als hätte ich es so nötig.

Leise lachend beginne ich Kartoffeln zu schälen. Dass er auf meine Frage, ob wir jetzt die Rollen tauschen und er anfängt mich zu stalken, so reagiert, war zu erwarten und es amüsiert mich mehr, als ich Cord gegenüber zugeben würde, weil sonst die Gefahr besteht, dass er mir eine runterhaut.

Allerdings finde ich es doch recht interessant, dass er sich die Arbeit gemacht hat, meine private Adresse herauszufinden, um persönlich herzukommen. Immerhin hätte er den Becher ebenso gut in die Klinik schicken können. Er kann es leugnen, soviel er will, und er kann mich wegschicken, so oft er will, für mich wird das nichts ändern. Auch wenn ich mir auf das ganze Hin und Her und die widersprüchlichen Signale, die er ständig aussendet, noch keinen Reim machen kann, täuschen kann er mich trotzdem nicht. Cord ist an mir interessiert und dagegen kämpft er mit Händen und Füßen an.

Als die Kartoffeln auf dem Herd stehen, schicke ich ihm die nächste Nachricht und suche mir dann Eier und Schinken aus dem Kühlschrank. Bratkartoffeln mit Spiegelei habe ich schon lange nicht mehr gegessen, und wozu habe ich schließlich eine gefühlte Million von Kochbüchern mit Rezepten aus aller Welt im Bücherregal, wenn ich sie nicht benutze?

Kochen ist meine Leidenschaft und ich komme für meinen Geschmack leider viel zu selten dazu. Allein kochen macht mir zwar auch Spaß, aber manchmal fehlt mir einfach die lockere Gesellschaft von Freunden, die kosten, mitessen und am Ende ächzend den ersten Hosenknopf öffnen, weil sie mehr gegessen haben, als sie es hätten tun sollen. Adrian und Darren sind sehr gute Esser, vor allem, wenn sie nicht kochen müssen, und ich muss sie unbedingt mal wieder mit Danny und Niko aus dem Club zu mir einladen. Mein Haus ist schließlich groß genug für die ganze Bande, und bis es das Wetter erlaubt, dieses Jahr das ersten Barbecue im Garten zu veranstalten, wird es noch einige Zeit dauern. Derzeit hält uns der Winter nämlich fest im Griff, obwohl er dieses Mal nur wenig Schnee und Kälte mitgebracht hat. Vor zwei Jahren sah das anders aus und ich schüttle heute noch den Kopf über das unsagbare Glück, das Tyler hatte, der zu jener Zeit auf der Straße lebte.

Mein Handy piept.

Nein, ich habe keine Lust auf Spiegeleier. Warum brätst du nicht deine eigenen in der Pfanne?

Was würde ich nicht alles darum geben, jetzt Cords Gesicht sehen zu können? Er ist mit Sicherheit total genervt, während er gleichzeitig gegen ein Grinsen ankämpft. Aber ich werde für ein paar Tage brav sein und mich von seinem Haus fernhalten. Vielleicht sogar für eine ganze Woche. Doch bis dahin habe ich mein Handy und das hat einen vollen Akku. Ich tippe schnell die nächste Nachricht, ehe ich eine Pfanne auf den Herd stelle, damit ich den Schinken klein schneiden und anbraten kann.

Es piept ein weiteres Mal.

Du gibst nicht auf, oder?

Was für eine Frage. Natürlich nicht. Ich antworte mit einem schlichten Nein, was er mit einem Blödmann kommentiert, das mich wieder einmal zum Lachen bringt, bevor ich eine letzte Nachricht für heute verfasse. Ich will es nicht übertreiben oder ihn wirklich sauer machen. Er soll nur nicht vergessen, dass ich da bin und nicht vorhabe, einfach wieder aus seinem Leben zu verschwinden.

Ein erneutes Piepen ist zu hören.

Mir ist vollkommen egal, ob du deine Bratkartoffeln mit Spiegelei genießt. Lass mich in Ruhe.

»Du bist so ein schlechter Lügner, Cord«, flüstere ich in die Stille meiner Küche hinein und streichle mit dem Fingern sanft über den Bildschirm, bis die Beleuchtung erlischt. »Schlaf gut, Sturkopf.«

Ich bin anfangs versucht, es ihm als Nachricht zu schicken, lasse es dann aber doch bleiben. Das wäre zu viel des Guten. Wir sind noch nicht soweit, um solche Grüße auszutauschen, und ich will nicht, dass Cord sich von mir bedrängt fühlt. Also unangenehm bedrängt, korrigiere ich mich in Gedanken und lege mein Handy auf die quadratische Kücheninsel, die in der Mitte des Raums steht, um zu Ende zu kochen.

 

Die restliche Woche gönne ich ihm ein wenig Ruhe vor mir, doch bereits am Samstag ist meine Geduld ziemlich am Ende. Ich will wenigstens einen kurzen Blick auf ihn erhaschen, um nachzusehen, ob alles in Ordnung ist, bevor ich Adrians und Darrens zweiter Einladung folge und ihnen im Club ein paar Stunden Gesellschaft leiste. Allerdings ist er nicht zu Hause, denn sein Wagen steht nicht in der Einfahrt. Ungewöhnlich für Cord und ich bin im ersten Moment beunruhigt. Im nächsten schelte ich mich selbst einen überbesorgten Dummkopf. Vermutlich ist er bei Garrett und besucht Sammy.

Kopfschüttelnd mache ich mich auf den Weg in den Club der Sinne, wie Adrian ihn gerne nennt. Das 'Black Shine' ist an den Wochenenden wie üblich gut besucht und Niko an der Tür macht große Augen, als er mich hinten in der Menge entdeckt und nach vorne winkt. Er klopft mir lachend auf die Schulter, nachdem ich bei ihm angekommen bin.

»Willkommen, Fremder. Schön dich zu sehen. So kannst du aber nicht rein.«

Ich schaue auf meinen Wintermantel, zu dem ich ein enges T-Shirt, Lederhosen und schwarze Stiefel trage. »Sag nicht, ihr habt Nude-Night.«

Niko winkt grinsend ab. »Ganz so schlimm ist es nicht. Sieh zu, dass du Shirt und Mantel loswirst, das reicht. Diese Hose gehört zwar immer noch verboten, aber du hast so einen geilen Arsch in dem Ding, dass Adrian wahrscheinlich sofort anfängt zu sabbern, wenn er dich sieht.«

»Und du nicht?«, frage ich. Niko zwinkert mir keck zu, was in dem Fall auch eine Antwort ist. »Wie sieht denn Danny aus? Trägt er wenigstens eine Hose?«

»Irgendwann versohle ich dir dafür den Arsch«, grollt Niko und verdreht die Augen, als es jetzt ich bin, der ihm feixend zuzwinkert, bevor ich den Eingang passiere.

Die zwei sind und bleiben eine unendliche Geschichte, für die es hoffentlich eines Tages doch noch ein Happy End geben wird. Ich habe es aufgegeben, mich einmischen zu wollen, was auch für Darren gilt, und Adrian verdreht nur noch die Augen, sobald wir Niko und Danny wieder mal dabei erwischen, wie sie sich aus der Ferne anschmachten. Das tun sie leider schon seit mehreren Jahren, doch zu mehr hat keiner der beiden den Mut. Vollkommener Unsinn in meinen Augen, denn sie passen wirklich perfekt zusammen. Aber seit Danny sich von seinem prügelnden Freund getrennt hat, traut er sich an Männer nicht mehr heran und Niko hat zu viel Angst ihm wehzutun, weil er, zumindest behauptet er das immer, ein grobschlächtiger Russe ist, der mit so einem zarten Kerl nichts anfangen kann.

Dabei ist ein grobschlächtiger Mann genau das, was Danny in seinem Leben will und vor allem braucht. Und Niko braucht einen Partner, den er beschützen kann. Doch jedes freundliche Zureden, sowohl von meiner Seite aus, als auch von Darrens, hat bisher nicht geholfen. Manchmal ist selbst ein so erfahrener Traumatherapeut wie ich ratlos, denn Danny rückt nicht von der Sichtweise ab, dass es, wäre er nicht so ein Mädchen, nie dazu gekommen wäre, und dass er es mit seinem weibischen Verhalten ja herausgefordert hat, verprügelt zu werden.

Eine Aussage, die mir leider sehr bekannt ist, aber sie von einem guten Freund zu hören – ich musste an dem Tag einige Whisky in mich hineinkippen, um mir Danny nicht zur Brust zu nehmen und ihm die Leviten zu lesen.

Er ist nicht schuld an dem, was passiert ist, und er wird es auch niemals sein. Niemand verdient es, vom eigenen Partner geschlagen zu werden. Oder von jemand anderem. Ganz egal, ob er ein kleines Kind, eine Frau oder ein Mann ist, der sich gerne feminin gibt. Es gehört zu ihm wie mein Bart zu mir, und Niko ist es völlig egal. Er liebt Danny, auch wenn Darren ihm wohl die Daumenschrauben anlegen müsste, um Niko dazu zu bekommen das auszusprechen.

Cord erinnert mich ein bisschen an ihn, obwohl zwischen Niko und ihm allein schon rein äußerlich Welten liegen. Niko ist, genau wie er gesagt hat, grobschlächtig. Auf eine nervös machende Art, wenn man ihn nicht kennt. Cord hingegen ist schön. Wirklich schön. Ich mag voreingenommen sein, weil ich ihn liebe, aber er ist es. Die grauen Augen, das kurze schwarze Haar, der schlanke Körper. Man sieht ihm an, dass er früher in der Highschool Football gespielt hat, aber im Gegensatz zu den Muskeln, die ich mein eigen nenne, ist er ein Hänfling.

Ich mag das. Diese unübersehbaren Gegensätze zwischen uns. Ich mag es auch, dass er in etwa eine handbreit kleiner ist als ich. Er müsste zu mir aufsehen, wenn wir uns küssen, und ich kann mir lebhaft vorstellen, wie oft ich allein dafür einen bösen Blick von ihm kassieren würde. Dazu sein Gesicht. Mit diesen klugen Augen, der geraden Aristokratennase und den verschieden vollen Lippen. Er hat ein Grübchen am Kinn, über das ich zu gerne einmal lecken würde. So wie über seinen Hals und den Adamsapfel. Und diese leicht behaarten Hände mit den langen, gepflegten Fingern. Alles an ihm schreit nach einer hohen Intelligenz, nach schlichter Eleganz, nach einem Mann, der nicht auf den Kopf gefallen ist und der sich nie scheuen wird, mir seine Meinung direkt ins Gesicht zu sagen. Gott, ich bin wirklich verrückt nach ihm.

»Träumst du schon wieder von deinem Traumkerl?«

»Wäre er kein Traumkerl, würde ich auch nicht ständig von ihm träumen«, halte ich dagegen und lasse mich grinsend von Darren in die Arme nehmen. »Schön, dich zu sehen.«

»Gleichfalls. Adrian kommt gleich. Hast du Niko draußen Hallo gesagt?«

»Natürlich. Er wollte mich nackig machen, damit dein Kerl was zum Sabbern hat, aber wie du siehst ...« Ich sehe amüsiert an mir herunter. »... habe ich meine Hosen noch an.«

»Mehrzahl?« Darren greift sich theatralisch an die behaarte Brust. »Sag mir bitte nicht, dass du unter dieser umwerfenden Lederhose tatsächlich Unterwäsche trägst?«

»Hey, es sind kaum mehr als Null Grad draußen.«

»Gott im Himmel«, stöhnt Darren und sieht entsetzt nach oben. »Er weiß es einfach nicht besser, aber wir verzeihen ihm trotzdem.« Ich muss lachen, doch das vergeht mir recht schnell wieder, denn plötzlich wird Darrens Blick ernst. »Ich weiß, du bist als Freund und privat hier und normalerweise würde ich das immer respektieren, aber ...«

Er muss nicht ausreden. Es gibt nur eine Person, wegen der Darren meinen vor vielen Jahren gefassten Entschluss, im Club das Private vom Beruflichen streng getrennt zu halten, infrage stellen würde. »Wo ist er?«

»Auf der Personaltoilette. Blaues Auge, Schramme am Kinn und fix und fertig mit den Nerven. Er ist erst vor fünf Minuten hinten rein, darum hat Niko ihn nicht gesehen, und wir sollten beten, dass das so bleibt, sonst bringt er den Mistkerl um.«

Ich verbeiße mir einen saftigen Fluch. »Wieder sein Ex?«

Darren nickt und hebt in einer hilflosen Geste beide Arme. »Ich weiß nicht, was genau passiert ist, er weigert sich, mit mir darüber zu reden. Versuch du es. Ich muss Adrian abfangen, bevor er Lunte riecht, und es ihm sagen. Wir müssen Ersatz für die Bar beschaffen, Danny kann heute unmöglich arbeiten.«

Er sieht mich besorgt an, darum nicke ich. Natürlich werde ich Danny helfen. Nun ja, zumindest soweit er es zulässt.

»Danke.« Darren seufzt erleichtert. »Ich beeile mich. Bring ihn nach oben ins Büro, sofern er es zulässt. Du kennst ihn. Er wird nicht wollen, dass ihn einer von seinen Kollegen in dem Zustand sieht.«

Er will auch nicht, dass ich ihn so sehe, denn das erste, was Danny macht, als er den Kopf hebt, nachdem ich die Tür zu den Toilettenräumen geöffnet habe, ist, mir durch den Spiegel einen schockierten Blick zuzuwerfen, bevor er sich hastig vom Waschbecken abwendet, um in eine Kabine zu flüchten. Da ich mit so einer Reaktion gerechnet habe, bin ich vorbereitet und fange ihn vorher ab.

»Nein, Danny.«

»Connor ...«

»Komm her.«

Es ist mehr Befehl als Bitte und das reicht leider völlig aus, um sämtliche Schutzwälle in ihm zusammenstürzen zu lassen. Danny bricht in Tränen aus und wehrt sich noch mehr gegen meinen Griff, da er sich für sein Verhalten schämt, was er nicht muss, aber so oft wie ich ihm das mittlerweile gesagt habe und trotzdem hört er nicht damit auf, sich die Schuld zu geben – ich bin mit meinem Latein vollkommen am Ende. Darum sage ich heute gar nichts, sondern halte ihn einfach fest, bis er sich irgendwann ergibt und gegen mich sinkt. Wenn ich ihm schon nicht mit schlauen Worten helfen kann, will ich wenigstens für ihn da sein.

Er ist mein Freund und ich hasse es, immer wieder dabei zusehen zu müssen, wie er sich klein macht, aber ich kann ihn nicht unterstützen, wenn er das nicht zulässt. Bei Tyler war es genauso und ich habe Garrett oft genug dasselbe gesagt, was ich mir selbst im Augenblick wieder und wieder vorbete, um zu verhindern, dass ich Danny an den Armen packe und ihn so lange schüttle, bis er begreift, dass er unschuldig ist. An allem. Er ist das Opfer und nicht der Täter.

»Tut mir leid«, murmelt Danny schließlich an meiner Brust und ich muss mich wirklich beherrschen, ihm dazu nicht hier und jetzt ein paar Takte zu sagen. Stattdessen streiche ich sanft durch seine blond gefärbten Haare, die er wie kleine Stacheln nach oben frisiert hat.

»Wir gehen jetzt hoch ins Büro und ich sehe mir mal dein Gesicht an.« Danny zuckt zurück, kommt aber nicht weit, denn ich lege beide Arme fest um seinen Rücken. »Keine Widerrede. Sonst rufe ich Niko und lasse ihn das übernehmen.«

Eine haltlose Drohung, denn das würde ich Danny niemals antun, aber solange es funktioniert – und das tut es, denn sein entsetztes nach Luft schnappen spricht ebenso Bände wie die Tatsache, dass er abrupt in meiner Umarmung erschlafft.

Am liebsten würde ich ihn übers Knie legen. Nicht dass ich auf Züchtigungen stehe, aber vielleicht würde es helfen. Oder ihm wenigstens ein bisschen Verstand einbläuen. Es wäre den Versuch auf jeden Fall wert und ich wette Darren würde sich sofort und freudig lächelnd zur Verfügung stellen, wenn wir damit endlich einen Weg gefunden hätten, um Danny, der kurz darauf mit hängendem Kopf neben mir die Treppe hochsteigt, endlich dazu zu bringen, das Richtige zu tun.

Das Büro ist mit einem Codeschloss gesichert. Ich kenne die Ziffernfolge auswendig und kurz darauf drücke ich Danny auf den Zweisitzer in der linken Ecke, auf dem nicht nur ich in den vergangenen Jahren schon die eine oder andere heiße und dreckige Nummer geschoben habe.

Das waren übrigens genau Adrians Worte, bevor er Darren einmal naserümpfend erklärt hat, dass der dieses schmutzige Sofa gefälligst auszutauschen hat, weil er nicht vorhätte, sich jemals darauf niederzulassen. Eine halbe Stunde später hatte ich den perfekten Ausblick auf einen nackten, roten Arsch und einen laut stöhnenden Adrian in Lederfesseln, der von Darren auf genau diesem Sofa ins Nirwana gefickt wurde.

Ich schiebe die Erinnerung daran energisch zur Seite, denn das ist nun wirklich nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Weder Danny noch Niko wissen offiziell, dass ich Darren und Adrian früher gerne zugesehen habe, und das soll auch so bleiben.

Ich weiß zwar, dass es Gerüchte über uns gibt, aber seit ich Cord kenne, sind die Zeiten, in denen ich mich mit den beiden vergnügt habe, ohnehin vorbei.

Dem Büro ist ein kleines Bad angeschlossen, in dem ich zwar keinen Verbandskasten, aber wenigstens Toilettenpapier und ein kleines Handtuch finde. Ich mache beides feucht und falte das Handtuch zusammen, damit er es sich auf sein Auge pressen kann. Mit dem Toilettenpapier wische ich das Blut auf seinem Kinn zur Seite. Der Schnitt sieht schlimmer aus, als er vermutlich ist, er blutet allerdings noch. Ich hole den Rest von der Toilettenpapierrolle und reiße mehrere Blätter ab, um sie zusammenzuknüllen und auf sein Kinn zu drücken.

Danny zieht mit einem schmerzerfüllten Laut die Luft ein, sieht mich aber nicht an und sagt auch nichts. Im Gegenteil, ich habe das Gefühl, er duckt sich vor mir und das ist ein weitaus schlimmerer Anblick für mich als sein zerschlagenes Gesicht. Er schämt sich so sehr für das Geschehene und ich weiß nicht, wie ich dieses komplett falsche Denken in ihm ändern kann. Es liegt doch nicht an ihm, dass sein Ex ein Schläger ist.

Vielleicht sollte ich es mal mit einer sprichwörtlichen Keule probieren. Bei Tyler hat es damals funktioniert, ihn bei diesem Feuerwerk am vierten Juli ins sprichwörtliche Messer laufen zu lassen, damit er erkennt und vor allem auch versteht, dass es so nicht weitergeht. Danny hingegen rennt seit Jahren immer wieder in die Fäuste seines Ex und tut dennoch nichts gegen den Mann. Möglicherweise erreiche ich bei ihm mit ehrlichen, schonungslosen Worten etwas.

Wie sagte mein Lieblingsprofessor an der Uni früher immer so schön? Versuch macht klug.

»Er wird nicht aufhören, Danny.«

Danny zuckt unübersehbar zusammen und zieht den Kopf noch ein Stück tiefer zwischen seine Schultern. Er will es nicht hören. Er weiß, dass ich recht habe, aber manchmal kommt er mir vor wie ein Strauß, der den Kopf in den Sand steckt. Oder wie einer der drei Affen – nichts hören, nichts sehen und auf keinen Fall etwas sagen. Dabei muss er etwas sagen. Am besten noch heute. Er muss. Um sich selbst und die neuen Opfer zu schützen, die sein Ex irgendwann finden wird, falls er sich von Danny abwendet oder, was ich eher befürchte, nachdem er ihn umgebracht hat.

Die beiden sind seit Langem getrennt und trotzdem stellt dieser Kerl ihm immer noch nach und verprügelt ihn bei jeder sich ihm bietenden Gelegenheit. Ich habe keine Ahnung, wie Danny es heute geschafft hat, ihm zu entkommen, aber es wird der Tag kommen, an dem er dieses Glück nicht mehr hat. Und das muss er endlich begreifen. Ich muss es irgendwie in seinen Kopf bekommen, dass sein Leben in Gefahr ist.

»Eines Tages«, beginne ich leise zu sprechen, »wird ein Cop an die Tür deiner Eltern klopfen und ihnen sagen, dass es ihm leidtut, ihnen mitteilen zu müssen, dass du tot bist. Er wird nicht die richtigen Worte finden, denn die gibt es einfach nicht, aber er hat keine Wahl, denn es ist sein Job. Und dann, wenn er wieder gegangen ist, werden deine Mum und dein Dad früher oder später zum Telefon greifen und Darren anrufen, um ihm zu sagen, dass du leider nicht zur Arbeit kommen kannst, weil du von einem Unbekannten in irgendeiner schmutzigen Gasse überfallen und totgeschlagen worden bist.«

Danny erstarrt auf dem Zweisitzer förmlich zu Stein, doch ich bin noch nicht fertig. Vielleicht hasst er mich morgen dafür, aber ich kann nicht länger tatenlos zusehen, wie einer meiner Freunde immer mehr zu einem Schatten seiner selbst wird.

»Wir werden an deinem Grab stehen, wir werden um dich trauern, und wir werden deinen Exfreund verfluchen, denn er wird mit dem Mord an dir davonkommen, so wie er es schon seit Jahren mit diesen Überfällen auf dich tut. Wahrscheinlich wird er sogar die Frechheit besitzen, auf deiner Beerdigung zu erscheinen. Er wird eine Rose auf deinen Sarg legen und um dich trauern. Ernsthaft trauern, denn auf eine völlig verdrehte Art und Weise liebt er dich wirklich.«

Ich stocke kurz, um Luft zu holen, bevor ich zum letzten, alles entscheidenden Schlag aushole.

»Er wird auch seinen nächsten Mann ehrlich lieben, bis der sich von ihm trennt, weil er die Prügel nicht mehr aushält, und dein Ex ihm anschließend das Leben zur Hölle macht. Und so geht es weiter, Danny. Immer weiter. Bis er vielleicht doch noch erwischt wird. Es stellt sich nur die Frage, wie viele Eltern und Freunde bis zu jenem Tag an den Gräbern geliebter Menschen stehen werden.«

Als Danny nach diesen harschen Worten zu mir aufsieht, ist sein Gesicht grau vor Angst und auch vor Scham. Seine Augen sind rot von den vielen ungeweinten Tränen und ein dünnes Rinnsal Blut läuft vom Kinn nach unten. Das Toilettenpapier ist durchgeweicht und rot von seinem Blut. Die Schramme muss tiefer sein, als ich dachte, und das ist nicht gut. Danny gehört dringend ins Krankenhaus und danach auf ein Polizeirevier. Nur kann ich ihn nicht gegen seinen Willen dorthin zwingen.

»Danny …« Ich gehe vor ihm in die Hocke. »Ich weiß, dass du Angst hast. Panische Angst. Und dazu hast du jedes Recht. Aber du bist nicht allein. Du glaubst das und denkst, dass es deine Schuld ist, doch das ist es nicht. Das war es nie und wird es auch niemals sein. Wir sind immer für dich da. Ich, Darren, Adrian … Niko.«

Er wird noch bleicher und weicht meinem Blick wieder aus, aber ich sehe sehr wohl die leichte Röte, die wenig später über seinen Hals kriecht. Hier muss ich ansetzen. Wenn Niko sein Schwachpunkt ist, bekomme ich ihn vielleicht durch ihn dazu, sich endlich helfen zu lassen.

»Er liebt dich, Danny.«

Ein heftiges Kopfschütteln ist die einzige Antwort, die ich bekomme, während die Röte jetzt seine Ohren erreicht.

»Doch, das tut er. Genauso wie du ihn liebst. Und er würde gut auf dich aufpassen, wenn du ihn nur lassen würdest. Aber ohne ein Zeichen von dir, dass du das willst, wird er sich nie an dich herantrauen, weil er genauso große Angst hat wie du.«

Danny schluckt. »Niko hat Angst?«, fragt er kaum hörbar und das ist es. Der Durchbruch. Jetzt habe ich ihn.

»Ja«, antworte ich und bleibe so ruhig, wie es mir möglich ist, obwohl ich am liebsten die Faust triumphierend in die Luft recken würde. »Er liebt dich so sehr und weil er weiß, was dir passiert ist, hat er Angst.«

»Wovor?«

»Dich zu erschrecken. Dir wehzutun. Du siehst seine Blicke nicht, wann immer er dich beobachtet, Danny, aber ich sehe sie. Niko liebt dich schon eine halbe Ewigkeit.«

»Ich ...« Danny verstummt und schluckt erneut, während er die Hand so fest zur Faust ballt, dass seine Fingerknöchel weiß werden. »Ich … Ich ...«

Ich weiß, was er sagen will, aber hierbei kann ich ihm nicht helfen. Aussprechen muss er es allein. Wenigstens einmal muss er es laut sagen und auch selbst hören, damit es wirklich bei ihm ankommt. Aber ich kann ihm zeigen, dass ich ihm weiter zuhöre, und darum lege ich behutsam meine Hand über seine und drücke sie sanft.

»Sag es«, bitte ich ihn leise und da seufzt er, sackt förmlich in sich zusammen.

»Ich habe solche Angst, Connor.«

Na endlich.

Jahrelang haben wir alles versucht und sind gescheitert.

Damit ist ab sofort und ein für allemal Schluss, denn jetzt kann ich ihm helfen. Und ich werde helfen. Ich höre das leise Öffnen der Tür und schüttle heftig den Kopf. Raus hier. Sofort. Wer immer du auch bist. Die Tür schließt sich wieder. Gott sei Dank, denn ich brauche noch ein paar Minuten. Besser gesagt, Danny braucht sie.

»Sieh mich mal bitte an«, murmle ich und warte geduldig, bis er sich nach einigen Minuten traut und den Kopf hebt. »Ich weiß, und das ist nicht schlimm. Im Gegenteil, es ist normal, Danny. Der Trick ist, mit dieser Angst umzugehen und ihr im richtigen Augenblick mit ordentlich Anlauf in ihren überaus lästigen Arsch zu treten.«

Danny prustet los und zieht gleich darauf die Luft ein, weil das seiner Wunde am Kinn gar nicht bekommt. Frisches Blut läuft über seine Haut. »Lass mich mal sehen«, bitte ich ihn und er hebt den Kopf ein Stück an. Als ich das Toilettenpapier von der Wunde ziehe, wird die Blutung stärker. »Das muss sich ein Arzt ansehen.« Ich ziehe mein Handy aus der Tasche.

»Was hast du vor?«, fragt Danny alarmiert und ich schenke ihm ein beruhigendes Lächeln.

»Darren fragen, wo er den Erste-Hilfe-Koffer versteckt hat, damit wir die Wunde vernünftig abdecken können, bevor wir ins Krankenhaus fahren.« Ich lache leise, als er umgehend den Kopf schüttelt. »Du bist so ein Sturkopf. Aber ich bin kein Arzt, Danny, und ich glaube, die Wunde muss genäht oder geklebt werden.« Dann habe ich Darren in der Leitung. »Wir brauchen hier oben Verbandszeug, einen guten Schnaps, einen gewissen Türsteher und deine Telefonnummer von diesem Polizisten im Revier um die Ecke. Du weißt schon, dem, der damals gegen dich ermittelt hat, nachdem du diesem Dom mit den Fäusten klar gemacht hast, dass das Safeword seines Subs heilig ist.«

»Will er endlich Anzeige erstatten?«, fragt Darren und seine Stimme ist laut genug, sodass Danny ihn hören kann. Er wird sofort wieder blass, aber ich sehe ihn nur fragend an. Es ist und bleibt seine Entscheidung.

»Ja, ich zeige ihn an«, antwortet er schließlich und ist kaum zu verstehen, aber er nickt zusätzlich und das reicht mir.

»Gehört?«, frage ich Darren, der zustimmend brummt.

»Ich mache den Anruf und bringe euch hinterher meinen besten Whisky, den Verbandskasten und einen sehr verliebten Russen hoch. Soll ich Niko vorher einweihen?«

»Ja«, antworte ich, als Danny umgehend und sehr verlegen meinem Blick ausweicht. »Danny braucht heute Abend seinen möglichen neuen Partner. Keinen Neandertaler, der auf blutige Rache aus ist.«

 

Niko benimmt sich wirklich vorbildlich in den kommenden Stunden, auch wenn ich ihn mehr als einmal dabei erwische, wie er mit geballten Fäusten und bewusst ein und ausatmend die grünen Wände der Notaufnahme anstarrt. Ich kann ihn gut verstehen, doch wenn er jetzt loszieht und Dannys Ex sucht, um ihm eine Abreibung zu verpassen, wird das Danny erstens nicht gefallen und zweitens macht das nichts besser. Mal ganz davon zu schweigen, dass Niko dann im Knast landet, und ich habe wahrlich keine Lust, heute Nacht noch eine Kaution für ihn stellen zu müssen.

Ich habe zu gar nichts mehr Lust, wenn ich ehrlich bin, weil das Warten ewig dauert, während dieser Cop und der Arzt auf Danny einreden, damit er wirklich Anzeige erstattet. Und wir sind dazu verdammt, tatenlos herumzustehen und zu warten, denn sie lassen nicht mal Niko zu ihm. Erst als Danny anfängt laut zu werden, holt eine Schwester ihn schließlich doch ins Behandlungszimmer. Kurz darauf treffen seine Eltern ein, die beide heilfroh sind, dass er seinen Ex endlich anzeigt. Danach gibt es für uns nichts mehr zu tun und schließlich entscheiden sich Darren und Adrian nach Hause zu fahren. Ich sollte wohl dasselbe tun, doch am Ende lande ich, was mich selbst nicht mal sonderlich überrascht, vor Cords Haus, in dem, obwohl es mittlerweile drei Uhr morgens ist, noch Licht brennt.

Er ist zu Hause und es geht ihm gut.

Gott sei Dank.

Ich bin so erleichtert, seinen Wagen in der Einfahrt und das Licht vom Eingangsbereich zu sehen, dass ich hörbar die Luft ausstoße. Mir war nicht mal bewusst, dass ich sie angehalten hatte. Das liegt an Danny, ich weiß das. Ebenso wie ich weiß, dass ich dringend runterkommen muss. Ich sollte heimfahren, mir einen Absacker gönnen und dann ins Bett gehen. Doch ich tue nichts dergleichen, weil allein die Vorstellung, Cord könnte überfallen und zusammengeschlagen werden, heftige Übelkeit in mir aufsteigen lässt. Am liebsten würde ich aussteigen und an seiner Tür klingeln, um mich zu vergewissern, dass er auch wirklich in Ordnung ist. Was unsinnig ist, wieso sollte er nicht okay sein? Ich reagiere über, aber ich werde mich beherrschen. Cord würde mir was erzählen, wenn ich um diese Uhrzeit bei ihm Sturm klingle, nur um ihn zu fragen, ob es ihm gut geht.

»Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«, höre ich auf einmal seine laute Stimme zu mir schallen und als ich zum Haus sehe, steht er auf der Veranda und starrt mich verärgert an. Wäre ich klug, würde ich jetzt fahren, aber ich kann nicht, und so dauert es auch nicht lange, bis er sich neben meinem Wagen aufbaut und wartet, bis ich die Scheibe herunterlasse. »Hast du einen Schaden an deinem Gehör? Was habe ich dir letzte Woche zum Herumlungern vor meinem ...« Cord bricht ab und sieht mich genauer an. Dann runzelt er die Stirn. »Was ist los? Du ziehst ein Gesicht, als wäre jemand gestorben.«

»Nein, gestorben ist niemand.«

»Aber?«, hakt er sofort nach und ich denke gar nicht weiter darüber nach, sondern erzähle ihm von Danny, dessen Ex und wie lange sich das Ganze schon hinzieht. »Und natürlich ist es seine Schuld, weil er ja weibisch ist und es herausgefordert hat, jahrelang verprügelt zu werden. Seine Worte übrigens.«

»Verdammt«, flucht Cord und öffnet im nächsten Moment die Fahrertür, um dann den Schlüssel aus dem Zündschloss zu ziehen, ehe er einen Schritt zurück tritt. »Komm rein. So fährst du nicht nach Hause. Du schläfst auf meiner Couch.«

Ich sehe ihn überrascht an. »Bist du sicher?«

Er schnaubt und wendet sich ab. »Wahlweise kannst du es dir auch in der stinkenden Mülltonne gemütlich machen, wenn du nicht sofort aufhörst, mit mir zu diskutieren.«

Sein Gebrummel entlockt mir ein Grinsen und überzeugt mich davon, dass es für ihn wirklich okay ist, mich in seinem Haus zu haben. Also steige ich aus und folge ihm, nachdem er meinen Wagen verriegelt hat. Wenig später stehen wir in einem hellen, geräumigen Eingangsbereich, der nach rechts abgeht, und dank eines extra breiten Durchgangs kann ich direkt bis ins Wohnzimmer sehen, sowie geradezu in die Küche und auf eine Treppe, die ins Obergeschoss führt. Er hat viel Platz und eine große Garderobe, die ich auch benutze, um meine Schuhe und den Mantel abzulegen. Erst danach will ich ihm weiter in die Küche folgen, halte aber schon nach einem Schritt verblüfft wieder inne, als mein Blick auf drei riesige Katzen fällt, die am oberen Treppenabsatz sitzen und mich aus grünen Augen sehr misstrauisch beäugen.

»Ähm ...«

»Meine drei Wachhunde. Sie sehen lieb und harmlos aus, reißen dich aber ohne den Funken eines schlechten Gewissens in Stücke, wenn du dich nicht benimmst.«

Ich verkneife mir ein Glucksen. »Gut zu wissen.«

»Tee?«, will er wissen und ich bejahe, während ich mich im selben Augenblick zu fragen beginne, warum er auf einmal so umgänglich ist. Cord wirkt beinahe entspannt und das ist er im Umgang mit mir bisher nie gewesen. Seltsam.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739463551
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (September)
Schlagworte
Liebesroman Drama schwul Romance Familie Liebe

Autor

  • Mathilda Grace (Autor:in)

Aufgewachsen in einem kleinen Dorf im tiefsten Osten von Deutschland, lebe ich heute in einer Großstadt in NRW und arbeite als Schriftstellerin. Seit 2002 schreibe ich Kurzgeschichten und Romane, bevorzugt in den Bereichen Schwule Geschichten, Drama, Fantasy, Thriller und Romanzen. Weitere Informationen zu meinen Büchern, sowie aktuelle News zu kommenden Veröffentlichungen, findet ihr auf meiner Homepage.
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Titel: Blind für die Wahrheit