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Zeitgenossen - Kampf gegen die Sybarites (Bd. 2)

von Hope Cavendish (Autor:in)
228 Seiten
Reihe: Zeitgenossen, Band 2

Zusammenfassung

Gemma und ihre Freunde haben sich bei den Sybarites eingeschleust. Damit steht Gemma ihr bisher schwierigster Kampf bevor – die Macht einer einflussreichen Vampirsekte zu schwächen. Sie begegnet hierbei auch Giles wieder, der sich ihrem Vorhaben anschließt. Der Kampf gegen die Sybarites findet schließlich für alle Beteiligten ein unerwartetes Ende, das Gemma und ihre Freunde zwingt, sich auf unbestimmte Zeit zu trennen. Werden die Freunde sich eines Tages wiedersehen? Die Zeit beantwortet diese Frage, während eine Revolution, ein ungewöhnlicher neuer Freund sowie der erste Vampirroman der Literaturgeschichte Gemmas Schicksal vorantreiben. "Kampf gegen die Sybarites" ist der zweite Band der historischen Vampirroman-Serie "Zeitgenossen". Im Mittelpunkt der Serie steht die Vampirin Gemma, die im Laufe der Jahrhunderte erfährt, was es bedeutet, unsterblich zu sein. Sie wird zur Zeitzeugin vieler historischer Ereignisse, erlebt Kriege, Entdeckungen und Revolutionen, begegnet der Liebe, dem Kampf und dem Tod. Ihre Freunde stehen ihr dabei oft zur Seite, doch ihren Weg muss Gemma letztendlich selbst finden.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsangabe: Kampf gegen die Sybarites

 

Gemma und ihre Freunde haben sich bei den Sybarites eingeschleust. Damit steht Gemma ihr bisher schwierigster Kampf bevor – die Macht einer einflussreichen Vampirsekte zu schwächen. Sie begegnet hierbei auch Giles wieder, der sich ihrem Vorhaben anschließt. Der Kampf gegen die Sybarites findet schließlich für alle Beteiligten ein unerwartetes Ende, das Gemma und ihre Freunde zwingt, sich auf unbestimmte Zeit zu trennen.

Werden die Freunde sich eines Tages wiedersehen? Die Zeit beantwortet diese Frage, während eine Revolution, ein ungewöhnlicher neuer Freund sowie der erste Vampirroman der Literaturgeschichte Gemmas Schicksal vorantreiben.

 

Kampf gegen die Sybarites ist der zweite Band der historischen Vampirroman-Serie Zeitgenossen. Im Mittelpunkt der Serie steht die Vampirin Gemma, die im Laufe der Jahrhunderte erfährt, was es bedeutet, unsterblich zu sein. Sie wird zur Zeitzeugin vieler historischer Ereignisse, erlebt Kriege, Entdeckungen und Revolutionen, begegnet der Liebe, dem Kampf und dem Tod. Ihre Freunde stehen ihr dabei oft zur Seite, doch ihren Weg muss Gemma letztendlich selbst finden.

 

Prolog

 

Ich war eine Greisin. Zumindest dem Alter nach, denn seit meiner Geburt waren über 100 Jahre vergangen. Da ich jedoch mit 25 Jahren in eine Vampirin verwandelt wurde, sah man mir dies nicht an.

Der Vampir, der für meine Verwandlung verantwortlich war, hieß Giles. Ich hatte ihn zunächst für einen Feind gehalten und erst spät begriffen, dass er so gehandelt hatte, um mein Leben zu retten. Bald darauf hatten wir uns ineinander verliebt, was mich jedoch nicht davon abgehalten hatte, mich erneut mit ihm zu überwerfen. Mittlerweile wusste ich, dass ich Giles unrecht getan hatte, doch da hatte ich ihn bereits verloren.

Die Sybarites hingegen waren in der Tat meine Feinde. Für die Vampirsekte stand der Genuss menschlichen Blutes im Vordergrund und sie zelebrierten ihn auf die dekadenteste und abscheulichste Weise. Wer sich ihnen nicht anschließen wollte oder sich gar – wie meine Freunde und ich – nur von tierischem Blut ernährte, den verachteten und bekämpften sie.

Mein Plan, etwas gegen die grausamen Machenschaften der Sybarites zu unternehmen, hatte Giles und mich einst entzweit, doch ich war noch nicht so ganz bereit von dem Vorhaben abzulassen. Meine Freundin Maddy unterstützte mich dabei. In ihr hatte ich eine Gefährtin gefunden, auf die ich mich stets verlassen konnte, die mich aber dennoch auch sanft kritisierte, wenn es mal nötig war. Nachdem wir mit Francisco und Miguel zwei weitere Mitstreiter im Feldzug gegen die Sybarites aufgetan hatten, war es uns tatsächlich gelungen, uns als neue Mitglieder in die Sekte einzuschleusen. Zu diesem Zweck hatten Francisco und ich uns als Liebespaar ausgeben müssen und schon bald war aus dem Spiel Ernst geworden. Diese Affäre mit Francisco vereinfachte mein Gefühlsleben zwar nicht gerade, doch gab sie mir auch die Kraft, meine Maskerade vor den Sybarites aufrechtzuerhalten.

Jene Kraft hatte ich nicht zuletzt bei dem Festbankett benötigt, welches die Sybarites zu Ehren unserer Aufnahme in ihren Reihen veranstaltet hatten. Zu unserem Aufnahmeritual hatte es gehört, vor den Augen aller Mitglieder eine Jungfrau – unser sogenanntes Gastgeschenk – komplett auszusaugen. Und wenngleich es uns auch gelungen war, für diese Aufgabe zwar noch unberührte, aber dennoch keineswegs unschuldige Opfer aufzutreiben, so wussten wir gleichwohl, dass dies erst der Auftakt einer Reihe von Grausamkeiten mit unserer Beteiligung sein würde.

 

Bündnis

 

Am Morgen nach unserer Aufnahme bei den Sybarites besuchten uns Francisco und Miguel, um mit uns die Geschehnisse des Festbanketts zu besprechen.

»Sonderlich viele neue Informationen hat uns ja der gestrige Abend nicht unbedingt gebracht«, eröffnete ich das Gespräch.

»Hast du das erwartet?«, fragte Francisco überrascht. »Es war doch klar, dass wir zunächst einmal diese Aufnahmefeierlichkeiten über uns ergehen lassen mussten.«

»Ich weiß«, entgegnete ich missmutig. »Aber die ganze Verstellung angesichts dieser Abscheulichkeiten wäre mir ein wenig leichter gefallen, wenn wir wenigstens schon etwas mehr über die Organisation der Sybarites hätten erfahren können.«

»Immerhin sind wir ja alle morgen im Jardin du Luxembourg mit dem Marquis de Momboisse verabredet. Und er hat versprochen, uns alle ausführlich über die ›Freuden und Genüsse‹ der Sybarite-Mitgliedschaft zu unterrichten«, erklärte Maddy beschwichtigend.

»Richtig. Und da der Duc de Longueville ihn angewiesen hat, uns mit jeglicher Information, ›nach der es uns gelüstet‹, zu versorgen, können wir ihn mit unseren Fragen regelrecht löchern«, pflichtete Miguel ihr bei.

»Meinst du nicht, dass ihn das misstrauisch machen wird?«, gab Francisco zu bedenken.

»Nun, in deinem Fall vielleicht schon«, schaltete ich mich ein, »da du dich früher ja so oft dagegen gewehrt hast, ein Sybarit zu werden. Aber wenn Maddy und ich ihm wieder mit naiver Einfalt begegnen, wird er unsere Fragen für begeisterte Neugierde halten.«

Francisco sah mich ernst an. »Du weißt aber, dass dies wiederum viel Theaterspiel von dir verlangt?«, fragte er.

Ich seufzte resigniert. »Ich weiß. Aber uns allen war klar, dass wir jetzt auf lange Zeit sehr viel Theater spielen müssen.«

»Dann lasst uns besprechen, welche Informationen wir Momboisse entlocken wollen«, verkündete Miguel entschlossen. »Ich denke, zuallererst ist es wichtig, mehr über die Rangfolge und hierarchischen Strukturen der Organisation herauszufinden, nicht wahr? Wir wissen bereits, dass der Duc de Longueville Oberhaupt aller Sybarites weltweit ist und wir kennen Viscount Whitfield, der den englischen Sybarites vorsteht. Stellt sich die Frage, ob es noch einen separaten Anführer der französischen Sybarites gibt und welche Rolle der Marquis de Verneuil und der Comte de Trébuchon spielen? Und ob es noch andere hochrangige Mitglieder mit bestimmten Aufgaben gibt?«

»Ja, und wir sollte auch versuchen, mehr über ihre Wächter, die Mort-Vivants, herauszufinden«, fügte Maddy hinzu. »Wie viele von ihnen gibt es und wie mächtig sind sie?«

»Richtig. Darüber hinaus sind die Sybarites ja offenbar auch so gut organisiert, dass es wohl bestimmt noch weitere Helfershelfer gibt«, überlegte Francisco.

»Ich fand den Vertrag, den wir alle mit unserem Blut unterschreiben mussten, auch recht undurchsichtig«, stellte ich grübelnd fest. »Wir sollen den ›Interessen der Sybarites fortan oberste Priorität geben‹. Aber welche Interessen sind dies genau? Eigentlich geht es den Sybarites doch nur um das Vergnügen, oder? Wie weit gehen die ›Angelegenheiten und Unternehmungen‹, über die wir ›völliges Stillschweigen bewahren‹ sollen, nun wirklich?«

»Vermutest du, dass sie auch politische Ambitionen haben?«, fragte Francisco. »Das glaube ich nicht. Sie hätten ihre Macht sonst schon längst dahingehend missbrauchen können, haben aber nie dergleichen getan.«

»Vielleicht nicht, um offen über die Menschen zu regieren, da sie sich ihnen sowieso überlegen fühlen«, überlegte ich. »Aber vielleicht in der Form, dass sie sich ein politisches Klima sichern, dass es ihnen erlaubt, ihre Machenschaften ungestört zu verfolgen?«

Die drei sahen mich nachdenklich an.

»Gut möglich, dass du mit dieser Vermutung recht hast«, stimmte mir Miguel schließlich nach einer Weile zu. »Der Umstand, dass sie für ihre Veranstaltungen, Räumlichkeiten wie die Saint-Étienne-du-Mont nutzen können, deutet zumindest darauf hin, dass sie auch unter den Menschen hochrangige Handlanger haben. Keine Ahnung, ob sie sie durch Einschüchterung oder Bestechung dazu bringen, ihnen zu helfen.«

»Wir werden es herausfinden«, erklärte Francisco entschlossen.

 

Am nächsten Morgen trafen wir uns mit dem Marquis de Momboisse im Jardin du Luxembourg. Der Jardin war ein großer, herrschaftlicher Schlosspark, den Maria von Medici vor vielen Jahren für ihr Landschloss hatte anlegen lassen. Er hatte große Baumbestände, zahlreiche Blumenrabatten und Wasserbecken und besaß dank der von der damaligen Schlossherrin angepflanzten Palmen auch ein gewisses italienisches Flair.

Wie immer nahezu euphorisch gestimmt kam Momboisse uns mit einem breiten Lächeln entgegen. »Ah, meine lieben Freunde! Nun, wie hat Ihnen unser bescheidenes Fest zu Ihren Ehren gefallen?«

Innerlich auf meine Rolle eingestimmt stieß ich ein albernes Kichern aus und stupste Momboisse neckisch in die Seite. »Bescheiden? Von wegen, Monsieur! Ich habe selten solch einer rauschenden Festivität beigewohnt.« Dann hakte ich mich bei ihm unter.

Momboisse lächelte geschmeichelt. »Sie alle haben sich aber auch auf das vortrefflichste in unsere Gemeinschaft eingefügt. Und Ihre Gastgeschenke waren geradezu exquisit! Wo haben Sie sie nur aufgetrieben?«

Derweil hakte sich Maddy auf seiner anderen Seite unter und lächelte ihn kokett an. »Das, mein teurer Monsieur de Momboisse, muss leider ein Geheimnis bleiben. Wir haben halt so unsere Quellen.«

Maddy und ich spannten unsere Sonnenschirmchen auf, dann spazierten wir mit Momboisse in unserer Mitte den Park entlang, rechts und links begleitet von Francisco und Miguel.

Momboisse gab sich bekümmert. »Schade, dass die Damen darüber schweigen wollen. Aber vielleicht können die Herren mir ein wenig mehr verraten?«, er neigte den Kopf zu Francisco. »Die Desmoiselles de Quignard waren ja ganz bezaubernde Geschöpfe«, fuhr er fort, ohne zu wissen, dass er für Mademoiselle Nymphéa genau dieselbe Bezeichnung wählte, wie sie selbst einst für die von ihr gequälten Kinder. »Erstaunlich, dass ich ihnen noch nie zuvor begegnet bin.«

»Dann seid Ihr offenbar noch nicht soviel herum gekommen wie wir«, antwortete Francisco ihm mit einem gespielt herzlichen Lächeln und log sodann: »Die Desmoiselles sind allerdings auch überaus behütet und zurückgezogen aufgewachsen.«

»Ich nehme an, dass Material dieser Güte einen ganz außergewöhnlichen Geschmack hatte?«, fragte Momboisse leicht neidisch.

»Ihr ahnt nicht annähernd, was dieser Genuss mir bedeutet hat«, antwortete Francisco mit blitzenden Zähnen.

»Monsieur de Momboisse, der Empfang war ein ganz außergewöhnliches Erlebnis für uns«, schaltete ich mich wieder in das Gespräch ein. »All diese kultivierten und hochrangigen Mitglieder! Und der Duc de Longueville ist ja eine beeindruckende Erscheinung! War er schon immer das Oberhaupt der Sybarites?«

»Soweit ich weiß, führt er unsere Organisation bereits seit dem 14. Jahrhundert«, überlegte Momboisse. »Die Oberhäupter davor hatten wohl kürzere Amtszeiten.«

»Was beendet denn die Amtszeit eines Oberhauptes?«, fragte Miguel.

»Eigentlich nur sein Tod. Dann tritt sein Nachfolger das Amt an«, erklärte Momboisse. »In dem äußerst unwahrscheinlichen Fall, dass ein Oberhaupt selbst einmal gegen die Regeln der Sybarites verstößt oder sich als illoyal erweist, kann es auch abgewählt werden. Aber das ist in unserer Historie erst zweimal passiert.«

»Wie lange gibt es denn die Sybarites überhaupt?«, wollte daraufhin Maddy wissen.

Momboisse lächelte stolz. »Oh, bereits seit dem Jahr 38 vor Christi. Damals kamen griechische Vampire aus Sybaris nach Lutetia, dem antiken Paris, und gründeten dort die Organisation, um dem Vampirismus einen angemessenen Rahmen zu geben.«

»Oh, wie wundervoll, dass wir nun alle einer so altehrwürdigen Gemeinschaft angehören«, heuchelte ich Begeisterung. »Und wer wählt das Oberhaupt und seine Nachfolger aus?«

»Dies tun bei unseren Untergruppen in Frankreich, England, Spanien, der Republik Venedig, Polen-Litauen, dem Zarentum Russland, Brandenburg-Preußen und dem Erzherzogtum Österreich jeweils die Sybarites mit der längsten Mitgliedschaft. Aus ihnen setzt sich dann auch ein Gremium zusammen, das das weltweite Oberhaupt bestimmt.«

»Und in anderen Ländern gibt es keine Sybarites?« hakte Francisco nach.

»Wozu?«, antwortete Momboisse verächtlich mit einer Gegenfrage. »Was sollen die Sybarites bei den Barbaren?«

»Also sind der Marquis de Verneuil und der Comte de Trébuchon die Nachfolger des Ducs?«, fragte ich.

Momboisse nickte. »Richtig. Außerdem sind sie auch seine Stellvertreter. Der Marquis steht an zweiter Stelle und der Comte an dritter. Sobald ein Nachfolger nachrückt, bestimmt das Gremium den nächsten, damit immer zwei Nachfolger zur Verfügung stehen.«

»Und die anderen Mitglieder müssen gar nichts tun?«, schaltete Maddy sich mit naivem Lächeln ein. »Ruht die ganze Verantwortung nur auf den armen Oberhäuptern?«

Momboisse grinste sie amüsiert an. »Nun, als ›arm‹ würde ich sie deswegen nicht unbedingt bezeichnen. Aber dennoch erhalten sie natürlich etwas Unterstützung von Mitgliedern, die bestimmte Ämter bekleiden. Ich zum Beispiel …«, er verneigte sich bescheiden, »… bin ein Maître de Embauchage, das heißt, ich kümmere mich darum, neue würdige Mitglieder zu finden, wie beispielsweise die Mesdames und Messieurs. Für die Damen das sicherlich interessanteste Amt ist vermutlich das des Maître de Divertissement, bekleidet von dem Comte de Baissac. Er plant unsere geselligen Zusammenkünfte, denkt sich unterhaltsame Vergnügungen aus, treibt für diesen Zweck entsprechende Örtlichkeiten auf und organisiert alles nötige Material. Unser Maître de Sécurité überwacht die Sicherheit unserer Organisation, sorgt dafür, dass niemand seine Verpflichtung zur Diskretion missachtet und rekrutiert unsere zuverlässigen Wächter, die Mort-Vivants.«

»Sind das diese riesenhaften Gestalten, die uns zu unserem Empfang begleitet haben?«, fragte Maddys neugierig. »Warum heißen Sie Mort-Vivants?«

Momboisse beugte sich verschwörerisch zu ihr herüber. »Weil sie erst nach ihrem Tod in Vampire verwandelt wurden. Ihr müsstet sie einmal sehen, wenn sie ihre Kapuzen lüften: ein unappetitlicher Anblick, besonders, wenn der Verwesungsprozess zum Zeitpunkt ihrer Verwandlung schon ein wenig fortgeschritten war.«

Maddy heuchelte Verblüffung. »Erst nach ihrem Tod? Wie ist denn so etwas möglich? Und wie kommt es, dass sie den Sybarites so ergeben sind?«

Momboisse sah sie nachdenklich an. »Ihr scheint Euch ja sehr für unsere Wächter zu interessieren.«

Maddy kicherte verlegen. »Ich gebe zu, dass ich eine Schwäche für morbide Themen habe.«

Momboisse grinste. »Dann unterhaltet Ihr Euch am besten einmal mit dem Comte de Radisset. Er ist als Maître de Sécurité für die Mort-Vivants zuständig.«

»Der Comte de Baissac hat ja mit der Wahl des Ortes für unser Empfangsbankett einen unvergleichlichen Geschmack bewiesen«, brachte ich nun ein weiteres Thema zur Sprache. »Die Saint-Étienne-du-Mont lieferte einen ebenso raffinierten wie stilvollen Rahmen für diesen Abend. Der Comte muss ganz hervorragende Verbindungen haben.«

Erneut versuchte Momboisse vergeblich, seinen Stolz über das Lob zu verbergen. »Oh, die hat er auch«, antwortete er kichernd. »Aber natürlich ist es für die Sybarites ein Leichtes, nützliche Verbindungen zu hochrangigen Mitgliedern aus Politik und Klerus herzustellen. Welcher Mensch von Verstand wäre nicht entzückt, unserer erhabenen Rasse zu Diensten zu sein?«

»Selbstverständlich«, pflichtete ich ihm bei. »Aber läuft man bei den schwachen Menschen – erst recht, wenn man ihnen gestattet, Mensch zu bleiben – nicht Gefahr, dass sie irgendwann ihrem Hang zur Indiskretion anheimfallen?«

Momboisse tätschelte fürsorglich meine Hand. »Diese Gefahr braucht Ihr nicht zu befürchten. Unser Maître de Recrutement – in diesem Fall ist es eine Maîtresse, weil die Comtesse de Garandout dieses Amt ehrenvoll erfüllt – sorgt dafür, dass die Menschen, die uns zu Diensten sind, ihre Verpflichtungen sehr ernst nehmen. Besteht dennoch einmal der Verdacht auf eine Indiskretion, so wird diese Gefahr von ihr im Keim erstickt.«

Francisco zwang sich zu einem anerkennenden Lächeln. »Es klingt ganz so, als seien die Sybarites de Sang perfekt organisiert.«

»Jahrhundertelange Übung macht nun mal den Meister«, antwortete Momboisse grinsend.

Nun gab ich vor, ein wenig zappelig zu werden und schalt meine Mitstreiter. »Jetzt haben wir den armen Marquis wirklich genug mit Fragen gelöchert.« Dann wandte ich mich noch einmal aufgeregt an Momboisse. »Monsieur verratet mir doch, wann wir an der nächsten Veranstaltung teilnehmen dürfen? Wird es wieder ein Festbankett sein? Oder welche raffinierten Lustbarkeiten hat der Maître de Divertissement noch im Angebot?«

Momboisse lächelte mich strahlend an. »Ich dachte schon, Ihr würdet mich dies nie fragen Mademoiselle. Die Sybarites veranstalten 14-täglich Festbankette und 14-täglich Hetzjagden im Bois de Vincennes, also im wöchentlichen Wechsel jeweils ein Bankett und eine Hetzjagd.«

»Hetzjagden?«, fragte ich erstaunt.

Er zwinkerte mir vergnügt zu. »Natürlich, meine Liebe. Wir wollen unseren Mitgliedern doch das Vergnügen nicht nehmen, ihre Beute auch regelmäßig selbst erlegen zu können.«

»Aber ist das nicht viel zu auffällig?«, gab Miguel zu bedenken.

»Selbstverständlich nicht, teurer Freund! Es wird von uns immer alles tadellos vorbereitet und das Gelände entsprechend abgesichert.«

Momboisse wandte sich wieder mir zu. »Darüber hinaus gibt es natürlich auch noch diverse andere Veranstaltungen wie zum Beispiel Orgien oder kleine Schaukämpfe. Es ist für jeden Geschmack etwas dabei und wir achten darauf, dass keines der Gelüste unserer Mitglieder unbefriedigt bleibt. In den nächsten Tagen wird Ihnen unser monatliches Programm ins Haus flattern.«

Maddy gab Momboisse in gespielter Herzlichkeit die Hand. »Monsieur, ich spreche mit Sicherheit für uns alle, wenn ich Euch sage, dass wir diesen Veranstaltungen mit großem Vergnügen entgegenblicken.«

Daraufhin verabschiedete sich Momboisse mit einem vergnügten Augenzwinkern von uns allen und versprach, uns für weitere Fragen jederzeit mit Rat und Tat beiseite zu stehen.

Francisco sah ihm nachdenklich hinterher. »Wenn er nicht so widerwärtig wäre, könnte man ihn glatt für sympathisch halten.«

 

Wie von Momboisse vorhergesagt, brachte uns am übernächsten Tag ein Bote das umfangreiche monatliche Veranstaltungsprogramm der Sybarites. Es enthielt die Termine und Örtlichkeiten für die von Momboisse erwähnten Festbankette und Hetzjagden sowie weitere Hinweise auf diverse Veranstaltungen, darunter verschiedene Orgien, Vorführungen und Ausflüge. In einem Begleitschreiben erläuterte Momboisse uns, dass die Teilnahme bei den meisten Veranstaltungsarten freiwillig war, abgesehen von den Levers und den Chambres Ardente.

Bei den Levers handelte es sich um Morgenempfänge des Duc de Longueville, die dieser einmal im Monat in seinen Privatgemächern abhielt. Hierbei hört er sich die Belange seiner Mitglieder an und traf wichtige Entscheidungen, während er seiner Morgentoilette nachging.

Die Chambres Ardente waren Gerichtsverhandlungen unter dem Vorsitz des Ducs, die abgehalten wurden, wenn ein Mitglied maßgeblich gegen die Regeln der Sybarites verstoßen hatte. Den Erläuterungen Momboisses zufolge fanden Verhandlung, Urteilsverkündung und Vollstreckung des Urteils im Rahmen einer einzigen Veranstaltung statt, für die für jedes Mitglied Anwesenheitspflicht bestand. So eine Verhandlung sollte laut Programm in zweieinhalb Wochen stattfinden.

Obwohl es uns nicht leicht fiel, vereinbarten wir mit Francisco und Miguel, zunächst keine der Veranstaltungen auszulassen, damit wir möglichst viel über die inneren Strukturen der Sybarites herausfinden konnten. Darüber hinaus sollte Francisco versuchen, sich mit der Comtesse de Garandout anzufreunden, um in Erfahrung zu bringen, welche Menschen alle in den Diensten der Sybarites standen, und Maddy beabsichtigte, über den Comte de Radisset mehr über die Mort-Vivants herauszufinden.

Es war wichtig für uns, zu erforschen, wie weit die Macht der Sybarites reichte und ob es mögliche Schwachstellen gab, die wir uns zunutze machen konnten.

 

Als Nächstes stand eine Hetzjagd im Bois de Vincennes auf dem Programm. Allem Anschein nach arbeitete der Marquis de Sourches, der als Schlossvogt den Gardes de la Prévôté vorstand und somit die Oberaufsicht über die königlichen Residenzen und Gärten hatte, auch für die Sybarites. Folglich bereitete es dem Maître de Divertissement keinerlei Schwierigkeiten, das Waldgebiet des Bois für die vierzehntäglichen Hetzjagden abriegeln zu lassen.

Wir trafen uns um Mitternacht mit den anderen Mitgliedern auf einer kleinen Lichtung, auf der der Comte de Baissac ein paar Fackeln hatte installieren und für die etwas müßigeren Teilnehmer ein paar Sessel, Chaiselongues und andere Sitzgelegenheiten hatte aufstellen lassen. Gemächlich schlenderten wir von Gruppe zu Gruppe, um andere Mitglieder zu begrüßen, deren Bekanntschaft wir schon geschlossen hatten.

Fast hätte man meinen können, dass es sich um eine zwanglose Soiree in stimmungsvollem Ambiente und nicht um ein blutrünstiges Jagdvergnügen gehandelt hätte.

Unterdessen wurde ein großer Käfig herangekarrt, in dem etwa drei Dutzend junge Männer und Frauen eingepfercht waren und sich mit schreckverzerrten Gesichtern umschauten.

Ich ließ meinen Blick über die anwesenden Mitglieder streifen, die die Ankunft des Käfigs mit beifälligem Gemurmel begrüßten. Als ich ein Stück weiter eine kleine Gruppe erblickte, in der ein Mann von vier Frauen umringt in amüsantes Geplauder vertieft war, erstarrte ich.

Der Mann war äußerst aufgetakelt, trug eine affektierte, stark gepuderte Perücke, sowie ein Lorgnon und hatte – wenn mich nicht alles täuschte – sogar ein wenig Rouge benutzt.

Dennoch bestand nicht der geringste Zweifel daran, dass es sich um Giles handelte.

Maddy bemerkte, dass ich mich abrupt versteifte, und beugte sich besorgt zu mir herüber. »Was ist los?«, flüsterte sie.

»Dort ist Giles!«, presste ich zwischen den Zähnen hervor. Ich fühlte mich wie gelähmt.

Francisco merkte ebenfalls, dass etwas mit mir nicht stimmte, und legte schützend einen Arm um mich. Dann sah er sich stirnrunzelnd um. Ich hatte ihm nie von Giles erzählt.

Mittlerweile schien Giles meinen Blick gespürt zu haben und blickte in meine Richtung. Für einen Augenblick schien er kurz innezuhalten, dann beugte er sich schmunzelnd zu der Dame zu seiner Linken herüber und flüsterte ihr etwas ins Ohr.

Ich erkannte die Dame als Marquise d'Elineau, die uns bei unserer Aufnahmefeier vorgestellt worden war. Sie sah jetzt ebenfalls zu uns herüber, lächelte freundlich und führte Giles in unsere Richtung.

»Sie kommen hier her!«, flüsterte ich entsetzt.

»Du schaffst das«, beruhigte Maddy mich. »Wir sind alle hier.«

Nun trat die Marquise d'Elineau mit freundlichem Lächeln auf uns zu. »Mesdames und Messieurs, wenn ich Ihnen den Viscount Arlington vorstellen darf? Er ist ein alter Freund von mir aus England und hat den Wunsch geäußert, Ihre Bekanntschaft zu machen. Viscount«, sie wandte sich an Giles, »dies sind der Marqués de Alvarellos, die Marquise de Larchant, die Marquise de Fontainebleau sowie der Conde de Horcajo.«

Giles hob sein Lorgnon und beäugte mich dadurch spöttisch. »Die Marquise de Larchant? Helft doch bitte dem Gedächtnis eines alten Vampirs auf die Sprünge: Sind wir uns irgendwo schon einmal begegnet oder müsste ich Euren teuren Herrn Gemahl, den Marquis, vielleicht kennen?«

»Letzteres wird schwerlich möglich sein, da ich nie einen Gemahl hatte, Viscount«, entgegnete ich gezwungen ruhig und bemerkte ein kurzes Aufblitzen in Giles Augen. »Sollte ich Euch jedoch schon einmal begegnet sein, so muss ich mit Bedauern gestehen, dass dies wohl keinen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen haben muss, denn ich kann mich leider nicht mehr daran erinnern«, fügte ich kalt hinzu, was von Giles mit einem blasierten Augenaufschlag quittiert wurde.

Die Marquise d'Elineau lachte amüsiert auf. »Ihr seid zwar unhöflich, meine Liebe, aber erfrischend direkt. Dabei tut Ihr dem guten Viscount unrecht: Er kann ein ganz exzellenter Gesellschafter sein.« Sie zwinkerte Giles kokett zu und ich kämpfte meine aufkommende Übelkeit nieder.

Giles hingegen musterte nachdenklich den Arm, den Francisco nach wie vor schützend um meine Schultern gelegt hatte. »Ihr seid also der Marqués de Alvarellos?«, wandte er sich ihm daraufhin mit gleichgültiger Stimme zu. »Euer Ruf als Kämpfer eilt Euch ja weit voraus. Umso erstaunenswerter finde ich es, Euch hier in unserer Mitte bei den Sybarites begrüßen zu dürfen.«

Francisco schenkte mir kurz ein zärtliches Lächeln, dann sah er Giles ruhig an. »Es war die Zuneigung zu Mademoiselle de Larchant, die mich letztendlich bekehrt hat. Und ich habe es bis heute nicht bereut.«

»Faszinierend!« Giles musterte mich erneut spöttisch durch sein Lorgnon. »Und Ihr, Mademoiselle, seid also eine begeisterte Anhängerin der Sybarites?«, fragte er mit glitzerndem Blick.

So langsam fiel die eisige Starre von mir ab. Ich wusste nicht, welches Spiel Giles hier spielte, aber ich konnte ihm beweisen, dass ich darin mindestens ebenso gut war wie er. Und so ließ ich ihn mein naives Kichern hören, während ich ihm meine verzückte Antwort gab: »Oh, Monsieur! Dieser exquisiten Gemeinschaft anzugehören, übertrifft meine kühnsten Erwartungen. Alles ist so neu und abenteuerlich!«

»So? Ist es das?«, fragte Giles anzüglich.

»Nun, für Euch etwa nicht, Viscount?«, mischte sich jetzt Maddy mit ruhigem Lächeln in das Gespräch.

Giles sah sie einen kurzen Moment nachdenklich an. Dann gab er ihr freundliches Lächeln zurück. »Aber selbstverständlich, meine Teuerste.«

Bevor wir das Gespräch fortsetzen konnten, betrat der Comte de Baissac ein kleines Podest und erklärte die Jagd für offiziell eröffnet.

Er ließ den Käfig öffnen und den jungen Männern und Frauen wurde weisgemacht, dass sie eine reelle Chance hätten, ihr Leben zu behalten, wenn sie so schnell wie möglich flüchteten. Daraufhin rannten sie in heller Panik davon und die begeisterte Meute stürzte ihnen hinterher.

Maddy, Francisco, Miguel und ich verabschiedeten uns knapp von Giles und der Marquise d'Elineau, um uns eilig der Jagdgesellschaft anzuschließen. Bei unserem Aufnahmebankett hatten wir für keines der uns präsentierten Opfer mehr etwas tun können, aber wir hatten uns geschworen, wenigstens ein paar der armen Kreaturen in Sicherheit zu bringen, die uns als Beute für diese Hetzjagd dargeboten wurden.

Schon bald hatten wir einen Mann und eine Frau eingekreist, die sich in blinder Angst in die Büsche geschlagen hatten. »Bleibt ruhig!«, beschwor ich die beiden, als sie mich voller Panik anblickten.

Ich wechselte einen kurzen Blick mit Francisco und Miguel. Beide nickten mir knapp zu und gaben mir damit zu verstehen, dass kein Sybarit in Sichtweite war. Daraufhin schnappte ich mir den Mann und Maddy sich die Frau und wir sprangen mit einem Satz auf den nächsten Baum. Oben im Wipfel setzten wir die beiden ab, sicherten sie mit ein paar mitgebrachten Schals und schärften ihnen ein, sich in den nächsten drei Stunden still zu verhalten. Länger würde die Hetzjagd wohl nicht dauern und bis dahin wäre es ein sinnloses Unterfangen, die Männer und Frauen von hier fortschaffen zu wollen, da das ganze Gelände hermetisch abgeriegelt war. Aber wenn sie es schafften, bis zum Ende der Jagd unentdeckt zu bleiben, hatten sie eine reelle Chance, von uns gerettet zu werden.

Auf diese Weise konnten wir zumindest noch sechs weitere Menschen vor den Sybarites verstecken. Da keines der Opfer von sich aus versuchte, einen Baum zu erklettern, fand die ganze Jagd auch nur am Boden statt und keiner der Sybarites entdeckte die von uns auf den Wipfeln deponierten Menschen.

Nach knapp drei Stunden hatten tatsächlich alle Sybarites Beute gemacht und kehrten satt und zufrieden nach Hause. Giles war ich nicht wieder begegnet.

Maddy, Francisco, Miguel und ich hingegen gingen heimlich kurz darauf in den Wald zurück und holten die Menschen von den Bäumen und verfrachteten sie in eine Kutsche, die sie an einen Ort ihrer Wahl bringen würde.

»Nur acht Menschen von über drei Dutzend«, sagte ich verbittert, als ich der Kutsche hinterher sah.

Francisco nahm mich tröstend in den Arm. »Wir haben getan, was wir konnten. Uns war immer klar, dass wir nicht jeden würden retten können.«

»Und jeder einzelne Gerettete trägt wenigstens ein bisschen dazu bei, dass ich mir nicht selbst schon wie eine widerliche Sybaritin vorkommen muss«, pflichtete ich ihm seufzend bei.

Francisco sah mich eindringlich an. »Offiziell sind wir alle jetzt Sybariten. Es ist besser, sich das tagtäglich vor Augen zu führen.«

Ich erwiderte seinen Blick gereizt. »Ich weiß! Aber ich muss es nicht auch noch genießen, oder?«

Er schaute mich ruhig an. »Dieser Viscount …«, meinte er dann, »Du kennst ihn.« Es war eine Feststellung.

»Ja«, gab ich ohne Umschweife zu.

Francisco strich mir über die Arme. »Aber du möchtest nicht darüber sprechen.« Es war ebenfalls keine Frage.

»Nein.« Ich sah ihn um Verständnis bittend an. »Es tut mir leid.«

»In Ordnung.« Er nahm mich in die Arme und wir verabschiedeten uns voneinander.

 

Am nächsten Morgen meldete Jean-Marc, mein Protegé und Diener, einen unerwarteten Besucher: den Viscount Arlington.

Ich wechselte einen kurzen Blick mit Maddy und atmete einmal tief durch.

»Schick ihn bitte herauf«, bat ich Jean-Marc.

Wenig später erschien Giles bei uns im Salon. Überraschenderweise hatte er auf seine extravaganten Accessoires vom Vorabend verzichtet. Er trug weder Lorgnon, noch Perücke oder gar Rouge, nur seine Kleidung war wie gewohnt tadellos. Als die große Gestalt mit spöttischem Lächeln das Zimmer betrat, kamen schlagartig alle Erinnerungen in mir hoch. Ich betrachtete seine markanten Gesichtszüge, die unverschämt langen Wimpern, das dunkle Haar, das sich nur schwerlich in einen Zopf bändigen ließ. Es war, als hätte die Vergangenheit mich eingeholt.

Ich räusperte mich. »Nun, Giles, was verschafft uns die Ehre deines Besuches?«

Er betrachtete mich mit blitzenden Augen. »Warum so förmlich, meine Teuerste? Schließlich sind wir doch alte Bekannte, nicht war? Ja, sogar sehr gute alte Bekannte«, fügte er anzüglich hinzu.

»Der Wert von Bekanntschaften wird oft überschätzt«, gab ich kühl zurück.

Sein Blick verfinsterte sich. »Möglicherweise haben sich deine Wertvorstellungen mittlerweile verändert? Immerhin hast du es jetzt ja zur Marquise gebracht. Wobei mir allerdings schleierhaft ist, wie du das bewerkstelligt hast, wenn du doch angeblich nie geheiratet hast.«

»Es geht dich zwar nichts an, aber ich wurde adoptiert«, zischte ich, »und es war mehr ein Freundschaftsdienst meinerseits, der für mich nun mal diesen Titel zur Folge hatte.«

»Apropos: Freundschaftsdienst«, Giles Blick schwenkte nachdenklich zu Maddy und er reichte ihr die Hand, »Ihr wurdet mir als Marquise de Fontainebleau vorgestellt, doch wenn mich nicht alles täuscht, müsstet Ihr außerdem auch Gemmas gute Freundin Maddy sein, nicht wahr? Ich habe schon viel von Euch gehört.«

»Das stimmt, Viscount«, gab Maddy lächelnd zurück. »Und Ihr seid mir ebenfalls kein unbeschriebenes Blatt.«

»Tatsächlich?« Giles sah mich wieder nachdenklich an.

Ich verlor die Geduld. »Was willst du?«, fuhr ich Giles an.

»Mit dir reden«, antwortete er knapp.

Maddy legte mir ihre Hand auf den Arm. »Gemma, es ist vielleicht besser, wenn ich euch eine Weile alleine lasse.«

»Gut«, knurrte ich, ohne dabei Giles aus den Augen zu lassen, der gelangweilt ein paar wertvolle Porzellanstatuetten begutachtete.

»Nun?«, fragte ich betont ruhig, nachdem Maddy die Tür hinter sich geschlossen hatte.

Giles wandte sich mir mit heiterem Lächeln zu. »Offengestanden hat es mich doch einigermaßen überrascht, dich hier gestern als ein Mitglied der Sybarites angetroffen zu haben.«

»Ach, und meinst du, mich etwa nicht?«, gab ich höhnisch zurück. »Was ist passiert? Bist du doch wieder auf den Genuss menschlichen Blutes gekommen? Oder hast du deine Meinung geändert und willst auf einmal doch etwas gegen die Sybarites unternehmen?«

»Und wenn es so wäre?«, fragte er ruhig.

Ich schnappte nach Luft. Dann spürte ich, wie mich eisiger Zorn überkam. Damals war er zu feige gewesen, die Sybarites zu bekämpfen und jetzt wollte er mir plötzlich weismachen, dass genau dies sein Plan war?

»Und was hat diesen Sinneswandel bei dir ausgelöst?«, fragte ich hämisch.

»Nun, vielleicht haben sich die Umstände geändert«, antwortete er leichthin. »Damals habe ich keine Möglichkeiten gesehen, etwas gegen die Sybarites auszurichten. Inzwischen ist das ein wenig anders.«

»Und die Marquise d'Elineau hat nicht zufällig etwas mit diesen veränderten Umständen zu tun?«, fragte ich leise.

»Möglicherweise schon«, gab er zu, »aber wahrscheinlich auf andere Art und Weise, als du mir jetzt unterstellst. Sie ist tatsächlich eine sehr alte Freundin von mir. Und sie hat äußerst nützliche Kontakte.«

»Wie vorteilhaft für dich!«, höhnte ich. »So kannst Du das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.«

Giles lächelte mich spöttisch an. »Ich hatte nicht den Eindruck, dass du es dir weniger angenehm gemacht hättest, meine Teuerste. Allem Anschein nach ist dieser Alvarellos wohl ein sehr zuvorkommender Begleiter.«

»Was kümmert es dich, wie zuvorkommend er ist?«, fuhr ich ihn an.

Schlagartig wurde Giles ernst und packte mich an den Schultern. »Hör zu, Gemma! Ich kenne diesen Alvarellos zwar nicht näher, aber wenn er allen Ernstes zulässt, dass du dieses unkalkulierbare Risiko eingehst, dich bei den Sybarites einzuschleichen, dann kannst du ihm ja wohl nicht sehr viel bedeuten.«

Verächtlich schüttelte ich seinen Griff ab. »Unkalkulierbares Risiko! Unser Vorhaben ist sehr wohlüberlegt. Außerdem ist es jetzt ohnehin zu spät. Wie du seit gestern weißt, sind wir inzwischen alle hochgeschätzte Mitglieder der Sybarites.«

Verblüfft registrierte ich, wie Giles’ Blick einen kurzen Moment lang fast schmerzvoll erschien.

»Bist du sicher, dass du einschätzen kannst, worauf du dich hier eingelassen hast?«, fragte er leise.

»Wenn man den Teufel bekämpfen will, muss man sich wohl oder übel mit ihm verbünden«, antwortete ich kühl.

Giles sah nachdenklich aus dem Fenster. »Aber man muss achtgeben, dass man dabei seine Seele nicht verliert«, entgegnete er.

Ich sah ihn schweigend an. Nach einer Weile seufzte er und wandte sich mir wieder zu. »Hör zu, Gemma. Wir sind offenbar beide gerade ein wenig aufgebracht. Aber letztendlich verfolgen wir in dieser Angelegenheit doch dieselben Ziele. Also wäre es dumm von uns, wenn wir uns nicht zusammentun würden. Bei einem Gegner wie den Sybarites ist jeder Verbündete immens wichtig.«

»Du meinst, du willst Dich uns anschließen?«, fragte ich ungläubig.

»Ich meine, wir sollten eine Allianz bilden«, korrigierte Giles mich. »Die Marquise d'Elineau, ich, Alvarellos, Horcajo, du und Maddy. Wir sollten die Informationen austauschen, die jeder von uns bislang in Erfahrung bringen konnte, und gemeinsam besprechen, welchen Nutzen wir daraus ziehen können.«

Zögernd nickte ich. »Wahrscheinlich hast du recht. Francisco und Miguel wollen morgen Nachmittag sowieso zu einer Lagebesprechung zu uns kommen. Du könntest dich mit der Marquise d'Elineau dazugesellen.«

»Einverstanden.« Einen kurzen Moment sah Giles mich noch unschlüssig an, dann verbeugte er sich knapp und verabschiedete sich.

Kurz darauf kam Maddy ins Zimmer und sah mich fragend an. »Und?«, fragte sie besorgt.

Plötzlich brach ich in Tränen aus und Maddy nahm mich in den Arm. Ich ließ es schluchzend und verwirrt geschehen. Ich wusste selbst nicht, was mit mir los war.

 

Wir hatten Francisco und Miguel am nächsten Nachmittag eine Stunde früher zu uns bestellt, damit wir sie noch vor der Ankunft von Giles und Madame d'Elineau davon unterrichten konnten, dass unsere Gruppe nunmehr Verstärkung bekommen hatte. Ich ging mit Francisco ins Lesezimmer, um ihm die veränderte Situation unter vier Augen zu erklären.

Er sah mich erwartungsvoll an, als ich die Tür hinter uns schloss.

»Du hast ja vorgestern bereits bemerkt, dass ich Viscount Arlington von früher her kenne«, begann ich zögernd.

Francisco hob fragend die Augenbrauen. »Und? Hat er dich aufgesucht? Möchte er seine Bekanntschaft zu dir erneuern?«

»Nein, so verhält es sich nicht«, ich atmete tief durch. »Er hat mich zwar aufgesucht, aber ich denke nicht, dass er die Bekanntschaft zu mir – wie du es nennst – ›erneuern‹ möchte. Aber er hat die Mitgliedschaft bei den Sybarites ebenso wie wir nur zum Schein angenommen. Auch er will die Organisation bekämpfen. Und er hat vorgeschlagen, dass wir uns verbünden.«

Francisco runzelte die Stirn. »Und das hat er dir gegenüber einfach so zugegeben? Bist du dir sicher, dass du ihm vertrauen kannst?«

Ich seufzte. »Ich weiß, dass ich, dass wir alle ihm in dieser Angelegenheit blind vertrauen können.« Ich zögerte kurz. »Früher einmal wollte er mit einem Kampf gegen die Sybarites nichts zu tun haben«, fuhr ich dann fort, »aber allem Anschein nach hat er seine Meinung inzwischen geändert. Er würde mich diesbezüglich nie anlügen. Und er hat es mir gegenüber zugegeben, weil er sofort wusste, dass auch meine Mitgliedschaft nur eine Farce ist.«

Francisco sah mich nachdenklich an. »Er scheint dich wirklich sehr gut zu kennen.«

Ich senkte meinen Blick.

»Bedeutet er dir etwas?«, fragte er leise.

Ich sah ihn kalt an. »Nein! Meine Bekanntschaft zu Viscount Arlington ist Geschichte. Aber unser Kampf gegen die Sybarites ist gegenwärtig. Und wir können Verbündete wie ihn und die Marquise d'Elineau gut gebrauchen.«

»Die Marquise d'Elineau ist auch mit im Boot?«

»Ja. Sie hat Arlington bei den Sybarites eingeführt.«

Francisco sah mich eine Weile gedankenvoll an. »Gut«, sagte er schließlich. »Wenn du ihnen vertraust, dann tue ich es auch.«

Ich lächelte ihn erleichtert an. »Danke, Francisco! Ich bin überzeugt, dass die beiden uns als Mitstreiter von Nutzen sein werden. Sonst hätte ich mich nicht darauf eingelassen.«

 

Wenig später trafen Giles und Madame d'Elineau ein. Giles hatte erneut auf seine affektierte Aufmachung verzichtet und wurde von Francisco wachsam beäugt. Ich hingegen nahm die Gelegenheit wahr, die Marquise d'Elineau näher in Augenschein zu nehmen. Sie lediglich als hübsch zu bezeichnen, wäre ihr nicht gerecht geworden. Weichfließende rehbraune Locken umrahmten ihr zartes Gesicht, das sich durch lebhafte Augen und einen vollen Mund auszeichnete. Ihre Figur war schlank und dennoch wohlproportioniert. Sie begrüßte alle Anwesenden mit einem warmherzigen Lächeln.

Nachdem alle erforderlichen Förmlichkeiten ausgetauscht waren, ergriff Miguel das Wort. »Da wir alle in diesem Raum offenbar die gleichen Ziele verfolgen, wäre es wohl das Beste, wenn wir uns einander zunächst einmal vorstellen würden. Nicht mit Namen oder Titel, die sind ja jedermann hinlänglich bekannt, sondern vielmehr mit den persönlichen Gründen und Umständen für den Kampf gegen die Sybarites. Wer möchte den Anfang machen?«

Die Marquise d'Elineau räusperte sich kurz und lächelte ihn entschuldigend an. »Wenn es Ihnen allen nichts ausmacht, würde ich gerne beginnen, da ich ja in dieser Runde das älteste Sybarite-Mitglied bin und meine Motivation vielleicht den wenigsten hier bekannt ist.«

Miguel nickte ihr aufmunternd zu.

»Meine Mitgliedschaft bei den Sybarites währt mittlerweile fast 50 Jahre«, begann Madame d'Elineau ihre Erzählung mit fester Stimme, »und ich muss gestehen, dass ich sie schon seit langer Zeit bitterlich bereue. Ich kam durch meinen damaligen Mann, den Marquis d'Elineau zu den Sybarites. Mein Mann war getrieben von der steten Suche nach Abwechslung und neuen Abenteuern und so kam ihm die Mitgliedschaft bei den Sybarites gerade recht. Als seine Ehefrau war es für mich selbstverständlich, mich ihm anzuschließen, doch im Gegensatz zu ihm hatte ich die dekadenten Grausamkeiten dieser Sekte sehr schnell satt. Doch wenn man erst einmal Mitglied geworden ist, steckt man in der Falle. Eine Mitgliedschaft währt auf Lebenszeit und kann nur durch den eigenen Tod beendet werden.« Sie zuckte resigniert mit den Schultern.

»Ironischerweise war genau dies der Umstand, der schon bald darauf meinem Mann zuteilwurde«, fuhr sie dann fort. »Er hatte sich mit einem anderen Sybarit auf eine Wette eingelassen, wer den anderen in einem Schaukampf besiegen würde, und ließ bei diesem Kampf sein Leben. Da ich wusste, dass ich mein eigenes Todesurteil unterschrieben hätte, wenn ich versucht hätte, den Sybarites zu entkommen, ertrug ich also stoisch mein Dasein und versuchte, möglichst unauffällig meine Mitgliedschaft zu fristen. Bis ich Giles, beziehungsweise Viscount Arlington wiederbegegnete.« Sie warf Giles einen dankbaren Blick zu, den ich mit gewissem Unmut registrierte. »Giles und ich kannten uns bereits vor über zweihundert Jahren, noch bevor ich meinem Mann begegnet war«, setzte sie ihre Ausführungen fort. »Als ich ihn nun wiedertraf und er mir erzählte, dass er die Sybarites bekämpfen wollte, sah ich darin meine Chance. Wenn wir es schaffen sollten, die Organisation zu zerschlagen, oder doch wenigstens empfindlich zu schwächen, kann ich vielleicht meine Freiheit wiederbekommen. Denn wer sich einmal dem Diktat der Sybarites unterworfen hat, gibt seine Freiheit dadurch komplett auf.« Sie sah uns ernst an.

Ich wandte mich Giles zu. »Möchtest du uns jetzt als Nächster deine Beweggründe mitteilen? Immerhin warst du meines Wissens einmal ziemlich abgeneigt, die Sybarites zu bekämpfen«, fragte ich mit spöttischem Lächeln.

Er sah mich mit blitzenden Augen an und lächelte nicht minder zynisch zurück. »Diesen Moment der Schwäche wirst du mir wahrscheinlich ewig übelnehmen, meine Teuerste, nicht wahr? Aber in der Tat, es gab eine Zeit, da hielt ich es für ebenso tollkühn wie aussichtslos, etwas gegen die Sybarites ausrichten zu wollen. Doch offenbar sind es gerade die tollkühnen Taten und die vermeintlich aussichtslosen Aktionen, die unserem Leben die Würze geben, nicht wahr?«

»Was hat Euch dazu bewogen, Eure Meinung zu ändern?«, fragte Francisco neugierig.

Giles sah mich nachdenklich an, während er ihm antwortete. »Ich dachte zunächst, ich hätte zu viel zu verlieren. Als ich dann begriff, dass ich ohnehin bereits alles verloren hatte, war ich in der richtigen Stimmung für ein tollkühnes Unterfangen.«

»In der richtigen Stimmung?«, schnaubte Francisco empört. »Sich den Sybarites entgegenzustellen, ist wohl ein klein wenig zu gefährlich, um solch ein Vorhaben nur von einer Laune abhängig zu machen! Möglicherweise wird es Jahre dauern, bis wir überhaupt etwas gegen sie ausrichten können.«

Giles lächelte ihn nachsichtig an. »Glaubt mir, ich bin mir dessen sehr wohl bewusst, werter Freund. Und es ist wesentlich mehr als nur eine Laune.« Er blickte wieder zu mir herüber.

»Wie hast du es geschafft, die Sybarites davon zu überzeugen, dass du jetzt auf einmal doch an einer Mitgliedschaft interessiert seiest?«, fragte ich ihn. »Immerhin hast du ja auch im Laufe etlicher Annexions-Duelle deine Abneigung ihnen gegenüber deutlich kundgetan.«

Giles lachte leise. »Nun, diesbezüglich bediente ich mich einer ähnlichen Finte wie offenbar du und der teure Alvarellos: Ich gab vor, mich unsterblich in die Marquise d'Elineau verliebt zu haben. Und da sie ja bereits ein Mitglied der Sybarites war, verspürte ich also plötzlich den brennenden Wunsch, mich ihnen ebenfalls anzuschließen. Allem Anschein nach sind unsere Widersacher hoffnungslose Romantiker.« Er zwinkerte Madame d'Elineau vergnügt zu, was sie mit einem liebevollen Lächeln quittierte. Ich stellte mir vor, wie es sich wohl anfühlen mochte, ihr die Kehle umzudrehen.

»Und was bezweckt Ihr mit der albernen Perücke und dem Lorgnon?«, fragte Francisco Giles daraufhin verächtlich.

»Diese albernen Utensilien, mein Bester«, erklärte Giles ihm amüsiert, »tragen dazu bei, bei den Sybarites den Eindruck zu manifestieren, dass mich die Liebe in einen oberflächlichen und eitlen Gecken verwandelt hat, den man nicht sonderlich ernst nehmen muss.«

»Und Ihr seid sicher, dass die Sybarites Euch das abkaufen?«, fragte Francisco skeptisch.

»Da ich keinem der französischen Sybarites zuvor persönlich begegnet bin, denke ich das schon«, erklärte Giles ernst. »Von meinen früheren Annexions-Duellen wissen sie schließlich nur vom Hörensagen. Ich denke, es ist uns gelungen, den hiesigen Sybarites einen Arlington zu verkaufen, der sich dereinst mehr nur aus Trotz den Sybarites widersetzt hat, inzwischen allerdings großen Spaß an den von ihnen gebotenen Vergnügungen hat.«

Giles präsentierte seine Argumente so heiter und leichthin, dass ich fast selbst geneigt war, zu glauben, dass es ihm Freude bereitete, ein Sybarit zu sein.

»Sehr viel Mühe und Anstrengung scheint dich diese Verstellung ja nicht zu kosten«, stellte ich stirnrunzelnd fest.

Er sah mich ausdruckslos an. »Du denkst, dass es mir leicht fällt?«

»Den Anschein hat es zumindest.«

»Der Anschein trügt, meine Teuerste«, antwortete er kalt. »Aber dies ist nun mal der Preis, den wir alle zahlen müssen.«

Schließlich berichteten Maddy, Francisco, Miguel und ich von unseren Beweggründen für den Kampf gegen die Sybarites und auf welche Art wir Mitglieder geworden waren.

Anschließend tauschten wir die Informationen aus, die wir bislang über die Organisation in Erfahrung gebracht haben. Da die Marquise d'Elineau in unserer Runde das älteste Mitglied war, konnte sie uns natürlich am meisten erzählen. Über die Menschen, die in den Diensten der Sybarites standen, wusste sie nicht so viel zu berichten, da sie mit der Comtesse de Garandout, die als Maîtresse de Recrutement die Kontakte zu menschlichen Handlangern organisierte und überwachte, auf weniger vertrautem Fuß stand. Dafür konnte sie uns einiges über die Interessen und Unternehmungen der Sybarites verraten, denen wir alle mit unserer Vertragsunterschrift oberste Priorität zugesichert hatten.

Ihren Schilderungen zufolge hatte Francisco mit seiner Vermutung offenbar recht gehabt, dass die Sybarites keine direkten politischen Ambitionen hatten, da sie sich den Menschen ohnehin überlegen fühlten. Sie erachteten die Menschen als derart nichtig, dass sie keinen Ehrgeiz verspürten, ihnen eine öffentliche Herrschaft aufzuzwingen. Umgekehrt fühlten sie selbst sich aber auch keiner menschlichen herrschenden Macht oder Regierung verpflichtet.

Das Vergnügen, der Genuss qualitativ hochwertigen Blutes und die Erfüllung sinnlicher Bedürfnisse standen bei den Sybarites im Vordergrund, hierfür nahmen sie sich von den Menschen, was sie wollten. Sie nahmen ihr Blut, ihr Leben, ihre Dienste, ihre Unschuld, wann und wo immer ihnen danach zumute war. Dennoch zogen sie es vor, dabei nicht zu auffällig vorzugehen. Denn dadurch, dass sie ihren Neigungen im Verborgenen nachgingen, pflegten sie den Mythos um die Existenz von Vampiren, was bei den Menschen Angst hervorrief. Würden die Sybarites offen über die Menschen herrschen wollen, würde dies vielleicht früher oder später eine Rebellion provozieren. Durch Angst hingegen waren die Menschen besser zu kontrollieren.

Darum ließen die Sybarites hin und wieder auch eines ihrer Opfer davonkommen. Auf diese Weise konnte das Opfer anderen von seinen schrecklichen Erlebnissen erzählen und den Vampir-Mythos weiter schüren. Allerdings achteten sie darauf, dass dies unter streng kontrollierten Bedingungen vonstattenging. Deswegen mussten sich auch alle Mitglieder mit ihrem Leben für ihr Stillschweigen verbürgen. Verstöße gegen die Regeln der Sybarites wurden von ihnen unerbittlich geahndet.

An dieser Stelle hakte ich nach. »Ihr hattet vorhin bereits erwähnt, dass Ihr mit einem Versuch, den Sybarites zu entkommen, Euer Todesurteil unterschrieben hättet«, fragte ich Madame d'Elineau, »und wir alle mussten uns ja vertraglich mit unserem Leben verpflichten. Was bedeutet dies konkret? Werden sie versuchen uns umzubringen, falls wir vertragsbrüchig werden?«

Madame d'Elineau sah mich ernst an. »Sie werden es nicht nur versuchen. Sie werden Euch hinrichten. Sie inszenieren das Ganze als spektakuläre Gerichtsverhandlung, genannt Chambre Ardente, verurteilen Euch und lassen dann die Mort-Vivants das Urteil vollstrecken. In zwei Wochen könnt Ihr in den zweifelhaften Genuss eines solchen Schauprozesses mit anschließender Hinrichtung kommen.«

»Auf welche Weise vollstrecken die Mort-Vivants das Urteil?«, fragte Francisco argwöhnisch.

»Sie beißen den Verurteilten. Für einen normalen Vampir ist der Biss eines Mort-Vivants tödlich. Der Gebissene altert innerhalb weniger Minuten, bis sein Körper komplett zerstört ist.«

Diese Schilderung schockierte uns alle gleichermaßen. Entsprechend beunruhigt sahen wir alle der Gerichtsverhandlung entgegen, der wir in zwei Wochen beiwohnen mussten.

 

Zuvor stand allerdings noch ein Ausflug auf dem Monatsprogramm der Sybarites. Es war eine Bootsfahrt auf der Seine entlang bis nach Melun geplant und dann sollte am Abend im dortigen Schloss Vaux-le-Vicomte ein Maskenball stattfinden. Wenn wir nicht immer wieder aufs Neue mit den Grausamkeiten der Sybarites konfrontiert würden, hätte man meinen können, dass wir Mitglieder eines unterhaltsamen Freizeit-Clubs waren.

Gemeinsam mit anderen Sybarites stiegen wir in Paris in eine große, blumengeschmückte Barque à Rames, ein langgestrecktes Ruderschiff, bei dem im hinteren Bereich die Rudermannschaft untergebracht war und im vorderen Bereich den Passagieren auf wertvollen Kissen und Teppichen reichlich Platz geboten wurde. Die Rudermannschaft brachte uns erstaunlich kraftvoll voran und so fuhren wir in relativ zügigem Tempo die Seine hinauf. Die Sonne schien strahlend vom Himmel, die Landschaft bot einen malerischen Anblick und vereinzelt standen Kinder am Ufer und winkten unserer vorbeifahrenden Gesellschaft fröhlich zu. Wenn sie gewusst hätten, dass sie eine Horde mordlustiger Vampire begrüßten, wäre ihre Reaktion vermutlich anders ausgefallen. Irgendwie erschien mir alles doch ziemlich surreal, was dazu führte, dass ich zumindest nicht in Versuchung geriet, den Ausflug allen Ernstes zu genießen.

Francisco, Miguel, Maddy und ich hatten mit Giles und Madame d'Elineau besprochen, dass unsere kleine Gruppe nicht nur unter sich blieb, sondern wir alle uns vielmehr unter die anderen Sybarites mischen wollten, damit wir mehr Kontakte knüpfen und weitere Informationen sammeln konnten. So kam es denn, dass ich während der ganzen Bootsfahrt in eine belanglose Konversation mit der Comtesse de Claveau verwickelt war, einer etwas ältlichen Matrone, die mir in allen Einzelheiten ihre Ansichten zur Mode der aktuellen Saison mitteilte. Im Augenwinkel sah ich, dass Maddy in ein Gespräch mit dem Comte de Radisset vertieft war, was in mir die Hoffnung aufkeimen ließ, dass zumindest sie nützlichere Informationen aufschnappen konnte.

Mit Beginn der Abenddämmerung erreichten wir Melun und machten uns auf einen Spaziergang zu dem etwas außerhalb gelegenen Schloss Vaux-le-Vicomte. Zu meiner Erleichterung hatte die Comtesse de Claveau inzwischen ein anderes Opfer für ihr Geplapper gefunden und ich schritt eine Weile nachdenklich vor mich hin, als schließlich die Marquise d'Elineau zu mir aufschloss.

»Ihr seht ein wenig betrübt aus, meine Liebe«, sagte sie vorsichtig. »Das könnte bei den anderen den Eindruck erwecken, dass Ihr Euch gar nicht richtig amüsiert …«

Alarmiert zwang ich mich, ein strahlendes Lächeln aufzusetzen. Keinesfalls wollte ich unsere Pläne dadurch gefährden, dass ich meine Fassade vergaß. »Verzeiht, Madame d'Elineau, ich war nur einen Moment in Gedanken«, entschuldigte ich mich schuldbewusst.

»Ihr müsst Euch doch nicht entschuldigen«, antwortete sie lächelnd. »Und wollen wir einander nicht lieber beim Vornamen nennen? Schließlich gehören wir alle jetzt demselben Bündnis an.« Sie zwinkerte mir zu und reichte mir ihre schlanke Hand. »Mein Name ist Félice.«

Ich erwiderte ihren Händedruck. »Und mein Name ist Gemma.«

Zu meiner Überraschung zog sie mich plötzlich an sich und umarmte mich herzlich. »Gemma, es freut mich ganz außerordentlich!«

Widerstrebend musste ich feststellen, dass es mir immer schwerer fiel, sie nicht zu mögen.

Sie bemerkte meinen verwirrten Blick und ließ ein kurzes, helles Lachen hören.

»Kommt dir das seltsam vor?«, fragte sie mit einem verschmitzten Funkeln in den Augen.

»Ein wenig schon«, gab ich zögernd zu, während wir weiterspazierten.

»Weil ich einmal eine Affäre mit Giles hatte und du ebenfalls?«, fragte sie.

Ich schaute sie konsterniert an. Ihre Offenheit machte mich ein wenig sprachlos.

»Das muss dir aber keine Sorgen machen«, fuhr sie unbekümmert fort, »die Geschichte mit Giles und mir ist schon fast zweihundert Jahre vorbei und seitdem sind wir nur noch gute Freunde.«

»Und keiner von euch beiden hat je wieder das Bedürfnis verspürt, eure … besondere Beziehung wieder aufleben zu lassen?«, fragte ich zweifelnd.

Sie lächelte mich offen an. »Nein. Keiner von uns beiden. Wir wissen beide, dass wir nicht auf diese Weise zueinander passen, und sind sehr zufrieden mit unserer Freundschaft. Es scheint mir aber, das für dich die Sache noch ein wenig anders liegt?« Sie sah mich fragend an.

»Du denkst, dass Giles mir noch etwas bedeutet?«, schnaubte ich.

Sie nickte zögernd.

»Du täuscht dich!«, entfuhr es mir etwas heftiger als beabsichtigt. »Uns verbindet gar nichts mehr. Wahrscheinlich sind wir noch nicht einmal mehr Freunde.«

»Das finde ich sehr schade«, erklärte sie bedauernd. »Ich denke, dass ihr sehr gut zueinander passt.«

Ungläubig starrte ich sie an.

»Andererseits ist da natürlich noch der Marqués de Alvarellos«, überlegte sie. »Das macht es vermutlich etwas kompliziert.«

»Daran ist gar nichts kompliziert!«, gab ich unfreundlich zurück. »Alvarellos und ich sind nur gute Freunde. Giles und ich sind …, sind … Mitstreiter. Weiter nichts.«

»Mitstreiter?« Sie hob fragend die Augenbrauen.

»Ja«, antwortete ich verbissen und wir setzten unseren Weg schweigend fort.

 

Schließlich kamen wir am Schloss Vaux-le-Vicomte an. Das Schloss hatte Nicolas Fouquet, der ehemalige Finanzminister Louis' XIV. errichten lassen, kurz bevor er beim König in Ungnade gefallen und von diesem ins Gefängnis befördert worden war. Da die Schande auf Fouquets Familie sehr lastete, stand das Schloss seitdem leer.

Der Comte de Baissac hatte in seiner Funktion als Maître de Divertissement den klassizistischen Barockbau sofort als perfekt geeigneten Schauplatz für Veranstaltungen der Sybarites erkannt und für die heutigen Feierlichkeiten entsprechend herrichten lassen. Sämtliche Fenster des Schlosses waren erleuchtet, ebenso wie alle Wege und Plätze des von André Le Nôtre angelegten herrschaftlichen Gartens.

Auf Veranlassung des Comte de Baissac waren unser aller Kostüme für den Maskenball bereits einen Tag zuvor mit Kutschen nach Vaux-le-Vicomte gebracht worden und lagen nun in entsprechenden Boudoirs zum Umkleiden bereit.

 

Der Ball selbst fand im großen, zweigeschossigen Kuppelsaal des Schlosses statt. Viele Mitglieder hatten zur Kostümierung eine Figur aus der Commedia dell`Arte gewählt, so hatte sich Maddy zum Beispiel für das Kostüm der Colombina entschieden. Auch Pantalones, Brighellas und Arlecchinos ließen sich auf der Tanzfläche wiederfinden. Andere hatten sich wie ich eine Gottheit der griechischen Mythologie ausgesucht. Ich stellte in meinem weichfließenden griechischen Gewand mit Pfeil und Bogen die Artemis, Göttin der Jagd und des Mondes, dar. Darüber hinaus gab es einige Aphrodites und Apollons sowie den einen oder anderen Dionysos. Schließlich gab es noch die dritte Gruppe an Gästen, die in die Maske realer beziehungsweise historischer Persönlichkeiten geschlüpft waren, darunter etliche Louis' XIV., ein paar in der Rolle des Grand Dauphin, des Sohnes von Louis XIV., und ein paar Damen als Marquise de Maintenon, der zweiten heimlichen Gemahlin des Königs. Als einer der wenigen, die keine Gesichtsmaske trugen, trat der Duc de Longueville im prunkvollen Talar des verstorbenen Kardinals Richelieu auf.

Nachdem Longueville den Ball für offiziell eröffnet erklärt hatte, spielte ein Orchester aus livrierten Musikern zum ersten Tanz auf. Es wurden nacheinander diverse höfische Tänze gespielt, darunter die Sarabande, die Courante und die Gavotte.

Für Mitternacht hatte der Duc dann eine kulinarische Überraschung versprochen.

Ich war nicht sonderlich in Stimmung, mich in die Gruppe der Tanzenden einzureihen, und so betrachtete ich das Spektakel vom angrenzenden Vestibül aus. Auch ein paar andere Tanzunlustige hatten sich hier zurückgezogen, darum war ich froh, mein Gesicht und somit auch meinen Unmut unter der Halbmaske verbergen zu können. Bislang wirkte der Ball zwar noch wie eine harmlose menschliche Festivität, aber ich ahnte, dass damit spätestens um Mitternacht Schluss sein würde.

Ein Mann im Kostüm des Scaramuccia, ebenfalls eine Figur der Commedia dell`Arte, trat hinter mich, und als er mich ansprach, erkannte ich sofort Giles’ tiefe, warme Stimme.

»Keine Lust zu tanzen?«, fragte er spöttisch.

»Woran hast du mich erkannt?«, antwortete ich schnippisch mit einer Gegenfrage.

Er ließ sein vertrautes leises Lachen hören. Dann beugte er sich über meine Schulter. »Deine Körperhaltung spricht Bände, meine Teuerste«, raunte er mir ins Ohr und mein Nacken begann zu kribbeln. »Du magst vielleicht die Sybarites täuschen, weil sie dich nicht so genau kennen, aber ich erkenne ziemlich deutlich, wie sehr dir diese ganze Veranstaltung hier missfällt.«

»Wenn du mich so genau zu kennen glaubst«, gab ich schroff zurück, »dann müsstest du eigentlich wissen, dass es mir mindestens ebenso missfällt, wenn du so dicht hinter mir stehst!«

»Tatsächlich?«, fragte er anzüglich und strich mir mit der Hand sanft über den Nacken. »Demnach missfällt dir dies hier also auch?«

Ich ignorierte das heiße Gefühl, das seine Berührung in mir auslöste, und drehte mich abrupt zu ihm um. »Allerdings!«, zischte ich und hielt seine Hand fest.

Nun war sein Gesicht zwar nur noch einen Fingerbreit von meinem entfernt, unser beider Masken halfen mir jedoch, Distanz zu wahren.

»Du bist immer noch so heißblütig wie früher«, stellte Giles mit mokantem Lächeln fest.

»Und du noch immer so selbstgefällig«, entgegnete ich wütend.

Eine Weile sahen wir einander schweigend an.

Dann seufzte Giles und wand seinen Arm mühelos aus meinem Griff.

»Der Mitternachtsschmaus beginnt in wenigen Minuten. Möchtest du daran teilnehmen?«, fragte er ruhig.

»Wohl eher nicht«, antwortete ich angewidert. »Wer weiß, welch sadistische Barbarei sie sich diesmal wieder ausgedacht haben.«

»Lebende Springbrunnen«, erklärte Giles ausdruckslos. »Sie werden die entblößten und gefesselten Körper unserer heutigen Opfer – natürlich allesamt wieder gesunde junge Männer und Frauen – kunstvoll zu einer großen lebenden Skulptur arrangieren und dann an verschiedenen Stellen ihre Arterien öffnen, so dass ihr Blut stoßweise in Fontänen herausschießt. Die Mitglieder müssen dann ihre Kunstfertigkeit darin beweisen, sich an dem Blut zu laben, möglichst ohne etwas davon zu vergeuden oder ihre Kostüme zu besudeln.«

Ich sah Giles entsetzt an. »Ist das dein Ernst? Woher weißt du das?«

»Félice hat es mir erzählt«, antwortete er leise. »Sie hat es dem Comte de Baissac entlockt.«

Fieberhaft drehte ich mich um und sah in den Saal, wo einige Lakaien sich mittlerweile daran machten, eine große Tafel aufzubauen. »Wir müssen das doch irgendwie verhindern«, flüsterte ich verzweifelt.

Giles legte seinen Arm um mich und hielt mich fest. »Wir können das nicht verhindern«, erklärte er eindringlich. »Nicht, ohne uns alle zu entlarven. Und du weißt, dass das für uns alle den sicheren Tod bedeuten würde. Lass uns raus in den Garten gehen.«

Ich ließ es zu, dass Giles mich nach draußen auf die Terrasse zog. Vor uns lag die breite Freitreppe, die in den riesigen, von unzähligen Fackeln illuminierten Barockgarten hinunterführte. Mit einer unwirschen Handbewegung entfernte Giles seine Halbmaske. »Jetzt um Mitternacht findet sowieso die offizielle Demaskierung statt«, erklärte er.

Ich tat es ihm gleich und warf meine Halbmaske beiseite. Schweigend spazierten wir die Treppe herunter und folgten der großen Hauptachse durch den streng symmetrisch angelegten Garten. Wir schritten vorbei an diversen Buchsbaumskulpturen, einigen Wasserbecken und üppigen Blumenrabatten. Den Abschluss der Hauptachse bildete eine große Wand aus steinernen Rundbögen, um die herum zwei etwas kleinere Treppen zu einem höher gelegenen Springbrunnen führten. Von dort aus hatte man einen prachtvollen Fernblick auf den ganzen Garten und das hellerleuchtete Schloss.

»Kaum vorzustellen, welch widerwärtiges Treiben sich in diesem Moment dort abspielt«, durchbrach ich grimmig unser Schweigen.

»Ich weiß, wie zuwider dir das alles ist«, antwortete Giles leise, »aber du wirst dich wohl noch eine ganze Weile zusammenreißen müssen, um es dir nicht anmerken zu lassen.«

»Ich weiß«, entgegnete ich gereizt. »Aber nicht jeder kann sich so perfekt verstellen wie du.«

Eine leichte Zornesfalte bildete sich auf seiner Stirn. »Das ist es doch schließlich, was du damals wolltest, oder nicht?«, antwortete er kalt. »Du wolltest doch, dass ich mich bei den Sybarites einschleiche und mich verstelle, damit ich etwas gegen sie unternehmen kann.«

»Ja, ich wollte das!«, fuhr ich ihn an. »Aber du wolltest es nicht! Und mir ist absolut schleierhaft, wieso du auf einmal Deine Meinung geändert hast.«

Zornig starrte ich ihn an und er erwiderte meinen Blick mit wütend funkelnden Augen.

Dann riss er mich an sich und presste seine Lippen hart auf meine. Blitzartig schoss eine brennende Hitze durch meinen Körper und ich öffnete meine Lippen unter seiner fordernden Zunge, die sofort meinen Mund zu erforschen begann. Meine Knie gaben nach und Giles schob mich gegen die steinerne Balustrade, während seine Hände unter mein Gewand glitten und meine Brüste kneteten und seine Zunge mich weiter um meinen Verstand brachte. Ich stöhnte und klammerte mich an ihn. Dann zog er mit einer schnellen Bewegung mein Unterkleid hoch und drang in mich ein. Ich schrie vor Wollust auf. Vor Leidenschaft fast besinnungslos registrierte ich, wie er mich mit rhythmischen Stößen in immer höhere Sphären trieb. Die Begierde übermannte mich in immer heftigeren Wellen, bis wir beide schließlich mit einem lauten Stöhnen unseren Höhepunkt fanden. Noch zitternd von der langsam abklingenden Erregung klammerten wir uns haltsuchend aneinander. Mit fahrigen Fingern strich ich mir ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht und sah Giles aufgewühlt an. Er erwiderte meinen Blick mit rätselhaftem Gesichtsausdruck.

Schließlich räusperte er sich und rückte von mir ab. »Tut mir leid«, sagte er ausdruckslos. »Offenbar haben mich da ein paar verloren geglaubte Gefühle übermannt. Mein Verhalten ist unentschuldbar.« Er drehte sich um und ging zum Schloss zurück.

Wie betäubt sah ich ihm hinterher.

Ich starrte eine Zeitlang ins Leere, bis ich schließlich Maddy unten im Garten leise nach mir rufen hörte. »Ich bin hier oben«, rief ich tonlos.

Maddy kam die Treppe hoch. »Was ist los?«, fragte sie sofort, als sie meinen Gesichtsausdruck sah, und setzte sich neben mich.

»Ich …, ich bin mit Giles hierher gekommen«, begann ich stockend, »wir wollten dem grauenhaften Mitternachtsschmaus entgehen. Und dann haben wir wieder gestritten. Und dann hatten wir Sex.«

»Oh!«, sagte Maddy.

Ich sah sie an. Ihr unschlüssiger Gesichtsausdruck deutete darauf hin, dass sie zu interpretieren versuchte, was das nun für mich bedeutete.

»Und dann entschuldigte er sich dafür und ging fort«, fügte ich hinzu.

»Oh«, sagte Maddy erneut, diesmal allerdings in mitleidigem Tonfall, und legte tröstend ihren Arm um mich.

Eine Weile saßen wir schweigend so da. Das war das Gute an Maddy: Ich musste ihr nichts erklären. Sie fragte auch nicht nach meinen Gefühlen für Giles. Oder für Francisco. Sie wusste von sich aus, wie durcheinander ich war.

Als sie merkte, dass ich mich wieder einigermaßen gefangen hatte, ergriff sie das Wort. »Es war gut, dass du vor dem ›Mitternachtsschmaus‹ geflohen bist«, erklärte sie. »Ich habe keine Ahnung, wie lange ich diese abstoßenden Spektakel noch ertrage. Aber zumindest bin ich den Tag über ein wenig mit dem Comte de Radisset ins Gespräch gekommen.«

»Und? Hast du etwas über die Mort-Vivants herausfinden können?«, fragte ich interessiert.

»Nicht so viel, wie ich mir gewünscht hätte, aber wenigstens ein bisschen«, antwortete sie. »Dankenswerterweise ist Radisset relativ eitel, so dass man ihm immerhin ein paar Informationen entlocken kann, wenn man ihm entsprechend schmeichelt. Offenbar sind die Mort-Vivants die einzigen Geschöpfe, die einen ›normalen‹ Vampir durch einen Biss töten können. Umgekehrt gibt es aber anscheinend so gut wie nichts, was einem Mort-Vivant gefährlich werden kann. Feuer macht ihnen nichts aus. Und weder ein Biss, noch ein Messer, eine Pistolenkugel oder sonst etwas kann ihnen eine Wunde zufügen, da ihre Haut wie eine Art ledriger und felsenfester Panzer ist.«

»Sie sind also unverwundbar?«, hakte ich stirnrunzelnd nach. »Das macht sie zu ziemlich gefährlichen Gegnern.«

»Allerdings«, bestätigte Maddy, »und wenn sie nur ein kleines bisschen unberechenbar wären, könnten sie auch für die Sybarites zu einem unkalkulierbaren Risiko werden. Jedoch verhält es sich so, dass die Mort-Vivants derjenigen Person, die sie verwandelt hat, geradezu sklavisch ergeben und bedingungslos gehorsam sind. Darum stellen sie für die Sybarites so hervorragende Waffen dar.«

»Das heißt, wenn man weiß, wie man einen Menschen erst nach seinem Tod in einen Vampir, also einen Mort-Vivant verwandelt, kann man sich auf diese Weise sozusagen eine nahezu unbesiegbare und treuergebene Armee erschaffen«, überlegte ich.

Maddy nickte grimmig. »Leider wissen wohl nur Duc de Longueville und der Comte de Radisset, wie diese Verwandlung funktioniert. Und offenbar ist Radisset überhaupt der Einzige, der solche eine Verwandlung durchführen kann. Und er hütet dieses Geheimnis wie seinen Augapfel.«

»Aber wenn er stirbt?«, fragte ich. »Dann stirbt auch dieses Geheimnis mit ihm.«

»Mag sein. Aber wer oder was sollte ihm den Tod bringen?«, gab Maddy zu bedenken. »Immerhin wachen die Mort-Vivants über ihn.«

Ich betrachtete nachdenklich die flackernden Lichter im Garten. »Damit konzentriert Radisset sehr viel Macht auf sich«, sann ich nach. »Erstaunlich, dass der Duc de Longueville dies zulässt. Schließlich könnte Radisset die Mort-Vivants eines Tages dazu benutzen, eigene Interessen zu verfolgen.«

»Demzufolge muss es wohl etwas geben, womit der Duc Radisset in der Hand hat«, vermutete Maddy.

Somit schien der Comte de Radisset und sein Verhältnis zum Duc einen wichtigen Schlüssel zur Macht der Sybarites darzustellen, und wir beschlossen daher, mehr darüber herauszufinden.

 

Intrigen

 

Wie wir am nächsten Morgen erfuhren, hatte Francisco bei der Comtesse de Garandout ebenfalls einen kleinen Erfolg verbuchen und ihr ein paar Informationen über die Menschen, die in den Diensten der Sybarites standen, entlocken können.

Wir saßen alle zu einer weiteren Lagebesprechung bei uns zu Hause zusammen. Und nachdem Maddy noch einmal kurz wiederholt hatte, was sie vom Comte de Radisset über die Mort-Vivants herausgefunden hatte, begann Francisco mit seinem Bericht.

»Es ist erstaunlich, wie viele Menschen bereit sind, sich mit dem Bösen zu verbinden, selbst wenn es für sie eine Gefahr darstellt«, eröffnete er uns. »Die Comtesse de Garandout war für Schmeicheleien sehr empfänglich, und als ich ihr ein besonderes Talent im Aufspüren und Pflegen menschlicher Kontakte unterstellte, da berichtete sie mir erfreut, dass die Rekrutierung menschlicher Handlanger für die Sybarites dank ihr schon eine recht lange und erfolgreiche Tradition habe. So hat Madame de Garandout bereits im 12. Jahrhundert als Maîtresse de Recrutement für die Sybarites gearbeitet und es geschickt verstanden, sich hochrangige Beamte der Krone untertan zu machen.«

»Welche Methoden wendet Madame de Garandout dabei an?«, fragte Giles neugierig. »Besticht sie die Leute? Oder erpresst sie sie mit irgendeinem Geheimnis? Oder droht sie sie zu töten?«

»Es ist eine Mischung aus allem«, antwortete Francisco. »Sie besitzt sehr ausführliche Dossiers über die Menschen, die in den Diensten der Sybarites stehen, oder sich auch potentiell dafür eignen, und kann daher recht gut beurteilen, auf welche Weise sie eine Person manipulieren kann. Viele sind zum Beispiel so machthungrig, dass sie sie mit der Zusage locken kann, sie in Vampire zu verwandeln und somit Unsterblichkeit zu erlangen, was natürlich ein leeres Versprechen ist. Andere erpresst, besticht oder bedroht sie – je nachdem, wofür sie am ehesten empfänglich sind.«

»Und wenn ein Mensch wortbrüchig wird?«, fragte ich. »Oder eventuell nach mehr Macht giert?«

»Dann macht sie kurzen Prozess«, erklärte Francisco finster. »Erinnert ihr euch an die Giftaffäre vor einigen Jahren, die Affaire des Poisons, während der zahlreiche Mitglieder des Adels ermordet wurden? Viele der Beteiligten standen in den Diensten der Sybarites, darunter auch Catherine Monvoisin. Monvoisin, die auf eine baldige Verwandlung in eine Vampirin gehofft hatte, ging damals so blutrünstig und auffällig vor, dass die Comtesse de Garandout den Ermittlern einen Tipp zukommen und Monvoisin und ihre Schergen so aufliegen ließ. Sie wurden bald darauf hingerichtet. Garandout hatte in diesem Fall Abstand davon genommen, Monvoisin selbst töten zu lassen, da der Öffentlichkeit auf diese Weise weisgemacht werden konnte, dass nun alle Hintermänner der Giftaffäre eliminiert seien.«

»Und normalerweise tötet Garandout einen abtrünnigen Handlanger selbst?«, hakte Maddy nach.

»Ja«, bestätigte Francisco nachdrücklich. »Vielleicht erinnern sich ein paar an Pierre Flote? Er war von 1297 an Siegelbewahrer und Kanzler Frankreichs unter König Philipp IV. und stand in den Diensten der Sybarites. Später bekam er Skrupel und wollte sich dem König anvertrauen. Garandout ließ ihn daraufhin töten. Offiziell hieß es damals, Flote sei in der Sporenschlacht bei Kortrijk gefallen.«

»Hast Du etwas darüber herausfinden können, welche Menschen jetzt aktuell in den Diensten der Sybarites stehen?«, fragte Miguel.

»Die Comtesse hat mir mit Sicherheit nicht alle genannt«, erklärte Francisco, »aber ein paar Namen hat sie dann doch fallenlassen, um mich mit der Reichweite ihres Einflusses zu beeindrucken. Wir wissen ja bereits, dass der Marquis de Sourches den Sybarites für ihre Veranstaltungen Zugang zu vielen königlichen Residenzen und Gärten verschafft. Darüber hinaus scheint unter anderem auch Gabriel Nicolas de la Reynie, der Polizeipräfekt von Paris für die Sybarites zu arbeiten, was erklärt, warum es nie eine polizeiliche Ermittlung gegen sie gibt. La Reynie war übrigens auch der Hauptermittler in der Giftaffäre. Ein weiterer Handlanger ist Henri François d'Aguesseau, Generaladvokat des Königs am Gerichtshof Châtelet, ebenfalls eine sehr nützliche Verbindung. Und wenn ich den versteckten Andeutungen der Comtesse de Garandout Glauben schenken darf, steht sogar Godefroy Maurice de La Tour d'Auvergne, der Duc de Bouillon, in den Diensten der Sybarites.«

Francisco sah uns bedeutungsvoll an. Der Duc de Bouillon war der Großkammerherr von Frankreich. Er war damit nicht nur Bewahrer des Geheimen Staatssiegels und zur Unterschrift von wichtigen Urkunden und Briefen des Königs bevollmächtigt, sondern saß darüber hinaus auch als Richter bedeutenden Gerichtsverhandlungen vor und hatte beim Empfang von Botschaftern den zweithöchsten Rang inne. Mit einem derart einflussreichen Mann in ihren Diensten standen den Sybarites nahezu alle Türen offen.

Damit kam auch der Comtesse de Garandout eine zentrale Rolle in der Machtstruktur der Sybarites zu. Würde sich nur einer der von ihr delegierten Handlanger zu einer Indiskretion hinreißen lassen, so wären die Sybarites plötzlich einer unerwünschten öffentlichen Aufmerksamkeit ausgesetzt.

 

Als nächste Veranstaltung der Sybarites stand uns das Chambre Ardente bevor, die Gerichtsverhandlung, der wir angesichts der Schilderungen von Félice beunruhigt entgegensahen. Nachdem was Francisco uns nun über die Beziehungen der Sybarites erzählt hatte, wunderte es mich nicht, dass das Chambre Ardente im Palais de Justice, dem wichtigsten Gerichtshof in Paris stattfand.

Die Gerichtsverhandlung war für ein Uhr nachts anberaumt und fand in einem versteckten Saal im hinteren Gebäudeteil des Palais de Justice statt. Da dies eine Pflichtveranstaltung war, war der Saal entsprechend voll und die Mitglieder waren je nach Dauer ihrer Mitgliedschaft und ihren Funktionen in den Rängen platziert. In den vordersten Rängen saßen die Maîtres und Maîtresses, dann folgten die ältesten Mitglieder und in den hintersten Rängen saßen die neuesten Mitglieder, also auch wir. Der Duc de Longueville führte als erster Richter die Verhandlung, neben ihm am Richtertisch saßen der Marquis de Verneuil und der Comte de Trébuchon.

Wie viele andere Mitglieder reckten auch wir neugierig die Hälse, als der Angeklagte von zwei Mort-Vivants hereingeführt wurde. Er war ein noch recht junger Vampir von schlankem Wuchs. Obwohl die Sybarites ihn schon einige Zeit in Gewahrsam genommen hatten, war seine Erscheinung elegant. Offenkundig hatte man ihn für diese Verhandlung mit entsprechender Kleidung ausstaffiert, damit er einen ästhetischen Anblick bot. Die Mort-Vivants platzierten den Angeklagten auf einem hohen massiven Holzstuhl mit Armlehnen, stellten sich rechts und links neben ihn und hielten seine Arme auf den Lehnen fest.

Der Comte de Trébuchon fungierte als Vertreter der Anklage und verlas die Anklageschrift. »Maurice Balthazar d'Angibaud, sechster Comte de Périllat, Euch wird Untreue an der Gemeinschaft der Sybarites de Sang in mehrfacher Hinsicht vorgeworfen. Die Anklagepunkte lauten im Einzelnen: Verletzung der Schweigepflicht, Wortbrüchigkeit gegenüber den Sybarites de Sang und Verrat an dem lebenslangen Bündnis zu unserer Gemeinschaft.«

Ich betrachtete nachdenklich den angeklagten Comte de Périllat, der die Verlesung der Anklageschrift scheinbar mit stoischer Bitterkeit ertrug. »Er hat den Fehler gemacht, sich in eine Sterbliche zu verlieben«, flüsterte die neben mir sitzende Félice mir zu. »Er hat seiner Geliebten anvertraut, wer er ist und was er ist. Ihretwegen wollte er aufhören, ein Sybarit zu sein. Allerdings schien der Geliebten die Aussicht auf Unsterblichkeit und Macht wohl verführerischer als er. Und so hat sie ihn an den Duc de Longueville verraten, in der Hoffnung, dass er sie verwandelt.«

Betroffen und entrüstet sah ich Félice an. »Und hat er es getan?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Er hat sie sofort getötet. Er hasst Kriecher. Aber der Comte de Périllat war damit dennoch als Verräter entlarvt.«

Mittlerweile hatte Trébuchon das Verlesen der Anklageschrift beendet und fragte Périllat, was er denn zu seiner Verteidigung vorzubringen hätte.

Périllat schnaubte verächtlich. »Als ob Ihr mir die Chance lassen würdet, mich zu verteidigen! In Euren Augen bin ich doch schon längst verurteilt und jeder in diesem Saal weiß, dass diese Verhandlung eine reine Farce ist. Kein Sybarit ist wirklich frei, weder in seinem Denken noch in seinem Tun und Handeln. Für Euch steht das Vergnügen an oberster Stelle, doch welchen Wert hat das Vergnügen ohne Freiheit?«

Der Comte de Trébuchon hob tadelnd eine Augenbraue und setzte zu einer Erwiderung an, doch der Duc de Longueville kam ihm zuvor. »Eine äußerst pathetische kleine Ansprache, mein Bester«, erklärte er mit spöttischem Lächeln. »Doch kanntet Ihr die Regeln von Anfang an. Und Ihr wart damals willig – wenn ich mich recht entsinne, sogar begeistert – sie mit Eurem Blut zu besiegeln. Ihr habt dieses Siegel nun gewissermaßen durchbrochen, also erscheint es mir nur recht und billig, wenn wir dafür jetzt Euer Blut einfordern.«

Périllat sah ihn nur versteinert an und Longueville wandte sich mit erhobener Stimme an das Publikum. »Da weder der Comte de Périllat selbst noch einer der Anwesenden etwas zur Entlastung des Angeklagten vorbringen kann, verkünde ich hiermit das Urteil: Maurice Balthazar d'Angibaud, sechster Comte de Périllat, wird in allen Anklagepunkten für schuldig befunden. Er hat sich des Verrates an der Gemeinschaft der Sybarites de Sang schuldig gemacht und wird dafür mit dem Tode bestraft. Das Urteil wird hier und sofort vollstreckt.«

Der Duc de Longueville klatschte in die Hände und ein weiterer Mort-Vivant betrat den Saal. Obwohl sie alle riesenhafte Gestalten waren, erschien er mir fast noch ein wenig größer als die beiden, die Périllat in seinem Stuhl festhielten. Wie alle Mort-Vivants trug auch dieser eine bodenlange Kutte aus grobem Sackleinen und eine Kapuze, die sein Gesicht verbarg. Nun jedoch lüftete er diese Kapuze und förderte damit einen grauenhaften Anblick zutage.

Ebenso wie bei dem Mort-Vivant, den Maddy und ich damals in Québec entdeckt hatten, dominierte ein enormes, lippenloses Haifischgebiss sein Gesicht und ebenso wie jener besaß er riesige, glutrote Augäpfel und eine gräuliche, halb verweste Haut. Darüber hinaus zierte jedoch eine große Delle seinen Schädel oberhalb der rechten Schläfe, die davon zeugte, dass er wohl seinerzeit mit einem schweren Gegenstand erschlagen worden war. Aufgrund dieser Delle waren die ohnehin schon abgrundtief hässlichen Proportionen seines Gesichtes noch in ein asymmetrisches Ungleichgewicht gebracht, beinahe so, als würde man sein Gesicht durch einen Zerrspiegel betrachten.

Die Gleichgültigkeit, mit der die meisten Zuschauer auf diesen Anblick reagierten, ließ vermuten, dass er ihnen schon von früheren Chambres Ardente vertraut war. Maddy und ich zumindest wechselten einen entsetzten Blick.

Auf Geheiß des Ducs de Longueville wandte sich der hünenhafte Mort-Vivant nun mit einem ohrenbetäubenden Fauchen dem Angeklagten zu und biss ihn in die Halsschlagader. Augenblicklich verbreitete sich ein beißender Aasgeruch im Saal. Der Comte de Périllat stieß einen heiseren Schrei aus, der rasch wieder verstummte. Eine unheimliche Stille breitete sich im Saal aus. Der Mort-Vivant ließ von Périllat ab, wischte sich über den Mund und verließ dann mit den anderen beiden Wächtern den Saal. Périllat blieb bewegungslos und mit starrem Blick in seinem Anklagestuhl sitzen.

Mit fassungslosem Grauen registrierten wir, wie er in Sekundenschnelle zu altern begann. Zunächst zogen sich unzählige Falten und Furchen durch die Haut seines zuvor noch so jugendlichen Gesichtes. Sein Teint wurde immer fahler, bis er schließlich einen schillernden Grauton angenommen hatte, während sein Körper in sich zusammenzuschrumpfen schien und seine Kleidung locker an ihm herabhing. Dann löste sich seine Haut auf, sein Fleisch verweste vor unseren Augen, zerfiel in Fetzen, bis sein ganzer Körper zuletzt nur noch ein Haufen Staub war.

Unfähig mich zu rühren, starrte ich weiterhin auf die sterblichen Überreste des Comte de Périllat, während der Duc de Longueville die Verhandlung für beendet erklärte und das Publikum langsam den Saal verließ. »Komm, Gemma«, vernahm ich die beruhigende Stimme Franciscos. »Wir dürfen uns nichts anmerken lassen.«

Ich ließ es zu, dass er mich hinausbrachte. Draußen gingen wir ans Seine-Ufer hinunter, wo die anderen schon auf uns warteten und wir außer Hörweite der sich verstreuenden Sybarites waren. Giles erblickte mich und kam mit raschen Schritten auf uns zu. »Gemma?«, fragte er stirnrunzelnd und griff nach meiner Hand.

»Das Ganze hat sie wohl ziemlich geschockt«, erklärte Francisco kühl, »aber wir kommen schon klar.«

»Das sehe ich«, fauchte Giles. »Und es sieht nicht so aus, als ob sie klarkommt.«

»Oh, bitte«, würgte ich hervor und machte mich von beiden los. »Ihr benehmt euch wirklich albern.«

Ich ging ein paar Schritte den Fluss hinunter und schloss mich Félice an, die sich tröstend bei mir unterhakte. »Es ist gerade alles ein bisschen viel, was?«, fragte sie nach einer Weile.

Ich seufzte nur. »Diese Hinrichtung …«, begann ich dann stockend,

»Ein alptraumhaftes Schauspiel, nicht wahr?«, stimmte sie mir zu. »Umso widerwärtiger ist es, dass offenbar noch viele Mitglieder ein sadistisches Vergnügen daran finden.«

Entgeistert starrte ich sie an. »Aber ihnen kann doch das Gleiche blühen, wenn sie die Sybarites verraten.«

»Oh, sie denken nicht, dass sie jemals in Verlegenheit geraten, die Sybarites zu verraten«, erklärte sie, »schließlich fühlen sie sich sehr wohl in dieser Gemeinschaft.«

Resigniert schüttelte ich den Kopf. »Manchmal frage ich mich, ob das, was wir vorhaben, überhaupt zu bewerkstelligen ist.«

»Ich denke schon, Gemma«, erwiderte Félice leise. »Das Zusammenfinden unserer kleinen Verschwörer-Gruppe hier ist dafür schon mal ein gutes Zeichen. Bis auf die Sybarites gab es meines Wissens noch nie Vampire, die sich mit anderen um einer Sache willen verbündet haben. Wir aber haben dies getan.«

»Und gefährde ich diese Gruppe jetzt?«, fragte ich verzweifelt.

»Wieso solltest du das tun?«, entgegnete sie erstaunt.

»Nun, weil …, weil …«, ich warf einen niedergeschlagenen Blick auf Giles und Francisco.

»Ah, ich verstehe.« Félice nickte mit leisem Lächeln. Dann legte sie mir aufmunternd die Hand auf den Arm. »Gemma, ich kann dir in dieser Angelegenheit nichts raten. Aber ich denke nicht, dass du befürchten musst, dass es unseren Zusammenhalt gefährdet. Dazu sind die beiden zu ehrenhaft. Sie stehen zu ihrem Wort.«

Ich nickte zögernd. »Ja, du hast recht. Ich sollte mich vielleicht auch besser mehr auf unser Ziel als auf mein privates Chaos konzentrieren.«

Félice lachte leise auf. »Du bist absurd, Gemma! Kaum einer gibt sich unserem Ziel leidenschaftlicher hin als du.«

 

Mittlerweile war über ein Monat vergangen. Jean-Marc hatte mit uns seinen achtzehnten Geburtstag gefeiert und nun war er gerade wieder aus Fontainebleau zurück, wo er in meinem Auftrag hingereist war, um nach den Kindern zu schauen, die wir aus dem Kinderbordell Le Terrain de Jeux gerettet hatten. Wie er berichtete, schienen sich alle Kinder sehr gut dort einzuleben und zeigten dank der liebevollen Fürsorge der Frauen aus dem Ort auch wieder erste Anzeichen von Lebensfreude. Wir alle waren sehr erleichtert darüber, dass es den Kindern offenbar gelang, ihre schrecklichen Erlebnisse zu vergessen.

Unsere kleine »Verschwörer-Gruppe« hatte inzwischen an diversen Veranstaltungen der Sybarites teilgenommen und wir alle hatten uns anscheinend zu voll akzeptierten Mitgliedern der Gemeinschaft entwickelt. Nach allem, was wir bislang herausbekommen konnten, stellten der Comte de Radisset und die Comtesse de Garandout zentrale Schlüsselfiguren im Machtgefüge der Sybarites dar, daher hatten wir vereinbart, zunächst einmal diese beiden in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit zu stellen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752124750
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Dezember)
Schlagworte
Historischer Vampirroman Französische Revolution Vampirroman Abenteuer Vampire unsterblich Paris Fantasy Historisch Reise Urban Fantasy Romance

Autor

  • Hope Cavendish (Autor:in)

Hope Cavendish schreibt in verschiedenen Genres – doch egal, ob nun Vampire oder Menschen die Protagonisten in ihren Büchern sind, das Menschliche steht in ihren Geschichten im Vordergrund. In Braunschweig aufgewachsen, lebt Hope mittlerweile schon seit vielen Jahren im Ruhrgebiet und liebt es, ihre Leser mit ihren Büchern in andere Welten entführen zu dürfen.
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Titel: Zeitgenossen - Kampf gegen die Sybarites (Bd. 2)