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Liebe im Auge des Feuers

von Mathilda Grace (Autor:in)
280 Seiten

Zusammenfassung

Alex Bayne ist ein gescheitertes Experiment. Von seinem eigenen Vater als Versuchsobjekt missbraucht, um genetisch verbesserte Soldaten zu erschaffen, hat er in einem Wutanfall die gesamte Forschungseinrichtung dem Erdboden gleich gemacht und dabei unzählige Menschen getötet. Seither ist er auf der Flucht. Vor dem Militär, das ihren wertvollsten Besitz nicht frei herumlaufen lassen will, aber besonders vor sich selbst, denn Alex hat keine Kontrolle über seine Kräfte. Er weiß nur, dass er sich nicht aufregen darf, weil negative Gefühle das Feuer in ihm wie einen Vulkan ausbrechen lassen. Nur wie soll Alex ruhig bleiben, wenn der einzige Mensch, dem er je vertraut hat, heute wie ein Eremit am Ufer des Lake Vermilion lebt und nichts mehr mit ihm zu tun haben will?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Alex Bayne ist ein gescheitertes Experiment. Von seinem eigenen Vater als Versuchsobjekt missbraucht, um genetisch verbesserte Soldaten zu erschaffen, hat er in einem Wutanfall die gesamte Forschungseinrichtung dem Erdboden gleich gemacht und dabei unzählige Menschen getötet. Seither ist er auf der Flucht. Vor dem Militär, das ihren wertvollsten Besitz nicht frei herumlaufen lassen will, aber besonders vor sich selbst, denn Alex hat keine Kontrolle über seine Kräfte. Er weiß nur, dass er sich nicht aufregen darf, weil negative Gefühle das Feuer in ihm wie einen Vulkan ausbrechen lassen. Nur wie soll Alex ruhig bleiben, wenn der einzige Mensch, dem er je vertraut hat, heute wie ein Eremit am Ufer des Lake Vermilion lebt und nichts mehr mit ihm zu tun haben will?

 

 

Prolog

John

 

 

 

 

Er schien ein netter, aufgeweckter Junge zu sein.

Keine Ahnung, warum er in diesem Krankenhaus festsaß, aber das ging mich auch nichts an. Ich gehörte schließlich nur zur Putztruppe und hatte keine neugierigen Fragen zu stellen.

Das Denken stellte ich deshalb allerdings nicht ein. Ich war nicht mein Boss, dem alles egal war, solange er jeden Monat bezahlt wurde. Das hatte seiner Reinigungsfirma und damit auch mir den Job immerhin eingebracht. Das Militär hatte nach jemandem gesucht, der ohne zu fragen den Dreck wegmachte, und mein Boss war ihnen empfohlen worden.

Ein sehr gutes Geschäft für beide Seiten und somit auch für mich, denn ich brauchte diesen Job dringend, wenn ich meine Spielschulden in der nächsten Zeit loswerden wollte, und das war zu schaffen, denn für unser Schweigen wurden wir mehr als großzügig bezahlt.

Ich musste mich bloß aus allem heraushalten und meinen Job machen, das konnte doch nicht so schwer sein.

Wenn da nur nicht dieser Junge gewesen wäre.

Alex. Er hieß Alex und war zehn Jahre alt.

Das hatte er mir lächelnd erzählt, als wir uns im Flur das erste Mal über den Weg liefen. Was nur ein Versehen war, denn üblicherweise blieben er und die restlichen Patienten immer in ihren Zimmern, wenn wir putzten.

Medizinische Labore, Toiletten und Duschen, Flure, Mensa, Küche, die Treppenhäuser, Vorratsräume – eben alles, wo man jemanden zum Putzen brauchte. Nur ins Kellergeschoss und in die Zimmer der Patienten durften wir nicht.

Und die Patienten durften in den Stunden, während wir da waren, ihre Zimmer nicht verlassen. Das war eine Regel, an die sich beide Seiten hielten, obwohl es mir von Anfang an etwas merkwürdig vorgekommen war, Patienten vor jenen Menschen wegzusperren, die ihren Dreck wegräumten.

Aber gut, da sie es so wollten.

Und wie gesagt, es ging mich im Grunde nichts an.

Alex war diese Regel an dem Tag jedoch egal, im Gegenteil, er war stolz darauf, dass er den Pflegern entwischt war.

Ein ganz normales Kind eben.

Ich gab ihm einen Schokoriegel, weil er Hunger hatte – sein eigentlicher Grund für den unerlaubten Ausflug –, sagte ihm meinen Namen und ging meiner Wege, um meine Arbeit zu erledigen.

 

Dann habe ich ihn wiedergesehen.

Doch der glückliche, breit grinsende Junge, den ich Wochen zuvor auf dem Flur kennengelernt hatte, war verschwunden. Zurückgeblieben waren tiefblaue Augen voller Angst, in denen eine dermaßen tiefe Resignation stand, dass es wiederum mir Angst machte.

Ich hielt nicht inne, als zwei finster dreinblickende Soldaten in Uniform, mit Gewehren über den Schultern, ihn schweigend an mir vorbeiführten, in Richtung Keller.

An diesen Ort, wo furchtbare Dinge geschahen.

Ich wusste nicht, was sie dort mit den Patienten taten, ich wusste nur, dass sie es taten, und dass alle von uns darüber redeten. Ganz egal, wie viel Geld mein Boss bekam, ganz egal, wie oft er uns sagte, dass es uns nichts anging – fünf Kollegen hatten zu diesem Zeitpunkt schon gekündigt und drei weitere, mich eingeschlossen, standen kurz davor, weil wir kaum noch ertrugen, was wir von dort unten hörten.

Diese Geräusche. Das Stöhnen. Die Schreie.

Unmenschliche Schreie.

Und dazu dieser Geruch nach verbranntem Fleisch, der uns vom Treppenhaus her immer wieder entgegenschlug. Der sich durch jede Tür, jedes Fenster, jede noch so kleine Ritze zog. Er war einfach überall und kaum zu ertragen. Kein Duftspray, kein Lüften, kein Öffnen der Fenster – nichts half.

Jeden Tag wurde es schlimmer.

Jeden Tag duschte ich nach meiner Schicht, trotzdem roch irgendwann sogar meine Bettwäsche danach. Es war ekelhaft und ich wollte mir nicht ausmalen, was sie diesem Kind dort unten antaten. Natürlich tat ich es trotzdem, vor allem seit die Zimmer in den Fluren weniger wurden. Oder besser gesagt, ihre Bewohner wurden immer weniger.

Anfangs waren es dreißig, nummeriert an den Türen.

Dann war plötzlich die erste Nummer durchgestrichen und die Tür zu dem Zimmer stand weit offen.

Ich habe einen Blick riskiert und den Anblick des schmalen, metallenen Bettgestells, der nackten Matratze und der kleinen Nasszelle mit Toilette tagelang nicht aus dem Kopf bekommen.

An dem Tag habe ich begriffen, dass wir kein Krankenhaus putzten, sondern ein Gefängnis.

 

Dann waren plötzlich nur noch acht Zimmer belegt.

Eines davon gehörte Alex.

Ich habe fast zwei Wochen gebraucht, um herauszufinden, welches seines ist, weil ich nicht erwischt und gefeuert werden wollte. Aber ich konnte nicht anders. Ich musste es wenigstens versuchen. Ich konnte nicht mehr länger den Kopf in den Sand stecken und wegsehen.

Zu der Zeit waren wir nur noch zu sechst.

Alle anderen Kollegen hatten bereits gekündigt und mein Boss holte keine neuen Leute ins Team. Man hatte uns deshalb bedeutend mehr Zeit für die Reinigung der einzelnen Bereiche zugestanden, und weil ich in jener Woche für die Flure vor den Zimmern zuständig war, war die Gelegenheit günstig.

Ich nahm all meinen Mut zusammen und tat es.

 

Zwei Monate ging es gut.

Zwei Monate, in denen ich ihm regelmäßig Briefe unter der Tür hindurchschob und er mir antwortete, indem er seine Nachrichten für mich in eine leere Dose Wandlack legte, die ich in einem Vorratsraum extra dafür deponiert hatte.

Alex Bayne, fast elf Jahre alt und von seinem Vater hierher gebracht, nachdem er dreimal wegen aufmüpfigem Verhaltens von der Schule geflogen war.

Seine Mutter hatte er nie kennengelernt.

Doch anstatt für seinen Sohn da zu sein und ihm zu helfen, hatte Major Christopher Bayne, der militärische Leiter dieser Horroranlage, kurzerhand beschlossen, aus seinem eigenen Sohn ein Forschungsobjekt zu machen.

Ich habe Alex nicht geglaubt, als er mir das schrieb.

Ich dachte, er hätte eine blühende Fantasie.

Bis mir die Schreie aus dem Keller wieder einfielen.

Bis mir der Geruch wieder in die Nase stieg.

Ich wollte helfen und ihn hier rausholen.

Irgendwie.

Aber ich war noch nie ein mutiger Mensch.

Und als ein Soldat auf der Suche nach einem Mopp zufällig unsere Dose umstieß, war ich am nächsten Tag meinen Job los und nahm das Schweigegeld, das sie mir anboten, damit ich auch in Zukunft weiter den Mund hielt, weil sie mich sonst für immer begraben hätten.

 

Und das war´s.

Ich ging fort, ohne zurückzublicken.

Ich bezahlte meine Schulden, kündigte meine Wohnung auf und nahm den nächsten Zug raus aus der Stadt.

Er brachte mich hoch nach Minnesota und der Bundesstaat war so gut wie jeder andere, darum tat ich das, was ich bereits seit jeher hatte tun wollen – mir ein kleines Häuschen an einem ruhigen See kaufen und dort mein Leben leben.

 

Zehn Jahre ist das jetzt her, doch ich kann nicht vergessen, was ich an diesem furchtbaren Ort über Monate hinweg gehört und vor allem gerochen habe.

Ich kann nicht vergessen, dass ich mich wie ein Verbrecher für mein Wegsehen bezahlen ließ, und dass für all das, was mir heute gehört, Menschen mit ihrem Leben bezahlt haben.

Ich kann nicht vergessen, dass ich lieber schwieg, als etwas zu tun. Dass ich zu feige war, Hilfe für diejenigen zu besorgen, die noch Nummern an den Zimmertüren hatten.

Ich kann nicht vergessen, dass ich Alex im Stich ließ.

 

 

Kapitel 1

Alex

 

 

 

 

Sie sind tot.

Jeder einzelne von ihnen.

Ich habe alle umgebracht. Eingeäschert.

Sie sind von dieser Welt verschwunden, als hätten sie nie in ihr existiert, und sie haben all ihre Dateien, ihre Computer, ihr Wissen, ihre Forschungen, ihre Labore und ihre widerwärtigen Gerätschaften und Folterinstrumente – einfach alles haben sie mit in ihren Tod genommen, denn ich habe nichts von ihnen übrig gelassen, nur einen dicken Ascheregen, der tagelang vom Himmel fiel und überall im ganzen Land das Topthema in den Nachrichten war.

Ein Wetterphänomen, sagen die einen.

Eine Verschwörung der Regierung, sagen die anderen.

Niemand weiß es wirklich, denn niemand war dort.

Außer mir.

Und niemand wird wohl je wieder dorthin gelangen, denn das Militär hat das gesamte Gelände weiträumig gesperrt und untersucht den Vorfall. So nennen sie es jedenfalls offiziell und weitere Informationen werden nicht herausgegeben. Weder an die Presse noch sonst jemanden, was gut für mich ist, denn die Chance, ihnen zu entkommen, steigt mit jedem neuen Tag, an dem kein Bild von mir in den Nachrichten auftaucht.

Ich weiß nicht mal, ob es überhaupt eins gibt.

Ich weiß nicht, ob mein Vater außerhalb seiner Anlage von mir Bilder oder Unterlagen aufbewahrte.

Ich weiß nicht, ob er mich jemals geliebt oder in mir bloß einen nervenden Störenfried und später das vielversprechende Objekt seiner Forschungen gesehen hat.

Ich weiß nur, dass ich bei Tante Alice gelebt habe, bis sie an Krebs starb, und dass ich es total cool fand, als er mich zu sich nahm. Der große Held, von dem Tante Alice mir immer erzählt hat. Keine Ahnung, von wem sie damals geredet hat, denn ein Held war dieser Verrückte, der mich gezeugt hat, keineswegs. Ganz im Gegenteil, er war ein noch viel schlimmeres Monster als ich und diese Wissenschaftler, die aus mir etwas machten, das ich bislang nur aus Büchern und Filmen kannte.

Doch jetzt sind sie alle tot und sie haben es, abgesehen von diesem einen Soldaten, verdient zu sterben.

Er hat versucht, was John damals nicht gelang, und ich bete und hoffe, dass er recht behält. Dass John nicht tot ist, so wie es mein Vater mir erzählt hat. Ich habe ihm nie geglaubt, aber erst vor acht Tagen bekam ich endlich einen Beweis in die Hand.

Einen Notizzettel mit einer Adresse und dem Namen einer Kleinstadt in Minnesota.

Dort ist John hingegangen, nachdem sie ihn bezahlt hatten, hat der junge Soldat mir erzählt. Für sein Schweigen. Sie haben seine Angst ausgenutzt, um ihn aus der Forschungseinrichtung zu bekommen, und so wütend, wie ich zuerst darüber war, so sehr verstehe ich jetzt, dass er vor der Wahrheit geflohen ist.

Denn ich bin eine abartige Kreatur geworden und ich habe, obwohl ich es gar nicht wollte, den einzigen Mann getötet, der wirklich versucht hat, mir zu helfen.

Aus Wut über die vielen Lügen meines Vaters ist das Feuer in mir schließlich ausgebrochen.

Was die Tests der Ärzte und die Quälereien der Soldaten in all den Jahren niemals geschafft haben, ist meiner Wut spielend gelungen. Mein Vater wäre begeistert, wäre er noch am Leben. Endlich hätten sie einen Auslöser, um die lodernden Flammen zu entfesseln, die sie zu Asche verbrannt haben. Um sie trauere ich nicht, aber um diesen Soldaten, dessen richtigen Namen ich nicht kenne, weil er sich eingeschleust hatte, um die Wahrheit über die Forschungen meines Vaters ans Licht zu bringen. Aber sie haben ihn ertappt und wollten mich zwingen, ihn als Strafe dafür zu töten.

Stattdessen habe ich alle getötet. Auch ihn.

Aber ich habe wenigstens noch die Information, die er mir gab. Und ich habe das Bargeld, das er mir heimlich zugesteckt hat, denn die kleine Dose, in der ich es in einem Versteck im Spülkasten der Toilette aufbewahrte, hat das Feuer tatsächlich überstanden. Es wird ausreichen, um damit nach Minnesota zu kommen, und wenn der junge Soldat die Wahrheit gesagt hat, dann werde ich John dort finden, denn er ist der Einzige, der mir geblieben ist.

Ich weiß, dass das, was ich vorhabe, vollkommen verrückt ist, denn wir kennen uns im Grunde gar nicht, aber ich hoffe so sehr, dass ich für eine Weile bei ihm bleiben darf, weil es sonst keinen Ort gibt, an den ich gehen könnte.

Es gibt kein Zuhause, das mich Willkommen heißen würde.

Es gibt nichts für mich, nur einen qualvollen Tod, sollte das Militär herausfinden, dass ich nicht mit all den anderen in der Forschungseinrichtung verbrannt bin.

Darum ist John Donahue meine letzte Hoffnung.

Vielleicht kann er mir dabei helfen, diese Wut in mir unter Kontrolle zu halten, damit ich niemals wieder einen Menschen bei lebendigem Leib verbrenne. Verdient oder nicht, was ich in dieser mondlosen Nacht vor über einer Woche getan habe, darf nicht wieder passieren. Nie wieder will ich diese entsetzlichen Schreie hören. Nie wieder will ich dabei zusehen müssen, wie sich Männer und Frauen, vor Schmerzen völlig von Sinnen, auf dem Boden winden, bis aufs Fleisch von Flammen verbrannt, die so glühend heiß wurden, dass sich ihre Körper am Ende in Asche verwandelten, während ich selbst zwar nackt, aber ohne einen Kratzer dem Inferno entkam.

Pyrokinese.

Das haben sie hinter erhobenen Händen geflüstert. Ich war der Dritte, bei dem es funktionierte. Der Dritte von insgesamt dreißig Probanden, der bei den Experimenten nicht starb. Doch während die anderen zwei vor mir sich selbst verbrannten, bei den Versuchen, ihr inneres Feuer zu kontrollieren, habe ich nie die Kontrolle darüber erlangt. Ich konnte es nicht entzünden. Egal, was ich versucht habe, egal, wie sehr ich mich wehrte, als sie schließlich anfingen, mich zu verletzen und zu quälen, um eine Reaktion herauszufordern.

Nichts hat funktioniert.

Bis sie den Soldaten, meinen unbekannten Helfer, ins Labor brachten und mir befahlen, ihn zu töten, sonst würden sie es für mich tun, und zwar auf eine Art und Weise, an die ich mich mein Leben lang in Albträumen erinnern würde.

Und sie hatten recht, denn ich werde mich definitiv für den Rest meines Lebens an das entsetzliche Massaker erinnern, das nach dieser Drohung folgte.

Ich weiß nicht genau, was ich bin.

Ich weiß auch nicht, wie sie dieses, was immer es ist, das da in mir schlummert, aus mir gemacht haben.

Doch eines weiß ich – wenn es unmöglich sein sollte, wenn es keinen Weg gibt, dieses Monster in mir in Schach zu halten, dann muss John dafür sorgen, dass es für immer von der Welt verschwindet, bevor das Feuer in mir erneut ausbricht.

Ich will nie mehr jemanden so grausam sterben sehen.

Und wenn ich das nur erreichen kann, indem mein eigenes Leben ein Ende findet, dann muss es eben so sein.

 

 

Kapitel 2

John

 

 

 

 

Ich habe ein ungutes Gefühl.

Seit ich letzte Woche die erste, große Schlagzeile über einen dicken Ascheregen im nordwestlichen Nebraska gesehen habe, schlafe ich schlecht und blicke mich immer wieder um, sobald ich mich draußen im Garten um mein Gemüse kümmere.

Ausgelöst von einem unerklärlichen Wetterphänomen oder durch von der Regierung in Auftrag gegebene, streng geheime Forschungen, die jetzt natürlich vertuscht werden müssen – je nachdem, auf welchen Sender man schaltet, kann man sich die wildesten Verschwörungstheorien darüber anhören, was den Ascheregen verursacht hat, aber keiner weiß wirklich Bescheid, da das Militär das betreffende Gelände weiträumig abgesperrt hat und sämtliche Informationen unter Verschluss hält.

Und obwohl ich keinerlei Beweise dafür habe, wusste ich vom ersten Augenblick an rein instinktiv, dass es sich um jene Forschungseinrichtung handelt, in der ich damals für ein paar Monate gearbeitet habe.

Dabei hat man das Krankenhaus, oder was auch immer die Armee aus diesem Ort gemacht hat, bislang nicht mal in einem Nebensatz erwähnt. Es geht immer nur um den Ascheregen. In allen Berichten oder Spekulationen. Ich schätze, die Armee hält einen gewaltigen Deckel auf der ganzen Angelegenheit und ich will gar nicht wissen, was das für jene Menschen bedeutet, die dort gearbeitet haben und für ihr Schweigen genauso bezahlt wurden wie ich.

Oh Gott, und ich dachte wirklich, ich hätte das alles hinter mir gelassen.

So viele Jahre habe ich gebraucht, um die Erinnerungen an meine Erlebnisse dort tief in mir zu vergraben, doch auf einmal sind sie wieder voll da und bescheren mir Nacht für Nacht die schlimmsten Albträume von brennenden Kindern mit blauen Augen, die mich wütend ansehen, während eine junge Stimme mir wieder und wieder vorwirft, ich hätte ihn für Geld und ein schönes, bequemes Leben im Stich und damit seinem Schicksal überlassen.

Was ich auch getan habe, daran gibt es nicht das Geringste schönzureden.

Ich habe ein unschuldiges Kind seinem wahnsinnigen Vater und damit dem sicheren Tod überlassen, nur weil ich zu feige war, wenigstens ein einziges Mal in meinem verkorksten Leben das Richtige zu tun.

Zehn Jahre.

Zehn gottverdammte Jahre, die dieser Junge meinetwegen in der Hölle verbracht hat, bis es endlich vorbei war. Ich konnte schon damals kaum mit der Schuld daran leben, und wie ich es heute tun soll, mit dem Wissen, dass das, was letzte Woche in Nebraska passiert ist, so viel schlimmer gewesen sein muss, als das, was ich mir vorgestellt habe – ich weiß es nicht.

Ich kann nur hoffen, dass er im Tod endlich seinen Frieden gefunden hat.

Ein Auto fährt über den Kiesweg, den ich erst vergangenes Jahr erneuert habe, auf mein Haus zu und hält dann auf dem sandigen Vorplatz. Drei Türen klappen und ich höre fröhliches Kinderlachen. Meine ersten Kunden heute und sie kommen, um sich mit saftigen Erdbeeren, würzigen Kräutern, als Bund oder im Topf, und mit knackigem Salat einzudecken.

»Morgen, John.«

Ah, die Wilsons. Ein schwules Paar, das vor vier Jahren ein Mädchen adoptiert hat. Robert ist der einzige Arzt in der Stadt und sein Ehemann Christian hilft im Sommer bei der Ernte auf den umliegenden Feldern der großen Farmen, während er den Rest des Jahres Angel- und Bootstouren auf dem See anbietet. Ihre Tochter Tabita ist dunkelhäutig und wurde anfangs in der Stadt deshalb eine ganze Weile schräg angesehen. Aber das hat sich gegeben, seit Sheriff Drumwell sie vorletzten Sommer auf den Umzugswagen zu den Feierlichkeiten rund um den 4. Juli hat mitfahren lassen.

Und das alles weiß ich, weil Robert und Christian ziemlich gerne erzählen und sich nicht daran stören, dass ich meistens nur mit Nicken und zustimmenden »Hm«-Lauten reagiere. Mit Tabita rede ich hingegen etwas mehr, aber auch bloß, weil die Kleine meinen Obst- und Gemüsegarten liebt und im Sommer regelmäßig mit ihren Vätern hier auftaucht, um Erdbeeren zu pflücken, von denen dann die meisten nicht im mitgebrachten Korb, sondern in ihrem Mund landen.

Dafür ist es in diesem Jahr aber noch zu früh. Das Frühjahr war lange kalt und auch wenn es mittlerweile langsam losgeht, wird es wohl bis Mitte Juni dauern, bis die Erdbeersaison so richtig starten kann.

Außerdem ist Tabita für Gartenarbeit heute Morgen viel zu schick angezogen, erkenne ich bei einem kurzen Seitenblick in Richtung der kleinen Familie. Die Vorschule wartet auf sie und so wie sie lacht und mir winkt, freut sie sich definitiv darauf, dort heute früh wieder hinzugehen.

Ich erwidere ihr Winken und tippe mir danach grüßend an den alten Strohhut, den ich gegen die trotz der frühen Uhrzeit bereits heftig brennende Sonne trage, und deute dann wortlos auf die vielen Kisten mit vorhin geerntetem Obst und Gemüse, die auf einem Regal am Lattenzaun stehen, der meinen Garten umgibt. Direkt bei den Kisten habe ich eine Kasse aufgestellt, in die jeder das Geld für die bestellten Waren legt und sich sein Wechselgeld selbst herausnimmt, denn die Preise stehen gleich auf Kreideschildern bei den Kisten.

Zusätzlich liegen ein Stift und ein Schreibblock neben der Kasse, wo jeder seinen Namen und dazu neue Bestellungen für die nächsten Tage eintragen kann. Ich habe zwar einen uralten Computer und auch Internet, aber das heißt noch lange nicht, dass ich mich viel damit beschäftigen würde. Und ein Handy habe ich mir gar nicht erst wieder angeschafft, nachdem mein altes kurz nach meinem Einzug den Geist aufgegeben hat. Was sollte ich hier draußen damit anfangen? Ein Funkgerät für den Notfall tut es auch.

Ich widme mich dem Unkraut zwischen meinen Karotten und höre die beiden Männer hinter mir lachen. Sie kennen das schon, da ich nie viel rede, seit ich in diesem kleinen Haus am See lebe, und suchen sich ihre Bestellung heraus. Noch ist es zu früh für größere Ernten, aber verschiedene Kräuter, Kohlrabi, Salat, Radieschen und die ersten Karotten und Erdbeeren gibt es schon, und wenn ich mir meine Tomaten so anschaue, kann ich im Gewächshaus bald mit dem Ernten anfangen.

Vom Putzmann zum Gärtner, das ist mal ein merkwürdiger Karrieresprung. Aber von irgendetwas musste ich ja leben, als das Schweigegeld der Army alle war, und als sich herausstellte, dass ich ein Händchen zum Anbau von Obst und Gemüse und neben meinem Haus einen großen Garten habe, habe ich nicht lange überlegt und mir ein eigenes, kleines Geschäft aufgebaut. Ich habe keinen Laden oder einen Angestellten, dafür reicht es nicht, aber ich kann mittlerweile ganz gut von meinen Ernten leben und das ist alles, worauf es mir ankommt, denn je mehr ich hier selbst anbaue, um seltener muss ich in die Stadt fahren, um einzukaufen.

Ich brauche nur sehr wenig zum Leben und mein jüngster, gefiederter Mitbewohner ist in dieser Hinsicht auch ziemlich genügsam. Ein kleiner Rabe, den ich vor ein paar Wochen bei einem Spaziergang im Wald hinter meinem Haus fand, und da weder ein Nest noch seine Eltern in Sicht waren, habe ich ihn abends schließlich mitgenommen und ziehe ihn seither mit der Hand auf, weil er noch zu jung ist, um sich selbst zu versorgen. Ich hoffe, dass er irgendwann seinen eigenen Weg findet, doch falls nicht, werde ich mich weiter um ihn kümmern.

Alex habe ich im Stich gelassen, bei diesem Raben passiert mir das genauso wenig wie bei den wilden Katzen, die ab und an bei mir reinschauen, sich etwas Milch und Fleisch schnorren und mir dafür Wühlmäuse und anderes Getier aus dem Garten fernhalten.

Tiere sind tolle Begleiter, habe ich festgestellt. Sie reden dir keine Schuldgefühle ein, sie beschweren sich nicht und wenn du ihrer Meinung nach Mist baust, drehen sie dir einfach den Rücken zu und lassen dich stehen. Damit kann ich leben, denn so weiß ich immer, woran ich bin.

Ich wünschte, Menschen wären genauso, aber eigentlich ist es besser so, wie es jetzt ist. Seit damals habe ich mit Menschen nicht mehr viel am Hut und bleibe lieber für mich. Ich kann nie wieder gutmachen, was ich getan habe, weil ich ein feiger Idiot war, der nicht genug Verstand im Kopf hatte, um zu kapieren, dass das Haus am Ende immer gewinnt. Statt also mein Geld für die Zukunft vernünftig zusammenzuhalten, hatte ich mit Mitte Zwanzig schon jede Menge Jobs verloren und einen Berg Spielschulden angehäuft.

Tja, Dummheit wird immer bestraft, wobei in meinem Fall leider Alex der Bestrafte war, denn er ist gestorben, damit ich schuldenfrei hier draußen leben kann.

Scheiße, ich muss wirklich damit aufhören.

Es bringt nichts mehr, mich Tag für Tag deswegen selbst zu verurteilen. Alex ist tot und selbst wenn er das nicht wäre, was hätte ich schon für ihn tun können? Wer hört denn bitteschön auf einen abgehalfterten Typen wie mich? Wäre ich damals zur Polizei gegangen, hätten sie mich mit Sicherheit nur ausgelacht und weggeschickt.

Es ist, wie es eben ist, ganz gleich, wie lange ich mich noch für meine damalige Feigheit schäme.

»Tschüssie, Onkel John.«

Ich muss unwillkürlich schmunzeln und hebe die Hand zu einem kurzen Gruß. Wenig später fährt der Wagen davon und ich bin wieder allein mit meinen umherwirbelnden Gedanken, meinem Garten und dem Unkraut.

Onkel John. Damit hat Tabita im Frühjahr angefangen und ich kann mir lebhaft denken, wer ihr das beigebracht hat. Ihre Väter sind nämlich ziemlich gesellig und obwohl sie mich so akzeptieren, wie ich bin, bedeutet das nicht, dass sie nicht doch gelegentlich versuchen, mir mehr als einen Satz zu entlocken.

Ich glaube, das Paar mag mich. Warum auch immer. Wobei es nicht so ist, dass man mich in der Stadt ablehnen würde, im Gegenteil. Alle waren von Beginn an freundlich und höflich zu mir und haben mich mein Leben leben lassen. Trotzdem ist mir sehr wohl klar, dass ich als seltsamer Sonderling gelte, ich habe schließlich Ohren und weiß diese zu benutzen, wenn ich dann doch mal in die Stadt muss, um Kleidung oder triviale Dinge wie Klopapier zu kaufen.

Alles kann man ja nun mal nicht selbst anbauen oder eben herstellen, und so weit geht meine Liebe zum autarken Leben dann doch nicht, dass ich anfange, mich mit kaltem Wasser aus dem See zu waschen oder mir mit Blättern von umliegenden Büschen den Hintern abzuwischen. Dann hätte ich auch gleich in eine von diesen recht karg ausgestatteten Sommerhütten in den nahen Wäldern ziehen können.

Stattdessen habe ich mich für dieses kleine, aber durchaus feine Blockhaus entschieden, das einem jungen Paar mit zwei Kindern gehört hat, ehe sie in die Großstadt gezogen sind, weil es dort die besseren Schulen gibt. Es ist bereits seit Jahren ans öffentliche Strom- und Wassernetz angeschlossen, daher gibt es auch hier draußen, außerhalb der Stadt, alle wichtigen und alltäglichen Annehmlichkeiten, und für den Notfall stehen ein Generator, genug Benzin für einige Tage, ein Campingkocher und Vorräte in Dosen in meinem Schuppen.

Aber genug davon.

Da wartet noch jede Menge Unkraut in den Beeten darauf, gezupft und auf den Kompost geworfen zu werden, der meine natürliche Düngerquelle ist, weil ich sämtliches Obst und auch das Gemüse ohne giftige Unkrautvernichter züchte. Das macht mir zwar mehr Arbeit, aber ich will einfach nichts mit diesem künstlichen Zeug zu tun haben. Die ganzen Skandale rund um Glyphosat haben mir gereicht. Ständig hört man davon in den Nachrichten – so was will ich nicht in meinen Nahrungsmitteln haben, jedenfalls nicht, wenn es sich vermeiden lässt.

Früher waren mir solche Dinge egal, ich habe gegessen und gekauft, was billig war, aber heute …

Die Begegnung mit Alex, so schlimm sie auch ausging, hat mich verändert, und manchmal frage ich mich, ob es das alles überhaupt wert ist. Vor allem nach einem langen, harten Tag, wenn ich kaum noch kriechen kann, weil ich im nächsten Jahr Vierzig werde und die Arbeit im Garten nun mal keine leichte ist. Vor allem nicht, weil mein Garten größer ist als mein Haus. Aber ich lebe davon, also werde ich weiter schuften, bis meine Knochen mir irgendwann deutlich zu verstehen geben, dass es Zeit ist, mir etwas anderes zu suchen.

Und vielleicht werde ich irgendwann auch dazu bereit sein, mir selbst zu vergeben, was ich getan habe.

 

Nach einigen Stunden und vier weitere Kunden später, die ihre Bestellungen geholt haben, protestiert mein Rücken wegen der unnatürlichen Haltung so heftig, dass ich mir eine längere Pause zugestehe.

Ich habe großen Durst und etwas zu essen wäre auch nicht schlecht. Ich bin kein Frühstückstyp, das war ich noch nie, aber mittlerweile ist es beinahe 11 Uhr vormittags und ich habe vom Vortag noch einen Rest Gemüseeintopf im Kühlschrank stehen. Dazu schmiere ich mir eine Scheibe frisches, selbst gebackenes Brot mit Butter, gönne mir ein Glas ebenfalls selbst gemachten Eistee und kann mich anschließend um den Rest des Unkrauts kümmern, ehe ich die letzten Kisten ernte, für jene Kunden, die erst abends nach der Arbeit zu mir kommen können.

Unkraut jäten ist eine wirklich leidige, nie enden wollende Arbeit, aber sie muss gemacht werden, wenn ich Ernten haben will. Nach zwei richtig guten Jahren hätte ich nichts gegen ein weiteres gutes Jahr einzuwenden, denn dann könnte ich meine wenigen Rücklagen wieder etwas aufstocken – für den Notfall oder unerwartete Auslagen, wie beispielsweise den Kauf eines neuen Autos, denn mein alter Pick-up wird es nicht mehr lange machen. Aber noch fährt er und ich hoffe, er bringt mich noch durch das laufende Jahr, denn momentan bin ich wirklich nicht in der Stimmung, mehr als unbedingt nötig mit Menschen zu reden. Schon gar nicht mit einem Autoverkäufer.

Vielleicht sollte ich das Angebot von Karl, dem die hiesige Werkstatt gehört, annehmen, der nicht nur alte Autos und alle möglichen technischen Geräte repariert, sondern sie hinterher zu guten Preisen wieder verkauft. Und er hat mich schon mehr als einmal gefragt, ob ich ihm meinen klapprigen Pick-up nicht als Ersatzteillager überlasse, wenn er mir dafür einen anderen Wagen organisiert.

Aber auch das muss warten, denn mein Magen knurrt jetzt immer energischer. Es wird wirklich Zeit für eine Pause.

Mein Gemüsegarten hat zwei Ein- und Ausgänge, und ich nehme den weiter vom Haus weg gelegenen, um einen Blick in die Kasse zu werfen und gleich darauf den Kopf zu schütteln. Sie können es einfach nicht lassen. Es liegen mindestens zehn Dollar zu viel in der Kasse und bis zum Abend werden es noch weitere zehn bis zwanzig Dollar sein, ich weiß schließlich, wer heute noch alles seine Bestellungen holen wird. Allerdings bin ich nicht so verrückt, ihnen noch mal Wechselgeld rausgeben zu wollen. Das habe ich anfangs ein paar Mal versucht, bis mir Patricia Booker, eine rüstige Witwe, die mindestens einmal pro Woche einen Strafzettel kassiert, da sie ständig zu schnell fährt, erbost erklärt hat, ich solle mich besser nicht wagen, die alten Leute in der Stadt weiter gegen mich aufzubringen, in dem ich sie beleidige, weil sie für frisches Obst und Gemüse einen Preis bezahlen, den sie für angemessen halten.

Dass der üblicherweise zwei bis drei Dollar über dem liegt, was ich auf die Kreideschilder schreibe – ohne Worte.

Ich stutze irritiert.

Am anderen Ende des Regals liegt ein flacher, dunkelroter Stein, der heute früh definitiv noch nicht da war. Nanu? Als ich näher herangehe, weiten sich meine Augen verblüfft. Der Stein ist tatsächlich ein Stein, aber offensichtlich soll er ein Geschenk für mich sein, weil Tabita ihn bemalt hat. In rot, schwarz und weiß. Ein Marienkäfer.

Diese Kleine ist unmöglich. Trotzdem zupft ein Lächeln an meinen Mundwinkeln, als ich den Stein nehme und mit einem Finger über die Punkte auf den Flügeln streiche, bevor ich ihn schnell in der Hosentasche verschwinden lasse, weil plötzlich ein SUV auf den Weg zu mir einbiegt.

Das Gesicht des Fahrers entlockt mir ein Seufzen. Er ist viel zu früh, ich habe die Gemüsebestellung seiner Frau noch nicht geerntet, aber das hat Sheriff Sam Drumwell noch nie davon abgehalten in seiner Stadt und natürlich auch außerhalb nach dem Rechten zu sehen. Was für ihn heißt, dass er einmal jede Woche alle Grundstücke und die kleinen und größeren Farmen in der näheren Umgebung abfährt, um sich zu erkundigen, ob alles in Ordnung ist.

Die Bewohner lieben ihn dafür, weil er sich kümmert, wenn Hilfe gebraucht wird, deswegen ist der Mann auch schon eine halbe Ewigkeit Sheriff und das wird wahrscheinlich so bleiben, bis er irgendwann tot vom Stuhl fällt.

Ich wünschte, er würde den Besuch bei mir wenigstens alle paar Wochen mal vergessen, denn Drumwell sieht zu viel, was sein Job natürlich so mit sich bringt, aber für mich bedeutet das jedes Mal Schwerstarbeit, da der Mann sturer ist als ein Ochse und einfach so lange wartet, bis ich die Fragen nach meinem Befinden beantworte. Und er akzeptiert dabei leider weder ein Nicken noch mein maulfaules »Hm.«, weil er der Meinung ist, ich würde, käme er nicht wöchentlich vorbei, eines Tages völlig das Reden verlernen.

Als würde das irgendwen hier stören. Also abgesehen von Sheriff Drumwell natürlich, der jetzt aus seinem Wagen steigt, sich seinen Hut aufsetzt und mit lässigen Schritten den Weg zu mir herüberkommt.

»Morgen, John. Gute Ernte heute?«

Ich nicke und er stützt sich mit einem behaglichen Seufzen auf dem Zaun ab. Danach schweigt Drumwell, was mich nicht weiter stört, während ich die vorhin geernteten Radieschen auf die vorbereiteten Kisten für heute Abend verteile. Das wollte ich zwar erst nach dem Essen machen, aber nun ja.

»Trisha kommt später vorbei, bringt dir drei Pakete Eier mit und holt ihre Bestellung ab. Sie bat mich, dir auszurichten, falls du noch ein oder zwei Schälchen Erdbeeren übrig hast ...«

Er lässt den Satz unbeendet und wieder nicke ich, denn das müsste gehen. Sie hat Salat, Kohlrabi und Möhren bestellt, eine Schale Erdbeeren bekomme ich in ihrer Kiste problemlos noch unter. Vielleicht auch zwei, je nachdem, wie viele ich im Laufe des Nachmittags noch frisch ernten kann.

Hoffentlich fängt sie nachher nicht wieder eine Diskussion wegen der Eier an, denn mit der Frau kann man einfach nicht vernünftig diskutieren. Trisha Drumwell züchtet Gänse, Enten und Kaninchen, und ist damit mein Eier- und Fleischlieferant Nummer eins. Allerdings ist ihr Geschäft bedeutend größer als meins, weswegen sie sich auch standhaft weigert, von mir Geld zu nehmen, aber trotzdem immer ihr Gemüse bezahlt.

»Sie hat übrigens nicht vor, für die Eier Geld zu nehmen.«

Ich stöhne unwillkürlich und Drumwell lacht dröhnend.

»Ja, das dachte ich mir schon. Gewöhn dich einfach daran, sie wird sich nicht ändern. Außerdem weiß sie, dass du immer viel zu viel in ihre Kiste packst, um eure unendliche Geschichte wegen der Eier etwas auszugleichen.«

Mein frustriertes Schnauben lässt ihn albern kichern. Diese Frau ist genauso unmöglich wie die kleine Tabita, nur dass sie dabei viel mehr redet. Leider.

»Genau so hat sie auch reagiert, als ich ihr beim Frühstück vorschlug, dich in Zukunft einfach die Eier bezahlen zu lassen. Laut Trisha kannst du froh sein, dass du dein Fleisch bezahlen darfst. Meine Frau hat eindeutig einen Narren an dir gefressen und das würde mir vermutlich sehr zu denken geben, wenn sie nicht so verrückt nach mir wäre.«

Bitte? Ich sehe verdattert zu Drumwell, der erneut loslacht, bevor er zu mir kommt, mir kumpelhaft auf die Schulter klopft und sich danach grüßend an den Hut tippt.

»Guter Mann. Ich fahre weiter. Melde dich, falls irgendwas sein sollte.«

Der dezent beunruhigte Tonfall in seiner Stimme lässt mich die Stirn runzeln. Was soll denn hier schon passieren? Wir sind in Minnesota, noch dazu am sprichwörtlichen Arsch der Welt. Um uns herum gibt es doch nur Farmen, gewaltige Felder mit Mais und Erbsen und dazu jede Menge Wald und Wasser. Die Gefahr eines Abends von einem irren Axtmörder überfallen zu werden, dürfte also gering sein.

»Muss ich mein Gewehr aus dem Schrank holen?«, will ich wissen und Drumwell zuckt genauso zusammen wie ich selbst, weil meine Stimme ziemlich kratzig klingt. Ich sollte dringend etwas trinken … und in Zukunft möglicherweise ein bisschen mehr reden.

Drumwell schürzt überlegend die Lippen, während er mich mustert. »Nein. Aber halt deine Augen offen. Ich habe mehrere Anrufe wegen eines Landstreichers bekommen, der sich schon eine Weile in der Gegend herumtreiben soll. Vorrangig in der Nähe deines Grundstücks. Das muss nichts heißen, hier gibt es dichten Wald und einige Sommerhütten, vielleicht versteckt er sich in einer von ihnen, weil er nicht weiß, wo er sonst hin soll. Aber man kann nie wissen … Wie gesagt, wenn dir irgendwas komisches auffällt, ruf mich an.«

Ich nicke stumm, dabei wissen wir beide ganz genau, dass das niemals passieren wird.

Ich brauche keine Hilfe. Von niemandem.

Jedenfalls nicht, wenn es sich vermeiden lässt.

 

 

Kapitel 3

Alex

 

 

 

 

Was soll ich ihm bloß sagen?

Seit zwei Tagen schleiche ich jetzt bereits um sein hübsches Grundstück herum, beobachte ihn tagsüber bei den Arbeiten in seinem Garten und abends, wenn er, ein Bier in der Hand, auf der großen, überdachten Veranda vor seinem Haus sitzt, den Blick auf den See gerichtet und mit seinen Gedanken offenbar meilenweit weg.

Natürlich halte ich immer gebührenden Abstand, weil ich Angst habe, mich ihm zu zeigen, was mich gestern beinahe ins Grab brachte, als ich nachdenklich die schmale Straße in die kleine Stadt entlanglief, die einzige Ortschaft in der Nähe, und dabei fast von einer alten Dame überfahren worden wäre, die diese Straße scheinbar für eine Rennstrecke hält. Sie hat sofort angehalten und nach mir gerufen, aber ich blieb in Deckung, wo ich sicherer war. Sie mag zwar nur eine alte Frau sein, aber davon gab es im Labor auch einige und die waren alles andere als harmlos.

Mich schaudert prompt bei der Erinnerung daran, was man dort mit mir gemacht hat, und ich atme mehrmals tief durch, um mich wieder zu beruhigen. Ruhe. Stille. Ich lausche auf die Geräusche der Natur – das Rascheln der Bäume im Wind, das Zwitschern der Vögel und in der Ferne plätschert Wasser. Ich muss ruhig bleiben. Immer. Und falls ich das nicht kann, muss ich Angst haben. Angst unterdrückt das Feuer. Zumindest hat es das bisher getan, und ich bete und hoffe, dass es so bleibt, denn ich habe Angst. So große Angst. Vor dem, was ich schon bald tun muss, denn ich habe mein letztes Geld gestern in eine Flasche Wasser in der Stadt investiert. Gegessen habe ich nichts mehr, seit ich in Minneapolis in den letzten Bus stieg, der mich schließlich hierher brachte.

Ich habe unglaublichen Hunger, doch ich kenne mich mit der Natur überhaupt nicht aus und weiß nicht, was man ohne Gefahr im Wald essen kann. Und ich habe Durst. Es wird jeden Tag heißer draußen und das Wasser vom See schmeckt seltsam. Gestern habe ich an einem kleinen Bachlauf übernachtet, damit ich wenigstens meine Kleidung waschen konnte. Aber auch an das Wasser habe ich mich nicht herangetraut.

Ich bin vielleicht erwachsen, aber ich weiß fast nichts über das wirkliche Leben in Freiheit. Das kommt davon, wenn man mehr als zehn Jahre ein geheimes Labor sein Zuhause nennen muss und dort kaum das Tageslicht sieht.

Vielleicht kann ich etwas von dem Gemüse essen, das er in seinem Garten anbaut. Wenn ich nachts dorthin gehe … Wenn er schläft … Es könnte klappen.

Ich will John nicht erschrecken, doch mein Magen schmerzt bereits vor Hunger und er verkauft das Gemüse an Leute, die bei ihm vorbeischauen. Man kann es also gefahrlos essen. Und ich muss wirklich bald etwas essen, das weiß ich. Sie haben im Labor immer gesagt, dass essen und trinken Menschen kräftig und gesund hält, und er hat diesen Schlauch am Schuppen, mit dem er sein Gemüse wässert. Kaltes, klares Wasser, das man auch trinken kann, denn er hat heute früh ebenfalls direkt am Schlauch getrunken.

Ich muss es einfach versuchen.

Heute Nacht, sobald das Licht im Haus ausgeht.

 

Diese Erdbeeren sind wirklich köstlich.

Süß, saftig und dermaßen groß, wie ich noch nie im Leben welche gesehen, geschweige denn gegessen habe. Dabei haben sie mir in der Forschungseinrichtung immer recht gutes Essen gegeben, oft auch mit Gemüse oder frischem Obst, aber solche leckeren Erdbeeren gab es in all den Jahren nie.

Hoffentlich habe ich nicht zu viele kaputt getreten, als ich über den Zaun in den Garten geklettert bin, aber hier draußen gibt es, abgesehen von Solarleuchten an den Wegen und rund um das Haus herum, kein Licht und der fehlende Mond macht mir die Orientierung noch viel schwieriger. Ich muss mich mit vorsichtigen Schritten vortasten und meine Erinnerung an den Garten aus der Ferne nutzen, mehr habe ich leider nicht. Aber sie hat gereicht, um die Erdbeeren zu finden, und ich hoffe, ich kann mir auch noch etwas Gemüse holen, ehe ich zurück in den Wald flüchte, um …

Ein Klicken links von mir lässt mich abrupt erstarren.

Ich kenne diese Art von Geräusch nur zu gut aus meinem jahrelangen Gefängnis, denn die Wachen dort hatten Gewehre und sie haben sie oft genug entsichert und auf mich gerichtet. Anfangs nur aus Spaß, um mir Angst zu machen, wenn ich mal wieder aus meinem Zimmer ausgebüxt war, aber später wurde aus dem einst kindlichen Spaß für mich der pure Ernst und ich greife mir automatisch an den linken Oberarm, wo mich eine kleine, runde Narbe für immer an die Kugel erinnern wird, die meinen Arm durchschlagen hat, um mich dazu zu bringen, die lebensgroße Puppe in ein Häufchen Asche zu verwandeln, die sie an jenem Tag in einem Versuchsraum einige Meter vor mir aufgebaut hatten.

Es hat nicht funktioniert, weil ich vor lauter Tränen und der Angst um mein Leben überhaupt nicht fähig war, irgendetwas anderes zu tun als zu weinen, da ich nie gedacht hatte, dass die Soldaten tatsächlich auf mich schießen würden, immerhin war ich doch nur ein vierzehnjähriger Junge, der kaum begriff, was man mit ihm anstellte, sondern der bloß wusste, dass er diese langen Nadeln, mit denen die Wissenschaftler ihn Tag für Tag stachen, mittlerweile genauso sehr hasste, wie die unzähligen, anderen Tests, die ihm am Ende nur wieder starke Schmerzen und sonst nichts einbrachten.

Und wenn John auf mich schießt, wird das neue Schmerzen bedeuten. Große Schmerzen. Ich schaudere unwillkürlich und hebe die Arme. »Bitte nicht schießen.«

»Dir ist klar, dass das Diebstahl ist, oder?«

Oh Gott, es ist so schön, seine Stimme zu hören, auch wenn sie anders klingt als damals. Trotzdem, er ist es, und ich würde ihm so gern sagen, wer ich bin und ihm in die Arme fallen, um ihm zu sagen, dass ich ihm verzeihe und nicht mehr sauer auf ihn bin, weil er damals fortgegangen ist. Stattdessen verharre ich an Ort und Stelle, als wäre ich festgefroren, während mein Magen auf einmal erbärmlich knurrt.

»Wann hast du zuletzt etwas gegessen?«, fragt er, weil ihm das Geräusch nicht entgangen ist, doch über seine Frage muss ich erst mal nachdenken, was mir, so peinlich mir das auch ist, von Tag zu Tag schwerer fällt.

»Vier Tage, glaube ich. Ich bin nicht ganz sicher.«

»Getrunken?«

Ich deute schweigend zu seinem Wasserschlauch, denn das war das Erste, das ich getan habe, als ich den hüfthohen Zaun überwunden hatte. John seufzt in der Dunkelheit und ich fange an zu zittern, da mir plötzlich ganz kalt ist, dabei ist die Nacht nicht wirklich kalt. Es ist die Angst, die mich zittern lässt, wie so oft. Mein Vater hat mich in den Laboren zuletzt öfters einen Jammerlappen und weinerlich genannt, aber da ich der Einzige war, bei dem seine Experimente schlussendlich so anschlugen, wie er sich das von Anfang an erhofft hatte, musste er sich mit mir zufriedengeben. Mit der B-Ware, wie er einmal abfällig zu einem Arzt sagte, als er dachte, ich wäre ohnmächtig, nachdem sie eine Ewigkeit eiskaltes Wasser auf einen Lappen gegossen hatten, der über meinem Gesicht gelegen hatte. An jenem Tag hatte ich das erste Mal wirklich Angst um mein Leben, doch es blieb leider nicht der letzte.

»Dreh dich um.«

Ich tue, was John sagt und stolpere vor Eile fast über meine eigenen Füße. Als ich mich endlich wieder gefangen habe, hält er mir den Lauf seines Gewehrs direkt vor die Nase. Vor lauter Angst, dass er doch noch schießt, halte ich so still wie möglich, während John nach etwas tastet, das er offenbar in seiner Hose bei sich trägt. Dann geht auf einmal ein grelles Licht an und ich muss heftig blinzeln. Eine Taschenlampe, wird mir dann klar.

»Wie alt bist du?« John schnaubt, als ich es ihm sage. »Red keinen Quatsch, Kleiner. Du siehst aus wie zwölf.«

Das weiß ich selbst, immerhin hatte ich so einige Probleme, mir die Bustickets hierher zu kaufen, weil man mich ständig für zu jung hielt. Ich bin zu klein für mein Alter, im Moment auch viel zu dünn und habe zudem keinerlei Papiere, um mich irgendwie auszuweisen. Es ist alles verbrannt.

In den Laboren sagten sie immer, ich käme körperlich nach meiner Mutter, aber da ich sie nicht kenne, kann ich das nicht beurteilen. Mein Vater hat nicht viel über sie erzählt, nur dass sie gute Gene hatte, so wie er, und dass er sie deswegen für ein Kind ausgesucht hat. Ich weiß nicht, wie er das meinte, aber da er mich am Ende B-Ware nannte, war ich wohl doch nicht das, was er sich von mir erhofft hatte.

»Ich war schon immer zu klein«, murmle ich beschämt und verziehe gleich darauf das Gesicht. Meine Arme tun langsam echt weh. »Darf ich bitte meine Arme runternehmen?« Er nickt und tritt im nächsten Moment zwei Schritte zurück. »Danke«, sage ich leise und massiere mir nacheinander beide Oberarme, ohne ihn dabei anzusehen.

Ich will nicht, dass er mich wiedererkennt, während ich mir insgeheim gleichzeitig wünsche, dass er es doch tut. Er ist doch alles, was mir geblieben ist, und trotzdem schäme ich mich für das, was ich bin. Dass ich ihn aus Hunger bestohlen habe, aber was hätte ich sonst tun sollen? Einfach hingehen, an seine Tür klopfen und ihm meinen Namen sagen?

»Wo schläfst du?«

»Im Wald«, antworte ich ehrlich und zucke zusammen, als hätte er mich geschlagen, denn auf sein folgendes »Du stinkst, Kleiner.« bin ich absolut nicht vorbereitet. Dabei habe ich mich gestern zu waschen versucht. Wirklich. Aber das Wasser vom Bach war so kalt und ich hatte keine Seife und gar nichts. Am liebsten würde ich jetzt für alle Ewigkeit vor Scham im Boden versinken. »Tut mir leid.«

Wieder seufzt er. »Willst du Arbeit? Im Garten. Ich brauche Hilfe … Kann aber nicht viel zahlen. Du kriegst Essen, saubere Kleidung und ein Dach über dem Kopf.«

»Ja … Ja, bitte … Dankeschön.«

Ich möchte nicht zu begeistert oder zu verzweifelt klingen, aber die Aussicht ab sofort jeden Tag eine warme Mahlzeit zu bekommen und in einem weichen Bett schlafen zu dürfen, ist fast zu schön, um wahr zu sein. Ich will auf keinen Fall, dass er es sich wieder anders überlegt. Am besten sage ich ihm einfach nichts. Er muss schließlich nicht erfahren, wer ich bin. Wenn ich es John nicht erzähle, bin ich einfach nur ein junger Mann ohne Zuhause, der für ihn arbeitet, mehr nicht.

Hier draußen, weit weg von Nebraska, in Sicherheit, werde ich bleiben und mir alles abgucken, was er tut. Vielleicht kann ich dann später so leben wie er. Allein und so weit wie möglich von anderen Menschen entfernt, damit keinem etwas passiert, wenn ich mich wieder aufrege und das Feuer ein weiteres Mal alles um mich herum zerstört.

Allerdings ist es nur fair, dass ich, soweit das eben möglich ist, ehrlich zu ihm bin. »Ich weiß leider nicht viel über Gemüse oder Erdbeeren.«

»Nur wie sie schmecken, hm?« Er lacht leise und irgendwie kratzig, weil ich sofort wieder peinlich berührt zu Boden sehe. »Hier, nimm die und geh damit vor zum Haus.«

Er reicht mir seine Taschenlampe und ich mache mich nach einem Nicken ganz vorsichtig auf den Weg zum Haus, weil ich auf keinen Fall irgendwo drauftreten und ihn damit verärgern möchte. Ich kenne die Wege außerhalb des Hauses, zumindest vom Sehen her, und als wir auf der Veranda ankommen, gehen an der Wand einige Lampen an. Bewegungsmelder, schätze ich mal, und folge John ins Haus. Er hat das Gewehr zwar gesenkt, hält es aber weiterhin in der Hand, als er das Licht einschaltet und vor einem Kamin zu meiner Linken stehenbleibt. Er macht eine den Raum umgreifende Geste und ich sehe mich um.

Es ist ein großes Zimmer, das einen Wohn- und gleichzeitig auch einen Essbereich umfasst und mit zwei Sesseln und einer gemütlich aussehenden Couch gefüllt ist, die vor dem Kamin drapiert wurden. Hinter der Couch steht eine lange Kommode, auf der zwei Tischlampen stehen, und rechts ein Esstisch mit acht Stühlen. Wozu John so einen großen Tisch braucht ist mir ein Rätsel, aber vielleicht war das Haus schon eingerichtet, als er es gekauft hat?

Am interessanten finde ich jedoch die bis auf den letzten Platz mit unzähligen Büchern gefüllten Wandregale zu beiden Seiten des Kamins. Vielleicht erlaubt er mir mit der Zeit ja ein paar von ihnen zu lesen.

Mein Blick wird auf die offene Küche vor mir gelenkt. Sie hat helle Schränke und viel Platz zum Arbeiten. Nicht dass ich Ahnung davon hätte, aber ich kann das bestimmt alles lernen. Ich meine, irgendwas muss ich schließlich lernen, falls ich eines Tages Geld verdienen und mir ein Leben aufbauen will.

Links und rechts von der Küche gehen weitere Räume ab, die wahrscheinlich ins Schlafzimmer und ein Bad führen, aber John führt mich nicht herum und ich werde mich hüten, ihn wegen Details zu fragen. Das macht ihn vielleicht wütend und dann bin ich geliefert. Oder stehe gleich wieder auf der Straße.

»Nett hier«, sage ich schließlich, weil ich nicht weiß, was er jetzt von mir erwartet, aber scheinbar genügt das, denn er nickt erneut und deutet dann mit dem Kopf auf mich. Es dauert ein bisschen, bis ich verstehe, was er meint, und mir auf die Lippe beiße, während ich an dem ausgefransten Hemdsärmel ziehe. Noch ein Diebstahl, aber ich konnte ja kaum nackt herfahren. »Ich habe die Sachen von einer Wäscheleine mitgenommen.«

»Und die Schuhe?«

Ich spüre mich rot werden, denn auch sie sind gestohlen, so wie alles, das ich am Körper trage. Mein Leben ist leider Gottes kein toller Hollywood-Film, in dem ein netter Wissenschaftler mal eben einen Anzug entwirft, damit die menschliche Fackel nicht ständig nackt durch die Gegend fliegen muss. Ich liebte den Film und ich fand Johnny Storm so cool, allerdings kann ich weder fliegen noch hält es meine Kleidung aus, wenn ich in Flammen aufgehe.

»Wie heißt du?«, fragt John, ohne weiter auf meine Schuhe einzugehen, wofür ich ihm dankbar bin, trotzdem zögere ich mit einer Antwort wohl zu lange, denn er richtet sein Gewehr wieder ein Stück höher. »Keine Lügen, Kleiner.«

Okay, wenn er es so will … »Mein Name ist Alex.«

Ich warte auf den großen Knall. Das fassungslose Keuchen, sobald er mich erkennt und die Verbindung zwischen mir und dem Jungen von damals zieht. Wenn ich Glück habe, verpasst er mir nur einen Tritt aus dem Haus, aber wenn ich Pech habe, wird er dieses Gewehr benutzen und dann …

»Hallo, Alex. Ich bin John.«

Oh mein Gott, er erkennt mich gar nicht.

Ich schaffe es nur mit Mühe und Not, John nicht schockiert anzustarren, aber gleich darauf bin ich durch seine Reaktion völlig ernüchtert, als mir klar wird, was für ein Dummkopf ich eigentlich bin. Natürlich erkennt er mich nicht. Ich meine, was habe ich denn erwartet? Es sind zehn Jahre vergangen und wie oft haben wir uns damals gesehen? Wir hatten doch im Grunde genommen nur die Briefe, an die ich mich so sehr klammerte, bis sie in Rauch aufgingen, wie alles andere auch.

»Du kannst im ehemaligen Kinderzimmer schlafen. Stehen zwei Betten drin. Hintendran ist das Bad.«

Er deutet mit der Hand in die entsprechende Richtung und geht an einem Sessel vorbei in die Küche. Ich schlucke schwer, traue mich kaum ihn zu fragen, aber mir ist mittlerweile schon leicht schlecht vor Hunger und … »Kann ich bitte noch etwas zu essen bekommen?«

John nickt. »Geh duschen. Ich mache dir was und gebe dir Kleidung von mir. Muss erst mal gehen.«

Seine Stimme klingt merkwürdig und wird immer rauer, je mehr er sagt. Ob er sonst nicht so viel redet? Tja, da wären wir schon zu zweit. »Danke«, sage ich leise und flüchte mich in das Zimmer links von der Küche, auf das er zuvor gezeigt hat, ehe er es sich anders überlegt und mich wieder rauswirft.

Ich schließe die Tür leise hinter mir und sehe mich um. Vor mir an der Wand steht eine Kommode, links von mir, ebenfalls jeweils an den Wänden, stehen zwei Einzelbetten, nur getrennt durch einen Nachtschrank mit einer Lampe obenauf. Vielleicht hat hier früher eine Familie gewohnt. Ich gehe durch bis in das längliche Badezimmer, das nicht groß ist, aber alles bietet, was man braucht – ein Waschbecken, eine Toilette mit Spülkasten und eine Wanne, die gleichzeitig als Dusche genutzt wird.

Es ist alles sauber und als ich dann im Schrank unter dem Waschbecken Handtücher und sogar einen Waschlappen finde, ist mein Glück perfekt. Endlich kann ich wieder duschen. Auf dem Badewannenrand steht eine Schale mit einem Stück Seife, an der ich interessiert schnuppere. Blumen. Welche, weiß ich zwar nicht, aber der Geruch ist einfach wunderbar.

Ob John hier immer alles so sauber hält, falls er mal Besuch bekommt? Wahrscheinlich. Ich werde nach meiner Dusche auf jeden Fall aufräumen und alles wieder trocken wischen, damit er durch meine Anwesenheit nicht noch mehr Arbeit hat, als es unbedingt sein muss.

Aber jetzt will ich wirklich ganz dringend duschen.

 

 

Kapitel 4

John

 

 

 

 

Der Junge hat tiefblaue Augen.

Ich weiß, er kann es nicht sein, weil Alex tot ist, aber es sind dieselben Augen. Das kann doch kein Zufall sein. Oder doch? Wahrscheinlich bilde ich mir wegen meiner Schuldgefühle nur etwas ein, das unmöglich ist. Ich meine, es sind zehn Jahre und Alex ist in diesem Labor gestorben.

Der Regen aus Asche – ich weiß nicht, was er zu bedeuten hatte, aber der Junge, den ich im Stich gelassen habe, ist tot. Sie können nicht ein- und dieselbe Person sein, das ist schlichtweg vollkommen ausgeschlossen. Trotzdem wünschte ich, dass ich mich besser an ihn erinnern könnte. Doch wie soll ich das? Ich habe ihn nur zweimal gesehen und es ist ein Jahrzehnt her. Selbst wenn ich es wollte, ich würde ihn nicht wiedererkennen. Und nur weil dieser Alex, der gerade unter der Dusche steht, dieselben Augen und denselben Namen hat – nein, Schluss damit. Das ist ein Zufall. Den Namen Alex gibt es schließlich genauso häufig wie meinen eigenen.

Ich muss endlich aufhören zu spinnen.

Der kleine Alex von damals ist tot, und damit basta.

Der ältere Alex im Badezimmer ist jedoch am Leben und er braucht dringend zehn Kilo mehr auf den Rippen, so dünn wie er ist. Außerdem braucht er neue Sachen, die ihm passen, und da ich größer und breiter bin als er, werde ich wohl einkaufen gehen müssen. Bestellen und liefern lassen dürfte leider Gottes ausfallen, denn ich bezweifle, dass er seine Größe kennt.

Aber das muss bis morgen warten, denn es ist mitten in der Nacht und ich sollte mich ranhalten, wenn ich die Eier und den Speck fertig haben will, sobald er aus der Dusche kommt. Drei Scheiben Brot habe ich schon geschnitten und dick mit Quark bestrichen, garniert mit Salz, Pfeffer und den frischen Kräutern aus meinem Garten. Dazu bekommt er so viel Eistee wie er will und ein paar saubere Kleidungsstücke, denn mit seinen werde ich Alex garantiert nicht mehr herumlaufen lassen. Von dem Gestank mal abgesehen, sind sie ziemlich alt, teilweise kaputt und hingen an ihm wie ein Kartoffelsack.

Kein Wunder, dass Drumwell besorgte Anrufe wegen eines Landstreichers bekommen hat. Wenn jemand Alex mit diesem Aufzug in der Stadt gesehen hat – ich hätte an ihrer Stelle wohl auch die Polizei gerufen, denn Obdachlose und Landstreicher gehören nicht in das Bild der kleinen, sauberen Touristenstadt, die mit der unberührten Natur und dem See Werbung macht, und damit Jahr für Jahr mehr Urlauber anzieht.

Allerdings ist Alex kein Urlauber und augenscheinlich hat sein Auftauchen mich vorhin komplett aus der Bahn geworfen, sonst hätte ich ihm nie und nimmer einen Job und dazu sogar noch ein Bett angeboten. Aber gesagt ist gesagt und ich werde den Jungen nicht wieder vor die Tür setzen. Ganz gleich ob er nun erwachsen oder ein Teenager ist, er braucht einen Ort, an dem er vorläufig bleiben kann, und ich könnte wirklich etwas Hilfe im Garten gebrauchen.

Ein leises Krächzen lässt mich aufmerken und ich gehe zur Kommode, die zwischen der Tür zur Veranda und meinem Schlafzimmer steht, und auf die ich eine meiner Gemüsekisten gestellt habe, ausgelegt mit einer weichen Decke. Das ist zwar kein perfektes Vogelnest, aber meinem gefiederten Findelkind gefällt es, auch wenn er mich gerade anblinzelt und sich wohl fragt, was ich hier mitten in der Nacht treibe. Aber so weit, dass er seinen Schönheitsschlaf unterbrechen würde, geht das Interesse dann doch nicht, denn noch während ich ihn ansehe, verschwindet sein Schnabel wieder zwischen dem Gefieder. Grinsend lösche ich das Licht im Wohnzimmer und schalte die Beleuchtung in der Küche ein, damit er Ruhe hat. Der kleine Rabe schläft viel, wenn er nicht frisst oder erste Gehversuche macht, aber bis er wirklich flugfähig ist, dürften noch ein paar Wochen ins Land gehen.

Ich richte einen Teller mit Rühreiern und Speckstreifen für Alex an und gehe dann in meine Ankleide, um ihm eine Hose und ein Shirt herauszusuchen. Nach kurzem Nachdenken lege ich noch ein Paar Socken dazu. Bettzeug, Handtücher und so weiter ist alles vorhanden, nur mit einer Zahnbürste kann ich nicht dienen, das muss bis morgen warten. Oder eher heute, korrigiere ich mich nach einem Blick auf die Uhr, und gehe ins alte Kinderzimmer hinüber, um ihm die Kleidung aufs Bett zu legen. Die Dusche läuft noch, ich kann mir gut vorstellen, dass er sich ordentlich abschrubbt.

Soll er ruhig. Dafür ist die Seife da und jetzt hat sie endlich mal einen Zweck, dabei habe ich mir schon so oft gesagt, dass ich aufhören muss beim Putzen immer die unbenutzten Räume sauber zu halten, aber ich habe es nie auf die Reihe bekommen, weil mir nun mal das ganze Haus gehört, obwohl ich nie in die Bredouille kommen werde, mich auch um Kinder kümmern zu müssen. Nun ja, von verwaisten Raben mal abgesehen. Eigene Kinder gehören jedenfalls nicht in meine Lebensplanung und sobald der Junge im Badezimmer wieder einigermaßen auf den Beinen ist, werde ich ihm höflich aber deutlich mitteilen, dass mein Angebot nur von begrenzter Dauer ist. Spätestens wenn im Herbst alles abgeerntet ist, wird er sich ein neues Dach über dem Kopf suchen müssen.

Es dauert noch knappe zehn Minuten, bis ich die Tür höre und er sich zu mir in den Essbereich traut. Von Kopf bis Fuß wieder sauber und in meine für ihn zu große Kleidung gehüllt, sieht er noch jünger aus und ich deute wortlos neben mir ans Kopfende des Tisches, wo sein Essen steht.

»Danke«, flüstert er, setzt sich und nach einem letzten Blick in meine Richtung nimmt er die Gabel und fängt an zu essen. Ich lasse ihm Zeit, trinke nach und nach das Glas Wasser aus, das ich mir eingegossen habe, und erst als die Brote gegessen sind und der Teller zur Hälfte leer ist, räuspere ich mich leise, woraufhin er sichtlich zusammenzuckt. Meine Güte, der Junge muss einiges hinter sich haben, wenn er so schreckhaft ist.

»Mein Angebot steht«, sage ich, statt ihn auszufragen, denn wenn ich an seiner Stelle wäre, würde ich dann dichtmachen und gar nichts mehr sagen. »Deine Arbeitskraft für Kost, Logis und ein bisschen Taschengeld. Morgen … Heute werden wir in die Stadt fahren, um dir Kleidung zu besorgen, dafür gibt es in den nächsten Wochen kein Geld. So reich bin ich nicht.« Seine einzige Antwort ist ein Nicken, während er weiter isst. Na gut. »Du kannst das Zimmer haben und hast dich selbst darum zu kümmern. Ich räume weder für dich auf noch putze ich dir Tag für Tag hinterher.«

»Ich kann das selbst«, sagt er und klingt dabei so beschämt, dass ich ein schlechtes Gewissen bekomme.

»Gut. Hast du noch Fragen?«

Ich hoffe es nicht, denn langsam bekomme ich ernsthafte Halsschmerzen. Ich bin es einfach nicht mehr gewohnt, so viel am Stück zu reden. Alex schüttelt mit vollem Mund den Kopf und wir sind beide erleichtert, das kann ich ihm sehr deutlich ansehen, während ich selbst ohnehin froh bin, endlich wieder den Mund halten zu können. Eine Sache sollten wir aber vorab klären, bevor ich versuchen will, noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen, denn der Tag wird wieder lang werden.

»Eines noch … Bist du auf der Flucht vor der Polizei?«

Alex starrt mich einen Moment entsetzt an, dann schluckt er runter und schüttelt leicht den Kopf, während er gleichzeitig meinem Blick ausweicht. Also doch. Der Junge muss eindeutig noch lernen, wie man richtig lügt. Ich lehne mich auf meinem Stuhl zurück und warte, und es dauert auch nicht lange, bis er rot anläuft, die Gabel weglegt und die Hände in seinen Schoß legt. Er sieht mich immer noch nicht an, doch das macht nichts. Ich kann warten und ich werde warten, denn ein Verbrecher kommt mir nicht ins Haus, auch wenn er nicht wie einer wirkt, aber was heißt das heutzutage schon. Wie gut, dass ich vorhin daran gedacht habe, mein Gewehr an den Stuhl neben mir zu lehnen. Ich glaube zwar eigentlich nicht, dass ich es brauchen werde, doch sicher ist sicher.

»Ich bin weggelaufen«, sagt er schließlich mit Blick auf den Tisch. »Ich weiß nicht, ob sie mich suchen.«

Okay, das erklärt seinen erbärmlichen Aufzug von vorhin. Wer weiß, wie lange er schon unterwegs war, dass er sich sogar Kleidung stehlen musste. Ich werde ihn nicht danach fragen, das geht mich nichts an. Solange die Cops nicht plötzlich mit einem Haftbefehl für ihn auf meinem Grundstück auftauchen, bin ich zufrieden.

»Gut. Ich muss früh raus, aber ich wecke dich rechtzeitig zum Einkaufen.«

»Ich kann helfen«, bietet er sofort an, doch ich schüttle den Kopf, da mir kein Helfer hilft, der schon nach einer Stunde im Garten mit einem Hitzschlag oder wegen Entkräftung umfällt.

»In ein paar Tagen, wenn du dich erholt hast. Solange wirst du dich um das Haus kümmern. Kleinigkeiten erledigen. Nicht mehr, verstanden?« Alex nickt und nimmt dann die Gabel, als ich mit einer Hand auf den Rest Rühreier deute. »Iss auf, dann wird geschlafen.«

 

Als ich um sechs Uhr früh das Haus verlasse, um mich um die Frühbestellungen zu kümmern, ist von meinem Gast nichts zu sehen. Das Gegenteil hätte mich auch ziemlich gewundert.

So sehr er vielleicht wirklich helfen will, in seinem Zustand ist er mir aktuell keine Hilfe, und das bringt mich, während ich vier Kisten Obst und Gemüse vorbereite, wieder ins Grübeln. Was habe ich mir eigentlich dabei gedacht, dem Jungen einen Job und eine Unterkunft anzubieten? Ums Geld geht es mir in der Hinsicht gar nicht, ob ich nun für eine Person oder für zwei koche, macht mir nichts aus und ich kann es mir leisten, auch wenn ich ihm etwas anderes erzählt habe. Ich frage mich eher, ob ich das überhaupt will. Andererseits kann ich ihm nachher schlecht sagen, dass ich es mir anders überlegt habe. Okay, das könnte ich zwar sehr wohl tun, aber so bin ich nicht. Früher ja, doch das ist lange her.

Verdammt, warum muss er mich nur so an diesen kleinen Jungen erinnern, den ich damals im Stich gelassen habe?

Und das wird es auch sein. Schuldgefühle. Wieder einmal. Ich war zu feige, um dem damaligen Alex zu helfen, aber dem in meinem Haus kann und werde ich helfen. Zumindest in den nächsten Monaten. Jetzt ist Anfang Juni und die Saison geht bis in den Spätherbst hinein, teils sogar bis in den Winter, ich habe mit Rosenkohl, Kartoffeln und Champignons da ziemlich gute Erfahrungen gemacht, wobei letztere im Gewächshaus einfach besser gedeihen, was auch für die Tomaten gilt. Egal. Es wird sich zeigen, was daraus wird, wenn es soweit ist.

Vielleicht wird Alex mir eine so große Hilfe, dass ich ihm einen dauerhaften Job anbiete. Und vielleicht schmeiße ich ihn morgen schon wieder aus dem Haus – Himmel, ich sollte ganz dringend ein Kraut gegen meine ständige Grübelei entwickeln. Einmal hü, dann wieder hott, das ist doch nicht normal und es bringt mich am Ende kein Stück weiter. Jetzt habe ich erst mal vier Kisten zu packen, dann braucht der Junge Frühstück und anschließend besorge ich ihm etwas zum Anziehen.

 

Wir werden beäugt wie wilde Affen im Zoo.

So kommt es mir zumindest vor, was aber wohl auch daran liegt, dass Alex sich ständig wie ein verschrecktes Küken hinter mir versteckt und kaum jemanden ansieht, geschweige denn, dass er etwas sagt. Und da ich genauso ungern rede, macht das unseren Ausflug leider nicht gerade leichter. Vor allem weil die Leute in der Stadt natürlich furchtbar neugierig sind, wen ich da bei mir habe. Sprich, wir werden ständig angehalten, immer höflich gegrüßt und anschließend mal mehr und mal weniger subtil ausgefragt. An meine Maulfaulheit ist man gewöhnt und dass jetzt »noch so einer« bei mir wohnt – die meisten nehmen es mit Humor.

Karl, der Besitzer der Autowerkstatt, dem wir im Geschäft von Melina McCarthy über den Weg laufen, nutzt natürlich die günstige Gelegenheit, um mich wieder wegen meines Pick-ups zu fragen, doch auch wenn der röhrt wie eine klapprige Kiste kurz vor dem Tod, lehne ich erneut ab. Nächstes Jahr oder so, falls er denn noch so lange durchhält. Karl lacht und klopft mir freundschaftlich auf die Schulter, bevor er mich alleinlässt, und ich mich dann erst mal suchend umsehen muss, denn Alex ist nirgends zu sehen.

»Alex?«

»Der Junge ist hinten bei den Hosen, John«, ruft Melina mir von der Kasse her lächelnd zu und widmet sich dann wieder Karls Einkäufen.

Melina McCarthy führt diesen gemütlichen Haushaltsladen in dritter oder vierter Generation, genau weiß ich es gar nicht. Anfangs war es wohl eine Art kleiner Konsum für Lebensmittel des täglichen Bedarfs, aber heute gibt es hier alles, was man im Haushalt so braucht, und was es nicht gibt, das bestellt sie und man kann es einen Tag später abholen.

Nun, bestellen werden wir wohl nichts müssen, denn Alex hat bereits die Kleiderabteilung gefunden, die zwar nicht groß, aber mit dem Notwendigsten ausgestattet ist. Wir besorgen für ihn eine Grundausstattung an Hosen, T-Shirts, zwei Pullovern und einer Jacke, dazu Unterwäsche, Socken und auch Schuhe. Ich erinnere mich an die fehlende Zahnbürste, darum geht es anschließend in die Ecke mit den Drogerieartikeln.

Hinterher bin ich um eine dreistellige Summe leichter und habe einen neu eingekleideten Mitbewohner, der deswegen so beschämt ist, dass er mich die gesamte Rückfahrt über kaum ansieht, aber das stört mich nicht. Außerdem ist er ein schlaues Kerlchen, das sehr schnell lernt, das merke ich dann am frühen Nachmittag, als er sich eine Weile zu mir gesellt und mich bei meiner Arbeit genau beobachtet, um schließlich seinen ersten Ernteversuch beim Salat zu starten. Und er stellt sich dabei so geschickt an, dass ich mir meine Zurechtweisung spare, dass er sich eigentlich ein paar Tage erholen soll.

Wir arbeiten gut zusammen.

Er redet nicht, ich rede nicht – es ist einfach herrlich. Daran könnte ich mich tatsächlich gewöhnen. Irgendwann geht er ins Haus und kommt mit zwei Wasserflaschen wieder, woraufhin ich mir eine Pause gönne. Wir stehen beide schweigend in den Beeten, bis Alex sich leise räuspert.

»Ja?«, frage ich, als er nichts sagt, doch das laute Grummeln seines Magens macht jede Erklärung überflüssig. »Schneid dir ein paar Scheiben Brot und bedien dich. Im Kühlschrank steht alles, was du brauchst.«

»Danke«, murmelt er und zuckt plötzlich zusammen. Sein Blick huscht zum Kiesweg und dann höre ich den Motor eines Wagens. »Ich ...« Seine Angst ist fast mit den Händen greifbar und ich reiche ihm wortlos die ausgetrunkene Flasche, damit er flüchten kann, was Alex auch umgehend tut.

Wenig später, ich habe mich schon wieder meinem Gemüse zugewandt, steigt Sheriff Drumwell hinter mir aus dem Wagen und setzt sich wie üblich erst seinen Hut auf, ehe er zu mir an den Zaun kommt. »Tag, John.« Ich nicke nur und er lacht leise. »Ihr habt mit eurer Shoppingrunde die halbe Stadt in Aufruhr versetzt.« Auf mein Schnauben hin, gluckst er heiter. »Ich weiß, aber du kennst doch die Alteingesessenen. War bei dir damals schließlich nicht anders. Wer ist der Junge?«

»Ausreißer.«

»Ich verstehe, der Landstreicher«, kontert er und wieder ist meine Antwort ein Nicken, obwohl er keine Frage gestellt hat. »Und? Behältst du ihn hier?« Ich deute schweigend auf meinen Garten. »Tolle Idee, du kannst etwas Hilfe gut gebrauchen. Wie bezahlst du ihn? Kost und Logis?« Mein nächstes Deuten mit dem Kopf gilt dem Haus und Drumwell versteht mich wie so oft. »Klar, warum nicht? Das Kinderzimmer steht ja eh leer und der kleine Kerl sieht aus, als würde er eine Menge Mahlzeiten brauchen, um wieder auf sein Normalgewicht zu kommen. Meinten zumindest Melina und Karl. Soll ich ihn überprüfen?« Kopfschütteln. »Es wäre sicherer, John.«

Darauf reagiere ich nicht, denn das weiß ich, aber ich will es trotzdem nicht. Was auch immer Alex hinter sich hat, hier ist er erst mal sicher, und früher oder später wird er mir vielleicht mehr erzählen. Dann kann ich immer noch entscheiden, ob ich Drumwell einweihe oder nicht.

»Du warst schon immer ein Sturkopf.« Ich höre, wie er sich abwendet. »Mach´s gut, John. Und hör endlich auf, mit Trisha wegen ihrer Eier zu streiten. Sie hat gestern den ganzen Abend geschimpft und am Ende gedroht, dass sie dir beim nächsten Mal einfach vier Packungen unterjubelt, statt der üblichen drei, die du immer bestellst.«

Ich kann nicht anders als ihm einen betont finsteren Blick zuzuwerfen, der Drumwell den ganzen Weg zurück zu seinem Wagen lachen lässt, bevor er mit einem letzten Winken abfährt. Dieser Kerl ist genauso eine Nervensäge wie seine Frau, die ich irgendwann mit dem Schlauch abspritzen werden. Okay, dann lande ich vermutlich im Knast, immerhin ist ihr Ehemann hier der Sheriff, aber das wäre es mit Sicherheit wert. Allein wie sie mich gestern wieder in Grund und Boden debattiert hat – dass eine Frau doch wohl einem Mann ein paar Eier schenken kann, wenn er selbst keine hat.

Wie zweideutig der Spruch war, fiel ihr erst auf, als ich sie sprachlos anstarrte. Natürlich hat sie sich nicht entschuldigt, sondern gelacht und danach fünf Dollar mehr als gefordert für ihr Gemüse in die Kasse gelegt.

»Verdammtes Weib«, schimpfe ich und rupfe dann fast eine Mohrrübe raus, statt des lästigen Unkrauts.

Vielleicht sollte ich mich Alex anschließen und eine weitere Pause machen, um noch etwas zu trinken. Die Sonne brennt eh seit dem Morgen von einem tiefblauen Himmel und hätte ich nicht meinen Strohhut auf, würde ich mit Sicherheit längst mit einem Hitzschlag in den Beeten liegen. Wie gut, dass ich in der Stadt im letzten Augenblick doch noch daran gedacht habe, für Alex ebenfalls einen zu besorgen.

Wo steckt der Junge eigentlich? Er sollte sich doch etwas zu essen machen. Scheinbar hat er seine Pläne geändert, denn im Haus ist keiner zu sehen, abgesehen von meinem Findelkind, das mit neugierig dreinschauenden Augen in seiner Kiste sitzt und mich beobachtet, während ich in die Küche stapfe, mir ein Glas Eistee einschenke und es in kleinen Schlucken austrinke. Dann hole ich die Plastikschale mit dem Futter für den Raben aus dem Schrank und verbringe die nächsten Minuten damit, ihm Insekten, Würmer und Käfer hinzuhalten. Er frisst so gut wie alles, habe ich festgestellt, was es natürlich leichter macht, für ihn zu sorgen. Am Ende nimmt er sogar eine Himbeere an, die ich erst heute Morgen vom Strauch gepflückt habe.

Das ist wirklich das Schöne daran, ein eigenes Grundstück zu besitzen. Man kann es bepflanzen wie man will, und hinten im Garten wäre für Obststräucher kein Platz gewesen. Darum habe ich sie stattdessen auf den Rasenflächen links und rechts vom Kiesweg eingesetzt, und bis auf zwei sind alle gewachsen und liefern jedes Jahr leckere Früchte. Was mir noch fehlt sind ein paar Obstbäume, aber was nicht ist, kann werden. Jetzt, mit einem weiteren Paar Hände, das mir hilft, könnte ich vielleicht expandieren. Sagt man das nicht immer so? Egal. Das hat noch jede Menge Zeit.

Und apropos Hände … »Alex? Komm her, er ist weg.«

Es dauert etwas, bis er aus seinem Zimmer tritt und neben der Couch stehenbleibt, in sicherem Abstand von mir, als wäre ich sein Feind. Wobei er sich wahrscheinlich eher von meinem ungewöhnlichen Haustier fernhalten will. Der Rabe ist ihm ein bisschen suspekt, das habe ich heute Morgen beim Frühstück bereits mitbekommen, aber er wird mit meinem gefiederten Findelkind klarkommen müssen, denn den werfe ich genauso wenig raus wie ihn.

»Wenn du doch nichts essen willst, hol dir zwei oder drei von den kleinen Weidenkörben aus dem Schrank und geh vorn an den Büschen Beeren sammeln. Ich komme gleich nach und zeige dir, welche reif sind. Ach, und Alex?« Er erstarrt förmlich und das ärgert mich plötzlich ungemein. »Das war Sheriff Sam Drumwell. Ein netter Mann. Du brauchst dich nicht immer im Haus zu verstecken, wenn jemand vorbeikommt.«

»Ich mag Menschen nicht«, erklärt Alex daraufhin kleinlaut und sieht zu Boden.

Ich verkneife mir ein genervtes Schnauben, denn er kann nichts dafür, dass ich so unerwartet schlechte Laune habe. »Ich auch nicht, aber ich lebe nun einmal davon, dass sie mein Obst und Gemüse kaufen. Und es macht sich nicht gut, wenn mein neuer Mitarbeiter sich jedes Mal ins Haus flüchtet, sobald ein Auto auf den Hof fährt.«

»Tut mir leid.«

Jetzt wirkt er so niedergeschlagen, dass mir mein Ausbruch leidtut. »Niemand in dieser Stadt tut dir etwas. Darauf gebe ich dir mein Wort, Alex.«

Er schluckt, aber dann nickt er und geht in die Küche. Kurz darauf verlässt er mit zwei Weidenkörben das Haus. Ich füttere mein Findelkind zu Ende und folge ihm anschließend raus auf den Hof, wo er mit nachdenklichem Blick beim Blumenrondell steht und auf den See schaut. Ich trete neben ihn und warte.

»Ich kann nichts. Ich bin dir keine Hilfe.«

Ersteres stimmt wahrscheinlich, zweiteres kann er aber gar nicht beurteilen, er ist schließlich noch keinen kompletten Tag bei mir. Außerdem ging es mir die ersten beiden Jahre, als ich mit dem Gemüseanbau anfing, nicht anders als ihm. Ich habe in den ersten Wochen mehr Zeit im Internet verbracht, auf der Suche nach Informationen, als im Garten. So etwas geht eben nicht von heute auf morgen. Mittlerweile habe ich insgesamt fünf gute Ernten hinter mir, für die anderen wäre Missernte wohl noch zu höflich ausgedrückt. Aber ich bin drangeblieben, habe durchgehalten und dabei jede Menge dazu gelernt. Und das kann Alex auch, das hat er vorhin bereits bewiesen.

»Im Regal stehen Bücher über den Anbau von Gemüse und Obst. Lies sie. Den Rest bringe ich dir bei.« Ich wende mich ab. »Komm. Wir haben heute noch einiges zu tun.«

»Bubbles.«

Ich halte irritiert inne. »Was?«

»Der Rabe. Er erinnert mich an ein Kinderbuch, das ich mal gelesen habe. Da gab es einen frechen Raben, der Bubbles hieß. Er sah aus wie deiner.«

Bubbles. Ein seltsamer Name für ein Tier, aber wieso nicht? Ich hatte zwar nicht vor, dem Raben überhaupt einen Namen zu geben, doch schaden wird es wohl kaum. Dann soll er eben Bubbles heißen. Mir ist es recht.

»Okay. Bubbles.« Ich fange an zu grinsen, als mir eine Idee kommt. »Aber du sagst es ihm, wenn du ihn nachher fütterst.«

Alex zuckt unbewusst zusammen und ich schlage feixend den Weg zu den Obststräuchern ein. Mal schauen, wie viel wir heute noch ernten können. Vielleicht reicht es ja schon für zwei Schälchen Nachtisch zum Abendessen.

 

 

Kapitel 5

Alex

 

 

 

 

Nach unserem eher holprigen Start vergehen die nächsten Tage wie im Flug.

Und es sind verdammt lange Tage, die mir ziemlich schnell klarmachen, dass ich für mein Alter keine Kondition und noch weniger Ausdauer habe, denn ich muss weitaus häufiger eine Pause machen als John, und nach den ersten beiden Tagen im Garten tun mir so heftig die Knochen und Muskeln weh, dass ich sogar zu kaputt bin, um mich darüber zu beschweren, dass John mir am Abend schweigend ein Bad einlässt und irgendein grünes Zeug zur Muskelentspannung ins Wasser gießt.

So als wäre ich ein Kleinkind, das bemuttert werden muss. Nun ja, in gewisser Weise muss ich das wohl auch, denn nach dem Bad schlafe ich die gesamte Nacht wie ein Baby, ohne von John aus dem Schlaf gerissen zu werden. In der ersten Nacht habe ich mich fast zu Tode erschreckt, bis mir klar wurde, dass er, so wie ich manchmal auch, einen Albtraum hat und deshalb stöhnt und wimmert.

Er scheint weitaus Schlimmeres hinter sich zu haben, seit er damals weggegangen ist, als ich zuerst dachte, aber ich werde den Teufel tun und ihn in nächster Zeit darauf ansprechen. Ich will nicht rausgeworfen werden. Es gefällt mir gut bei ihm, da kann die Arbeit noch so schwer sein, denn er kocht ungefragt für mich mit und erklärt mir soviel er kann, bis seine Stimme irgendwann aufgibt und wir dann erst mal wieder schweigen. Doch selbst das ist angenehm.

Ich bin noch keine komplette Woche in seinem Haus und fühle mich bei John Donahue trotzdem bereits wohler, als in all den Jahren bei meinem Vater im Labor.

Was auch kein Wunder ist. John käme garantiert nie auf die Idee, mich mit Nadeln zu traktieren, mir eiskaltes Wasser über einen Lappen ins Gesicht zu gießen oder auf mich zu schießen, damit ich endlich so funktioniere, wie er sich das vorstellt.

Manchmal sieht er mich nachdenklich an, und ich schätze, er fragt sich, warum ich immer so schreckhaft bin und was mir passiert ist, dass ich lieber auf der Straße lebe als zu Hause. Tja, das setzt zwar voraus, ein Zuhause zu haben, aber davon weiß er ja nichts und wenn es nach mir geht, wird er das auch nicht erfahren. Jedenfalls nicht in nächster Zeit. Mir ist es lieber, dass er mich weiterhin für einen Ausreißer hält, der über sein Alter lügt, als ihm die Wahrheit sagen zu müssen.

Mir ist fast alles recht, Hauptsache, ich muss Bubbles nicht mehr füttern. Über meinen Körper rieselt prompt eine ziemlich dicke Gänsehaut, als ich an meinen ersten und auch einzigen Versuch denke, diesen irren Vogel zu füttern. Suspekt war er mir ja von Anfang an, aber ich hätte nicht gedacht, dass so ein kleines Wesen ein derartiges Gezeter veranstalten kann.

Mein Blick fällt auf die verheilende Schramme auf meinem Handrücken, die ich dem Raben verdanke. John hat zwischen Lachen und entsetzt gucken hin und her geschwankt, während Bubbles kreischte und nach mir hackte, als wollte ich ihm an die Federn. Und ich hätte sie ihm hinterher zu gern alle einzeln ausgerupft, als John dann wirklich noch in Gelächter ausbrach, ehe er meine Hand versorgte und den Raben als »eifersüchtige Mistkrähe« betitelte, wobei er allerdings grinste, und ihn dann selbst fütterte.

Was daran lustig war, muss er mir bei Gelegenheit mal ein wenig genauer erklären, aber bis dahin halte ich mich einfach von Bubbles fern, während der mich aus kleinen Knopfaugen misstrauisch beäugt, sobald ich das Haus betrete, und da er in den letzten zwei Tagen damit angefangen hat, erste Ausflüge aus seinem provisorischen Nest zu machen – was immer recht lustig aussieht, weil er vor allem hüpft, da er noch nicht richtig fliegen kann –, werde ich wohl bald aufpassen müssen, dass er keine Angriffe auf mich fliegt, wenn ich die Tür öffne.

»Woher hast du die Schusswunde?«

Es dauert ein paar Sekunden, bis die Frage wirklich zu mir durchsickert, aber als sie es tut, erstarre ich, zerquetsche vor Schreck die vier Erdbeeren, die ich gerade gepflückt habe und mein Kopf ruckt hastig zu John herum. Er sieht mich nicht an, arbeitet einfach weiter, während mein Herz vor Angst rast und ich bei den Erdbeeren hocke und nicht weiß, was ich antworten soll. Natürlich. Er muss sie gesehen haben. So warm wie es ist, trage ich tagsüber nur noch ein T-Shirt wie er auch.

Oh Gott, was sage ich ihm jetzt bloß?

Auf keinen Fall die Wahrheit, das würde garantiert weitere Fragen bedeuten, die ich nicht beantworten kann, sonst müsste ich ihm auch die Wahrheit über das Labor erzählen, und dann wird er begreifen, wer ich bin.

Nein, das kommt nicht infrage. Ich räuspere mich. »Das ist keine Schusswunde.«

»Ach nein?«, kontert er und klingt irgendwie seltsam, so als wüsste er, dass ich lüge. Weiß er vermutlich auch oder er ahnt zumindest irgendwas. Aus purer Langeweile wird er die Frage nach der Schusswunde kaum gestellt haben.

»Woher willst du wissen, dass es eine ist?«, will ich wissen, weil ich mich auf einmal in die Ecke gedrängt fühle und das gefällt mir überhaupt nicht. Es passt auch nicht zu ihm, was mich zusätzlich nervös macht. Was hat er vor?

»Wusste ich nicht. Deine Reaktion hat es mir verraten.«

Meine Reaktion? Was soll denn das nun wieder heißen? Ich habe eben nur gesagt, dass es keine Schusswunde ist. »Ich weiß nicht, was du meinst.«

»Lügner.«

Langsam werde ich sauer. Er kann sich doch nicht einfach hinstellen und mich als Lügner betiteln. Was denkt er sich bloß dabei? Und wieso will er das überhaupt wissen? Ja, gut, er hat recht, aber wenn ihm nicht passt, dass ich weiter hier bin, soll er mir das sagen, dann gehe ich halt wieder.

»Du … Das ist … Ich habe nicht ...«

Ich verstumme abrupt, als ich plötzlich dieselbe Wärme in mir fühle, wie an dem Tag, als ich …

Oh mein Gott.

Nein. Stopp. Aufhören!

Das darf nicht passieren. Ich will nicht, dass es ihm so geht wie dem anderen Soldaten im Labor. Er war immer nett zu mir, seit ich hier bin.

Ihm darf nichts passieren.

Niemals.

Tief durchatmend wende ich mich von John ab und wieder den Erdbeeren zu. Ruhe. Stille. Ich kann das. Ruhig bleiben. Er will doch gar nicht streiten. Er will mich auch nicht absichtlich aufregen oder wütend machen. Er hat nur eine Frage gestellt, sonst nichts. Und so muss ich es sehen. Keine Aufregung, keine Wut, kein Zorn. Ich atme weiter gleichmäßig ein und aus und ein und aus, bis ich völlig überraschend seine Hand auf meiner Schulter fühle und vor Schreck laut aufschreie, beiseite springe und zusammenzucke. Alles gleichzeitig.

Ich lande drei Reihen weiter rücklings im Kohlrabi, total in Panik, weil ich auf einmal wieder die eisigen Hände der Ärzte auf mir fühlen kann, und mir wird so übel, dass ich mich fast übergeben muss. Es ist allein Johns schockierter Blick, der das verhindert, weil unübersehbar ist, dass er das nicht wollte, und dann lässt er mich plötzlich wortlos liegen und geht ins Haus. Er kommt mit zwei Wasserflaschen wieder nach draußen, von denen er mir eine reicht und mehrere Schlucke trinkt, bevor er mich erneut anschaut. Jetzt ist sein Blick voller Mitgefühl und das treibt mir die Tränen in die Augen.

»Wenn du irgendwann darüber reden willst, höre ich zu.«

Und das war´s.

Er sagt nichts mehr, sondern dreht mir einfach den Rücken zu, um weiterzuarbeiten, und macht damit genau das Richtige, wahrscheinlich ohne es zu wissen, denn die Wärme in mir lässt genauso schnell nach wie sie gekommen ist, und am Ende leere ich die Flasche in wenigen Zügen, ehe ich mich daran mache, die platten Kohlrabi zu retten. Verkaufen kann er sie jetzt wohl nicht mehr, aber wir können sie immer noch essen oder auch in einen Eintopf geben.

John macht nämlich tolle Eintöpfe. Nicht nur das, er kocht überhaupt richtig super. Ich könnte nicht mal ein Frühstücksei machen, doch ich liebe es, wenn er das Ei so hinbekommt, dass das Gelbe noch flüssig ist. Es gelingt ihm nicht immer, deshalb ist jedes Frühstücksei eine Überraschung, die heute früh dafür sorgte, dass ich das Eigelb am Ende auf meinem T-Shirt hatte und John empört ansah, weil der natürlich prompt lachte.

Warum er selbst morgens nur selten etwas isst, ist mir echt ein Rätsel, weil ich eigentlich ständig Hunger habe, aber John stört das nicht. Er backt einfach zwei Brote in der Woche, statt einem, und nimmt einen größeren Topf für das Mittagessen.

Er beklagt sich nicht, schimpft nicht und er gibt mir nie das Gefühl, ein Störfaktor zu sein. Ich glaube, ich bin ihm wirklich willkommen und ich bete und hoffe, dass das nach dem Vorfall eben auch so bleibt.

Und wenn ich es John sage? Zumindest, dass er recht hatte.

Ich muss ja nicht ins Detail gehen. Wenn ich ihm sage, dass das eine Schusswunde ist, ich aber noch nicht mit ihm darüber reden kann, akzeptiert er das bestimmt. Das hat er immer, seit ich bei ihm bin. Ich hätte es gleich so machen sollen, statt mich derart zu erschrecken und das Schlimmste anzunehmen. John ist nicht mein Vater oder einer von den Wissenschaftlern. Er ist nett und er war immer gut zu mir, wieso sollte das auf einmal anders sein?

Ich kann ihm vertrauen, das fühle ich ganz tief in mir drin, obwohl ich nicht erklären kann, warum ich so fühle. Aber das muss ich ja auch gar nicht, oder?

Es dauert noch eine Weile, die wir schweigend arbeiten, bis ich endlich den Mut aufbringe, mich ihm erneut zuzuwenden. »John?« Er sagt nichts, neigt aber den Kopf in meine Richtung. »Du hast recht. Es ist eine Schusswunde.« Ein leichtes Nicken ist seine einzige Reaktion und das macht es mir seltsamerweise leichter weiterzusprechen. »Ich kann noch nicht darüber reden … Ist das okay?«

»Ja.«

Kurz, knapp, ehrlich. Ich stoße erleichtert die Luft aus, von der ich gar nicht bemerkt hatte, dass ich sie vor lauter Sorge, wie er reagieren könnte, angehalten habe. »Danke.« Mein Blick fällt auf die von meinem Hintern ramponierten Kohlrabi und ich schürze zögernd die Lippen. Ach, verflixt noch mal. Schluss damit. Ich frage ihn jetzt einfach und damit basta. »Können wir aus den Kohlrabi heute Abend einen Eintopf machen?«

John lacht leise und sieht zu mir. »Ich wollte uns heute, zur Feier des Tages, eigentlich ein Steak braten.«

»Welche Feier?«, frage ich irritiert.

»Du bist heute eine Woche hier.«

»So was feiert man?« Ich sehe vermutlich genauso verdutzt aus, wie meine Stimme klingt, denn er zuckt die Schultern und richtet seinen Blick wieder auf die Karotten vor ihm.

»Warum denn nicht?«

Okay, wenn er das sagt, wird es wohl stimmen, mich bringt er damit jedenfalls mächtig ins Grübeln, denn es ist lange her, dass ich zum letzten Mal irgendetwas gefeiert habe. Anfangs habe ich jedes Jahr zu meinem Geburtstag und an Weihnachten Geschenke bekommen, aber als ich sechzehn Jahre alt wurde, erklärte mir mein Vater, ich wäre zu alt für solche Kindereien und dann gab es nichts mehr. Die Wissenschaftler stellten zwar zu Weihnachten immer einen hübsch geschmückten Baum in der Mensa auf und es gab mehr Essen, vor allem Nachtisch, als üblich, aber das war auch alles. Als wäre ein Geburtstag völlig unwichtig, dabei erinnere ich mich noch gut daran, wie Tante Alice früher immer extra für mich Kuchen gebacken hat.

Sie war völlig anders als mein Vater und John ist auch ganz anders, denn auf die Idee, meine erste Woche Anwesenheit im Labor mit einem Steak zu feiern, wäre mein eigener Vater mit Sicherheit nie gekommen.

Ich runzle überlegend die Stirn.

Welcher Tag ist heute eigentlich? Donnerstag, das weiß ich natürlich, denn John hat das heute früh erwähnt, da heute und morgen oft Extrabestellungen für das anstehende Wochenende in den Block geschrieben werden, der bei der Kasse liegt, und ich mich nicht wundern soll. Nein, ich meine das Datum. Juni? Ich denke einige Zeit darüber nach, aber ich bin mir wirklich nicht sicher, weil es hier draußen egal zu sein scheint, genauso wie es im Labor egal war.

Am Ende war mir so gut wie alles egal, weil ich diesen Ort nie mehr lebend verlassen würde – jedenfalls habe ich das bis zu jenem schicksalhaften Tag geglaubt.

»Welcher Tag ist heute?«

Ich weiß gar nicht, warum ich das frage, aber John hat mich gehört, denn er hält inne und dreht sich zu mir. Fragend. Auch ein bisschen verwundert, wie mir scheint, aber dann erhebt er sich, streckt sich einmal, wobei einige seiner Knochen knacken, und sieht anschließend zu mir herunter.

»Donnerstag, der 13. Juni 2019.«

»Oh«, rutscht mir perplex heraus, denn ich hatte vorgestern Geburtstag. John sieht mich fragend an und ich fühle mich rot werden, weil mir mein Ausbruch peinlich ist. »Ich hab´s völlig vergessen.«

»Was?«

»Meinen Geburtstag.«

John blinzelt überrascht. »Du hast heute Geburtstag?«

Ich schüttle den Kopf. »Vorgestern.« Die nächste Reaktion ist ein Schulterzucken, ehe ich zu Boden sehe. »Hab nicht mehr gefeiert, seit … seit ich sechzehn geworden bin.«

»Alex?« John wartet, bis ich zu ihm aufblicke. »Wie alt bist du? Sag mir bitte die Wahrheit.«

Ich seufze leise und deprimiert, denn das habe ich. Es gibt vieles, was er nicht weiß, aber was mein Alter angeht, habe ich sofort die Wahrheit gesagt. »Ich habe dich nicht angelogen. Ich bin einundzwanzig Jahre alt. Na ja, jetzt zweiundzwanzig.«

»Mein Gott«, flüstert er betroffen. »So lange lebst du schon auf der Straße?«

Ja. Sag es einfach. Ja. Es ist bloß ein Wort. Es wäre so leicht und würde ihm wahrscheinlich so vieles an meinem Verhalten und überhaupt erklären, aber ich bringe es trotzdem nicht über meine Lippen, weil es eine Lüge wäre. Und ich will John nicht anlügen. Ich kann ihm nicht die Wahrheit sagen, vielleicht nie, aber ich will ihn auch nicht belügen.

»Nein«, antworte ich deshalb leise und beschämt. »Auf der Straße habe ich nur knapp zwei Wochen gelebt, bis du mich bei dir aufgenommen hast.«

»Und wo warst du davor?«

»Ich ...« Gott, warum ist das nur so schwer? Kopfschüttelnd lasse ich mich auf meine Fersen sinken, obwohl mir jetzt schon die Beine einschlafen, weil ich bereits eine gefühlte Ewigkeit in dem Beet hocke. »Ich kann nicht … Tut mir leid.«

»In Ordnung«, sagt John überraschend schnell und hält mir eine Hand hin. Ich sehe sie misstrauisch an. »Komm hoch. Wir haben uns eine Pause verdient. Außerdem will ich nachsehen, ob Bubbles wieder auf Wanderschaft gegangen ist.«

Ich ziehe prompt eine gequälte Grimasse und John gluckst heiter, während er mir weiterhin geduldig seine Hand hinhält, bis ich sie ergreife und mich von ihm auf die Füße ziehen lasse. Dann stehen wir uns eine ganze Weile schweigend gegenüber und ich warte darauf, dass meine Beine nicht mehr prickeln, bis wir schlussendlich anfangen zu grinsen, als hätten wir uns abgesprochen. Aber meine Belustigung verfliegt schnell, als ich daran denke, mit John ins Haus zu gehen. Früher oder später wird der vermaledeite Rabe fliegen können und dann dürfte es erst so richtig lustig werden. Zumindest für John.

»Dieser Vogel hasst mich«, grummle ich und hebe die leere Wasserflasche von vorhin auf, um sie mit reinzunehmen. John tut es mir nach, grinst dabei aber. »Was?«, frage ich beleidigt, obwohl ich schon ahne, was gleich kommt.

»Er hasst dich nicht.« Das Grinsen wird breiter. »Ich würde, wenn ich du wäre, die Tür zu deinem Zimmer trotzdem lieber immer geschlossen halten, bevor er beschließt, dir bei nächster Gelegenheit aufs Kopfkissen zu kacken.«

»Ha, ha, ha, sehr witzig«, nörgle ich, muss dann aber doch kichern, als John anfängt zu lachen.

 

 

Kapitel 6

John

 

 

 

 

»Du könntest expandieren.«

Es ist nicht das erste Mal, dass Trisha Drumwell mir diesen Vorschlag macht, allerdings hat sie bisher nie ihren Mann zur Unterstützung mitgebracht, obwohl der nicht mal bei uns ist, sondern in sicherer Entfernung an seinem Auto lehnt und mit belustigtem Gesichtsausdruck die Erdbeeren futtert, die seine freundliche und beizeiten etwas lästige Ehefrau vor zwei Tagen bei mir geordert hat.

»Ich weiß, dass die Leute immer mehr bei dir bestellen und dich mittlerweile auch nach Kartoffeln, Gurken und sogar Kohl fragen. Platz genug hättest du, wenn du deinen Gemüsegarten um ein paar Quadratmeter erweiterst und dein Gewächshaus ebenfalls passend dazu ausbaust. Obstbäume wären auch eine Überlegung wert, findest du nicht?«

Sie läuft hinter dem Zaun auf und ab, weil sie genau weiß, dass ich es gar nicht mag, wenn man meinen Garten einfach so betritt, ohne vorher zu fragen. Ich mag es allgemein nicht, aber im Sommer, zum Beispiel in der Erdbeerzeit, lässt es sich kaum vermeiden, doch bis es soweit ist, dauert es noch einige Tage und Trisha ist ohnehin nicht für Erdbeeren zu mir gekommen, sondern sie hat irgendetwas vor, was ich mit Sicherheit gleich erfahren werde.

Vermutlich wird es mir nicht gefallen.

»Bau dir ein paar Insektenhäuser, die du überall hinhängen kannst, und schon hast du die Bestäubung für die Obstbäume frei Haus. Ich habe selbst schon überlegt, mir ein oder zwei Bienenvölker für Honig zuzulegen, aber wenn ich noch mehr arbeite, lässt Sam sich wahrscheinlich von mir scheiden und unsere Söhne reden mich nur noch mit Nachnamen an, weil sie sich nicht mehr daran erinnern, wie ich aussehe.«

»Du übertreibst, Schatz«, ruft Sheriff Drumwell vom Auto her und ich verkneife mir ein Schnauben. Diese Frau liebt ihre Familie und ihre drei Söhne, sie würde sie nie vernachlässigen, Arbeit hin oder her. Deshalb stellt sie auch ständig neue Leute ein, damit sie Zeit für ihr Privatleben hat.

Nun ja, und für die Privatleben aller anderen Leute – unter anderem meines.

Ich werde wohl nie vergessen, wie sie sich vor vier Jahren mit Patricia und ein paar anderen Frauen aus dem Leseclub in der Stadtbibliothek zusammengetan hat, um mich an die Frau zu bringen. Der arme John Donahue braucht doch eine Ehefrau und mindestens zwei Kinder. Himmel hilf. Ich hatte nur Glück, dass Sandy Miller, meine zukünftige Ehefrau, Mitleid mit mir hatte und mich schließlich ins Bild setzte, warum sie in diesem Sommer ständig bei mir auftauchte. Daraufhin habe ich mich genötigt gefühlt, ihr zu erklären, dass sie einerseits zwar zwei Körperteile zu viel, aber andererseits auch eines zu wenig hat, um für mich interessant zu sein, was bei meinem Gebrummel eine geschlagene Stunde dauerte – am Ende hat sie gelacht, mir vorgeschlagen, doch mit Andy Forsett aus dem Blumenladen auszugehen und hat mir dann kurzerhand, für ein paar Dollar die Stunde, besagten Sommer lang im Garten geholfen, ehe sie im Herbst mit einem Stipendium an die Uni nach Minneapolis gegangen ist.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752119282
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (November)
Schlagworte
schwul Romance Pyrokinese Liebe Science Fiction

Autor

  • Mathilda Grace (Autor:in)

Aufgewachsen in einem kleinen Dorf im tiefsten Osten von Deutschland, lebe ich heute in einer Großstadt in NRW und arbeite als Schriftstellerin. Seit 2002 schreibe ich Kurzgeschichten und Romane, bevorzugt in den Bereichen Schwule Geschichten, Drama, Fantasy, Thriller und Romanzen. Weitere Informationen zu meinen Büchern, sowie aktuelle News zu kommenden Veröffentlichungen, findet ihr auf meiner Homepage.
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Titel: Liebe im Auge des Feuers