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Der Moment der Wahrheit - Teil 1

von Mathilda Grace (Autor:in)
380 Seiten

Zusammenfassung

Marc Tears ist todkrank und ein begeisterter Fan der Band 'Desert Sand', aber vor allem von Leadsänger Jackson Connor. Er wünscht sich nichts sehnlicher, als seinen Star wenigstens einmal persönlich zu treffen. Daher zögert Janek nicht, seinem kleinen Bruder den Lebenstraum zu erfüllen, als er die Möglichkeit dazu erhält. Janek ahnt nicht, welchen Stein er damit ins Rollen bringt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Marc Tears ist todkrank und ein begeisterter Fan der Band 'Desert Sand', aber vor allem von Leadsänger Jackson Connor. Er wünscht sich nichts sehnlicher, als seinen Star wenigstens einmal persönlich zu treffen. Daher zögert Janek nicht, seinem kleinen Bruder den Lebenstraum zu erfüllen, als er die Möglichkeit dazu erhält. Janek ahnt nicht, welchen Stein er damit ins Rollen bringt.

 

 

1

 

 

 

 

„Oh mein Gott, da ist Rafe.“

„Wer?“, fragte Janek gespielt uninteressiert und sah weiter konzentriert auf den Bildschirm seines Laptops, der ihm momentan den aktualisierten Terminplan seiner Agentur herunterlud.

„Rafe Connor, Jacksons Bruder. Janek, jetzt tu' doch nicht so, du weißt genau, wer er ist. Shit, er sieht her.“

Janek verkniff sich ein Lachen, als Marc neben ihm, vor Aufregung, auf der Couch herumzurutschen begann. Natürlich wusste er, wer Rafe Connor war, genauso wie es schon lange kein Geheimnis mehr war, dass er und die restlichen Mitglieder der Band morgen Abend hier in der Stadt ein Konzert gaben. Das hieß aber noch lange nicht, dass Janek sich nicht unwissend stellen und Marc damit ärgern durfte. Nur darum war er schließlich mit seinem kleinen Bruder hier im Hotel.

Offiziell, um einen wichtigen, geschäftlichen Termin für seine Agentur zu erledigen und danach mit Marc ins Kino zu gehen. Inoffiziell, weil Janek durch seinen Job wusste, dass die Rockband 'Desert Sand' für vier Tage in diesem Hotel residierte und er gehofft hatte, dass Marc auf diese Art einen Blick auf sein Idol Jackson Connor erhaschen konnte. Rafe war zwar nicht sein Bruder, aber ein guter Anfang.

„Kein Wunder, so wie du hibbelst. Das würde selbst einem Blinden auffallen“, stichelte Janek und speicherte die eben heruntergeladene Datei ab, während er auf die Uhr seines Laptops blickte. Sein Termin hatte noch zehn Minuten Zeit. Sobald Janek mit Martin Evans wegen der kurzfristigen Planänderung gesprochen hatte, war für heute Feierabend, und ab kommender Woche ging er in einen unbefristeten, unbezahlten Urlaub. Janek wusste zwar noch nicht, wie er Marc davon erzählen sollte, aber das würde sich finden.

„Gar nicht wahr“, schmollte sein Bruder und riss ihn aus seinen Gedanken.

„Na und ob“, kam Janek auf ihr Gespräch zurück und schloss das E-Mail Programm. „Es fehlt bloß noch, dass du ihm zuwinkst.“

„Das würde ich niemals tun“, empörte sich Marc mit der Inbrunst eines fast 15-jährigen Teenagers, der wegen seiner Lieblingsband veralbert wurde, und stutzte im nächsten Moment.

Gleich kam es. Janek konnte sein Amüsement nur mit Mühe verbergen.

„Woher willst du überhaupt wissen, ob ich hibble? Du starrst doch die ganze Zeit auf deinen blöden Laptop.“

Bingo! Janek lachte in sich hinein. „Ich arbeite, im Gegensatz zu anderen Leuten, die sinnlos herumlungern und schmachten wie ein Mädchen, obwohl sie eigentlich Hausaufgaben machen sollten“, konterte er trocken und bemerkte aus dem Augenwinkel, dass Rafe Connor die nicht gerade leise Unterhaltung zwischen ihnen längst neugierig verfolgte. So wie der Drummer grinste, fand er das Ganze definitiv amüsant. „Außerdem vibriert die ganze Couch von deinem Gezappel. Geh einfach hin und frag' ihn nach einem Autogramm. Vielleicht verrät er dir ja sogar, ob Jackson bald herunterkommt, damit du ihn auch noch anschmachten kannst.“

Marc schwieg verblüfft, um ihm im nächsten Moment den Ellbogen in die Seite zu stoßen. „Du bist echt doof.“

„Und du ein begeisterter Fan“, stichelte Janek frech und sah grinsend auf. Marc hatte rote Wangen und linste ständig durch seinen Pony in Richtung Empfangstresen, an dem Rafe Connor so tat, als hätte er keine Ahnung, dass er zwischen ihnen das Hauptgesprächsthema war.

Janek kämpfte gegen sein aufsteigendes Lachen. Sein Plan hatte weitaus besser funktioniert als erwartet. Die Empfangshalle des Hotels war um diese Uhrzeit relativ leer, bei vollem Betrieb wäre es schwieriger gewesen, an die Männer heranzukommen. Vielleicht tauchte Jackson doch noch auf, und selbst wenn nicht, war es Janek auch egal. Spätestens morgen würde Marc ihn ohnehin sehen, denn die Tickets für das Konzert der Band lagen bereits bei ihnen zu Hause, versteckt in Janeks Schlafzimmer.

Morgen wurde Marc fünfzehn Jahre alt. Gab es da ein passenderes Geschenk, als einen Konzertbesuch seiner Lieblingsband?

Plötzlich fielen ihm Marcs veränderte Atemgeräusche auf. „Du fängst an zu hyperventilieren“, warnte er leise. Marc sah ihn zuerst überrascht an, dann konzentrierte er sich darauf, gleichmäßige, tiefe Atemzüge zu machen. „Gut so“, murmelte Janek, als Marc ruhiger wurde, und sah wieder zum Empfang. Rafe war weg. Schade, dachte er, aber zumindest hatte Marc einen der beiden Connors gesehen.

„Mister Tears?“

Janek erhob sich, als er Martin Evans entdeckte, der mit ausladenden Schritten auf sie zukam. Er streckte die Hand aus, um ihn zu begrüßen. „Mister Evans. Danke, dass Sie sich so kurzfristig Zeit nehmen konnten.“

Der große, schlanke Mann in den Dreißigern, nahm die angebotene Hand mit einem, in Janeks Augen, etwas zu einladenden Lächeln. „Wie hätte ich eine freundliche Bitte guten Gewissens absagen können?“

Na wunderbar, ein Charmeur. Und offenbar schwul. Janek ließ sich seine Überraschung nicht anmerken. Das hatte ihm heute gerade noch gefehlt. Da er aus seinem Interesse am gleichen Geschlecht niemals ein Geheimnis gemacht hatte, kam es immer wieder vor, dass er von Kunden der Agentur angebaggert wurde. Janek ließ sich nie darauf ein, deswegen ignorierte er das Lächeln von Evans und schaute über seine Schulter zu Marc, der den Mann misstrauisch beäugte.

„Passt du auf meine Sachen auf? Ich brauche nicht lange.“ Marc nickte zustimmend, aber sein ablehnender Blick zeigte Janek deutlich, dass Marc von Evans nicht viel hielt. Da waren sie einer Meinung, nur würde Janek sich hüten, das zu zeigen. „Danke.“ Er zwinkerte Marc zu und sah zurück zu seinem Kunden. „Wollen wir?“

 

Zwanzig Minuten später trat Janek mit einem wie eingefroren wirkenden Lächeln aus dem Fahrstuhl in die Empfangshalle. Gott sei Dank hatte er mit Martin Evans keine weiteren Termine mehr. So ein ekelhafter Mistkerl. Warum benahmen sich Typen, die wussten, dass sie gut aussahen, eigentlich immer wie Hirsche zur Brunftzeit? Und wieso waren diese Männer der Meinung, dass jeder Mensch ihnen automatisch und sofort zu verfallen hatte? Ganz egal, ob sie weiblich oder männlich waren.

Janek hatte schon einige, unangenehme Termine für die Agentur ertragen müssen, aber Männer wie Martin Evans waren in seinen Augen die Schlimmsten. Er prüfte mit einem Blick in die verspiegelten Wände neben sich, ob sein Schlips wieder gerade saß, da er Evans zuvor mit einer deutlichen Geste in seine Schranken hatte weisen müssen. Alles in Ordnung, entschied er, und strebte mit langen Schritten auf die große Sitzecke zu, wo Marc auf ihn wartete, um im nächsten Moment abrupt stehen zu bleiben.

Was, zum Kuckuck ...?

Marc saß noch da, sein Laptop lag ebenfalls noch auf dem Tisch, genau wie die dazugehörige Tasche und alles andere, was er hier zurückgelassen hatte. Nur saß jetzt neben seinem Bruder Jackson Connor auf der Couch und gestikulierte gerade heftig mit beiden Händen, während Rafe und der dritte im Bunde, Bennett Fields, zwei der Sessel gegenüber in Beschlag genommen hatten. Janek runzelte die Stirn. War Rafe etwa noch mal aufgetaucht und Marc hatte die Gelegenheit genutzt?

Nun, wieso nicht? Schüchtern war sein kleiner Bruder nicht, eher zurückhaltend und vorsichtig. Was bei seiner Vorgeschichte aber auch kein Wunder war. Janek schob die unangenehmen Erinnerungen zur Seite, und trat auf die Gruppe zu.

„Darf man stören?“

Jackson Connor hielt verdutzt inne, beide Hände in der Luft. Dann grinste er und nahm sie runter. „Ah, der große Bruder. Hi. Ich spare mir, uns vorzustellen. Wenn Marcs Tapete wirklich keine mehr ist, weißt du sowieso, wer wir sind, und dank Marc wissen wir auch ungefähr, wer du bist.“

Janek sah fragend zu Marc. „Will ich wissen, was du den Gentlemen über mich erzählt hast?“

Marc grinste betont unschuldig. „Äh ... nö?“

Janek konnte nicht anders und stöhnte leise auf, was sämtliche Mitglieder der Band in Gelächter ausbrechen ließ. Er setzte sich kopfschüttelnd neben Jackson und begann seinen Laptop einzupacken. Der Sänger ließ sich davon nicht stören, sondern redete ungeniert mit Marc weiter.

Janek hörte ihnen nicht zu, das hier war Marcs Welt, und er hatte nicht vor, ihm den Spaß zu verderben. Auch wenn er die Musik der Band, dank Marc, so gut wie in und auswendig kannte, war er kein Fan. Außerdem kam man schnell auf den Boden der Tatsachen zurück, wenn man in einer Eventagentur arbeitete und ständig mit kuriosen Sonderwünschen von verwöhnten Reichen und Schönen konfrontiert wurde, die sich für etwas Besseres hielten. Rockmusiker waren da oft eine angenehme Ausnahme. Allerdings nur, sofern sie in der Mehrzahl auftraten und männlich waren. Diese Erfahrung hatte zumindest Janek in den letzten sechs Jahren gemacht.

„Da fällt mir ein, wieso kommst du morgen nicht zum Konzert? Dann könntest du mir die Bilder mitbringen.“

Janek sah auf. „Was für Bilder?“

Marc grinste ihn breit an. „Jackson will einen Beweis, dass meine Tapete unter den tausend Postern von den Jungs wirklich nicht mehr zu erkennen ist, also hab' ich ihm gesagt, ich kann ihm gerne Fotos schicken, wenn er will.“

„Er will“, mischte sich Jackson leise lachend ein und begann seine Jackentaschen zu durchforsten. „Ich hatte doch irgendwo ...“, murmelte er dabei, bis Janek sich das Ganze nicht länger mit ansehen konnte und ihm seinen Kugelschreiber hinhielt. „Danke.“ Jacksons Blick wurde bittend. „Du hast nicht zufällig einen Zettel oder so was dabei? Deine Visitenkarte würde auch reichen.“

„Jackson, du bist echt unmöglich“, mischte sich Rafe von seinem Sessel aus ein, während Bennett leise lachte, was Janek irritiert die Stirn runzeln ließ, bis ihm aufging, was die beiden dermaßen amüsierte. Seine Visitenkarte wollte der Sänger? Na warte, dachte er, und sah Jackson betont unschuldig an.

„Tut mir ja schrecklich leid, aber ich gebe Männern, die jünger aussehen als ich, obwohl sie älter sind, schon aus Prinzip niemals meine Visitenkarte.“

Was hätte Janek jetzt alles für eine Kamera gegeben. Jacksons Blick war nicht mit Gold aufzuwiegen. Mit dem Konter hatte er augenscheinlich nicht gerechnet. Janek versuchte mit aller Macht sein aufsteigendes Lachen zu unterdrücken. Es war ein Kampf gegen Windmühlen und fiel auch dem Rest der Gruppe auf, besonders Marc.

„Janek!“, empörte er sich da auch schon, und ab dem Augenblick war es mit Janeks Beherrschung vorbei. Er lachte los, ebenso wie Rafe und Bennett, was ihnen allen einen finsteren Blick von Jackson einbrachte, der seinen älteren Bruder allerdings nicht störte, so wie er Jackson kurz darauf angrinste.

„Abgeblitzt, Brüderchen.“

Bennett entschuldigte sich noch immer lachend, weil sein Handy zu klingeln begann, während Marc ihn völlig entrüstet ansah. Typisch Teenager. Janek zwinkerte ihm zu und sah dann zu Jackson.

„Hat diese Anmache jemals funktioniert?“, wollte er wissen und schmunzelte.

„Du hast gerade mein Ego ruiniert, aber ich werde es männlich ertragen“, antwortete Jackson und grinste ihn an. „Also? Was ist nun mit dem Konzert? Wollt ihr?“

Marc konnte seine Begeisterung über die Einladung nicht verbergen, schüttelte aber dennoch den Kopf und blickte dabei verlegen auf seine Jeans. „Ich würde gerne, aber es geht nicht.“

„Und warum nicht?“, fragte Rafe, bevor Jackson es tun konnte. „Zu viele Hausaufgaben?“

Marc lachte, bevor er die Schultern zuckte. „Das auch, aber ich darf erst auf eure Konzerte, wenn ich sechzehn bin. Da ich morgen allerdings erst fünfzehn werde, muss ich noch ein Jahr warten.“

Rafe nickte zwar, warf Janek aber gleichzeitig einen fragenden Blick zu, den er ignorierte. Er hatte nicht vor, hier und überhaupt Marcs Lebensgeschichte zu erzählen. Das ging diese Männer nichts an. Und Rafe schien das akzeptieren zu können, bei Jackson sah die Sache jedoch anders aus, wie seine folgenden Worte bewiesen.

„Vielleicht können wir deinen Bruder überreden. Man wird schließlich nur einmal fünfzehn.“

Jackson sah zu ihm und Janek verdrehte die Augen, was den Musiker grinsen ließ. Das war ja klar, dachte er, als Marc ihm einen bittenden Blick zuwarf. Mit seinem großen Idol im Rücken musste er versuchen, sich gegen die Regeln aufzulehnen. Etwas anderes hätte Janek auch gewundert, um ehrlich zu sein. Trotzdem würde er nicht nachgeben und sich von Jackson die Überraschung für Marcs Geburtstag verderben lassen.

Janek schüttelte den Kopf. „Sieh mich nicht so an. Du kennst die Regeln.“

„Es sind doch nur ein paar Stunden. Bitte, Janek. Ich tu' auch alles, was du sagst, versprochen“, bettelte Marc, ganz der typische Teenager, der er war. Janek antwortete nicht, sah Marc nur an, was mehr sagte, als jedes weitere Wort es hätte tun können. „Okay, dann nächstes Jahr. Wir haben sowieso keine Karten.“

„Ach was“, meinte Jackson mit einer wegwerfenden Handbewegung, obwohl in seinen blauen Augen dieselbe Frage stand, die Janek zuvor in Rafes gesehen hatte. „Ich bringe euch ohne Karten aufs Konzert, immerhin bin ich der Sänger. Das wäre das geringste Problem.“

Marc sah ihn bettelnd an. „Janek?“

„Was soll das hier?“ Janek schwankte zwischen Ärger und Belustigung. „Eine Verschwörung gegen den großen Bruder?“

Rafe murmelte etwas, das Janek nicht verstand, aber er konnte sich denken, worum es ging. Immerhin war Rafe ebenfalls der ältere Bruder und wenn nur die Hälfte der Gerüchte stimmte, die über Jackson Connor seit Jahren in Umlauf waren, hatte er ständig alle Hände voll zu tun, ihn vom Dummheiten anstellen abzuhalten.

„Bitte, Janek. Weshalb hast du mich denn sonst heute mit hierher genommen?“, setzte Marc noch einen oben drauf.

Janek seufzte tief auf. Er wurde hier gerade von allen Seiten verraten, es war nicht zu fassen. „Na warum wohl, hm? Damit du möglicherweise einen Blick auf Jackson werfen kannst, was ja auch funktioniert hat, oder?“

Marc sah grinsend zu Jackson. „Und ob.“

Der Sänger lachte und sah ihn auffordernd an. „Und? Wie sieht's aus?“

Janek verdrehte die Augen und gab sich geschlagen. Adieu, Überraschung. „Lass deine Einladung stecken, ich habe schon zwei Karten zu Hause.“

Marc machte ein ersticktes Geräusch und als Janek zu ihm sah, hätte er sich erneut eine Kamera gewünscht. Überraschung, Freude und Fassungslosigkeit wechselten sich in Marcs Gesicht ab, bis er schlussendlich mit einem überglücklichen Lächeln dasaß.

„Du schenkst mir Konzertkarten?“, fragte sein Bruder nach, was Janek lächelnd nicken ließ. „Wirklich? Für das Konzert von den Jungs morgen Abend?“

Janek nickte wiederholt. „Wie hat Jackson gerade so schön gesagt? Man wird nur einmal fünfzehn.“

Marc sprang mit einem Jubelschrei von der Couch, umrundete Jackson und dann hatte Janek seinen Bruder praktisch am Hals hängen, als der ihn heftig umarmte.

„Danke.“

„Es ist zwar etwas früh, aber egal ... Happy Birthday“, murmelte Janek in Marcs Ohr und schloss die Augen, um zu verhindern, dass die Connors mitbekamen, wie er gegen die Tränen ankämpfte.

 

 

2

 

 

 

 

Obwohl Janek den Menschenmassen, von denen der Großteil garantiert noch keine achtzehn Jahre alt, dafür aber weiblich war, dem Krach bei dem Konzert und der Musik nicht viel abgewinnen konnte, musste er sich eingestehen, dass Jackson Connor ein Schauspieler vor dem Herrn war. Was er nur mit den tiefblauen Augen anstellte, verdiente in seinen Augen die Bezeichnung umwerfend. Dazu die klasse Stimme, die man ihm nun wirklich nicht absprechen konnte, obwohl er die meiste Zeit eher schrie, als sang. Das war bei der Art von Musik offenbar so üblich. Und da Jackson Connor alles andere als hässlich war, wunderte es Janek nicht, dass vor allem junge Mädchen auf ihn abfuhren.

Janek gestand sich ein, dass er beeindruckt war von dem, was dieser Musiker auf der Bühne fabrizierte. Kein Wunder, dass Marc verrückt nach dem Mann war, und heute mehr Geduld bewiesen hatte, als er von seinem Bruder erwartet hatte, denn ohne Marcs Dickköpfigkeit wären sie nicht einmal bis zum Einlass gekommen. Wie man freiwillig über Stunden hinweg in der Kälte stehen konnte, nur um einen Musiker für ein bis zwei Stunden live sehen zu können; Janek hatte den Sinn dahinter nie verstanden – bis jetzt.

Jacksons Präsenz auf der Bühne, diese Art und Weise, wie er mit seinen Fans kokettierte, ohne dabei anrüchig zu sein, und wie er sich selbst zum Teil auf die Schippe nahm, brachte einfach jeden in der kleinen Konzerthalle zum Lachen, auch Janek.

Während er mit ein paar wenigen Leuten abseits der Bühne auf das Ende der Show wartete, fragte sich Janek, wie solche Abende verliefen, wenn die Band Auftritte in Großstädten wie Los Angeles oder New York absolvierte. Boston war zwar nicht gerade klein, mit einer Metropole wie New York City jedoch kaum vergleichbar. Vielleicht trat 'Desert Sand' ja auch lieber in kleineren Städten auf, wer wusste das schon. Marc hatte ihm zwar erzählt, dass im nächsten Frühjahr eine große Tour durch Europa und in den Vereinigten Staaten geplant war, aber in welchen Städten die Band auftrat, hatte er längst vergessen. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, es interessierte ihn auch nicht sonderlich. Marc war der Fan, nicht er, und sein Bruder war gerade mehr als glücklich.

Janek suchte in der tobenden Menge von Leuten nach dem unvergleichlich schwarzen Lockenkopf und grinste, als er sah, wie Marc mit anderen Fans auf und ab sprang. Alle hatten die Arme hoch in der Luft und wiegten sich zum Takt der Musik mit. Wahrscheinlich hatte die Hälfte der Fans nach diesem Konzert von der Lautstärke einen Hörschaden, aber das schien niemanden zu stören.

Als Jackson dann einen neuen Song anspielte, merkte Janek überrascht auf. Das klang zum ersten Mal nach richtiger Musik. Er schaute zur Bühne und lauschte den ersten Zeilen. Irgendwo hatte er den Song schon gehört. Es dauerte etwas, bis es Janek schließlich einfiel. Marc hatte ihn abgespielt, aber in dem Moment hatte Janek geglaubt, sein Bruder hätte das Radio laufen. Er kam aus dem Staunen nicht mehr raus, und würde seine bisherige Meinung über diese' Kreischmusik', wie er die Lieder der Band bisher im Stillen für sich genannt hatte, revidieren müssen. Jackson Connor war sehr wohl in der Lage gute Texte mit guter Musik zu verbinden. Janek entschied, Marc später nach dem Titel dieses Songs zu fragen, denn er wollte ihn in Ruhe nochmal hören.

 

„Der Wahnsinn ... besonders Jacksons Akustikteil bei 'Chances'. Mann, ich wünschte, ich könnte so singen.“

Janek schwieg amüsiert, während er neben Marc in Richtung Bushaltestelle lief. Sein Bruder war dermaßen aufgekratzt und erzählte schon, seit sie die Halle vor weniger als zehn Minuten verlassen hatten, mit Händen und Füßen. Genau wie Jackson gestern auf der Couch. Es war herrlich, ihm dabei zuzusehen. Mit einem Grinsen auf den Lippen, dachte Janek an die letzten Minuten, die er abseits der Massen gewartet hatte, während Marc für die Signierstunde angestanden hatte. Herausgekommen war er schließlich mit einem fassungslosen Blick, einem von den Jungs signierten Poster und einem Zettel in der Hand, auf den Jackson eine Telefonnummer geschrieben hatte.

„Wirst du anrufen?“, fragte Janek in den Redeschwall von Marc hinein, damit der das Luftholen nicht komplett vergaß.

„Klar.“ Marc stockte kurz. „Morgen vielleicht oder so … Ich weiß nicht. Die gehen heute Nacht bestimmt Party machen. Aus dem Bett werfen will ich Jackson nicht.“

Janek schmunzelte. „Schreib' ihm vorher einfach eine Nachricht. Wenn er wach ist und Zeit für dich hat, wird er sich schon melden.“

„Gute Idee“, erklärte Marc begeistert, dann räusperte er sich. „Janek? Was ist, wenn er mich für kindisch hält, sobald er sich die Bilder angeguckt hat?“

„Warum sollte er?“, fragte Janek. „Es war doch seine Idee, dass du ihm die heute mitbringst.“

„Ja, schon, aber ...“

Janek gluckste leise. „Marc, magst du Jackson etwa?“ Statt einer Antwort lief Marc knallrot an. „Okay, das ist deutlich.“

„Du bist so doof“, beschwerte sich Marc, grinste aber gleichzeitig überglücklich. „Er ist wirklich nett. Hätte ich nicht gedacht, weil doch immer gesagt wird, wie arrogant er angeblich ist.“

Janek machte eine wegwerfende Handbewegung. In der Welt, in der die Connors lebten, waren Gerüchte das A und O. Es gab für die Presse nichts Wichtigeres, ob sie nun der Wahrheit entsprachen oder nicht. „Gerüchte.“

Marc nickte. „Weiß ich, aber ich find's trotzdem cool, dass er nicht so ist.“

„Das glaube ich dir“, sagte Janek und stupste Marc aufmunternd in die Seite. „Ich wette, ihm werden vor Staunen die Augen aus dem Kopf fallen, wenn er sich die Bilder ansieht. Immerhin hast du dir viel Arbeit damit gemacht, dass es gut aussieht.“

„Ich mach' so was gerne.“

Janek nickte. Marc hatte ein Händchen für Bilder und Farben, vor allem für die Kombination von beidem. Sein Bruder wäre ein erstklassiger Fotograf oder Designer geworden. „Sieht man.“

„Janek und Marc Tears?“

Janek drehte sich fragend um. Hinter ihnen stand ein kräftiger Mann, der die Kleidung der Securitymitarbeiter trug, die er den gesamten Tag über am Eingang der Halle und später auch drinnen gesehen hatte.

„Ja“, antwortete Janek und schaute kurz zu Marc, der ratlos mit den Schultern zuckte. „Was wollen Sie?“

Der Unbekannte grinste belustigt und enthüllte dabei eine Zahnlücke. „Ich bin Sam. Ich soll euch von Jackson fragen, ob ihr noch Lust auf einen Drink habt?“

Marc atmete neben ihm scharf ein. „Das ist ein Witz.“

Sams Grinsen wurde noch ein Stück breiter. „Jackson meinte nur, dass man auf Geburtstagskinder vernünftig anstoßen muss. Die Jungs sind eben mit den letzten Fans beschäftigt. Wenn ihr wollt, könnt ihr in der Garderobe auf sie warten.“

Janek sah zu Marc, der Sam so fassungslos anstarrte, dass der sich ein Lachen verkneifen musste, wie Janek mit einem Blick zu ihm feststellte. „Also wenn das kein denkwürdiger Geburtstag ist, dann weiß ich auch nicht, was es ist“, meinte er daraufhin, um seinen Bruder aus der Erstarrung zu reißen, was wunderbar funktionierte, denn Marc schnappte nach Luft, während Sam nun doch anfing zu lachen.

 

„Was soll ich denn sagen? Ich meine, das ist Jackson Connor, der uns auf einen Drink eingeladen hat“, fragte Marc, nachdem Sam sie in einem Raum zurückgelassen hatte, der mit einer Couch, zwei Sesseln in der Mitte, und einem kleinen Kühlschrank rechts neben der Tür, recht überfüllt wirkte.

Das nannte Sam eine Garderobe? Janek war, gelinde gesagt, mehr als nur überrascht. Komfort war das nicht gerade, fand er, andererseits war die Halle selbst nicht sehr groß. In einer Arena sahen die Backstagebereiche allgemein anders aus.

„Janek, alles okay?“

Marcs Frage riss ihn aus seinen Überlegungen. „Tut mir leid, ich war in Gedanken. Dieser Raum hier ist ganz schön ... hm ...“

„Schäbig?“ Marc grinste. „Ich find's cool. Was sag' ich ihm denn nun wegen der Einladung?“, kam er dann auf seine eigentliche Frage zurück und sah ihn hilflos an.

Janek schmunzelte. Marc war dermaßen nervös, dass er schon wieder anfing herumzuhibbeln. „Wie wär's mit 'Danke'? Mach' dich nicht verrückt. Gestern hast du es doch auch hingekriegt.“

Marc schnaubte. „Ja, nachdem ich Jackson angestarrt habe wie einen Geist, als er sich neben mich gesetzt hat.“

Janek verkniff sich ein Lachen. Es war schade, dass er das gestern Nachmittag verpasst hatte. Aber dank Marcs detailreicher Erzählung, war es kein Problem gewesen, sich die Situation vorzustellen. Welcher Fan hätte nicht im ersten Moment seine Sprache verloren, wenn er auf einmal mit seinem Idol konfrontiert gewesen wäre?

„Na und, jetzt kennst du ihn ja schon“, meinte Janek schlicht, in der Hoffnung, Marc ein wenig beruhigen zu können. Geburtstag hin oder her, Freude hin oder her, zu viel Aufregung war nicht gut für ihn.

Zu einer Antwort kam Marc nicht, weil im nächsten Moment die Tür aufging und drei gleichzeitig lachende, redende und, in Jacksons Fall, mit den Händen wild in der Luft gestikulierende Musiker in den Raum platzten. Hielt dieser Kerl eigentlich jemals seine Finger still oder einfach nur den Mund?

„Hey, da ist ja mein Geburtstagskind“, rief Jackson, nachdem sein Blick auf Marc gefallen war, dann zog er ihn von der Couch in seine Arme. „Happy Birthday.“

Marc lachte und ließ sich an die restlichen Mitglieder der Band weiterreichen. Janek beobachtete das Ganze mit einem Lächeln, bis Jackson auf ihn zugeschlendert kam, beide Hände in die Seiten stemmte und grinste.

Janek war sofort in Alarmbereitschaft. „Was?“

„Du siehst gut aus.“

„Aha“, machte Janek nur, weil er keine Ahnung hatte, worauf Jackson hinauswollte. Falls das jetzt ein Flirt sein sollte, stellte der Sänger sich nicht gerade geschickt an. Janek ahnte allerdings, dass Jacksons unschuldiger Blick nichts Gutes bedeutete.

„Zwar nicht so gut wie ich, aber das schafft sowieso keiner.“

Janek blinzelte verdutzt, dann lachte er los und erhob sich von der Couchlehne, um sich kopfschüttelnd vor den Musiker zu stellen. „Du bist dermaßen arrogant, Jackson Connor, da bekomme ich gleich drei graue Haare.“

„Nur drei?“, konterte Jackson frech und zog ihn dabei in eine Umarmung. „Hi, Janek. Schön, dich zu sehen.“

„Gleichfalls“, sagte Janek schmunzelnd und löste sich von Jackson, der bereits geduscht haben musste, so gut wie er roch, um im nächsten Moment zu sticheln, „Sag' mal, nennst du das tatsächlich eine Frisur, was du da auf dem Kopf hast?“

„Tze“, empörte sich Jackson gespielt und drehte sich zu Rafe. „Muss ich mich von ihm beleidigen lassen, weil meine Haare noch nass sind und ich keine Lust hatte, sie zu kämmen?“

„Du hast doch mit der Stichelei angefangen“, konterte sein Bruder belustigt und Jackson hob gottergeben die Hände, bevor er beiseitetrat, was Rafe umgehend nutzte, um ihn ebenfalls zu umarmen. „Hi, sexy Kerl.“

„Hallo, schöner Mann“, erwiderte Janek trocken und fragte sich insgeheim gleichzeitig, ob Marc ihnen erzählt hatte, dass er Männer mochte, oder ob das einfach so ein Musikerding war, jeden zu umarmen. Janek ließ es sich gefallen und registrierte mehr nebenbei, dass Rafes Duft ihm besser gefiel, als der von Jackson.

„Flirtet ihr etwa?“, fragte der da auch schon gespielt empört.

„Sicher. Du kannst es schließlich nicht“, ärgerte Rafe seinen Bruder, was alle im Raum in heiteres Gelächter ausbrechen ließ.

Nach Rafe kam Bennett Fields auf ihn zu. Janek fand den Gitarristen sympathisch, obwohl er gleichzeitig den Eindruck erweckte, dass man sich bei ihm besser vorsah. Das Sprichwort: 'Stille Wasser sind tief', schien perfekt auf ihn zu passen.

Janeks Blick suchte Marc, der übers gesamte Gesicht strahlte und heftig nickte, als Jackson ihm eine Führung durch die Halle anbot, weil er keine Lust hatte, hier in der engen und stickigen Garderobe zu quatschen, wie er es ausdrückte. Janek beschloss, sich im Hintergrund zu halten, als die kleine Gruppe, bewaffnet mit kühlem Bier und Cola, Richtung Bühne loszog.

 

„Warum das Versteckspiel?“

Janek schreckte aus seiner Betrachtung von Marc auf, der mit Jacksons Hilfe versuchte ein paar Akkorde auf dessen Gitarre zu spielen. Eher schlecht als recht, musste Janek zugeben, was aber niemand hier zu stören schien. Im Gegenteil, so wie Jackson lachte, als Marc erneut den falschen Ton traf.

Er wandte sich Rafe zu, der ihn nachdenklich ansah, und nebenbei mit dem Deckel seiner Bierflasche spielte. „Wovon sprichst du?“

„Am Anfang hieß es, Marc darf erst mit sechzehn auf Konzerte von uns gehen. Wenig später gibst du zu, dass du Karten für heute für ihn hast. Wozu das Theater?“

Janek zuckte lässig mit den Schultern. „Es sollte eine Überraschung sein.“

Das war eine Lüge, aber die Wahrheit wollte er Rafe nicht sagen. Es überraschte ihn, dass der Drummer sich überhaupt an dieses kleine Detail des Gesprächs gestern erinnerte. Und offenbar erinnerte er sich noch an einiges mehr, wie seine nächsten Worte bewiesen, die Janek den Boden unter den Füßen wegzogen.

„Warum glaubst du, dass Marc krank ist?“, versuchte er einer Antwort auszuweichen und vermied es tunlichst, Rafe in die Augen zu sehen. Sie waren grünbraun, nicht blau, wie die von Jackson, schoss Janek durch den Kopf, was ihn gleich darauf die Stirn runzeln ließ. Wie kam er denn jetzt ausgerechnet darauf?

„Weshalb weichst du meiner Frage aus?“, fragte Rafe und riss ihn aus seinen Gedanken.

Janek warf ihm einen warnenden Blick zu. Der Mann bewegte sich auf sehr dünnem Eis. „Möglicherweise, weil es dich nichts angeht?“

Rafe sah kurz zur Bühne, als erneutes Gelächter zu ihnen herüberschallte. „Ihr wart nicht sehr leise, als ich gestern am Empfang stand. Ich konnte hören und sehen, wie er diese Atemübungen machte, die zu speziell waren, um nur Entspannungsübungen zu sein.“

„Ich wusste gar nicht, dass du nebenbei Arzt bist und so etwas Banales wie Atemübungen beurteilen kannst“, konterte Janek schnippisch und funkelte Rafe finster an. Nicht, dass es den irgendwie gestört hätte.

„Jackson beherrscht diese Ausweichtaktik weit besser als du, trotzdem kommt er damit fast nie bei mir durch.“ Rafe blickte ihn forschend an. „Und warum regst du dich so darüber auf, wenn ich mit meiner Vermutung Unrecht habe?“

So ein verdammter Mistkerl. Janek verschränkte die Arme vor der Brust. Rafe hatte ihn reingelegt, und er war in die Falle getappt, wie ein dummer Anfänger. Also gut, wenn Rafe es so wollte, das konnte er haben. „Ich habe Marc diese Karte zum Geburtstag geschenkt, weil es sein Letzter ist.“

Rafe fiel der Bierdeckel aus der Hand. „Was?“

Janek sah zur Bühne. Marc grinste Bennett breit an, der den Kopf schüttelte, was schallendes Gelächter von Jackson zur Folge hatte. Heute war sein kleiner Bruder glücklich, doch was würde morgen sein? Übermorgen? Nächste Woche oder in ein paar Monaten? Janek wusste es nicht. Er wusste nur, Marc lief die Zeit davon und Janek hatte keine Ahnung, wie er es ihm sagen sollte.

„Er wird sterben. Marc hat ein Bronchialkarzinom, oder einfach gesagt, Lungenkrebs. Wir haben die letzten acht Jahre dagegen gekämpft, ohne Erfolg.“ Janeks Blick wanderte zurück zu Rafe. Er gab sich gelassen, obwohl er am liebsten geschrien hätte. „In einigen Monaten wird er anfangen rapide abzubauen. In einem Jahr wird mein Bruder tot sein.“

Rafe war eindeutig fassungslos. „Aber ... was ist mit Chemotherapie oder einer Operation? Ein Transplantat? Es gibt doch so viel, das ...“

„Zu spät“, unterbrach Janek seinen Einwurf und sah wieder auf die Bühne, wo Marc mit Bennett laut lachte. Offenbar stichelten die beiden auf Jackson herum, der sich das schmunzelnd gefallen ließ. „Marc hatte mehrere Chemotherapien, sein Körper verträgt keine mehr. Und eine neue Lunge würde nichts bringen, der Haupttumor hat gestreut. Er hat keine Chance.“

„Weiß er es?“, wollte Rafe wissen, nachdem er einige Zeit geschwiegen hatte.

Janek schüttelte den Kopf. „Ich habe es erst vor drei Tagen erfahren und keine Ahnung, wie ich es ihm sagen soll.“ Er grinste kurz, als Marc Jackson gegen den Arm schlug, der ihn daraufhin kitzelte. „Sieh ihn dir an. Dein Bruder macht ihn gerade zum glücklichsten Teenager auf Erden. Das ist alles, was für mich zählt.“

„Das war der Grund. Darum hast du ihn gestern mit ins Hotel genommen“, sagte Rafe leise.

„Ja.“ Janek lächelte traurig, ohne den Blick von Marc abzuwenden. „Er hat sich so gewünscht, euch wenigstens einmal live zu sehen. Wie hätte ich Marc das verweigern können?“

„Es tut mir leid.“

Janek trat unwillkürlich einen Schritt von Rafe weg und rieb sich die Arme, weil er auf einmal fror. Er wollte Rafes Mitgefühl nicht. Stattdessen sah er den Drummer ernst an. „Vergiss es. Und behalt' es, um Himmels willen, für dich. Das ist Marcs Abend und ich will ihn meinem Bruder durch nichts verderben.“ Rafe schien etwas sagen zu wollen, nickte allerdings nur. „Danke“, sagte Janek leise und setzte sich in Bewegung, um zu seinem Bruder aufzuschließen.

 

Etwas später schüttelte Janek angeekelt den Kopf und gab Jackson seine Dose zurück. „Das ist ja widerlich. Wie kannst du dieses Zeug bloß trinken?“

„Ich mag Energydrinks.“ Jackson grinste, während Marc und Bennett nur lachten. Dann sah sich der Sänger suchend um. „Wo ist denn Rafe hin?“

Bevor jemand antworten konnte, blitzte es vor ihnen hell auf. Janek zuckte zusammen, genauso wie Marc und die anderen, um sich nach mehrmaligem Blinzeln einem grinsenden Rafe gegenüberzusehen, der eine Kamera in der Hand hielt.

„Erwischt“, feixte der Drummer gerade. „Jackson, du hast echt ein Vogelnest auf dem Kopf. Das wird auf dem Bild klasse aussehen.“

„Rafe, du Arsch“, fluchte Jackson und sprang auf, was seinen Bruder lachend den Rückzug antreten ließ. „Gib sofort die Kamera her. Wo warst du überhaupt?“

„Ich habe auf den perfekten Moment gewartet, um deine Frisur auf Zelluloid bannen zu können“, stichelte Rafe frech und suchte Deckung hinter seinem mit einem schwarzen Tuch abgedeckten Schlagzeug. „Was mir auch gelungen ist. Marc, willst du einen Abzug?“

„Und ob.“

Janek grinste seinen Bruder an. „Bist du dir wirklich sicher, dass Jackson Connor ein erwachsener Mann ist?“

Marc prustete los, und Bennett, der ihnen amüsiert zugehört hatte, lachte ebenfalls, bevor er in Richtung der beiden Connors sah und Jackson zurief: „Hey, du Genie, das Geburtstagskind macht sich über dich lustig.“

Jackson hielt in seiner Jagd nach seinem Bruder inne und sah über seine Schulter. „Ach so? Tut er das, ja?“

Mit einem hinterhältigen Grinsen ließ Jackson von Rafe ab und kam auf sie zu. Im nächsten Moment war es Marc, der lachend flüchtete. Janek sah kopfschüttelnd zu und fragte sich, ob Jackson eigentlich ständig dermaßen aufgedreht war. Sein Blick streifte Bennett, der lächelnd nickte, als hätte er seine Gedanken gelesen.

„Wie haltet ihr das bloß aus?“, fragte Janek daraufhin leise, was ihm ein Zwinkern einbrachte, bevor Bennett antwortete: „Mit sehr viel Geduld.“

 

 

3

 

 

 

 

Das beharrliche Klingeln des Telefons riss Janek am nächsten Morgen aus dem Schlaf. Stöhnend drehte er sich zum Nachttisch. Es war kurz nach sieben Uhr, dabei war er erst vor fünf Stunden ins Bett gekommen. Wer rief denn um diese Zeit an? Wenn sich Jackson gerade einen Spaß machte, würde Janek ihn dafür umbringen. Aber das konnte er sich nicht vorstellen. Immerhin hatte er mit Rafe und Bennett noch ausgehen wollen, nachdem Janek den schlafenden Marc um ein Uhr morgens in ein Taxi gesetzt und sich auf den Heimweg gemacht hatte.

„Ich geh' ran“, rief Marc.

Janek hörte Marcs eilige Schritte auf der Treppe und rieb sich die Augen. Er hatte erst in zwei Stunden einen Termin. Eigentlich konnte er noch eine Stunde im Bett bleiben, andererseits, wenn er schon mal wach war, war die Gelegenheit günstig, mit seinem Bruder gemeinsam zu frühstücken, was viel zu selten der Fall war, weil er entweder vor oder nach Marc das Haus verließ. Aber wenn Janek genauer darüber nachdachte, war noch eine Stunde Schlaf viel verlockender.

Gähnend drehte er sich auf die Seite und schloss die Augen, um im nächsten Moment erschrocken im Bett hochzufahren, als seine Tür aufflog und gegen die Wand knallte. Marc stand im Türrahmen, das Telefon in der Hand, und sah ihn an. Aber wie er es tat ... Janek lief es heiß und kalt den Rücken hinunter, denn für Marcs Blick gab es kein Wort, ihm fiel jedenfalls keines ein.

„Marc, ist alles okay?“ Marc machte ein Geräusch, das nicht zu identifizieren war, und hob, statt zu antworten, das Telefon an. Janek wurde unruhig. „Was ist? Wer war am Telefon?“

„Doktor Henderson.“

Janek erstarrte. „Was?

Marc kam ins Zimmer. Ganz langsam, so als wäre er über Nacht zu einem alten Mann geworden, dem jeder Schritt wehtat. Janek konnte nicht entscheiden, was er als schlimmer empfand. Marcs Blick oder seinen Gang.

„Er wollte wissen, wann wir in die Klinik kommen, um über meine Medikation zu sprechen.“ Marcs Blick irrte ab, bevor er ihn wieder ansah, mit Tränen in den Augen. Janek wurde schlecht. „Um es mir so leicht wie möglich zu machen, hat er gesagt“, erklärte Marc weiter, dann glitt ihm das Telefon aus den Fingern und landete mit einem lauten Scheppern auf dem Boden. „Ich habe gar nicht verstanden, was er wollte, bis ...“ Marc brach ab und holte tief Luft. Dabei wurde sein Blick mörderisch. „Wie lange weißt du es schon? Wie lange verschweigst du mir, dass ich in einem Jahr tot sein werde?“

„Ich ...“

„Wie lange?“, schrie Marc los und ballte die Hände zu Fäusten.

„Seit drei Tagen“, gab Janek zu.

Marc lachte kurz und heftig, dann brach er in Tränen aus. „Ein Jahr? Ich habe nur noch ein Jahr zu leben? Ein verficktes Jahr? Oh mein Gott, das ist ... das kann nicht … ich ...“ Im nächsten Moment rannte Marc weinend aus dem Zimmer.

Janek blieb fassungslos zurück. So hatte sein Bruder nicht erfahren sollen, dass er sterben musste, so nicht. Was sollte er jetzt bloß tun? Marc nachgehen war keine gute Idee, jedenfalls nicht sofort. Aber hier sitzen und warten, dass Marc sich wieder beruhigte, kam für Janek auch nicht infrage. Er musste nachdenken, dabei, wenn möglich, einen kühlen Kopf bewahren, und später auf jeden Fall versuchen mit Marc zu reden. Jetzt stellte sich nur noch die Frage, was er ihm sagen sollte oder konnte, oder eher musste.

Vielleicht war es am besten, einfach abzuwarten, bis Marc auf ihn zukam. Janek kannte das Temperament seines Bruders und wusste, dass ein normales Gespräch zwischen ihnen nicht möglich war, solange Marc derart aufgewühlt war.

Janek schlug mit seiner Faust auf die Bettdecke. Wem versuchte er eigentlich etwas vorzumachen, verdammt noch mal? Es war vollkommen egal, wie viel Zeit er Marc gab, es änderte nichts. Rein gar nichts. Janek schlug die Decke zurück. Er musste umgehend mit Marc reden.

Unten fiel die Haustür ins Schloss und Janek bekam sofort ein ungutes Gefühl. Er ließ die Hose fallen, die er gerade anziehen wollte, und rannte in Shirt und Shorts hinüber ins Marcs Zimmer. Es war verlassen, kein gutes Zeichen. Janek lief nach unten in den Flur. Marcs Jacke war weg, ebenso die ausgelatschten Turnschuhe und sein Rucksack. Das unwohle Gefühl wurde stärker, während er die Treppe nach oben lief, um das Telefon zu holen. Als Marcs Handyanbieter ihm kurz darauf verkündete, dass der gewünschte Teilnehmer nicht erreichbar war, wusste Janek, dass er ein ernstes Problem hatte.

 

Drei Stunden später war er mit den Nerven völlig am Ende und stand gerade kurz davor über den Tresen zu langen und die Empfangsdame vom Hotel einfach über selbigen zu ziehen, um sich Gehör zu verschaffen. Er tat es nur nicht, weil der Sicherheitsdienst bei der Tür schon misstrauisch in seine Richtung schaute.

„Hören Sie … Ich verlange doch nicht von Ihnen, dass Sie Mister Connor herunter bitten. Ich möchte nur, dass Sie ihn anrufen und fragen, ob mein Bruder bei ihm ist.“

„Mister Tears, es tut mir sehr leid, aber ich kann nur wiederholen … Wir geben keine Auskunft über mögliche Gäste preis.“

„Himmel noch mal.“

Janek fuhr sich durch die Haare. Er war mittlerweile überall in Boston gewesen, wo Marc sich im Normalfall aufhielt, wenn er alleine sein wollte oder sich mit seinen wenigen Freunden traf. Jeden Lieblingsplatz hatte er von vorne bis hinten abgesucht, ihm fiel einfach kein anderer Ort mehr ein, an dem er sein konnte. Ja, die Chance war gering, sogar irrsinnig, immerhin war Jackson berühmt und so einfach kam man nicht an ihn heran. Aber Janek war verzweifelt und würde nicht weggehen, bis er sicher sein konnte, dass Marc nicht bei dem Musiker war.

Ihm kam ein Gedanke. Rafes Fotos. Er hatte gestern Abend noch weitere Bilder geschossen und später seinen Laptop geholt, um sie Marc gleich während des Treffens auf seine E-Mail Adresse zu schicken. Marc hatte sich vor dem Schlafengehen ein paar der Bilder ausgedruckt. Und das Foto, welches Rafe von Jackson, Marc und ihm gemacht hatte, hatte Marc ihm geschenkt. Janek trug es in seiner Geldbörse, als bleibende Erinnerung an diesen Abend.

Er kramte das Bild aus der Tasche und knallte es auf den Tresen. „Sehen Sie hin.“

Die junge Hotelangestellte war mittlerweile sichtlich genervt, tat ihm aber den Gefallen. Dann weiteten sich ihre Augen, was Janek beinahe erleichtert seufzen ließ. Stattdessen räusperte er sich, worauf die Frau ihn wieder ansah.

„Er heißt Marc und war gestern auf dem Konzert der Band. Ein Geschenk zu seinem fünfzehnten Geburtstag. Es ist der letzte, den er feiern konnte. Marc hat Krebs. Unheilbar. Das hat er heute erfahren, deswegen ist er weggerannt.“ Janek kämpfte gegen die Verzweiflung in ihm an. Er würde keine einzige Tränen vergießen. Nicht hier. Niemals. Nicht, solange er es irgendwie verhindern konnte. „Er hat sich bei dem Treffen so gut mit der Band verstanden und ich weiß einfach nicht, wo ich noch nach ihm suchen soll. Bitte. Es ist doch nur ein Anruf.“

Es dauerte einige Sekunden, dann gab die Frau nach und nickte. „In Ordnung. Warten Sie in der Sitzecke.“

Janek sackte gegen den Tresen. „Vielen Dank.“

Ein freundliches Lächeln war die einzige Antwort, die er bekam, danach wandte sich Janek ab und ließ sich müde, den Kopf in beide Hände gestützt, auf die Couch sinken, auf der Marc vorgestern lachend und zufrieden neben Jackson Connor gesessen hatte.

Wie lange er dort schweigend saß und wartete, wusste Janek nicht, aber irgendwann sackte das Polster neben ihm ein Stück ein.

„Hey.“

Rafe. Janek sah nicht auf. „Ist er bei euch?“

„Ja. Jackson spielt Babysitter“, antwortete Rafe und da seufzte Janek erleichtert auf.

„Gott sei Dank.“

„Sag' das lieber nicht, Jackson ist lausig in dem Job.“

Janek musste unwillkürlich lachen, obwohl ihm eher zum Weinen zumute war. „Geht's ihm gut?“

„Soweit ich das beurteilen kann, ja. Jackson hat nicht schlecht geguckt, als es an der Tür klopfte und er kurz darauf ein Bündel Mensch an sich zu hängen hatte. Wir haben ihn im ersten Moment gar nicht erkannt, so heftig hat er geweint. Ich schätze, du hast ihm heute Morgen gesagt, was los ist?“

Janek hob den Kopf und seufzte, während sein Blick an Rafe hängenblieb. Er hatte tiefe Augenringe und sah total übernächtigt aus. „Du siehst genauso mies aus, wie ich mich fühle.“ Rafes Antwort war ein Schulterzucken und Janek grinste schief. „Sein Arzt hat angerufen, um in Erfahrung zu bringen, wann wir zu ihm kommen. Marc hat anfangs gar nicht verstanden, was er wollte.“

Rafe blickte ihn verblüfft an. „Soll das etwa heißen, er hat es Marc einfach nebenbei offenbart?“

„Ja“, gestand Janek und fuhr sich durch die Haare. „Henderson dachte wohl, Marc wüsste längst Bescheid.“

„Scheiße“, murmelte Rafe kopfschüttelnd. „Was wirst du jetzt tun?“

Janek zuckte hilflos die Schultern. „Ich weiß es nicht. All die Jahre habe ich gehofft, dass es nicht dazu kommt. Dass ich ihm nie erzählen muss, dass er früher sterben wird als ich. Er ist doch beinahe noch ein Kind, das ist einfach nicht fair.“

 

Marc saß auf einem der zwei hellen Sofas, die sich im Wohnraum der großen Suite gegenüberstanden, getrennt durch einen Couchtisch aus Glas, als Janek, dicht gefolgt von Rafe, in das Hotelzimmer trat. Sein Bruder hatte die Ellbogen auf seine Knie gestützt und das Gesicht in den Händen vergraben. Jackson saß direkt neben Marc und streichelte ihm beständig über den Rücken. Sein Blick machte Janek deutlich, dass er völlig hilflos und mit der Situation total überfordert war. Das war in seinen Augen kein Wunder. Nicht mal Janek als Familienangehöriger wusste, was er jetzt sagen oder tun sollte. Wie musste der Sänger sich dann erst fühlen?

Am liebsten wäre Janek wieder ausgerückt, aber das kam nicht infrage. Seine feigen Zeiten waren vorbei, und er würde den Teufel tun und sie wieder aufleben lassen. Es half ungemein, dass Rafe diesen Augenblick wählte, um beruhigend seine Schulter zu drücken, bevor er zu Bennett ging, der auf dem anderen Sofa saß und eine Tasse in der Hand hielt, aus der es dampfte. Kaffee, dem Geruch nach zu urteilen. Den hätte Janek jetzt auch gern' gehabt, am besten eine ganze Kanne voll. Aber dafür war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.

„Hey“, sagte Janek leise und widerstand dem Drang, seine Hände in die Hosentaschen zu schieben.

Eine Weile geschah nichts, dann räusperte sich Marc. „Wieso hast du es mir nicht gesagt?“

„Ich wusste nicht wie“, gab Janek zu und entschied sich für den Platz neben Rafe, da er nicht sicher war, ob Marc ihn im Moment neben sich akzeptiert hätte. „Vor drei Tagen klingelte im Büro mein Telefon“, begann er zu erzählen und verschränkte dabei die Hände. „Ich dachte, es wäre mein zehn Uhr Termin. Ich habe ihn anfangs nicht verstanden. Er redete und redete ... es war so ... Ich weiß nur noch, dass ich hinter meinem Schreibtisch saß, meinen Wandkalender anstarrte und mich fragte, wann, zum Teufel, wir in diesem Jahr einen Weihnachtsbaum holen sollen?“

Janek lachte und schüttelte über sich selbst den Kopf, und da sah Marc endlich auf und ihn an.

„Ich meine, Henderson erzählte mir in dem Moment, dass es keine Hoffnung gäbe, die Therapiemöglichkeiten erschöpft wären, und alles, worüber ich mir Gedanken machte, war unser Weihnachtsbaum?“ Janek sah auf den Teppich. „Irgendetwas habe ich ihm geantwortet, aber was, weiß ich nicht mehr. Ich kann mich daran erinnern, dass ich eine Weile einfach da saß und den Telefonhörer in der Hand hielt. Irgendwann kam Matt, mein Boss, in mein Büro gestürmt und fuhr mich an, was ich hier tue, obwohl ich drei Außentermine wahrzunehmen hatte. Ich habe ihn angesehen, den Hörer auf die Gabel gelegt und mich in den Mülleimer übergeben.“

„Deswegen hast du mir die Karten zum Geburtstag geschenkt, nicht?“, fragte Marc kaum hörbar.

Janek hob den Kopf und nickte, hielt Marcs Blick fest. „Das war Matts Idee, als er aus mir herausgekitzelt hatte, was los war. Eigentlich war alles seine Idee, ich war viel zu fertig mit den Nerven, um klar denken zu können. Er hat das mit meinem Urlaub geklärt, die Karten für das Konzert besorgt und mir danach die Adresse vom Hotel gegeben.“

Marc sah ihn verständnislos an. „Welcher Urlaub?“

„Ich gehe ab nächste Woche in Urlaub. Für ein Jahr oder länger, je nachdem ...“ Janek brach betreten ab.

„Du meinst, wann ich sterbe.“ Es war keine Frage, nur eine Feststellung.

„Ja.“ Janek zwang sich, Marcs Blick standzuhalten. „Nach den Weihnachtsferien brauchst du nicht mehr in die Schule. Ich habe dich freistellen lassen. Ich dachte ... vielleicht könnten wir zusammen wegfahren. Irgendwo Urlaub machen ... Zeit miteinander verbringen ...“ Janek zuckte hilflos mit den Schultern. „Keine Ahnung. Einfach irgendwie zusammen sein.“

Marc sagte nichts dazu. Niemand im Raum tat es und das einsetzende Schweigen wurde sehr schnell drückend. Janek konnte die merkwürdige Stimmung der Männer und auch Marcs nicht mit Worten beschreiben. Es war einfach nur unangenehm.

Als er die Stille nicht mehr aushielt, räusperte er sich. „Vielleicht sollten wir jetzt ...“

„Ich wollte schon immer mal nach Los Angeles.“ Marc sah zu Jackson und zuckte dabei mit den Schultern. „Das klingt bestimmt lächerlich, aber bevor ich sterbe, möchte ich am Strand von L.A. spazieren gehen. Da, wo dieser große Pier steht.“

„Santa Monica“, half Bennett aus und grinste schief, als jeder ihn ansah.

„Ja, genau“, nickte Marc.

„Dann fahren wir nächstes Jahr definitiv nach L.A.“, entschied Janek und runzelte irritiert die Stirn, als ihm etwas einfiel. „Sag' mal, wie hast du eigentlich Jacksons Zimmernummer herausgefunden?“

Marc schaute verlegen zur Seite und wich Jacksons Blick aus, der ihm danach einen leichten, aber dennoch auffordernden Schubs in die Seite gab, was Marc seufzen ließ. „Ich hab' eins der Zimmermädchen bestochen.“

„Du hast was?“ Janek sah überrascht zu Jackson, der Marc ebenso verblüfft anschaute. „Wie?“, wollte er daher genauer wissen.

„Ich habe ihr gesagt, ich wäre ein großer Fan von den Jungs und würde Jackson gern einige Fotos vom Konzert gestern Abend geben. Es weiß doch jeder, dass ihm, Rafe und Bennett die Fans wichtig sind. Zuerst wollte sie es nicht sagen, aber als sie gesehen hat, dass ich wirklich nur Bilder im Rucksack habe und keine Bombe, hat sie mir Jacksons Zimmernummer verraten.“

Das klang in Janeks Ohren viel zu einfach und Rafe sah das offenbar genauso. „Wie viel hast du ihr für diese Information bezahlt?“ Marc wurde knallrot und verriet sich damit. Rafe seufzte und stand auf. „Ich kümmere mich darum.“

Und da kam Leben in Marc. „Rafe, nicht ... bitte. Sie kriegt doch bestimmt Ärger deswegen.“

„Vermutlich wird sie gefeuert“, warf Jackson trocken ein, woraufhin Marc ihn entsetzt ansah. „Was hast du erwartet? So was kann sich kein Hotel leisten, das seinen guten Ruf behalten will.“

„Aber das ist meine Schuld. Ich habe doch ...“

„Marc!“, unterbrach Jackson ihn ernst. „Es ist egal, was dem Personal für solche Informationen angeboten wird. Diese Frau hätte ablehnen müssen. Oder würdest du einem Fotografen für Geld erzählen, wo ich morgen essen gehe, wenn du es wüsstest?“

„Natürlich nicht“, entrüstete sich Marc, dann stutzte er und sah im nächsten Moment verlegen zu Boden. „Tut mir leid.“

„Ich weiß. Entschuldigung angenommen.“ Jackson fuhr Marc durch die Haare und sah zu Rafe, der bereits das Telefon am Ohr hatte und gerade ins Nebenzimmer verschwand, die Tür hinter sich zuziehend. „Wird Marc deswegen Ärger mit euren Eltern bekommen?“

Marc erstarrte und Janek verzog gequält das Gesicht, was ihm von Jackson einen erstaunten Blick einbrachte. Konnte der Tag eigentlich noch schlimmer werden? Eine Hürde hatten sie gemeistert, und dann riss Jackson aus Unwissenheit die größte Wunde auf, die es bei Marc, mal abgesehen von seiner Krankheit, zu finden gab.

„Kann ich bitte euer Badezimmer benutzen?“, fragte Marc leise und sprang abrupt auf.

„Ja, natürlich“, antwortete Bennett, obwohl er ebenso überrascht und ahnungslos dreinschaute wie Jackson. „Von der Eingangstür aus links, die erste Tür.“

„Danke“, murmelte Marc und verschwand.

„Habe ich etwas Falsches gesagt?“, fragte Jackson, als die Tür des Badezimmers ins Schloss gefallen war.

Janek rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht, bevor er sich in die weichen Polster der Couch sinken ließ. Es war gerade erst Mittag und er war jetzt schon fix und fertig. Am liebsten hätte sich Janek nach Hause und in sein Bett verzogen, um den Rest dieser verdammten Woche einfach zu verschlafen.

„Unsere Eltern sind tot. Ein Autounfall. Zu der Zeit lag Marc wegen seiner Chemotherapie im Krankenhaus“, beantwortete er schließlich Jacksons Frage. „Es gibt nur noch uns beide.“

Jackson sah ihn bestürzt an. „Scheiße, ich wollte nicht ... es tut mir leid.“ Im nächsten Moment erhob er sich. „Ich sehe nach ihm.“

„Jackson ...“, fing Janek an, aber Bennett hielt ihn am Arm zurück, als er Jackson folgen wollte.

„Lass ihn. Er macht das schon“, meinte der Gitarrist aufmunternd und lächelte, bevor er seine mittlerweile leere Tasse anhob. „Also ich weiß zwar nicht, wie es dir geht, aber ich hätte jetzt nichts gegen einen ordentlichen Drink einzuwenden.“

„In einer Kaffeetasse?“ Janek sah Bennett zweifelnd an und staunte nicht schlecht, als der daraufhin grinste. Er sah auf einmal völlig verändert aus.

„Weißt du, es gibt in Hotels eine grandiose Erfindung. Die nennt sich Minibar.“

Janek blinzelte, dann schnaubte er entrüstet, als ihm aufging, dass Bennett ihn veralberte, was den Gitarristen in Gelächter ausbrechen ließ. „Blödmann.“

Statt beleidigt zu sein, lachte Bennett nur lauter. Das war ansteckend und trieb wenig später zuerst Rafe und kurz darauf Jackson und Marc zurück ins Wohnzimmer, die sie überrascht anstarrten. Doch weder Bennett noch Janek konnten aufhören zu lachen. Diese ganze Situation war so grotesk. Wie konnte er jetzt lachen? Weinen wäre eine angemessene Reaktion gewesen, fand Janek. Das half ihm aber auch nicht dabei, sich zu beruhigen.

„Äh ... sind die zwei durchgedreht?“, fragte Marc und warf Jackson einen verunsicherten Blick zu, der grinste und dabei den Kopf schüttelte, während Janek die ersten Lachtränen in die Augen stiegen.

„Stressabbau. Der ist in solchen Situationen ab und an ganz hilfreich. Lassen wir ihnen etwas Zeit, um sich wieder einzukriegen. Willst du was essen, Marc? Rafe?“

Janek wischte sich die Tränen von seinem Gesicht, als Jackson, Marc und Rafe das Hotelzimmer verließen. Er verlor gerade mit Bennett neben sich den Verstand und Jackson redete vom Essen. Zu herrlich. Aber es half ihm auch, langsam zur Ruhe zu kommen. Außerdem tat ihm mittlerweile der Bauch weh, was ebenfalls dazu beitrug. Es dauerte trotzdem noch einige Minuten, bis Janek halb auf, halb vor der Couch liegend endlich aufhören konnte zu lachen. Im ersten Moment war ihm dieser Ausbruch unsagbar peinlich, dann fiel sein Blick auf Bennett, der genauso verdattert aussah, wie er selbst sich fühlte. Was für ein Irrsinn.

„Meine Fresse“, murmelte Bennett und rutschte von der Couch auf den Teppich. „Ich brauche Urlaub.“

„Dann sind wir schon zu zweit“, konterte Janek und setzte sich neben ihn. „Aber irgendwie geht es mir jetzt besser.“

„Mir auch“, gestand Bennett und grinste ihn kurz an. „Los, hoch mit uns. Ich komme mir zwar gerade mächtig dämlich vor, aber das wird Jackson mit Sicherheit nicht davon abhalten, dumme Kommentare abzulassen.“

„Da ich ein Gentleman bin, werde ich mich mit den Kommentaren zurückhalten, bis unsere Gäste weg sind“, stichelte es plötzlich hinter ihnen und Janek stöhnte mit Bennett auf, bevor sie sich ansahen und gemeinsam die Augen verdrehten.

„Da siehst du mal, was ich täglich aushalten muss“, flüsterte Bennett. Janek beließ es bei einem Grinsen, als Jackson neben ihnen auftauchte und Bennett die Hand reichte, um ihm beim Aufstehen zu helfen.

Janeks Handy begann zu klingeln. „Sorry, aber das ist bestimmt Matt. Ich muss rangehen.“

Er hatte seinem Boss heute Morgen nur schnell eine Nachricht geschickt, dass Marc weggelaufen war und er ihn suchen würde. Vermutlich war Matt stinksauer, weil er all seine Termine dafür hatte sausen lassen. Bei allem Verständnis für Janeks Situation, Matt war selbst nur ein Angestellter, wenn auch einer mit besserem Gehalt als er selbst. Trotzdem gehörte Matt die Agentur nicht, was für Janek hieß, es würde Ärger geben.

Der Anrufer war tatsächlich Matt, und als Janek ein paar Minuten später auflegte, war er arbeitslos. Er hatte nicht mehr als ein müdes Lächeln dafür übrig. Eigentlich war es ihm im Augenblick sogar völlig egal. Unbezahlter Urlaub oder arbeitslos, wo war da der Unterschied? Für Janek zählte bis auf Weiteres ohnehin nur Marc. Er sah zu seinem kleinen Bruder und den Männern hinüber, die sich wieder auf den beiden Sofas verteilt hatten.

„Ist alles okay?“, fragte Jackson misstrauisch, als sich ihre Blicke trafen, weil Janek unwillkürlich angefangen hatte zu grinsen. Vermutlich erwartete Jackson von ihm einen neuen Lachanfall.

Janek nickte und steckte sein Handy weg. „Vielleicht drehe ich wirklich durch, aber ich bin seit eben arbeitslos und es ist mir vollkommen egal.“

„Was?“ Marc sah ihn fassungslos an. „Die haben dich gefeuert?“

Janek zuckte mit Schultern. „Was soll's.“

Ein energisches Klopfen an der Tür verhinderte jedes weitere Wort zu dem Thema, und kurze Zeit später saßen alle an dem ovalen Tisch in der Essecke. Janek bemerkte erst, wie hungrig er eigentlich war, als er einen Teller mit Reis, Gemüse und Hühnchen vor sich stehen hatte. Und damit war er nicht der Einzige. So verging die folgende halbe Stunde mehr oder weniger schweigend, bis Rafe sich auf seinem Stuhl zurücklehnte und räusperte.

„Um auf das Zimmermädchen zurückzukommen, die Hotelleitung wird sich darum kümmern. Marc muss uns nur noch ihren Namen nennen, alles Weitere wird der Direktor persönlich regeln.“

Janek zog verärgert die Brauen zusammen. Er kannte den trotzigen Gesichtsausdruck, der Marcs Antwort auf Rafes Worte war. „Wag' es ja nicht“, zischte er daher. Die Musiker sahen fragend zwischen ihnen umher, während Marc nur noch sturer dreinschaute. Janek verschränkte betont gelassen beide Arme vor der Brust. „Ganz wie du willst. Ich überlasse es dir, Jackson, Bennett und Rafe zu erklären, dass du ihre Musik liebst und sie sehr magst, aber gleichzeitig dazu bereit bist, ihre Privatsphäre zu verkaufen, wie ein Paparazzo seine schmutzigen Bilder.“

Marc schnappte nach Luft, dann wurde er zuerst rot, um im nächsten Moment deutlich an Farbe zu verlieren. „Du blöder ...“

„Stopp!“, fuhr Rafe abrupt und laut dazwischen, und schob seinen Stuhl zurück. „Marc, kommst du bitte mit? Ich möchte kurz mit dir reden.“

Marc schwieg bockig, nickte aber und folgte Rafe auf den Balkon, nicht ohne Janek einen letzten bösen Blick zuzuwerfen, bevor Rafe die Glastür zuzog.

„Das war ganz schön fies“, meinte Bennett dazu und kratzte sich am Kinn. „Und ich weiß nicht, ob ich wissen will, welches Schimpfwort Marc dir gleich an den Kopf geworfen hätte.“

Janek legte seine Finger um die Tasse mit Kakao, den Jackson gemeinsam mit dem Essen bestellt hatte. „Ich kann's mir denken. Und ich weiß auch, dass das gemein war, aber manchmal erreiche ich anders einfach nichts bei ihm.“

„Teenager“, warf Jackson leise ein, dessen Blick auf die Balkontür gerichtet war.

„Hm“, stimmte Janek zu. „Und ganz besonders Marc. Ich verstehe sogar, dass er dem Zimmermädchen nicht in den Rücken fallen will, weil es seine Idee war, aber so etwas geht einfach nicht.“

„Was wirst du wegen deines Jobs machen?“, wollte Bennett wissen und klaute sich mit den Fingern Gemüse aus der Schüssel, was Janek und Jackson grinsen ließ.

„Nichts.“ Als beide Männer ihn danach verständnislos ansahen, zuckte Janek mit den Schultern. „Ich hätte ab nächster Woche ohnehin Urlaub gehabt. Für mich ist es kein Unterschied. Das kommende Jahr zählt nur Marc und danach ... ich finde schon irgendwas.“

Jackson legte den Kopf schief. „Bist du dir sicher? Ich könnte ...“

„Nein, Jackson“, unterbrach Janek ihn lächelnd. Er wusste genau, was der Sänger ihm hatte anbieten wollen. „Danke, aber nein. Es ist nur ein Job und derzeit steht das Thema nicht auf Platz 1 meiner Prioritätenliste.“

Die Balkontür ging auf und lenkte ihn ab. Rafe kam ins Zimmer und zog die Tür hinter sich wieder zu. „Marc und ich sind uns einig geworden.“ Janek wollte schon nachfragen, aber Rafe war schneller. „Du sollst zu ihm rauskommen, Janek. Brudergespräch. Derweil rufe ich den Hoteldirektor an. Und du ...“, Rafes Blick wanderte zu Jackson, und als der die Stirn runzelte, begann Rafe zu grinsen, „... wirst die zwei nicht belauschen, kapiert?“

„Rafe!“

Bennett fing an zu lachen und Janek beeilte sich, um nach draußen zu kommen, bevor er auch wieder anfing. Rafe und Jackson waren eine Nummer für sich, und er wollte gar nicht hören, ob und was im Zimmer gleich für Schimpfwörter umherfliegen würden. Grinsend trat er in die Kälte und entdeckte Marc sofort, der gegen die hohe Brüstung gelehnt dastand und nach unten auf die Straße schaute. Als Janek zu ihm trat und Marc sanft eine Hand auf die Schulter legte, hob sein kleiner Bruder den Kopf und warf ihm einen verlegenen Blick zu.

„Ich leg' mich nie wieder mit Rafe an.“

Janek musste sich ein Grinsen verkneifen, weil Marc nach seinen Worten aussah, als wäre er vor Scham am liebsten für immer und ewig im Boden versunken. „Was hat er denn gesagt?“

„Frag' nicht“, murmelte sein Bruder peinlich berührt. „Ich dachte immer solche Wörter benutzen nur Teenager wie ich. Und dann dieser Blick. Er war stinksauer, weil ich dich fast beleidigt habe.“

„Fast?“, fragte Janek und grinste nun doch, als Marc daraufhin knallrot anlief.

„Es tut mir leid, ehrlich. Entschuldige. Ich ...“

„Na komm schon her, du Nase“, unterbrach er Marcs Gestotter, als der seinem Blick auswich, und das musste er nicht zweimal sagen. „Ist okay“, murmelte Janek und drückte Marc an sich. „Ich war auch mal jung und habe damals genug Sachen gesagt, die mir später leid taten.“

„Das hat Rafe auch gemeint“, nuschelte Marc in seine Jacke und hob den Kopf. „Er erinnert mich ein bisschen an Dad. Er hat uns auch immer den Kopf zurechtgerückt, wenn wir bei irgendetwas falsch lagen.“

Das hatte bei ihm nie viel gebracht. Janek behielt den Gedanken für sich, und irgendwie hatte Marc recht. Rafe war ein wenig wie ihr Vater, obwohl er um Längen besser aussah. „Gehen wir rein? Allzu lange kann Rafe Jackson bestimmt nicht vom Lauschen abhalten.“

Marc kicherte los. „Jackson lauscht?“

Janek zuckte die Schultern, grinste dabei aber. „Frag' Rafe.“

 

Es war früher Abend und bereits dunkel draußen, als Jacksons Handy zu piepen begann, was ihm ein Seufzen entlockte, bevor er danach griff und es verstummen ließ. Janek sah von einem dicken Stapel Fotografien auf, den er mit Rafe gerade anschaute.

„Wir müssen in einer Stunde los.“ Jackson streckte sich ausgiebig, bevor er aufstand. „Unser Termin wartet nicht. Interview mit einer Radiostation, korrekt? Ähm, Rafe?“

„WBCN“, antwortete der nur und schob seinen Stuhl zurück.

Janek half ihm, seine Bilder wieder einzupacken. Sie hatten die vergangenen Stunden in gemütlicher Runde verbracht, und zwischen Reden und Lachen, Unmengen an Kakao, Kaffee und später ein paar Gläsern Wein, jede Menge Gesprächsthemen gefunden. Immer wieder durch musikalische Einlagen von Jackson unterbrochen, der, nach langem Bitten und Betteln vonseiten Marcs, seine Gitarre hervorgeholt hatte.

Doch so schön es auch gewesen war, die Band von ihrer üblichen, nachmittäglichen Langeweile abzulenken, wie Jackson es amüsiert ausgedrückt hatte, bei Janeks Nachfrage, ob er und Marc wirklich nicht stören würden, jeder Tag ging irgendwann zu Ende.

„Cool“, sagte Marc auf Rafes Antwort hin und grinste, als die Brüder ihn neugierig ansahen. „Den Sender höre ich. Da läuft eure Musik ziemlich oft und sie verarschen gerne ihre Zuhörer.“

Bennett lachte kopfschüttelnd. „Wieso wundert mich nicht, dass dir so etwas gefällt?“

Marc streckte ihm als Antwort frech die Zunge heraus und stand ebenfalls auf, um Jackson anzusehen. „Dann müsst ihr uns wohl jetzt rauswerfen, hm? Damit du dich schick machen kannst.“

Jackson runzelte irritiert die Stirn, während Rafe und Bennett anfingen zu grinsen. „Wieso habe ich gerade das Gefühl, dass du dich über mich lustig machst?“

„Weil es so ist?“, konterte Marc und flüchtete lachend um die Couch herum, als Jackson nach ihm griff. „Ätsch, zu langsam.“

„Da hast du es, Bruderherz. Du wirst eben doch alt“, stichelte Rafe, während Janek sich breit grinsend daran machte, Bennett zu helfen, das benutzte Geschirr auf das Tablett vom Zimmerservice zu räumen.

„Ich bin nicht alt. Sprich nur für dich selbst“, konterte Jackson und sah gespielt böse zu Marc. „Und du frecher Bengel wirst mir gefälligst jede Woche schreiben oder mich anrufen, sonst sehe ich mich gezwungen, deinen Bruder anzurufen, um mich darüber zu beschweren, dass du mich, Jackson Connor, den Superstar am Himmel der Rockmusik, sträflich vernachlässigst.“

Marc starrte Jackson ein paar Sekunden verdutzt an, dann prustete er los und kam hinter der Couch hervor, um Jackson zuzunicken. „Okay, versprochen. Ich melde mich, wenn du dich meldest.“

„Abgemacht“, bestätigte Jackson schmunzelnd.

„Danke“, sagte Marc im nächsten Moment ernst und zuckte die Schultern, als Jackson ihn fragend ansah. „Für den Tag heute und das Konzert gestern und ... und … na ja, alles halt.“

Jackson unterbrach das Gestotter mit einem Lächeln und formte mit seinen Fingern einen Telefonhörer. „Du passt auf dich auf, klar? Und ich rufe an. Versprochen ist versprochen.“

Marc schien mit sich zu ringen, doch dann räusperte er sich. „Sei nicht böse, aber, ist das wirklich dein Ernst? Dass wir in Kontakt bleiben, meine ich?“

„Ja, mein voller Ernst“, antwortete Jackson und zog Marc in eine Umarmung, um ihm dabei etwas ins Ohr zu flüstern, was Marc lachen ließ.

„Das Gleiche gilt für uns.“

Rafes tiefe Stimme lenkte Janek von dem dreckigen Geschirr und Marc und Jackson ab. Er sah erst Rafe und danach Bennett verblüfft an, weil der mit einem Nicken dasselbe andeutete. Damit hatte er nicht gerechnet. Um ehrlich zu sein, überlegte Janek bereits innerlich, wie er Marc später am besten klarmachen konnte, dass Jackson sich nicht bei seinem Bruder melden würde, denn Janek glaubte nicht daran. Nicht, weil Jackson böswillig war und absichtlich ständig leere Versprechungen machte, so schätzte Janek weder ihn noch den Rest der Truppe ein, sondern aus dem ganz einfachen Grund, weil die Männer kaum Zeit haben würden, eine Freundschaft zu einem todkranken Teenager aufzubauen.

Rafe lachte leise, und Janek begriff nach einem Blick in dessen Augen, dass der Drummer genau wusste, über was er gerade nachgedacht hatte.

„Eine Verurteilung ohne Anklage und Verteidigung? Du enttäuscht mich, Janek“, sagte Rafe ohne Vorwurf in seiner Stimme und so leise, dass nur er es hören konnte. „Wir werden anrufen, verlass' dich drauf.“

„Warum?“, fragte Janek ebenso leise, weil ihm nichts Besseres einfiel.

Rafe lächelte. „Warum nicht?“

 

 

4

 

 

 

 

Das Telefon klingelte und Janek fiel beinahe von der Leiter, von wo aus er eine Lichterkette über der Tür hatte anbringen wollen, die jetzt laut klappernd zu Boden fiel. „Verflucht noch mal“, schimpfte er mit Blick auf die Uhr und kletterte die Sprossen herunter, um in den Flur zu gehen. Es war fast Mitternacht und Marc hatte morgen Schule. Wehe, wenn es nicht wichtig war. „Was ist?“

„Hey, Janek. Störe ich?“

Janek stutzte. Die tiefe Stimme gehörte einem Mann. An sich war das nichts Ungewöhnliches, mal abgesehen von der Uhrzeit, zu der er anrief, und der Tatsache, dass er seinen Namen kannte, obwohl Janek seit Jahren keine Männerbekanntschaften pflegte. „Wer ist da?“, fragte er ratlos und überlegte gleichzeitig, warum ihm die Stimme so bekannt vorkam.

„Rafe.“

Janek runzelte die Stirn. „Welcher Rafe?“ Es dauerte einen Augenblick, bis der Groschen fiel. „Ach so, Rafe ... Sorry, ich habe dich nicht gleich erkannt.“

Was in seinen Augen kein Wunder war. Sein Treffen mit ihm, Jackson und Bennett war jetzt drei Wochen her. Weihnachten stand vor der Tür, und Janek hatte in den letzten Tagen genug andere Dinge zu tun gehabt, als auf den Anruf eines vielbeschäftigten Musikers zu warten, mit dem er ohnehin nicht gerechnet hatte. Versprechen hin oder her.

Marc sah das natürlich ganz anders und Janek wusste schon gar nicht mehr, wie oft sie sich in den vergangenen Wochen deshalb gestritten hatten. Ehrlich gesagt, Janek war das Thema Jackson Connor mittlerweile einfach nur noch leid. Genauso wie Marcs Launen, die auch mit dem Sänger zu tun hatten, der es, im Gegensatz zu seinem Bruder, bislang nicht geschafft hatte, sich zu melden.

„Du hast mir nicht geglaubt, oder?“

„Nein“, gestand Janek und hatte dabei nicht mal ein schlechtes Gewissen. „Nimm's nicht persönlich, Rafe. Ich bin kein fünfzehnjähriger Teenager mehr, der Aussagen wie die von deinem Bruder für bare Münze nimmt. Im Gegensatz zu mir, hofft Marc noch immer auf Jacksons Anruf.“

„Du hast schlechte Laune.“

„Ja“, murrte Janek und lief ins Wohnzimmer zurück. „Bedank' dich bei Jackson. Und ruf' das nächste Mal zu einer normalen Zeit an. Ich wäre deinetwegen fast von der Leiter gefallen. Bei meinem derzeitigen Glück hätte ich mir das Genick gebrochen. Von der Erfindung der Zeitverschiebung hast du noch nie etwas gehört, oder?“

„Welche Leiter? Ist dir was passiert? Geht’s dir gut?“, fragte Rafe ratlos und besorgt zugleich.

„Ich schmücke unser Haus, weil Marc darauf besteht. Weihnachten halt. Das klingelnde Telefon hat mich total überrascht, sodass ich fast einen Abflug gemacht hätte“, antwortete Janek und betrachtete missmutig die völlig verdrehte Lichterkette auf dem Boden, die er hatte fallen lassen müssen, um nicht von der Leiter zu stürzen.

„Moment mal ...“ Rafe schwieg einen Moment. „Es ist doch beinahe Mitternacht bei euch. Wieso schmückst du um diese Zeit euer Haus und vor allem, warum erst jetzt? Es ist Mitte Dezember.“

Janek schnaubte. „Wieso rufst du mitten in der Nacht hier an?“

„Weil es bei uns in L.A. erst neun Uhr abends ist.“

„Ich danke vielmals für die Auskunft. Darauf wäre ich von allein niemals gekommen“, konterte er sarkastisch und verdrehte die Augen, als Rafe lachte. „Blödmann.“

„Sag' mal, bist du eigentlich immer so höflich, wenn man dich auf dem falschen Fuß erwischt, Janek Tears?“

„Kommt auf mein Gegenüber an“, brummte Janek. „Also, was verschafft mir nun die Ehre deines Anrufs? Hier liegt noch genügend Weihnachtskram herum, der an unsere Türen und Fenster soll, weil ich bisher keine Zeit dazu hatte. Und ich möchte heute irgendwann auch mal ins Bett kommen.“ Janek hatte keine Lust, mit Rafe zu reden, wollte ihn aber nicht einfach so abwürgen, was ihn frustrierte. Hätte der Kerl nicht morgen früh anrufen können? Doch irgendwie schien seine miese Laune völlig an Rafe abzuprallen.

„Ich wiederhole mich, warum schmückst du das Haus mitten in der Nacht?“

„Weil mir danach war!“, zischte Janek und fragte sich im nächsten Moment, wie Rafe es geschafft hatte, ihn so schnell auf die Palme zu treiben. Als Rafe daraufhin schwieg, stöhnte er genervt auf. „Wieso denkt eigentlich jeder sofort, es wäre etwas, nur weil ich schlechte Laune habe und ...“ Janek hielt verblüfft inne, als ihm bewusst wurde, was er gerade gesagt hatte. „Scheiße.“

„Das hat Jackson auch gemeint, nachdem er gestern Marcs Nachricht gelesen hatte“, konterte Rafe und seine Ruhe verärgerte Janek nur noch mehr. Wie machte der  Kerl das eigentlich?

„Meine Fresse. Fang' jetzt nicht so an. Ich habe heute keinen Nerv für dämliche Handtaschenpsychologie. Was immer Marc deinem Bruder geschrieben hat, es stimmt nicht oder nur zum Teil. Marc ist ... er hat ... Ach, vergiss es einfach.“ Janek schnaubte und begann dann hektisch im Wohnzimmer auf- und abzumarschieren. „Er treibt mich in den Wahnsinn, weil dein Bruder nicht anruft ... und überhaupt. Keine Ahnung, was Marc wann und wo gebissen hat. Ständig nörgelt er oder sitzt beleidigt in seinem Zimmer, und wenn das nicht funktioniert, schreit er mich an. Ich werde noch irre.“

„Eigentlich sollte man so kurz vor Weihnachten gute Laune haben“, warf Rafe ein und Janek fluchte unflätig. „Janek, was ist denn bei euch los? Und sag' mir jetzt ja nicht, dass es nur daran liegt, dass Jackson Marc noch nicht angerufen hat.“

„Sah ich bei unserem Treffen danach aus, als könnte ich hellsehen?“ Janek fuhr sich frustriert durchs Haar. „Woher soll ich bitteschön wissen, was mit Marc los ist? Mit mir redet er nicht. Jedenfalls nicht vernünftig. Ich komme mir langsam vor, als hätte ich einen bösen Gnom im Haus.“

„Wow, bist du gut drauf.“

Rafe klang irgendwie, als würde er gleich anfangen zu lachen. Janek zog finster die Brauen zusammen. „Leck mich doch am Arsch.“

„Aber nur, wenn er gewaschen ist“, stichelte Rafe, von seinem Ärger weiterhin unbeeindruckt.

Janek schnappte empört nach Luft. „Rafe!“

„Was ist? Kann ich etwa keine Bedingungen stellen, bevor wir Sex haben?“

„Du ...“ Janek blieb verblüfft hinter der Couch stehen. War dieser Musiker verrückt oder was sollte das werden? „Spinnst du jetzt komplett? Wer hat denn gesagt, dass wir Sex haben werden?“

„Na, wenn ich dich am Arsch lecken soll?“

Janek hätte sich am liebsten die Haare gerauft. Wieso nahm der Kerl denn gleich alles wörtlich? „Herrje, Rafe, das war doch nur so ein Spruch, um ... lachst du?“

„Ja“, gab Rafe zu und Janek hätte ihn am liebsten durch die Leitung gezogen und erwürgt. „Sorry, aber du klingst gerade wie Jackson, wenn er in bester Streitlaune durchs Haus rennt und auf alles und jeden flucht.“

Bevor Janek reagieren konnte, begann Rafe schallend zu lachen, und er konnte nicht anders als mitlachen. Er wollte nicht, aber Rafes Gelächter und die Vorstellung dessen, was er erzählt hatte, war dermaßen ansteckend, dass er sich nicht dagegen wehren konnte.

„Geht's dir jetzt besser?“, fragte Rafe, nachdem sie sich wieder beruhigt hatten.

Janek nickte, dabei fiel ihm ein, dass Rafe das nicht sehen konnte. „Ja“, sagte er und umrundete die Couch, um sich in die weichen Polster sinken zu lassen und die Beine auszustrecken. „Ich weiß nicht, was das eben war. Ich bin seit Tagen ständig auf Hundertachtzig. Tausend Termine im Krankenhaus, die keine Hilfe sind. Ärzte, Psychologen, und jeder mit diesem mitleidigen Blick im Gesicht. Gott, wie ich es hasse. Aber das kann ich diesen Leuten ja schlecht vorwerfen. Ich schätze, dein Anruf hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Es tut mir leid.“

„Entschuldigung angenommen“, sagte Rafe schlicht. „Janek, kommst du damit klar?“

Janek legte den Kopf nach hinten. „Nein. Überhaupt nicht. Und Marc macht es mir nicht einfacher. Ich kann sagen, was ich will, es ist garantiert verkehrt. Er ist eine richtige Zicke geworden.“

„Das passt zu dem, was Jackson gesagt hat“, konterte Rafe seufzend. „Er wollte mir nicht erzählen, was Marc ihm genau geschrieben hat, aber seine Laune ist seither phänomenal. Gestern konnte ich der Wasserflasche nur noch mit Mühe und Not ausweichen, die er mir hinterher geschmissen hat, als ich ihn gefragt habe, ob er etwas essen will.“

„Autsch“, machte Janek und runzelte die Stirn. „Ist alles in Ordnung bei ihm, überhaupt bei euch?“

„Ja. Ein paar Termine sind nicht so gelaufen, wie sie sollten, aus dem Grund beschränkt sich der Kontakt zu Marc auf Mails. So etwas macht Jackson normalerweise nicht mit Menschen, die ihm wichtig sind. Nicht mal im größten Stress. Ganz besonders nicht, wenn derjenige todkrank ist, so wie Marc.“

Das war eindeutig, aber Janek kommentierte Rafes Worte nicht. „Ich würde dir ja versprechen, mit ihm zu reden, aber ich weiß im Moment nicht, was ich zu Marc sagen kann, ohne dass er gleich wieder ausflippt.“

„Lass nur“, wehrte Rafe ab. „Jackson kann genauso störrisch sein wie Marc. Die beiden sollen das mal schön unter sich klären. Wenn sie sich an Weihnachten immer noch angiften, stopfe ich Jackson in einen Koffer und komme mit ihm nach Boston. Dann sperren wir die zwei in ein Zimmer, bis sie Ruhe geben.“

„Du meinst wohl, bis sie sich die Köpfe eingeschlagen haben“, konterte Janek grinsend.

„Oder so“, stimmte Rafe amüsiert zu. „Und wie läuft's sonst? Alles klar bei dir?“

Der Mann war unglaublich. Er erstickte in Arbeit und musste sich nebenher auch noch mit einem stänkernden Bruder herumärgern, hatte aber trotzdem Muße, um ihn nach seinem Gemütszustand zu fragen. Janek schüttelte den Kopf. „Das sollte ich wohl besser dich, Jackson und Bennett fragen. Ihr, mit euren Terminen und Auftritten. Sag' mal, weißt du überhaupt noch, was Schlaf ist?“

„Schlaf? Hm, das Wort habe ich schon mal irgendwo gehört“, stieg Rafe auf das Spiel ein. „Was bedeutet es?“

Janek grinste und zog beide Beine an, um es sich auf der Couch gemütlicher zu machen. „Ich schenke dir ein Lexikon zu Weihnachten, da kannst du es nachschlagen. Wie wäre das?“

„Okay“, antwortete Rafe belustigt. „Aber nur, wenn ich es nach meinem Bruder werfen darf, sobald er wieder den arroganten Mistkerl heraushängen lässt.“

„Vergiss ja nicht, Bilder davon zu machen. Das blaue Auge will ich in Großaufnahme sehen“, neckte Janek ihn und schmunzelte, als Rafe loslachte. „Also? Gibt es etwas Neues bei euch?“

„Nicht wirklich.“

„Das heißt …?“, hakte Janek nach und unterdrückte ein Gähnen.

„Wolltest du nicht zu Ende dekorieren und dann ins Bett gehen?“, wich Rafe einer Antwort aus, klang dabei aber nicht abgeneigt, sich weiter mit ihm zu unterhalten.

Janek grinste. Das war eine gute Gelegenheit für eine kleine Neckerei. „Der Weihnachtskram ist morgen auch noch da. Aber ich könnte dich ja mitnehmen. Ins Bett, meine ich.“

„Janek?“

Er grinste breiter. „Ja?“

„Flirtest du mit mir?“

„Sieht so aus.“ Als Rafe daraufhin hörbar einatmete, lachte Janek leise. „Auch wenn's nur mit dem Telefon ist. Ich schätze, das wird eine sehr einseitige Flirterei.“

Rafe prustete los. „Du bist unmöglich.“

Janek konnte den Musiker fast vor sich sehen, wie er, wo immer er gerade war, über ihn den Kopf schüttelte. „Danke“, sagte Janek belustigt und überlegte kurz. „Rafe, bevor wir uns missverstehen ...“

„Ich würde nicht mit dir flirten, wenn ich für Männer nichts übrighätte“, kam Rafe ihm zuvor und klärte damit die Fronten.

Janek nickte. „Gleichfalls. Und jetzt erzähl' mir, was ihr die letzten Wochen getrieben habt. Vermutlich jede Menge weiblicher Fans in Ohnmachtsanfälle getrieben.“

„Nicht nur weibliche.“

Janek hörte das dreckige Grinsen aus Rafes Stimme deutlich heraus. „Hm“, machte er und tat nachdenklich. „War denn jemand Interessantes dabei?“

„Ein, zwei Mal.“

„Aller guten Dinge sollen bekanntlich drei sein.“

Rafe lachte und Janek grinste. Er flirtete tatsächlich, obwohl er keine Ahnung hatte, was diesbezügllich in ihn gefahren war. Noch vor ein paar Minuten hatte er Rafe durch die Leitung ziehen und eiskalt erwürgen wollen, jetzt suchte er nach einem Weg, um sich noch nicht von dem Drummer verabschieden zu müssen.

„Es stört dich wirklich nicht, oder?“

„Warum sollte es?“, fragte Janek verwundert, begriff aber gleich darauf, was Rafe meinte. „Ach so, wegen der Fans. Nein, tut es nicht. Aber wo wir davon reden, weiß es euer Management? Ihr habt allgemein mehr den Ruf Frauenhelden zu sein.“

„Offiziell wird so etwas in unserer Branche natürlich nicht so schnell zugegeben. Aber ich habe nie ein großes Geheimnis daraus gemacht, dass ich beides mag. Bennett und Jackson sehen das nicht so locker, aber da mische ich mich nicht ein. Das müssen sie selbst wissen.“

Jackson und Bennett waren ein Paar? Darauf wäre er nie im Leben gekommen. „Die beiden sind …?“

„Das habe ich nicht gesagt.“

Janek stutzte. „Oh. Es tut mir leid, dann habe ich das missverstanden, und ...“

„Janek, sie sind ein Paar.“

„Jetzt verstehe ich gar nichts mehr“, sagte Janek und runzelte irritiert die Stirn. Rafe seufzte am anderen Ende der Leitung hörbar.

„Ich hätte das nicht sagen sollen.“

Der Gedanke war Janek auch schon gekommen. „Wir vergessen es einfach, okay? Ich werde sie nicht verraten, du hast mein Wort darauf.“ Rafe schwieg, und irgendwie wurde Janek das Gefühl nicht los, dass er unbeabsichtigt in ein Wespennest gestochen hatte. „Ich ...“ Er brach ab, weil er nicht wusste, was er sagen sollte.

„Themenwechsel?“, fragte Rafe, bevor die Stille in der Leitung drückend werden konnte, und Janek nickte.

„Einverstanden. Schlag' was vor.“

„Was verstehst du von Motorrädern?“

„Ich kann sie fahren.“

„Aber mehr auch nicht, oder?“ Rafe gluckste. „Na gut, dann erzählen wir uns jetzt gegenseitig eine kitschige, vor Schmalz triefende Gutenachtgeschichte.“

Janek lachte los.

 

 

5

 

 

 

 

Vier Tage später wurde Janek von einem lautstarken Klingeln aus dem Tiefschlaf gerissen. Anfangs konnte er das penetrante Geräusch überhaupt nicht zuordnen und griff daher automatisch nach dem Handy auf seinem Nachttisch, bis ihm aufging, dass die Türklingel schellte. Janeks Blick fiel auf die Uhr. Es war kurz vor drei Uhr morgens. Wer, zum Kuckuck, war das?

Ratlos und auch ein wenig besorgt, weswegen er erst einen Blick in Marcs Zimmer warf, der aber im Bett lag und schlief, lief Janek nach unten und knipste das Licht im Flur an. Das Klingeln verstummte sofort, was Janek stutzen ließ. Er ließ die Sicherheitskette vor und öffnete die Tür einen kleinen Spalt. Seine Augen weiteten sich erschrocken, als er den Besucher erkannte.

„Jackson? Verdammt, was machst du denn hier? Und wie siehst du aus? Bist du in einen Gulli gefallen?“

Die Frage war durchaus berechtigt, denn der Sänger trug zerknitterte Kleidung, als hätte er schon seit Tagen in seinen Sachen geschlafen, und wirkte zudem komplett übermüdet, was sein folgendes Gähnen eindeutig bewies. Außer einer Sporttasche in der Hand, hatte er scheinbar kein Gepäck dabei. Wie kam er bloß hierher? Und vor allem wieso?

„Kann ich bitte reinkommen?“, wollte Jackson nach dem Gähnen wissen.

Janek zögerte nicht lange. So wie der Musiker aussah, würde er sonst wohl auf der Schwelle umfallen und vor seinem Haus übernachten, was gemessen an den aktuell, vorherrschenden Temperaturen in Boston nicht ratsam wäre. Janek schloss die Tür, um sie wenig später ganz zu öffnen.

„Na komm schon rein, bevor du im Stehen einschläfst und dir über Nacht irgendetwas abfrierst.“ Jackson warf ihm ein dankbares Lächeln zu, bevor er ins Haus kam. Janek schloss die Tür und verriegelte sie wieder. „Was machst du hier, mitten in der Nacht? Und allein ... Oder sieht Rafe genauso aus wie du und ist am Flughafen auf einer Bank eingeschlafen?“

Der Scherz funktionierte, denn Jackson brachte ein Grinsen zustande. Allzu lange würde er sich aber nicht mehr auf den Beinen halten können, das war Janek klar.

„Nein, Rafe ist in L.A. geblieben. Ich konnte keinen früheren Flug kriegen. Bennett und er machen morgen ... äh, heute, die Termine alleine, weil ich mit Marc reden wollte. Übermorgen ist diese Liveshow im Radio und ich habe noch keinen Flug zurück. Emma versucht derzeit zwar alles, aber die Fluggesellschaften ...“

„Wow, wow, wow ... warte, Jackson. Ich verstehe kein Wort“, stoppte Janek seinen Redeschwall. So schnell wie er gerade erzählte und dabei, übermüdet wie er war, mit Sicherheit die Hälfte unter den Tisch fallen ließ, würde das nichts werden. „Ich stelle die Fragen, du antwortest nur mit 'Ja' oder 'Nein', und danach stecke ich dich ins Bett. Den Rest klären wir später. Also, Rafe weiß, dass du hier bist?“

„Ja.“

Jackson fielen im Sekundentakt die Augen zu und Janek beschloss, sich fürs Erste auf das in seinen Augen Wichtigste zu beschränken. „Solltest du Bescheid sagen, wenn du angekommen bist?“

„Ja.“

„Du bist hergekommen, um mit Marc zu reden, soviel habe ich mitbekommen. Wegen eurer Streiterei nehme ich an?“ Jacksons Antwort war ein Nicken, dicht gefolgt von einem weiteren Gähnen. „In Ordnung, du kannst im Gästezimmer schlafen. Aber vorher gehst du bitte unter die Dusche. Sei nicht böse, aber du riechst abartig nach Rauch und ... keine Ahnung was. Und wer ist Emma?“

„Sorry“, nuschelte Jackson und blinzelte ihn an. „Ach ja, Emma ist unsere Assistentin.“

Janek nickte. „Los, komm mit hoch. Augen auf dabei, sonst fällst du auf die Nase.“ Er lotste Jackson behutsam die Treppe hoch ins Bad, wo er ihm die Tasche abnahm. „Handtücher sind im Regal, eine Zahnbürste findest du auf der linken Seite im Spiegelschrank. Ich bringe deine Tasche ins Gästezimmer. Wenn du in den Flur kommst, gleich links, nächste Tür. Dann rufe ich Rafe an. Fall' mir hier drin nicht um, hörst du?“

„Okay.“

Dem Frieden traute Janek nicht. „Jackson, mach' die Augen auf und sag' mir, dass du nicht umfällst.“

Es dauerte ein paar Sekunden, aber dann sah Jackson ihn an. „Ich bin wach.“

Janek grinste. „Du kannst genauso schlecht lügen wie ich. Geh' duschen.“ Er ließ den Musiker allein, obwohl er nicht sicher war, ob der nicht doch in der Dusche umfiel. Leise seufzend brachte Janek Jacksons Tasche hinüber ins Gästezimmer, dann ging er runter und griff nach dem Telefon. „Mit euch Connors macht man was mit“, sagte er zu sich selbst und suchte dabei die Nummer aus dem Speicher, die er letztes Mal mit Rafe ausgetauscht hatte. Bereits nach dem zweiten Klingeln wurde abgehoben.

„Ist er noch heil?“

Janek verdrehte die Augen. „Ja, wenn er nicht in der Dusche einschläft und sich beim Hinfallen den Schädel einschlägt. Meine Güte, Rafe, er ist fix und fertig. Wieso kommt Jackson in dem Zustand her? ... Und überhaupt, woher habt ihr meine Adresse?“

Rafe seufzte erleichtert. „Emma hat euch in Boston gefunden. Und warum er da ist, weißt du doch.“

„Herrje“, stöhnte Janek genervt. „Es spricht für ihn, dass er diesen Streit mit Marc aus dem Weg räumen will, das gebe ich zu, aber mal ehrlich, Marc ist alt genug, um zu verstehen, dass ein Job manchmal vorgeht. Außerdem ist ja wohl weltbekannt, dass Musiker keinen normalen 8-Stunden-Tag haben.“

„Sag' das nicht mir, sondern diesem Idioten, der sich mein kleiner Bruder schimpft.“ Rafe klang jetzt genauso genervt, wie Janek es war. „Er hat nicht mit sich reden lassen. Verdammter Dickschädel.“

„Lassen wir das“, wehrte Janek ab. „Ist eh nicht mehr zu ändern. Wie lange ist Jackson auf den Beinen, dass er so aussieht? Ich wage mich gar nicht zu fragen, wie es dir und Bennett geht.“

„Wir waren die letzten drei Tage fast rund um die Uhr unterwegs. Ich vermeide jeden Blick in einen Spiegel.“

Janek runzelte die Stirn. Er wusste durch seinen alten Job zwar einiges über Marketing und Promotion, und dass das Ganze Stress war, war ihm auch klar, aber so ... Jackson sah fürchterlich aus. „Ist das immer so schlimm, wenn ihr ein neues Album auf den Markt bringt?“

„Anfangs, ja. Das nennt sich zwar Promotion, aber Sklavenauktion würde meiner Meinung nach viel besser passen. Nun ja ... es gehört dazu und wenn ich den Job nicht gewollt hätte, hätte ich auch auf dem Bau anfangen können.“ Rafe lachte kurz. „Aber nach dieser Woche ist erst mal Schluss. Über Weihnachten haben wir frei.“

Janek nickte verstehend. Stress hin oder her, Rafe liebte es, Musiker zu sein. Und irgendwie konnte Janek ihn sich auch nicht als Banker oder Maurer vorstellen. „Tu' mir den Gefallen und mach' es deinem Bruder nach, den ich jetzt ins Bett stecken werde.“

„Wie? Keine Gutenachtgeschichte?“, tat Rafe gespielt beleidigt und brachte ihn damit zum Lachen.

„Die bleibe ich dir bis zum nächsten Anruf schuldig“, antwortete Janek belustigt. „Das ist mir gerade etwas zu riskant, mit deinem schlafwandelnden Bruder oben im Badezimmer. Ab ins Bett, Connor. Und zwar presto.“

„Sehr wohl, Boss!“

Janek schmunzelte. „Schlaf' gut, Rafe.“

„Du auch, und pass' auf ihn auf, ja?“

Das war so typisch großer Bruder. In der Beziehung dachte Janek genauso und wusste genau, was Rafe damit eigentlich sagen wollte. „Er wird dich anrufen, sobald er wach ist“, versprach er und legte auf.

Als Janek im Obergeschoss ankam, um nachzusehen, ob Jackson das Badezimmer mittlerweile verlassen hatte, kam ihm ein verschlafen dreinblickender Marc entgegen.

„Ist irgendwas los? Ich hab' Stimmen gehört.“

Bevor Janek antworten konnte, ging die Tür zum Bad auf und Jackson trat gähnend, nur mit einem Handtuch um die Hüften, in den Flur. Marc blieb der Mund offen stehen und auch Janek musste schwer an sich halten, um nicht zu starren. Jackson Connor war genau der Typ, den Janek früher bei jeder Gelegenheit in sein Bett gezogen hatte. Oder woanders hin, sofern es kein Bett gab. Groß, schlank, trainiert – ein tolles Sixpack. Und diese dünne Haarlinie unterhalb seines Bauchnabels, reizte Janek, sie mit seinen Fingern zu berühren. Es war zu schade, dass Jackson scheinbar seine Brust rasierte. Janek blinzelte und wandte seinen Blick ab, um Marc zurück ins Bett zu schicken.

„Jackson?“, fragte sein Bruder verdutzt, nachdem er einige Male heftig geblinzelt hatte.

„Hey, Kleiner.“

„Morgen“, kam Janek Marc zuvor, als der weiterreden wollte, und deutete den Flur entlang. „Tür ist auf, Licht an. Geh' schlafen, Jackson.“

„Aye, Sir ... oder so ... äh, sorry.“

Janek musste lachen. „Ab ins Bett. Wir reden später.“ Er sah Jackson nach, bis die Tür vom Gästezimmer ins Schloss gefallen war, danach blickte er zu Marc, der ihn irritiert anschaute. „Was?“

„So möchte ich auch mal aussehen“, murmelte Marc und wurde rot.

Janek zwinkerte seinem Bruder zu. „Wem bei diesem Anblick nicht die Worte fehlen, der hat definitiv keinen Geschmack.“

„Janek, also ehrlich“, empörte sich Marc, aber seine Mundwinkel zuckten verdächtig, bevor er kurz Richtung Gästezimmer sah. „Stehst du auf ihn?“

Wie bitte? Wie kam sein Bruder denn darauf? Janek sparte sich jeden Kommentar dazu. „Gehen wir endlich wieder schlafen. Ihr könnt nachher reden. Deshalb ist er nämlich hier.“

Marcs Blick verdunkelte sich und einen Moment lang befürchtete Janek, dass er jetzt einen Streit vom Zaun brechen würde, aber das geschah nicht. Marc nickte nur und verschwand wieder in seinem Zimmer. Janek stieß erleichtert die Luft aus. Das war noch mal gut gegangen. Er warf einen Blick ins Badezimmer, aber Jackson hatte keine Überschwemmung hinterlassen. Stattdessen lagen seine Sachen über den Fliesenboden verteilt, was Janek nicht sonderlich verwunderte. Er stopfte die verrauchte Kleidung in den Wäschekorb und machte das Licht aus, bevor er wieder ins Bett ging.

 

Es war bereits früher Nachmittag, Janek holte gerade die dritte und letzte Ladung Wäsche aus dem Trockner, als er ein Lebenszeichen aus dem Obergeschoss hörte. Er hatte die Tür zum Wäscheraum offenstehen lassen, um zu hören, wann Jackson aufstand, und konnte nun dem Geräusch nackter Füße auf der Treppe lauschen, bevor der Musiker ins Wohnzimmer ging, innehielt und dann in Richtung Küche kam.

„Hallo? Jemand zu Hause?“

Janek schmunzelte. „Im Wäscheraum. In die Küche rein und dann links.“

Kurz darauf trat Jackson durch die Tür. „Hi.“

„Na? Ausgeschlafen?“ Janek sah über seine Schulter. Jackson hatte noch immer tiefe Augenringe, wirkte aber wacher als letzte Nacht. Allerdings schien er vergessen zu haben, dass er sich in Boston befand und nicht in Los Angeles. Janek deutete auf seine nackten Füße. „Zieh dir Socken an. Hier in Boston herrscht Winter, falls dir das entgangen sein sollte.“

„Mir ist nicht kalt“, winkte Jackson ab.

Janek legte dessen frisch gewaschene Jeans auf einen Extraplatz und sah ihn danach tadelnd an. „Du kommst aus L.A., das hier ist Boston. Connor, streite besser nicht mit dem Typen, der deine Sachen gewaschen hat.“

Jacksons blauen Augen weiteten sich ungläubig. „Du hast ...? Danke.“

„Kein Thema“, wehrte Janek ab. „Ich musste sowieso waschen. Und du ziehst dir Socken an. Ich habe keine Lust, deinem Bruder später erklären zu müssen, weshalb du mit einer Lungenentzündung nach Hause gekommen bist.“

Als Jackson, statt kehrtzumachen, anfing zu grinsen, griff Janek nach einem Paar seiner eigenen Socken und warf diese nach dem Musiker. Jackson wich aus und fing an zu lachen, bevor er sich abwandte.

„Man merkt eindeutig, dass du ein Kind aufziehst.“

„Das lass Marc besser nicht hören. Er besteht darauf, fast erwachsen zu sein.“ Janek grinste, als er Jackson im Wohnzimmer lachen hörte. „In der Küche steht Kaffee, falls du willst.“

„Habt ihr Kakao da?“

Das Gerücht über Jacksons Liebe zu Kakao stimmte offenbar. Janek nahm sich die restliche Wäsche, um sie zusammenzulegen. „Im Küchenschrank über der Spüle steht eine Packung. Auf der linken Seite. Die Milch ist im Kühlschrank. Bedien' dich.“

„Danke.“ Jackson kramte in den Schränken. „Wo habt ihr die Tassen? … Vergiss es. Schon gefunden.“ Ein paar Sekunden herrschte Stille, dann klappte die Tür von der Mikrowelle. „Danke übrigens.“

„Wofür?“ fragte Janek verwundert, nahm den vollen Wäschekorb und ging in die Küche, wo Jackson an der Küchenzeile lehnte, während die Tasse in der Mikrowelle neben ihm ihre Runden drehte.

„Dass du mir in der letzten Nacht nicht die Tür vor der Nase zugeschlagen hast.“

„Ach so. Kein Problem. Ich muss noch mal kurz weg. Kann ich dich für eine Weile alleine lassen oder stellst du dann schlimme Dinge an?“

Jackson begann zu grinsen. „Ich mache nie schlimme Dinge. Wohin willst du denn? Kann ich helfen?“

Janek schüttelte den Kopf. „Einkaufen, und nein, du hilfst dabei nicht. Außerdem ist es Taktik. Ich bin circa zwei Stunden weg, in einer Stunde kommt Marc von der Schule, dann könnt ihr in Ruhe miteinander reden. Und lasst bitte das Haus stehen.“

Jackson verzog das Gesicht. „Ich versuch's.“

„Ich frag' lieber nicht, was Marc dir geschrieben hat.“ Janek schmunzelte und ging in den Flur, um die Wäsche nach oben zu bringen. Er würde sie später wegräumen. Jackson stand mit der Tasse in der Hand im Flur, als er zurück nach unten kam. Janek griff nach seinem Mantel, nahm Geldbörse, Handy und Hausschlüssel, und packte dann zwei Einkaufsbeutel in seine Manteltaschen.

Jackson runzelte die Stirn. „Du gehst zu Fuß?“

„Wir mussten das Auto verkaufen.“ Janek zuckte mit den Schultern, als Jackson ihn überrascht ansah. „Marcs Krankenhausrechnungen sind nicht billig.“ Mehr würde er zu dem Thema nicht sagen, entschied Janek. „Ach ja, er ist mit Kochen dran. Sag' ihm, im Kühlschrank steht eine Schüssel Reis, den er verbrauchen soll, bevor wir ihn wegschmeißen müssen. Und ruf' deinen Bruder an. Ich habe Rafe versprochen, dass du dich meldest.“

„Noch was? Wenn ja, brauche ich Zettel und Stift, um mir deine Anweisungen zu notieren“, neckte Jackson ihn und wich im nächsten Moment lachend seiner Faust aus.

Janek grinste. „Spinner. Der Laptop im Wohnzimmer ist meiner und steht auf Stand-by. Ich habe vorhin nach Rückflügen für dich gesucht. Schau's dir an, vielleicht ist was Passendes dabei.“

„Meine Güte“, staunte Jackson kopfschüttelnd. „Ich wette, du warst ein Ass in deinem Job.“

„War ich.“ Janek zog die Haustür auf und setzte seine Mütze auf, als ein Schwall kalter Luft in den Flur wehte. „Winter, sag' ich doch“, meinte Janek mit bedeutsamem Blick auf Jacksons nackte Füße. „Zieh dir endlich was an, sonst kriegst du Frostbeulen.“ Janek zog lachend die Tür ins Schloss, als Jackson ihm mit der Faust drohte, dabei jedoch grinste. „Ruf' Rafe an!“

„Ja, ja“, schallte zu ihm nach draußen, und Janek zog sich leise lachend Handschuhe an, bevor er sich auf den Weg machte.

 

 

6

 

 

 

 

Das Haus war weder explodiert noch niedergebrannt. Janek konnte auch keine Flüche oder Schreie aus dem Inneren hören, als er anderthalb Stunden später die Tür aufschloss und wegen der Ruhe misstrauisch ins Innere trat. Hatten sich die Dickköpfe gegenseitig umgebracht? Er übertrieb vermutlich maßlos, das war Janek bewusst, andererseits konnte man nie so genau wissen, was zwei Streithähne alles fertig brachten, besonders wenn einer davon sein kleiner Bruder war.

Janek zog sich aus, räumte die Einkäufe weg und warf dann einen Blick ins Wohnzimmer. Niemand zu sehen. Sein Laptop stand heruntergefahren auf dem Tisch. Also hatte Jackson daran gearbeitet. Janek sah erneut in die Küche, als ihm etwas einfiel. Marc hatte Essen gemacht, im Geschirrspüler standen benutzte Teller. Wo waren die beiden bloß?

Er lief die Treppe nach oben und zuckte erschrocken zusammen, als plötzlich schallendes Gelächter aus Marcs Zimmer in den Flur schallte. Das war eindeutig Jackson. Marc fiel in das Lachen ein und Janek war beruhigt. Die zwei hatten anscheinend Frieden geschlossen, sehr gut. Das hätte ihm jetzt noch gefehlt, Streitschlichter spielen zu müssen. Mit leisen Schritten ging er zu Marcs Zimmer und schaute hinein, da die Tür halboffen stand.

Janeks Gesicht überzog ein amüsiertes Lächeln, denn Marc stand vor seinem Schreibtisch und suchte offenbar nach etwas, während Jackson im Schneidersitz auf dem Bett saß und leise lachend ein Fotoalbum durchblätterte. Marcs erstes Babyalbum erkannte Janek bei genauerem Hinsehen und wunderte sich im nächsten Moment über die Ordnung in Marcs Zimmer.

Normalerweise sah es in dessen Zimmer immer aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen, doch jetzt lag weder schmutzige Kleidung auf dem Boden herum, noch wirkte Marcs Schreibtisch, als würde er gleich unter dem dort liegenden Papierberg zusammenkrachen. Janek konnte es kaum glauben. Marc hatte aufgeräumt. Vermutlich in der vergangenen Nacht. Janek verkniff sich ein Grinsen. Erstaunlich, wofür Jacksons Besuch alles gut war.

„Wo ist es denn bloß?“ Marc kramte murmelnd in der Erinnerungsschublade seines Schreibtisches herum, wo er Kleinigkeiten aufbewahrte, die er im Laufe der Jahre von Schwestern, Ärzten und ihren Eltern bekommen hatte, um sich abrupt mit einem, „Voilà!“, zu Jackson zu drehen, einen blauen Plüschaffen in der Hand haltend.

Janek verkniff sich ein Aufstöhnen. Ausgerechnet das Teil. Er hätte die beiden vielleicht doch nicht alleinlassen sollen. Dieser Affe hatte tagelang für lautes Gelächter auf der Krebsstation gesorgt, und Jackson schien derselben Meinung zu sein, denn er lachte schallend los, bevor er Marc zu sich winkte.

„Ich fass' es nicht. Zeig' her.“

Marc setzte sich neben ihn und reichte Jackson den Affen, auf dessen Brust groß und breit 'Jackson' gestickt war. Das blaue Plüschtier war damals mehr als Scherz gedacht gewesen, um Marc aufzumuntern, aber der hatte das hässliche Teil angesehen, angefangen zu lachen und dem Affen anschließend einen Ehrenplatz in seinem Bett zugewiesen. Heute lag er zwar nicht mehr dort, sondern in seinem Schreibtisch, aber trotzdem war dieser Affe für Marc immer etwas Besonderes geblieben.

„Wer hat ihn dir geschenkt?“, fragte Jackson amüsiert und knautschte den Affen dabei durch.

„Janek.“

Janek verzog das Gesicht. Seit wann war Marc denn so schwatzhaft?

Jackson sah Marc verblüfft an. „Im Ernst?“ Als Marc grinste, zog er gespielt beleidigt die Nase kraus und hielt den Affen vor sich. „Jackson, ich glaube, wir müssen uns mit deinem Namensgeber mal näher unterhalten.“

Marc prustete los, dabei fiel sein Blick auf ihn. „Hey, seit wann bist du wieder da?“

Janek lehnte sich amüsiert gegen den Rahmen. „Lang genug, um zu hören, wie du alte Peinlichkeiten von mir ausplauderst.“

Marc kicherte. „Ich mag Jackson. Sogar beide.“

Der echte Jackson seufzte tief auf. „Ich bin ein blaues Plüschtier. Wo soll das nur enden?“

Janek begann breit zu grinsen. „Vermutlich in deiner eigenen, sockenlosen Actionfigur.“

Marc prustete los, nachdem Janek ihm die Sache mit den Socken erklärt hatte, und zur Strafe verdonnerte Jackson Janek daraufhin, morgen mit ihm Einkaufen zu gehen, weil der Sänger erst einen Flug am späten Abend bekommen hatte. Jackson wollte die Gunst der Stunde nutzen und in den hiesigen Geschäften nach Geschenken für das kommende Weihnachtsfest suchen.

 

Den restlichen Nachmittag verbrachten sie draußen, bei einem langen Spaziergang. Als sie im Dunkeln wieder ins Haus traten, war Jackson der Erste, der in die Küche verschwand, um sich einen heißen Kakao zu machen. Er war die Kälte von Boston eindeutig nicht gewohnt.

Janek sah ihm grinsend nach, dann fiel sein Blick auf Marc. „Du siehst aus, als könntest du eine Mütze Schlaf vertragen.“ Dass kein Widerwort kam, beunruhigte ihn. „Ist alles okay?“

Marc nickte. „Ich bin nur müde.“

„Und?“, fragte Janek leise, weil Marc Richtung Küche sah, wo Jackson herumwerkelte. „Marc? Was ist los?“

„Die kalte Luft“, antwortete sein Bruder und runzelte die Stirn. „Es fühlt sich ganz seltsam an. So als wäre ich kurzatmig, aber das ist es nicht.“

„Hast du Schmerzen?“, fragte Janek besorgt.

„Nein, deshalb wunder' ich mich ja“, antwortete Marc mit einem Schulterzucken.

„Leg dich eine Weile hin“, bat Janek und strich Marc über dessen braunes Haar, woraufhin der ihn ansah. „In einer Stunde gibt es Abendbrot. Ich schicke Jackson zum Wecken hoch, einverstanden?“

Marc lachte leise. „Ist gut. Janek?“

„Hm?“

„Entschuldige, dass ich die letzten Tage so eklig war.“ Janek blinzelte verdutzt, was Marc erneut die Schultern zucken ließ. „Jackson hat ... Sei nicht böse, aber Rafe hat ihm erzählt, wie schlecht es dir ging, weil ich so gemein zu dir war. Tut mir leid.“

„Mir auch“, murmelte Janek und zog Marc an sich. „Wir schaffen das schon. Auch wenn wir uns vermutlich noch öfters in die Haare kriegen werden.“

Marc lachte leise. „Dickköpfe, was?“

„Wetten, dass meiner dicker ist?“, stichelte Janek.

„Träum' weiter“, kicherte sein Bruder und löste sich von ihm. „Ich leg' mich hin. Weckt mich, ja? Ich räume dafür nach dem Essen die Küche auf.“

„Einverstanden.“ Als Janek in die Küche kam, stand Jackson genauso da wie schon am Nachmittag. „Taust du langsam auf?“

Jackson nickte schmunzelnd und schaute in Richtung Wohnzimmer. „Geht's ihm gut?“

Janek befüllte die Kaffeemaschine. „Er ist müde und hat sich hingelegt. Du sollst ihn später zum Abendessen wecken.“

Jackson nickte grinsend. „Mach' ich.“ Dann setzte er sich an den Tisch. „Übrigens, ich habe meinen Flug für morgen Abend von deinem Laptop aus gebucht. Ist doch okay, oder?“

„Sicher.“ Janek setzte sich zu ihm. „Und wann fliegst du nun genau?“

„Sieben Uhr.“ Jackson sah ihn fragend an. „Ist das in Ordnung? Ich meine, dass ich noch eine Nacht hier bei euch schlafe. Sonst nehme ich mir ein Hotelzimmer.“

Seltsam. Janek sah Jackson nachdenklich an. Auf der Bühne und abseits davon, strahlte Jackson Connor ein so großes Selbstbewusstsein aus, dass man ihn ständig und überall als arrogant abstempelte, doch bei einer solch einfachen Frage, schien er so verunsichert wie ein kleiner Junge. Ein krasser Gegensatz, der vermutlich nicht von ungefähr kam.

„Janek?“

„Ich war in Gedanken“, sagte Janek, als ihm aufging, dass er Jackson angestarrt hatte. „Du kannst diese Nacht bei uns schlafen, ist kein Problem.“

Jackson sah ihn forschend an. „Bist du sicher?“

Für einen Moment lang war Janek versucht zu fragen, warum Jackson aus einer schlichten Frage so ein Drama machte, entschied sich aber dagegen. Es wäre zu privat gewesen. Stattdessen nickte er. „Ja, natürlich. Marc freut sich, das weißt du doch.“

Jackson lächelte. „Ich mag deinen Bruder. Für einen Fan ist er wirklich nett.“

Janek schmunzelte, was ihm einen fragenden Blick einbrachte, den er mit einem Zwinkern kommentierte. „Für einen Superstar bist du auch ganz okay.“

Jackson drohte ihm mit dem Finger, dann grinste er. „Rafe hatte recht. Du bist wirklich unmöglich.“

„Ihr redet über mich?“, fragte Janek gespielt empört.

„Natürlich. Andauernd. Und nur schlimme Sachen“, ging Jackson darauf ein, was sie beide lachen ließ.

„Du bist ein Spinner.“

Der Sänger zuckte mit den Schultern. „Das behaupten Ben und Rafe auch ständig. Ich habe keine Ahnung, wie sie darauf kommen.“

Janek sparte sich einen Kommentar. „Was sagst du eigentlich zu Marcs Zimmer?“, fragte er stattdessen, weil er neugierig war, ob Jackson die große Liebe zum Detail genauso erkannt hatte, wie er selbst.

Jackson lehnte sich zurück. „Es ist klasse. Marc ist knallrot geworden, als ich ihm das gesagt habe, aber es sieht umwerfend aus. Die ganze Art und Weise, wie er es gemacht hat. Mit diesen Collagen, selbst ausgedruckten Bildern, überhaupt alles ... Rafe muss sich das unbedingt mal ansehen. Der steht auf Kunst.“

Nur ein Künstler verstand einen anderen Künstler, da war wirklich etwas dran. Janek nickte lächelnd. „Ihr habt ja jetzt unsere Adresse.“

Jackson nickte, wurde aber gleichzeitig nachdenklich. „Er hätte es zu seinem Beruf machen sollen.“

„Wollte er auch“, sagte Janek und stand auf, um sich einen Kaffee zu nehmen. Er umschloss die Tasse mit den Händen, nachdem er sich wieder hingesetzt hatte. „Marc war schon immer gut mit Bildern und Farben. Er wollte Architekt, Fotograf oder Designer werden. Das war sein Traum, seit er ein kleiner Junge war.“

„Er wäre erstklassig“, murmelte Jackson.

Ja, das wäre Marc wirklich, nur würde er leider keine Gelegenheit haben, es der Welt zu zeigen. Janek behielt den Gedanken für sich und war froh, dass Jackson nichts mehr sagte. Er wollte dieses Thema nicht weiterführen. Jedenfalls nicht heute. Marcs Krankheit würde noch früh genug auf ihn zukommen.

 

„Wie hältst du das bloß mit ihm aus?“, stöhnte Janek am nächsten Nachmittag ins Handy und Rafe begann schallend zu lachen. „Ich finde das nicht lustig. Wir sind seit drei Stunden unterwegs, seit drei Stunden, Rafe, und dein Bruder hat immer noch nicht genug. Wenn er so weitermacht, haben wir bald jedes Geschäft in unserem Viertel durch. Mir tun die Füße weh, es ist arschkalt und der Himmel sieht aus, als würde es bald anfangen zu schneien. Ich will nach Hause.“

Er jammerte, das war Janek bewusst, aber es war ihm vollkommen egal. Einkaufen oder Shopping, wie Jackson es gestern genannt hatte, war für ihn bislang einfach ein notwendiges Übel gewesen, was bedeutete, man ging in einen Laden, packte einen Einkaufswagen voll, bezahlte, und machte dann, dass man nach Hause kam. Das hier war jedoch Stress.

„Konntest du schon etwas für dich kaufen?“, fragte Rafe mit hörbarem Lachen in der Stimme.

Janek schnaubte. „Wann denn? Zwischen den drei Jeansläden oder den sechs Kramkisten? Vielleicht in den zwanzig Minuten, die dein lieber Bruder gebraucht hat, um zwischen Schmuck- und Schuhladen zu wechseln, in die ich nicht rein wollte. In dem Secondhandshop am Ende der Straße hat er einen Hut gekauft und gemeint, der wäre perfekt für dich. Darf ich ihn umbringen?“

„Jammer' nicht“, schallte Jacksons belustigte Stimme zu ihm, der gerade vor die Tür eines Herrenausstatters trat, eine Tüte in der Hand.

„Was hast du denn jetzt gekauft?“, fragte Janek mit entsetztem Blick.

„Janek? Wie viele Tüten von ihm trägst du?“, fragte Rafe dazwischen.

„Acht“, antwortete Janek irritiert und schnappte nach Luft, als Rafe antwortete. „Was heißt hier, 'nur'?“, murrte er und schaute zu Jackson, weil Rafe wieder lachte. „Was ist in der Tüte?“

„Das willst du nicht wissen“, wehrte der grinsend ab.

„Wieso nicht? Ich schleppe das Ding wahrscheinlich gleich, also kannst du mir auch sagen, was du gekauft hast“, beharrte Janek auf einer Antwort.

„Unterwäsche. Willst du sie sehen?“

„Nein!“ Janek verdrehte die Augen. Rafe schien vor Lachen zu ersticken. „Was du für Unterwäsche trägst, gehört mit zu den Dingen, die ich nicht wissen will.“

„Feigling. Jetzt hör' auf, mit meinem großen Bruder zu flirten. Wir müssen noch in diesen Blumenladen da hinten.“ Jackson deutete zum Geschäft der Martins auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

„Wie bitte?“, fragte Janek verblüfft, genauso wie Rafe, was als Echo bei ihm ankam.

„Was will er in einem Blumenladen?“, schob der noch nach.

Janek blinzelte verdattert und folgte Jackson, der sich bereits auf den Weg gemacht hatte. „Frag' mich nicht. Ist er dein Bruder oder meiner? Jackson, was willst du bei den Martins?“

„Du kennst die Besitzer?“

„Ja, seit Jahren. Es sind sehr nette Leute“, antwortete Janek automatisch und bereute es, als Jackson ihm über die Schulter hinweg ein fieses Grinsen zuwarf. „Jackson, was willst du da?“

„Was könnte ich wohl in einem Geschäft für Blumen und Pflanzen wollen?“, kam stichelnd zurück und Janek stöhnte auf. Jackson konnte echt widerlich sein. „Stöhn' nicht, komm' lieber.“

„Rafe? Ich will ihn wirklich umbringen.“

„Warte noch. Zumindest, bis du weißt, was er in dem Blumenladen will“, konterte Rafe hörbar belustigt. „Das interessiert mich nämlich brennend.“

„Verräter“, murrte Janek, folgte Jackson aber brav in den Laden, wo der sich mit ausgebreiteten Armen zu ihm umdrehte. Sehr zur Belustigung von Ehepaar Martin, die hinter der Kasse standen und ihnen neugierig zusahen. „Was?“, fragte Janek misstrauisch.

„Welche willst du?“

Janek verstand kein Wort. „Hä?“

Rafe begann wieder zu lachen. „Okay, ich ahne, was er vorhat. Das nennt sich Danke sagen auf Jackson-Art.“

„Was meinst …?“ Janek brach verdattert ab, als der Groschen fiel. „Das ist nicht dein Ernst.“

„Oh doch“, amüsierte sich Rafe am anderen Ende der Leitung. „Viel Spaß beim Aussuchen. Jetzt gib mir bitte meinen Spinner von Bruder, ja? Bye, Janek.“

 

Stunden später, als Jackson schon lange im Flugzeug saß, starrte Janek noch immer ratlos auf den Kaktus, den Jackson ihm geschenkt hatte, und der vor ihm auf dem Küchentisch stand. Der junge Ficus und die Yuccapflanze hatten im Wohnzimmer einen Platz gefunden.

Janek schüttelte den Kopf und lachte leise. Ein Kerl, der einem anderen Pflanzen schenkte. Das war verrückt, und passte eindeutig zu Jackson Connor. Drei Pflanzen für eine dreistündige Shoppingtour; Jacksons Art Danke zu sagen, genau wie Rafe zuvor gesagt hatte. Die Martins hatten sich herzlich darüber amüsiert und die gekauften Pflanzen keine Stunde nach ihrer Rückkehr zum Haus angeliefert.

„Echt irre, was?“

Janek zuckte zusammen und drehte sich um. Marc stand in der Tür und grinste ihn breit an. „Hm?“

„Die Pflanzen. Welcher Kerl schenkt einem anderen Typ schon Blumen?“ Marc ließ sich mit einem Jauchzen auf einen Stuhl sinken. „Ich glaube, er mag dich.“

Janek warf ihm einen schiefen Blick zu.

Marc gab sich unschuldig. „Hey, du hast selbst gesagt, dass er heiß ist. Wer weiß, vielleicht denkt er das ja auch von dir.“

„Das habe ich gar nicht gesagt“, wehrte Janek ab, was seinen Bruder zum Lachen brachte.

„Doch, hast du. Du hast ihn im Flur fast angesabbert. Es fehlte nur noch die Speichelspur an deinem Kinn.“

„Na warte ...“, drohte Janek, und sprang auf, während Marc lachend aus der Küche flüchtete.

 

 

7

 

 

 

 

„Die Spitze ist schief.“

„Ist sie nicht.“

„Doch, ist sie. Guck' doch hin.“

Janek stemmte die Hände in die Seiten und verkniff sich ein Lachen. „Tu' ich die ganze Zeit. Sie ist gerade.“

„Nicht von hier“, beharrte Marc stur.

„Was interessiert mich dein Standort?“, hielt Janek amüsiert dagegen. „Von meinem sieht sie gerade aus.“

Marc schnaubte. „Du bist doof.“

„Danke.“

Janek grinste Marc an und bekam ein lautes Seufzen zur Antwort. So ging es schon eine ganze Weile zwischen ihnen. Der Weihnachtsbaum stand direkt gegenüber der Couch, neben dem Doppelfenster, war voll behangen mit Kugeln, Sternen und Schneeflocken aus Glas, und einer obligatorischen Lichterkette. Nur die Baumspitze fehlte im Moment noch.

„Wir hätten ihn im Tageslicht aufstellen sollen“, sagte Marc grüblerisch und hielt den Stern in der Hand, der nach oben gehörte und ihre Diskussion ausgelöst hatte, weil Marc beim Umstellen der Leiter zuvor erklärt hatte, ihr Baum stünde schief.

„Wenn ein gewisser junger Mann, und ich nenne jetzt besser keinen Namen, lieber bis tief in die Nacht auf dem Weihnachtsmarkt trödelt, anstatt nach Hause zu gehen, braucht er sich auch nicht wundern, dass der mühsam erbeutete Weihnachtsbaum erst jetzt das Licht der Welt erblickt.“

Marc stöhnte. „Oh Gott, jetzt wird er poetisch.“

Janek lachte und Marc streckte ihm frech die Zunge raus, bevor er zu ihm trat und den Baum ansah. „Okay, du hast recht. Von hier aus ist er gerade.“

„Habe ich doch gesagt“, nickte Janek zufrieden. „Gut, also mach' die Spitze drauf. Und danach ... wer räumt auf und wer macht Abendessen?“

Marc kletterte auf die Leiter. „Ich räume auf.“

„Das dachte ich mir.“ Janek machte sich lächelnd auf den Weg in die Küche. Auf halbem Weg schreckte ihn die Klingel an der Haustür auf.

„Erwartest du noch jemanden?“, wollte Marc aus dem Wohnzimmer wissen.

Janek schüttelte den Kopf. „Nein. Du?“

„Nö“, kam zurück.

Janek zuckte mit den Schultern und ging in den Flur. Mal sehen, wer sie um diese Uhrzeit noch stören wollte. Vor der Tür erwarteten ihn ein heftiger Schneesturm und ein junger Paketbote mit stark geröteter Nase, der ihm grinsend ein Paket hinhielt. „Du meine Güte. Wer hat Sie denn bei dem Wetter rausgejagt?“, fragte Janek.

Sein Gegenüber lachte fröhlich. „Mein Boss. Er ist der Meinung, Weihnachtslieferungen haben auch bei Sturm ein Recht darauf, zugestellt zu werden.“

Janek verzog das Gesicht. Der arme Kerl. „Ich würde Ihnen ja eine Tasse Kaffee anbieten, aber Sie sehen aus, als müssten Sie noch woanders hin.“

„Stimmt“, nickte der Bote mit Blick auf seinen vollen Rucksack. „Zwei Pakete muss ich noch ausliefern, dann ist Feierabend. Aber Danke für die nette Einladung. Und jetzt bitte unterschreiben ... Danke. Frohe Weihnachten.“

„Ihnen auch.“ Janek blickte ihm nach und schloss die Tür, als der heftig fallende Schnee den Mann verschluckt hatte. Das Paket hin- und herdrehend, holte er aus der Küche ein Messer und ging ins Wohnzimmer zurück. Es stand kein Absender obendrauf. Komisch. Janek setzte sich auf die Couch.

„Was ist das?“, fragte Marc, der dabei war den ersten Karton von ihrem Baumschmuck zusammenzupacken, und schnappte sich nebenher einen Keks von dem Teller, der auf dem Couchtisch stand, neben weiteren Kartons, bevor er zu ihm kam.

„Keine Ahnung. Ist an uns adressiert. Allerdings ohne Absender“, antwortete Janek und zerschnitt die Schnur, mit der das Paket umwickelt war. Dann gab er es Marc. „Mach' auf.“

Marc nickte und zerriss das braune Packpapier, um in den Karton sehen zu können. Im Inneren befanden sich zwei weitere Pakete, die in Weihnachtspapier gewickelt waren. Eines in blau, das andere in grün.

„Hast du etwa einen geheimen Verehrer, der dir ein Weihnachtsgeschenk macht?“, fragte Marc amüsiert.

„Nicht, dass ich wüsste. Du?“, konterte Janek frech.

„Pfft“, machte Marc, dann lachten sie, während Marc die Päckchen heraus nahm. „Sieh mal, da ist ein Brief.“

Janek nahm den schlichten, weißen Umschlag in die Hand. Wieder stand kein Name darauf. Schulterzuckend öffnete er ihn und zog ein gefaltetes Blatt heraus. Nach den ersten Worten begann er belustigt zu grinsen. „Der ist für dich.“

„Für mich?“ Marc schaute ihn verblüfft an. „Von wem denn?“

Janek sagte nichts, hielt Marc nur den Brief hin. Der nahm ihn und schnappte im nächsten Moment entrüstet nach Luft.

„Das ist doch wohl eine ... Ich bin kein zickiger Gnom. Woher hat er überhaupt ...?“ Marc sah ihn an und Janek lachte los. „Janek! Wusstest du das etwa?“

„Nein“, wehrte Janek mit entschuldigend erhobenen Händen und weiterhin lachend ab. „Zickiger Gnom. Das muss ich mir merken.“

„Pah“, machte Marc empört und las weiter, und seine Augen wurden mit jedem Satz ein Stück größer. „Boah, das kriegt er wieder“, schimpfte er schließlich und stand auf, um das Telefon zu holen und sich damit wieder zu ihm zu setzen.

Janek grinste nur und lehnte sich zurück. Jetzt würde es gleich lustig werden.

„Gib mir sofort den Mistkäfer von deinem Bruder ... Ich helf' dir gleich, von wegen frohe Weihnachten ... Ich bin gar kein zickiger Gnom ... Rafe! Hör' auf zu lachen.“ Marc lauschte eine Weile, dann begann er zu kichern. „Ich fass' es nicht ... Ja, Janek sitzt neben mir und lacht genau wie du. Ich geb' ihn dir.“

Marc hielt ihm grinsend den Hörer hin, um sich dann die zwei Päckchen genauer anzusehen. Janek nahm den Hörer. „Ja? Rafe?“

„Ich hörte gerade, das Paket ist angekommen?“

„Ist es.“ Janek schüttelte amüsiert den Kopf, als Marc sich das grüne Päckchen ans Ohr hielt und es schüttelte. „Wer hat den Brief geschrieben? Jackson oder du?“

„Jackson. Ich habe nur Hilfestellung gegeben.“

Janek lachte leise. „Ihr seid mir ein Pärchen. Echte Brüder, wohl wahr.“

„Was hast du denn erwartet? Bei der Vorlage, die die beiden uns abgeliefert haben“, verteidigte sich Rafe und Janek konnte hören, wie der Drummer gegen ein Lachen ankämpfte. „Übrigens, das blaue Päckchen ist für dich, das etwas kleinere für Marc. Frohe Weihnachten.“

„Äh ... Rafe ...“

„Vergiss es“, unterbrach der ihn sofort. „Wir planen das seit dem Nachmittag im Hotel, da müsst ihr jetzt durch. Und wehe, du kommst mir mit diesem 'geben und nehmen' Unsinn, dann werde ich sauer.“

Janek verdrehte die Augen, sagte aber nichts weiter dazu. Das war wieder mal so typisch. Rafe nahm ihm den sprichwörtlichen Wind aus den Segeln und erstickte sein aufkeimendes schlechtes Gewissen, weil Janek selbst an Weihnachtsgeschenke für die Musiker überhaupt nicht gedacht hatte. „Schon gut, du hast gewonnen. Wie wäre es mit Dankeschön und Frohe Weihnachten?“

„Schon besser“, antwortete Rafe hörbar belustigt.

Marcs Handy klingelte. „Ja? … Jackson, hi. Nein, der flirtet mit meinem Bruder. Ja, sag' ich ihm später.“ Marc lachte los. „Spinner ... Was ist denn drin? … Das Grüne? Wehe, es ist etwas Peinliches, dann ...“

Janek blendete Marcs Stimme aus und richtete seine Konzentration auf Rafe. „Verrätst du mir, was in meinem Geschenk ist?“

„Nein. Mach' es auf.“

„Wieso heute? Weihnachten ist erst in drei Tagen“, hielt Janek dagegen.

„Weiß ich. Aber da wir über Weihnachten in Aspen sind, müsst ihr heute schon auspacken. Also nichts mit Vorfreude ist die schönste Freude“, antwortete Rafe.

„Dann verzichte ich auf die Vorfreude. Warte kurz ...“ Janek legte das Telefon zur Seite und nahm das blaue Geschenk aus dem Karton. „Was ist das? Ein Ziegelstein? Oder ein Goldbarren?“, fragte Janek, als er das Telefon wieder in der Hand hatte, denn das Paket war schwer.

Rafe lachte. „Sag' ich dir nicht. Aufmachen.“

„Weil du es bist“, erklärte Janek amüsiert und packte das Geschenk aus. Es war ein Buch und er schaute es im ersten Moment verdutzt an, weil er zuerst glaubte, seine Augen würden ihm einen dummen Streich spielen, dann lachte er schallend los. Ein Kamasutrabuch. Janek griff nach dem Telefon. „Du Arsch.“

Jetzt war Rafe derjenige, der lachte. „Ich wusste, dass du den Zusammenhang erkennen würdest.“

Janek schüttelte amüsiert den Kopf. „Wie lange wirst du mich mit dieser 'Leck mich am Arsch'-Geschichte aufziehen?“

„Bis du alt und grau bist, verlass dich drauf“, stichelte Rafe und Janek konnte an dessen Stimme hören, wie der Drummer gegen ein neues Lachen kämpfte.

„Meine Fresse!“

Janek sah zu seinem Bruder, der fassungslos in sein Paket starrte. „Moment mal ... Marc, alles okay?“

Marc sah auf und deutete mit der Hand auf das Paket. „Er hat ... sie haben ... das ist ...“

Janek wurde nervös und wollte schon nachfragen, als Rafes Stimme ihn ablenkte. „Diese Reaktion haben wir uns erhofft. Ich lege jetzt auf. Marc könnte die nächsten Minuten ein wenig brüderliche Unterstützung brauchen. Frohe Weihnachten, Janek.“

„Dir auch.“ Janek legte auf und das Telefon beiseite, bevor er einen Blick in das Paket war. Als er begriff, was er da sah, nahm er Marc das Handy aus der Hand. „Du bist genauso irre wie dein Bruder.“ Statt einer Antwort lachte Jackson und Janek warf einen genaueren Blick auf das Cover der brandneuen CD von 'Desert Sand'. „Sind das etwa …?“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739308265
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Juni)
Schlagworte
Schwul Drama Tod Romance

Autor

  • Mathilda Grace (Autor:in)

Aufgewachsen in einem kleinen Dorf im tiefsten Osten von Deutschland, lebe ich heute in einer Großstadt in NRW und arbeite als Schriftstellerin. Seit 2002 schreibe ich Kurzgeschichten und Romane, bevorzugt in den Bereichen Schwule Geschichten, Drama, Romanzen und Fantasy. Weitere Informationen zu mir und meinen Büchern findet ihr auf meinem Blog-
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Titel: Der Moment der Wahrheit - Teil 1