Lade Inhalt...

Su

von Brigitte Pons (Autor:in)
520 Seiten

Zusammenfassung

Sie ist jung. Sie ist zornig. Sie ist autoaggressiv. Sie ist intelligent und verletzt. Sie spielt mit Sex und den Gefühlen anderer. Sie steht auf Tolstoi und Brecht und korrekte Zitate. Sie verabscheut Unaufrichtigkeit ohne selbst die Wahrheit zu sagen. Sie glaubt nicht an Liebe. Ihr Name ist Su. Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens - einem Mörder - und sich selbst, findet Su womit sie nicht gerechnet hat …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Prolog

„Wer bist du?“

Ein Windhauch strich schmeichelnd um ihren Körper.

„Mein Name ist Su.“

„Danach habe ich nicht gefragt. Das weißt du.“

Natürlich wusste sie das. Und sie wusste auch, dass die sanfte Stimme und die Berührung nur eine Illusion waren. In der Dunkelheit starrte sie zur Zimmerdecke, wo die Worte wie kleine Lichtpunkte vor ihr tanzten. Wer bist du?

Der Wind frischte auf. Mehr und mehr. Kälter.

„Finde es heraus“, sagte Su, wiederholte es lauter, brüllte es gegen das Tosen des Orkans bis ihr nur noch ein Flüstern blieb. „Finde es heraus. Bitte.“

Sonntag, 28. April

Mit großen Sprüngen hastete Su die Treppe hinauf. Drei Stufen bis zum ersten Absatz dann sieben.

„Anni, bin da!“ Noch mal sechs Stufen, klopfen und die Tür aufreißen. Anni schloss nie ab. Wer sie besuchte, konnte einfach reinkommen. Su schmiss ihre Tasche im Flur in die Ecke. Es kam allerdings selten jemand, außer ihr. Das lag an Lisbeth. Meistens saß Lisbeth in der Küche auf der Bank und trank Kaffee, wenn Anni nicht antwortete. Aber da war niemand.

Das Schlafzimmer stand offen. Annis Kleider hingen über dem Stuhl, der Rollladen war halb heruntergelassen. Es war fast Mittag. Kein guter Tag, wenn sie es bis jetzt nicht geschafft hatte sich anzuziehen. Wahrscheinlich war sie im Bad und antwortete deshalb nicht. Egal, ihr würde schon etwas einfallen, um Anni aufzumuntern. Liebesromanheftchen vorlesen zum Beispiel. Und zwischendurch beseitigen, was auch immer ihr danebengegangen war. Su rümpfte die Nase. Ein schwerer, unangenehmer Geruch schlug ihr aus dem Wohnzimmer entgegen. Erstmal die Vorhänge aufziehen, lüften und dann … Su strauchelte im Halbdunkel, hielt den Atem an. Sie erkannte einen Fuß mit Schuh, einen ohne, nur mit Stützstrumpf.

„Scheiße!“ Su sackte auf die Knie.

Der hellblaue Morgenmantel lag um Anni ausgebreitet, der Gehstock außerhalb ihrer Reichweite. „Hörst du mich?“ Su schüttelte sie, strich über das wirre graue Haar. Zähflüssiges Zeug an ihrer Hand, an ihrem Knie. Unter Annis Kopf. Su hielt sich den Mund zu, keuchte. Jetzt klebte es auch in ihrem Gesicht. Braun und zäh. Zitternd wischte sie sich mit ihrem Ärmel über die Wange. Erst langsam, dann immer heftiger. Annis Blut ließ sich nicht wegwischen.

„Lisbeth?“ Der Schrei kullerte über Sus Lippen, fiel fast lautlos zu Boden. „Ich ruf einen Arzt. Ja? Sag was. Bitte sag doch was!“

Unter halb geschlossenen Lidern starrten die Augen ins Nichts, der Mund klaffte auf. Anni brauchte keinen Arzt mehr. Bloß noch einen für den Totenschein. Und einen Gerichtsmediziner. Nur nicht heulen. Schwankend tastete Su sich zum Telefon und wählte die Nummer der Polizei, nannte Adresse, Anlass und Namen. Dann setzte sie sich vor der Wohnung auf die Stufen und wartete. Der Fluchtreflex krampfte ihren Magen zusammen. Wenn sie jetzt weglief, wäre sie sofort verdächtig. Wenn sie blieb, auch. War schon klar. Einfach, weil sie Su war. Weil sie nicht war, wie alle anderen und es eine Akte über sie gab. Außerdem waren ihre Fingerabdrücke überall in der Wohnung und ihre Spuren im Blut und an der Leiche. Anni ist eine Leiche. Su presste die Stirn gegen das Treppengeländer. Keine Tränen. Ich schwöre, Anni.

*

Stimmen und Schritte hallten durchs Treppenhaus. Wie in Trance verfolgte Su das Eintreffen der Sanitäter, die unverrichteter Dinge wieder abzogen, des Arztes und der Streifenpolizisten. Unwirklich und fremd fühlte es sich an, all diese Menschen in Annis Wohnung ein und ausgehen zu sehen. Su wollte keine Fragen mehr beantworten. Ihre Aussage hatte sie gemacht. Und sie wollte auch nicht mehr angestarrt werden. Sie griff ihre Tasche und schlängelte sich hinaus, vorbei an den Beamten und der Absperrung, hinter der sich Schaulustige sammelten. Sensationsgeile Arschlöcher.

Blindlings überquerte sie die Straße und scherte sich nicht um den Verkehr. Nur noch ein paar Schritte durch den Grünstreifen bis zum Main. Hier fiel ihr das Atmen leichter. Sie setzte sich auf die gemauerte Uferkante und ließ die Beine baumeln. Nicht besonders viel Wasser im Fluss. Ein eher trockener Frühling in diesem Jahr. Ihre Gedanken kreiselten. Was interessierten sie der Fluss, der Frühling? Keine Anni mehr und keine Lisbeth. Polizei überall. Sie wusste genau, was als nächstes in Annis Wohnung passierte. Blitzlichter, Kameras und Spurensicherung in tausend kleine Plastiktüten - wie im Film. Anni war über achtzig. Und nun hatte sie ein Loch im Schädel und wurde in einen Zinksarg gepackt. Das Bild wollte sich nicht wegschieben lassen. Immer wieder sah Su ihre Augen. Fremd und leer. Dazu der Geruch. Er hing in ihrer Nase fest, pappte an ihrem Gaumen, wie das Blut zuvor in ihrem Gesicht. Sie kratzte sich am linken Unterarm. Ein Scheißfilm war das. Allein die Fragen des Polizisten. Erst der ganze persönliche Kram, dann über den Leichenfund. Ekelhaftes Wort: Leichenfund. Ob ihr etwas aufgefallen wäre. Etwas Ungewöhnliches, Besonderes. Sie kratzte heftiger. Nein, was soll mir schon aufgefallen sein? War alles ganz normal. Ganz normal, bis auf die Tote im Wohnzimmer. Am liebsten hätte sie die langen Handschuhe ausgezogen, um besser kratzen zu können. Gerade noch rechtzeitig merkte sie, dass ihre Hand den Stoff bereits nach unten gezogen hatte, um mit den Nägeln an die Haut zu kommen. Wenn sie doch nur nicht die Fingerlosen angezogen hätte. Aber für die anderen war es zu warm. Sie krallte die rechte Hand um die linke. Die Nägel bohrten sich in die Haut. Das Verlangen wuchs.

War wirklich alles ganz normal gewesen? Anni hatte nicht geantwortet und sie war rein gegangen. Durch die unverschlossene Tür. Normal. In Gedanken wiederholte sie jeden ihrer Schritte. Systematisch biss sie dabei einen Nagel nach dem anderen ab. Blick in die Küche, ins Schlafzimmer - dann hatte sie zur Wohnzimmertür gegriffen. Stopp! Der Flur war dunkel gewesen. Aber Anni ließ die Lampe immer brennen, Tag und Nacht, weil es dort kein Fenster gab.

Su spuckte ein Stück Fingernagel in den Main. Ihr Zeigefinger tat weh. Die Fingerkuppe wurde nur noch von einer hauchdünnen Haut geschützt. Einmal noch mit den Zähnen ran, dann würde es bluten. Entschlossen setzte sie sich auf ihre Hände.

War es wichtig, wer das Licht gelöscht hatte? Konnte sein. Womöglich gab es Fingerabdrücke. Routinearbeit für die Spurensicherung. Für die war es ein Fall, wie jeder andere. War es aber nicht. Blicklos starrte sie auf die leise gegen die Mauer klatschenden Wellen.

Der einzige Mensch, mit dem sie hatte reden können, konnte nicht mehr mit ihr reden. Schöner Mist. Und sie durfte von der Polizei keine Auskunft erwarten. Fragen beantworten, ja, aber Antworten auf Fragen bekommen? Nein. Das hatte der Bulle ihr unmissverständlich klar gemacht. Im Gegensatz zu Herbert, der jede Auskunft kriegen würde, die er haben wollte, nur weil er Annis Sohn war. Dieser langweilige, fiese Sack, der immer wieder versucht hatte, seine Mutter in ein Pflegeheim zu stecken. Eine Wohnung am Frankfurter Mainufer ließ sich gut verkaufen oder vermieten. Einziehen wollte der Kotzbrocken sicher nicht; hatte ja selbst ein viel besseres Haus, irgendwo im Taunus. Ein geiziger Geldscheißer.

Ihr Finger glitt wie von selbst in den Mund. Blut auf ihrer Zunge. Mit der flachen Hand schlug sie auf den Stein. Verdammt! Langsam atmen. Pfoten zurück unter den Hintern. Sie hatte Herbert einmal mit Lisbeth zusammen aus der Wohnung geworfen. Das verzieh er ihr niemals. Sie musste nicht glauben, dass sie von ihm etwas erfahren würde. Blieb also doch nur die Polizei. Oder selbst nachforschen. Ermitteln, wie Columbo. Den hatte Anni besonders gern gemocht. Wenn es dunkel wurde, konnte sie wieder nach oben gehen.

*

Der Hausflur lag im Dämmerlicht. Eine der Lampen, die die Treppe zwischen den Stockwerken beleuchtete war kaputt. Auch unten am Eingang funktionierte nur eine der beiden Leuchtröhren. Schon seit Wochen. Sie hatten die Wohnungstür mit jeder Menge Klebeband abgesperrt, von einer Seite des Türrahmens zur anderen. Das obligatorische Polizeisiegel aufgeklebt. Jetzt hätte sie ihre Fingernägel brauchen können. Das Siegel saß fest. Mit Geduld und Spucke, Kind. Klar Anni. Nur war Geduld noch nie Sus starke Seite gewesen. Sie feuchtete das Siegel an, zählte bis zehn, zwanzig, dreißig, dann popelte sie wieder daran herum. Das sah nicht gut aus. Sie schloss die Augen und zwang sich zur Ruhe. Zählen. Atmen. Konzentrieren. Su kramte eine abgelaufene Telefonkarte heraus. Damit ließen sich Schlösser ganz hervorragend öffnen. Wer brauchte schon eine Kreditkarte? Ein gefühlvoller Ruck und die Tür sprang auf. Nur eines der Absperrbänder zerriss beim Durchklettern. Eine gute Quote. Sie stopfte das Band in die Tasche und zog den Stoff ihres Handschuhs über die Finger, ehe sie das Licht einschaltete. Eine Vorsichtsmaßnahme, um keine neuen Abdrücke zu hinterlassen. Obwohl die vermutlich niemanden mehr interessierten. Ihre Tasche legte sie an der gewohnten Stelle ab. Sie kannte jedes Bodenbrett, wusste genau welches knarrte und wo sie geräuschlos auftreten konnte. Beim Anblick der Kreidespuren im Wohnzimmer stellten sich ihre Nackenhaare auf. Das blieb also übrig, wenn ein Leben gewaltsam endete. Die Verkrustungen verursachten Brechreiz. Blut und mehr. Niemand hatte sich die Mühe gemacht aufzuwischen. Der Fleck auf ihrer Hose würde sie weiter daran erinnern. Sie strich darüber, während ihre Augen den Raum abtasteten. Es konnte nicht schaden die Arbeit der Polizei zu kontrollieren. Kontrolle war gut, gab Sicherheit.

Zentimeter für Zentimeter bewegte Su sich vorwärts, akribisch und wenn nötig mit der Nase fast auf dem Boden. Die Lichtschalter sahen aus, als hätte dort jemand ein Puder benutzt. Bei Columbo machten sie das auch, was Anni sehr beeindruckt hatte. Einstäuben und dann mit Spezialfolie den Abdruck abziehen. Na gut, vielleicht waren die Bullen nicht so nachlässig gewesen, wie sie befürchtet hatte.

Sie öffnete eine Schublade des Küchenschrankes, in der Gummiringe, Kordel und Klebeetiketten durcheinander lagen. Das scharfe Messer schob Su ganz nach hinten. Unter dem Butterbrotpapier fand sie den Klebestreifenabroller. Vertraue niemandem. Einen Gefrierbeutel musste sie noch aus der Truhenbank holen, dort wo sie immer saß, wenn sie mit Lisbeth Kaffee trank. Getrunken hatte. Merk dir das, Su: hatte. Von der Bank aus konnte man aus dem Fenster sehen. Nach hinten raus auf eine Seitenstraße. Jetzt sah sie kaum mehr als ihre eigene Spiegelung in der Scheibe, gespenstisch blass, dahinter die graubraunen Umrisse der umliegenden Häuser. Am Himmel ein letzter Schimmer Tageslicht.

Das Plastik dehnte und verzog sich in alle Richtungen, als Su versuchte den Beutel entlang der Schweißnaht aufzureißen. Mit dem Messer wäre es einfacher. Viel einfacher. Zögernd stand sie vor dem Schrank, zog dann blitzschnell die Schublade auf, packte das Messer, setzte gezielt zwei Schnitte, warf es zurück in den hintersten Winkel und knallte die Schublade wieder zu. Scheiße, war das laut. Sie hielt die Luft an. Aber es rührte sich nichts im Haus. Typisch. Diese blöden Penner hatten ja nicht mal was von dem Mord mitgekriegt.

Als Ersatz für das Puder, benutzte sie eine Prise Mehl, die sie über den Schalter pustete. Sorgfältig legte sie mehrere Klebestreifen nebeneinander auf die hauchfeine Spur und drückte sie fest an. In der gleichen Reihenfolge legte sie Streifen im Beutel ab, den sie anschließend rundherum verschloss. Konnte man überhaupt etwas erkennen? Vielleicht - vielleicht auch nicht. Mit zusammengekniffenen Augen durchstreifte sie ein weiteres Mal die Wohnung. Sie durfte keinen Fehler machen. Es gab nur diese eine Chance. Der Flur blieb klein und dunkel, mit abgewetzten Holzdielen, einem fleckigen Spiegel und einer uralten Tapete, die längst hätte ersetzen werden müssen. Gleich neben dem Eingang war sie so zerkratzt, als hätte Moritz seine Krallen dort gewetzt. Aber der Nachbarkater war unschuldig. Die Kratzer stammten von Annis rollender Einkaufstasche. Solange sie noch alleine einkaufen gegangen war, hatte sie das Wägelchen beim Hereinkommen mit Schwung über die Schwelle geschubst. Jedes Mal donnerte es dabei gegen die gleiche Stelle und sie zerrte gegen die Laufrichtung der Rollen weiter. Im Laufe der Zeit war ein eigenwilliges Muster aus Kratzern entstanden. Lebensspuren an der Wand. Nun war dieses Leben zu Ende. Es würde keine weiteren Spuren mehr geben und für sie keinen Grund, die Wohnung noch einmal zu betreten. Nachdenklich strich sie einen widerspenstigen Tapetenzipfel glatt. Etwas störte. Su bückte sich. Eine Stofffaser, eine Borste von einem Besen? Eher ein Haar. Rötlich, kurz und fest. Dieses Haar gehörte hier nicht her. Sie holte einen weiteren Gefrierbeutel und einen Gummiring, verstaute es bei den anderen Beweisstücken und spähte ins Treppenhaus. Keiner zu sehen. Zwischen den Absperrbändern schlängelte sie sich hinaus, befestigte das aufgeweichte Siegel mit einem Tropfen Flüssigkleber zwischen Tür und Rahmen. Die ausgefransten Ränder zeigten deutlich, dass sich jemand daran zu schaffen gemacht hatte. Unwirsch zuckte Su die Schultern. Auch egal. Wer sollte das schon bemerken? Die Polizei war hier fertig und Herbert raffte sowieso nichts.

Hinter ihr maunzte es.

„Moritz!“ Su ging in die Hocke. „Hallo mein Süßer.“

Schnurrend strich der Kater um ihre Beine, ließ sich Hals und Ohren kraulen, schloss die Augen und stand still. Ein vorsichtiger Einzelgänger. Genau wie sie. Anni hatte auf Moritz aufgepasst, wenn sein Besitzer verreist war, ihn gefüttert und ihm das Fell geschubbert. Mit ihren runzligen Händen, an denen die Haut dünn gewesen war wie Pergamentpapier und genauso geknistert hatte, wenn man sie berührte.

Su schniefte. Die Gefühlsduselei musste sie loswerden, sonst konnte sie nicht denken. Aus der Hosentasche kramte sie das inzwischen löchrige Taschentuch, das ein Polizist ihr gegeben hatte. Einmal Schnäuzen ging gerade noch. Bei Anni war alles anders gewesen. Bei ihr hatte Su sie selbst sein können. Einfach so. Wohin jetzt, mit diesem Selbst? Seufzend stand sie auf. Zeit zu gehen.

„Kommst du mit raus, Moritz?“

Er maunzte wieder, drehte ihr den Rücken und sprang geschmeidig die Stufen hinauf. Das hieß dann wohl nein. Komisch eigentlich, dass sie den Nachbarn nicht kannte, dem der Kater gehörte. Ein Chemiker und ein netter Mensch, hatte Anni über ihn gesagt, der mit Mikroskopen und Computern arbeitete. Der Ansatz gefiel ihr. Ein Forscher. Sie straffte die Schultern und folgte Moritz in den zweiten Stock.

*

Es war viertel vor elf. Nicht gerade eine Uhrzeit zu der er Besuch erwartete. Jakob erhob sich von seinem Schreibtisch und rückte die Brille zurecht. Er hatte schon oft darüber nachgedacht einen Türspion einbauen zu lassen und fragte sich einmal mehr, warum er es nie schaffte, solche kleinen Projekte auch umzusetzen. Sein Nacken fühlte sich verspannt an. Das Wochenende hatte er auf einem wenig sinnvollen Seminar verbracht. Am späten Nachmittag war er wieder zu Hause eingetroffen und direkt von der Polizei mit der Nachricht vom Mord konfrontiert worden. Danach hatte er sich zur Beruhigung drei Gläser Rotwein gegönnt und eindeutig zu schnell getrunken. An konzentrierte Erledigung des Papierkrams auf seinem Schreibtisch war nicht mehr zu denken gewesen. Also hatte er noch ein Glas getrunken und die letzte halbe Stunde damit zugebracht, Zettel zu kleinen Häufchen aufzutürmen, die Stapel nebeneinander aufzureihen und sie anschließend wieder auseinander zu pflücken, weil er sich nicht mehr erinnern konnte, nach welchen Kriterien er sie sortiert hatte. Eine Unterbrechung dieser fruchtlosen Tätigkeit, erschien ihm nun durchaus nicht unerfreulich. Ohne zu zögern, öffnete er. Wie ein Pfeil sauste Moritz an ihm vorüber. Aber Moritz kam nicht allein. Er hätte auch schlecht klingeln können.

Auf der Schwelle stand eine junge Frau - sie mochte Anfang zwanzig sein -, nicht besonders groß, mit blauschwarzen, zotteligen Haaren und dunklen Augen. Zu einem schwarzen T-Shirt mit grell rotem Druck, trug sie eine aufgekrempelte Jeans, Ringelstrümpfe und fingerlose schwarze Satinhandschuhe, die bis über die Ellbogen hinauf reichten. Um den Hals baumelte eine klotzige Kette mit Peace-Zeichen. Sie musterte ihn weniger erstaunt, aber ebenso unverfroren.

„Du bist Jakob?“, fragte sie.

Verdutzt nickte er. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der sie ihn duzte, schob sie sich an ihm vorbei und ging zielstrebig bis ins Wohnzimmer. Jakob schloss die Eingangstür und kniff kurz die Augen zusammen, aber das seltsame Wesen war immer noch da und fläzte nun in seinem Sessel.

„Entschuldigen Sie, kennen wir uns?“

„Nö.“ Ihre Beine baumelten über die Armlehne. Unbehaglich zupfte er unter ihrem Blick an seiner Wäsche herum. Seine Hose war an den Knien ausgebeult und hing zu tief, das karierte Hemd war nachlässig in den Bund gestopft und die Pantoffeln hatten schon bessere Zeiten gesehen, dessen war er sich wohl bewusst.

„Ich bin Su. Hat Anni dir nichts von mir erzählt?“

Auf dem Couchtisch lag eine angebrochene Packung Kekse. Su schob sich einen davon zwischen die Zähne und beobachtete ihn weiter.

„Su.“ Jakob dachte nach. Es dauerte länger als sonst. „Ach, Sie sind das Mädchen, dass für sie einkauft und so.“ Ihr Name sei Susanne, hatte Anni damals gesagt. Susanne. Dabei hatte sie den Kopf geschüttelt und gelacht. Warum hatte er nicht verstanden.

„Genau.“ Eine Krümelspur lagerte sich auf ihrem T-Shirt ab. „Ist das ein Merlot?“, fragte sie mit Blick auf die Rotweinflasche.

„Nein, ein Dornfelder, glaube ich, aber …“

„Ist okay, den mag ich.“ Sie füllte sein Glas und trank einen großen Schluck. „Du siehst nicht aus wie ein Jakob. Ich werde dich Jack nennen. Das passt viel besser.“ Sie nickte mit Nachdruck und genehmigte sich noch etwas Wein. „Setz dich endlich hin, Jack. Es ist ungemütlich, wenn du da herumstehst.“ Mit gezielten Fußtritten gegen die eigenen Fersen streifte sie ihre Stiefel ab, die polternd aufs Parkett krachten. „Willst du nicht wissen, warum ich gekommen bin?“

Er setzte sich ihr gegenüber auf das Sofa. Mit Daumen und Zeigefinger rieb er sich die Augen hinter der Brille. Das ist nicht mein Tag. Ganz entschieden nicht mein Tag.

„Also schön. Warum sind Sie hier, Susanne?“

Angewidert verzog sie das Gesicht und faltete die Beine zum Schneidersitz. „Mann Jack, das ist ätzend, lass das. Ich bin Su. Einfach: Su. Habe ich doch gesagt. Und das mit dem Sie kannst du dir erst recht sparen. Sehe ich aus, wie jemand, zu dem man Sie sagt? Also wirklich!“ Sie beugte sich nach vorne, ohne den Knoten in ihren Beinen zu lösen, wie er nicht ohne Bewunderung feststellte. Mit Schwung kippte sie den Rest Rotwein ins Glas und hielt es ihm hin. „Trink einen Schluck, das entkrampft.“

Da war etwas in ihren Augen. Er konnte es nicht erklären, aber er trank das Glas in einem Zug aus. Das fünfte. Aber das war nun auch schon egal.

„Kommen wir zum Punkt, Jack. Anni ist tot. Die Polizei war bei dir und hat dich informatorisch befragt. Heute Vormittag habe ich ihre Leiche gefunden und eben war ich in der Wohnung und habe den Tatort untersucht. Die Spuren kann ich aber nicht auswerten. Dazu brauche ich dich, Jack.“

„Mich? Wieso mich? Ich bin sicher, die Polizei hat …“

„Hat sie nicht!“, unterbrach Su ihn heftig. „Direkt neben der Eingangstür an der Tapete, fand ich ein Haar oder eine Faser – vermutlich aber eher ein Haar. Wer ein Indiz übersieht, dem entgeht vielleicht noch mehr. Darum habe ich auch Fingerabdrücke vom Lichtschalter gesichert. Auf dem Flur war es dunkel und Anni macht die Lampe nie aus. Das muss der Mörder gewesen sein. Du bist Wissenschaftler. Du kannst meine Funde untersuchen.“

„Wieso gehst du damit nicht zur Polizei?“

„Jack.“ Ihr Tonfall wurde mitleidig. „Jack, schau mich an. Kennst du einen Polizisten auf dieser Welt, der mir glaubt? Der mir überhaupt zuhört? Es sei denn, er hält mich für schuldig und hofft auf ein Geständnis, dann vielleicht.“

Wieder rieb Jakob sich die Augen. Zumindest das letzte Argument erschien ihm durchaus schlüssig. „Su, es tut mir wirklich leid, aber ich kann das nicht.“

Ihre Augen verengten sich schlagartig zu kleinen Schlitzen. „Du willst nicht, wolltest du sagen. Bleib bei der Wahrheit, Jack. Lüg mich nicht an. Niemals!“ Sie sprang aus dem Sessel. Moritz maunzte erstaunt in der Sofaecke.

„Das mache ich nicht. Aber du erwartest etwas von mir, wovon ich keine Ahnung habe. Ich bin Wissenschaftler, ja, aber kein Forensiker.“ Jakob folgte Su mit den Augen, als sie Runden um den Sessel drehte. Es war nicht zu übersehen, dass sie an seinen Worten zweifelte.

„Du kannst es nicht“, wiederholte sie und steckte einen Finger in den Mund, um an einem Nagel zu kauen, aber der war abgebissen bis aufs Fleisch. „Du kannst es noch nicht. Denk nach, Jack. Dir wird etwas einfallen.“ Sie breitete die Arme aus und deutete auf die Wände ringsum, Fachliteratur soweit das Auge reichte. „Du hast ein Buch im Regal, in dem es drin steht oder du kennst jemand, der das kann. Denk nach!“

Wieder fing sie seinen Blick ein.

Mein Gott, was hat das Mädchen nur in seinen Augen? Sie glänzten auf eine unwirkliche Art, dunkel und abgrundtief. Als hätten sie schon alles gesehen auf dieser Welt. Höhen und Tiefen. Die Schwärze ihrer Pupillen, das von geplatzten Äderchen gerötete Weiß, dazu die schwarzen struppigen Haare und ihre Schminke, erweckten den Eindruck eine Untote vor sich zu haben. Und doch sah er keinen Grund ihr zu misstrauen. Die Erkenntnis war nicht in Worte zu fassen, ein vages Bauchgefühl. Der Zombie war nur außen, doch was zu ihm sprach, kam von innen und sagte: Hilf mir.

„In Ordnung, ich werde es versuchen. Die Polizei ist vermutlich wirklich die falsche Adresse, wenn man aussieht, wie ein Zombie auf Entzug.“

Der Zombie lachte und er zuckte zusammen. Hatte er das tatsächlich gesagt?

„Danke.“ Su deutete eine Mischung aus Verbeugung und Hofknicks an. „Du hast Grips und Humor.“ Sie warf sich zurück in den Sessel und schloss die Augen.

„Alles in Ordnung, Su?“

„Ja, ja klar.“ Sie gähnte. „Ich bin müde. Das war echt ein Scheißtag. Deiner auch, ich weiß, und darum hau ich jetzt ab.“ Mit dem Unterarm wischte sie den Tisch neben dem Glas und der Rotweinflasche sauber und legte die Beweisstücke aus Annis Wohnung ab. „Du kümmerst dich darum?“

Jakob nickte. „Hast du es weit nach Hause?“

Sie zuckte die Schultern, ohne ihn anzusehen, hängte ihre Tasche um. „Einmal quer durch die Stadt mit der U-Bahn, dann ein paar Minuten zu Fuß. Kein Ding.“

Was gab es für einen Zombie schon zu befürchten? Su kannte dieses Gefühl womöglich gar nicht. Schweigend zurrte sie die Schnürsenkel ihrer Stiefel fest. Jakob schaute zur Uhr und zum Fenster. Der Frankfurter Nahverkehr war gut ausgebaut. Aber es war auch spät. Und finster. Wenn seine eigene Tochter …! Er schüttelte kaum merklich den Kopf.

„Warte.“ Rotwein und Vaterinstinkt. Fatale Mischung. „Du kannst auf der Couch schlafen, wenn du willst.“

Montag, 29. April

Der Hörsaal war brechend voll, heiß und stickig. Schweißgeruch durchdrang das Tuch vor ihrer Nase. Su quetschte sich in eine Ecke, in der Hoffnung mit niemandem in Berührung zu kommen. Sie zog die Knie bis vor die Brust, legte ihr Kinn darauf und versuchte alles außer den Worten des Professors auszublenden. Die Vorlesung langweilte sie. Der Mensch, der glaubte ihnen etwas beibringen zu können, sprach mit schleppender Stimme, zerredet das schönste Thema und verunstaltete, was zu einem Genuss hätte werden können. Kunstgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts – Jugendstil, Modernisme, Art nouveau. Sein monotones Geplapper machte sie schläfrig. Die Nacht war kurz gewesen. Ihre Lider senkten sich. Doch dann sah sie sie. Annis tote Augen. Den leblosen Körper in einer Blutlache. Ruckartig hob sie den Kopf. Blinzelte. Um sie herum Menschen - lebende Menschen, nichtssagende Menschen - die sie nicht kannte, nicht kennen wollte. Und Anni war tot, würde es bleiben und für immer mit diesem leeren Blick in ihrem Kopf sein.

Raus. Ich muss raus. Begleitet von halblauten Flüchen hangelte sie sich über Tische und Klappsitze, hastig weggezogene Ringbücher, Arme, Beine und Rucksäcke hinweg zur Tür. Dann weiter über den Flur zum Ausgang und ins Freie. Frühlingsluft wehte honigsüß aus blühenden Büschen, unterlegt mit Abgasen, die gnädig den immer noch allgegenwärtigen Leichengeruch überdeckten. Mit offenem Mund sog sie den Atem in ihre Lungen, schaute keuchend zum grau verhangenen Himmel. Am Rande einer Wolke zeigte sich ein schmaler Streifen Sonne. Ein Lichtblick. Wie Jack. Er war nicht aufgewacht, als sie gegangen war. Ob er auch ohne Rotwein nett war? Er musste einfach nett sein. Sie brauchte jemand, der nett war. Zu ihr. Jack war kein Typ, der anderen etwas vormachte. Alleinstehend und einsam, ein Arbeitstier, das hatte sie gleich erkannt. Einer mit Gefühl. Es war besser, wenn er ihr freiwillig half. Sie wollte ihn nicht benutzen. Aber sie würde es tun, wenn es nötig war. Jack konnte ihr Rettungsring sein. Er hatte seine Couch angeboten und statt sich dort an sie ranzuschmeißen nur mit ihr geredet. Und trotz seines Rotweinschädels Schach gespielt bis drei Uhr morgens. Ein guter Anfang, aber längst keine Garantie. Er musste sich bewähren, wie alle anderen.

Sie beschloss den Rest der Vorlesungen zu schwänzen. Konzentrieren konnte sie sich ohnehin nicht. Besser sie machte eine Stippvisite in der WG und dann auf dem Polizeirevier. Sie schwitzte bei dem Gedanken. Feigling. Hier ging es um Anni und nicht um sie selbst. Sie musste es wenigstens versuchen. Vielleicht machte einer der Polizisten doch den Mund auf. Für Anni würde sie kämpfen. Mit allen Mitteln, auch wenn es ihre letzten Reserven kostete. Lügen, heucheln, durchhalten.

Noch sechs Stunden, bis sie zur Arbeit musste. Noch mindestens elf Stunden, bis sie zu Jack gehen konnte.

*

Hinter der Theke des „Café Tolstoi“ warf Justin einen erstaunten Blick auf seine Armbanduhr.

„Träume ich? Du bist zu früh.“

„Danke der Nachfrage, Kojak. Es geht mir gut. Wenn ich früher anfange, kann ich dann nachher eher gehen?“

Prüfend hielt er ein Glas gegen das Licht, poliert nach und stellte es ins Regal. „Das wird nichts. Christine hat abgesagt, irgendwelcher Beziehungsstress. Das heißt, nur du und ich heute Abend.“ Er warf ihr ein Geschirrtuch zu. „Mach mit den Gläsern weiter.“

Unendlich langsam kroch der Zeiger voran. Su lutschte ein Pfefferminz nach dem anderen. Extra scharf, damit der Schmerzreiz auf der Zunge und in der Nase alles andere überlagerte. Die Stunden vergingen mit Bier zapfen, Teller schleppen und Gesprächen ausweichen, bis Justin endlich das Zeichen zum Feierabend gab.

„Hau ab, Su. Den Rest schaffe ich alleine. Du kommst Donnerstag zum Frühstück?“

„Sechs Uhr, wie versprochen. Träum von mir!“

Mit einer Kusshand verabschiedete sie sich, stopfte Schürze und Geschirrtücher in den Wäschesack hinter der Küchentür und schlüpfte nach draußen. Fast Mitternacht.

Was, wenn Jack nicht aufmachte? Sie rannte zum Sachsenhäuser Ufer, über die Alte Brücke und den Fluss, die Straße am Mainkai entlang, im Kopf das Geräusch ihrer Stiefel und die Stimme, die im Takt zu spät rief. Doch in seinem Wohnzimmer brannte noch Licht. Atemlos erreichte Su den zweiten Stock, betätigte mit bebender Hand die Klingel. Er musste sie einlassen. Musste, musste, musste.

„Ich dachte schon, du kommst nicht mehr“, war alles, was er zur Uhrzeit sagte. Wie am Abend zuvor setzte er sich auf das Sofa und sie in den Sessel. Moritz begrüßte sie freudig und kletterte auf ihre Knie.

„Er mag dich.“

„Ich weiß.“ Erwartungsvoll schaute sie Jakob an. „Was hast du herausgefunden?“

Er legte die Stirn in Falten. „Noch gar nichts.“

„Nichts?“ Wollte er sie verarschen und hinhalten bis sie aufgab? Sie kraulte Moritz’ Ohren, ohne Jakob aus den Augen zu lassen. Wenn er seine Zusage bereute, warum hatte er dann die Tür geöffnet? Auf dem Tisch standen zwei Gläser und eine Flasche Wasser. „Du hast auf mich gewartet?“

„Sagen wir, ich habe damit gerechnet, dass du kommst.“ Er rieb sich das Kinn und schenkte ein. „Üblicherweise trinke ich nicht so viel wie gestern“, erklärte er ungefragt. „Das war nur, weil …“

„Ausnahmezustand. Schon klar. Du musst dich nicht rechtfertigen, für das, was du tust oder nicht tust.“

„Doch. In dem Fall schon. Ich habe dir schließlich ein Versprechen gegeben. Es tut mir leid, aber es dauert ein bisschen länger, bis ich mich darum kümmern kann. Das wollte ich dir gleich nach dem Aufstehen sagen, aber da warst du schon weg.“

„Bis zum Morgen bleibe ich nur, wenn ich Sex hatte.“

Su grinste. Seine Verlegenheit versöhnte sie ein wenig. Auch wenn er eine echte Begründung schuldig blieb. „Und weil ich heute Abend so spät dran bin, hast du zumindest deine Steuererklärung fertig gemacht.“

„Woher weißt du das?“

„Na hör mal, der ganze Kram lag gestern auf dem Schreibtisch herum. Ich bin weder blind noch blöd. Außerdem hatte ich einen ganz klaren Kopf beim Aufstehen. Und jetzt ist alles aufgeräumt, nur ein fetter, brauner Umschlag liegt noch da. Man muss kein Hellseher sein, um das zu deuten.“

Langsam nickte er und sie konnte förmlich sehen, wie er nach einem Thema suchte, das weder allzu persönlich war, noch mit dem Mord zu tun hatte.

„Wieso trägst du diese Handschuhe, die sind mir gestern schon aufgefallen?“

„Kein Kommentar.“ So banal? Damit kam er nicht durch. „Wieso trägst du Pantoffeln, die sich fast in ihre Bestandteile auflösen, wenn man sie nur anguckt?“

„Was?“

Sie deutete auf seine Füße. „Die Dinger da.“

„Weil ich sie mag und sie sind bequem.“

„Sie sind potthässlich, aber es ist deine Sache.“

„Hm, verstehe. Meine Sache, deine Sache.“

Su verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Sieh mal an, das hatte er gleich geschnallt. „Ich war heute Mittag bei der Polizei. Die haben mir nichts gesagt. Nur, dass die baldige Freigabe des Leichnams beantragt wurde. Ich soll Herbert fragen, wenn ich etwas wissen will.“

„Annis Sohn?“

„Genau. Kennst du ihn?“

„Flüchtig.“

„Nach flüchten ist mir auch, wenn ich den sehe.“ Ihre Beine schaukelten über der Sessellehne. „Mit wem warst du heute aus? Ist sie hübsch?“

„Wie bitte?“ Sein Kopf färbte sich rot.

„Habe ich Recht?“

„Ja, schon. Wie kommst du darauf?“

„Indizien. Ist ganz leicht. Du musst nur deine Nase benutzen.“ Verständnislos wartete er auf weitere Erklärungen. „Dein Jackett hängt im Flur auf einem Bügel. Wenn man daran vorbeiläuft, kann man es riechen. Komm mit!“ Sie hob Moritz von ihrem Schoß, packte Jakobs Hand und zerrte ihn mit sich. „Schließ die Augen und rieche.“

„Das ist doch albern.“

„Nein, ist es nicht.“ Mit geschlossenen Augen erklärte sie: „Es riecht nach Rasierwasser. Ein anderes, als das, das du gestern benutzt hast. Du hast versucht sie zu beeindrucken, mit einer Edelmarke, teuer. Da ist auch Essensgeruch, Sushi, schätze ich. Ebenfalls edel und teuer. Zum Abschied hat sie dich umarmt; die edle, teure Frau und ihre Duftmarke hinterlassen. Chanel vermutlich. Wie schon erwähnt, edel …“

„… und teuer.“

Su grinste. „Ist sie den Aufwand wert?“

„Wie meinst du das?“

„Du bist kein Sushi-Typ. Sie muss dich schwer beeindruckt haben, wenn du das für sie isst.“

„Du beeindruckst mich auch.“ Jakob zuckte zusammen. Das Gespräch nahm eine völlig falsche Wendung.

„Dafür könnte ich dich jetzt auch umarmen!“

Statt endlich zu schweigen, beugte Jakob sich vor, schnupperte. „Und welche Duftmarke bleibt dann an mir hängen?“

„Studentenkneipe. Kopfnote Rauch, auf einer feinen Basis von Knoblauchbaguette.“

„Mit einem Hauch von Pfefferminze?“

„Richtig. Aber Pfefferminze bleibt nur, wenn ich dich küsse.“

Schnell winkte er ab. „Ist nicht geplant.“

„Alles für sie reserviert?“ Su feixte und beobachtete ihn, während sie wieder zum Sessel ging. „Erzähl mir von ihr.“

„Das möchte ich nicht.“

„Ich will wissen, ob sie dich verdient hat.“ Und er verdiente ein schlechtes Gewissen, weil er Zeit für sein Vergnügen gehabt hatte, aber nicht für ihr Problem. Genau deshalb würde er reden, selbst wenn er den Trick durchschaute.

Wie erwartet hielt er nicht lange stand.

„Lisa arbeitet in der Forschung, wie ich.“ Seine Stimme vibrierte. „Allerdings nicht mit mir zusammen. Sie ist klug und charmant. Witzig und geistreich.“

„Sexy?“

Er wich ihrem Blick aus. „Ja, auch.“

Su genoss die Situation. Ein erwachsener Mann, der rote Ohren bekam, wenn sie ein Wort wie sexy sagte. Der Hammer.

„Ihre Augen sind himmelblau, wie aus Porzellan. Eigentlich weiß ich gar nicht, was sie an mir findet. Wir reden viel über unsere Arbeit. Sie versteht, dass ich nicht aufhören kann, wenn ich einer Sache auf der Spur bin. Der Feierabend fällt schon mal aus, wenn man mitten in einer wichtigen Phase steckt, auf Messergebnisse wartet oder der entscheidende Gedanke zum Greifen nah ist.“

„Deine Frau hat das nicht kapiert, oder?“

Überrascht schnappte er nach Luft.

„Wie lange bist du schon allein?“

Halt suchend griff er nach seinem Wasserglas. Es war zwecklos ihr etwas vorzumachen. „Zwei Jahre. Ungefähr. Ziemlich genau zweieinhalb.“

„Du hast sie nicht verlassen.“

Die einfache Feststellung brachte ihn noch weiter aus der Fassung. Er setzte die Brille ab und wieder auf, zögerte, seufzte. „Du wohnst doch sowieso im Labor, dann kannst du deine Wäsche gleich dort in den Schrank packen, hat sie gesagt und mir die Koffer vor die Tür gestellt. Wozu brauche ich einen Mann, der nie zu Hause ist. Ein Doppelbett in dem immer nur ich alleine liege?“ Er verstummte.

Offenbar tat die alte Geschichte immer noch weh. Idiotisch, dass er sich davon runterziehen ließ, wo er doch eine Neue hatte. Der Mann brauchte dringend etwas Aufmunterung.

„Und wie liegt es sich in Lisas Bett? War sie damals schon im Spiel?“

„Es war nur meine Arbeit! Nur die Arbeit, keine andere Frau.“

„Wie langweilig. Aber Lisa ist jetzt die Richtige für Arbeit und Bett?“

„Du gehst zu weit. Das geht dich nichts an.“

„Oh.“ Demonstrativ hielt sie sich den Mund zu. „Das schlimme Mädchen hat was Schlimmes gefragt. Du Armer! Lisa lässt dich nicht ran, was? Soll ich mal mit ihr reden, von Frau zu Frau?“ Su platzte beinahe vor Lachen. Er war so komisch in seiner Verzweiflung über ihre Sticheleien. „Ach Jack, lach doch einfach darüber. Das Leben kann beschissen sein. Die eine wollte dich zu Hause im Bett und konnte nichts mit deiner Arbeit anfangen. Die andere will dich und deine Arbeit, aber du kriegst sie nicht ins Bett.“ Vergnügt ließ sie sich aufs Sofa fallen und schlang die Arme um ihn. „Zum Glück hast du jetzt mich.“

Sein Rücken versteifte sich. „Was willst du damit sagen?“

„Das wüsstest du gerne.“ Genüsslich hauchte sie ihren Pfefferminzatem über seinen Hals, rieb die Nase an seiner Wange. „Finde es heraus!“ Genauso plötzlich, wie sie ihn umarmt hatte, gab sie ihn wieder frei. „Geh schlafen, Jack. Ich bin müde.“

Ganz selbstverständlich schnappte sie die Decke und streckte sich neben ihm aus. Moritz schien darauf nur gewartet zu haben. Auf weichen Pfoten überquerte er Jakobs Beine und machte es sich auf Su gemütlich.

„Gute Nacht, Jack.“

„Ja. Dann.“ Jakob räusperte sich. „Dann gute Nacht.“

Mit der Gewissheit, dass es nicht die letzte Nacht sein würde, in der dieses Mädchen in seiner Wohnung schlief, trollte er sich in sein Bett.

Dienstag, 30. April

Su kam, ohne zu klingeln. Jakob war sowieso nicht da. Auch an diesem Morgen war sie gegangen, als er noch geschlafen hatte. Es gehörte zum Plan, dass er nie wissen sollte, wann sie kam und wann sie ging oder warum. Zu viel Intimität macht abhängig. Und gemeinsames Aufstehen hatte etwas sehr Intimes.

Die Telefonkarte ersetzte ihr den Schlüssel, wie so oft. Aber etwas war anders. Zögernd ging sie vorwärts, stand im Halbdunkel des Flures still. Vor sich einen schmalen Streifen Licht, der neben der angelehnten Wohnzimmertür hereinfiel. Das letzte Mal, als sie eine Wohnung betreten hatte, in der etwas anders gewesen war als üblich, hatte sie Anni gefunden. Der Boden schien unter ihr zu schwanken, zu vibrieren. Vorsichtig drückte sie den Türspalt auf, sah das Fenster zum Main, den Fußboden vor dem Essplatz. Keine Leiche. Trotzdem war da ein fremder Geruch. Sie wagte noch nicht auszuatmen, erweiterte den Einblick ins Zimmer. Der Sessel, der Couchtisch, das Sofa, das mitten im Raum vor der Bücherwand stand. Sie zuckte zurück. Da lag jemand. Halb aufgerichtet, mit dem Rücken zu ihr, und über diesen Rücken baumelte ein langer Zopf.

Su presste sich an die Wand. Was machte dieses Mädchen in Jacks Wohnung, auf ihrem neuen Lieblingsschlafplatz? Das Mädchen hatte Jacks Kopfhörer auf den Ohren. Große, altmodisch schwere Kopfhörer, die alle Umgebungsgeräusche schluckten und Musik pur bis ins Gehirn pusteten. Rhythmisch bewegten sich Kopf und Schultern. Passend zu den Vibrationen, die sich über die Bodenbretter in Sus Füße übertrugen. Sie spürte harte, laute Bässe und zog die Stiefel aus. Das Mädchen würde nicht merken, dass sie näher kam. Garantiert hatte sie die Augen zu. Durch das Fenster schien die Sonne genau auf die belegte Sofaecke. Su tauchte unter dem Sonnenfleck durch, denn die plötzliche Unterbrechung der wärmenden Strahlen musste sie verraten - wenn dieses Wesen nur ein wenig mehr als Grütze im Hirn hatte. Am anderen Ende des Zimmers richtete sie sich wieder auf und zuckte zusammen. Verdammt! Wütende Hitze stieg ihr vom Magen zur Brust auf. Wer hatte hier Grütze im Hirn? Ein Zopf machte noch lange kein Mädchen. Das hätte ihr nicht passieren dürfen. Sie war blöd. So blöd.

Su kontrollierte ihren Herzschlag. Es änderte sich nichts, nur weil das ein Kerl war. Seine Augen waren geschlossen, immerhin war diese Annahme korrekt gewesen. Das Gesicht war schmal und unrasiert, mit dichten, dunklen Augenbrauen und einer großen Nase. Auch der Rest, den sie von ihm sehen konnte, war schmal und haarig, bis auf die nackten Füße, mit denen er im Takt der Musik wippte. Ein haariger Halbaffe. Lass mal sehen, wer du bist. Er hatte ein Bein über das andere geschlagen, sodass einer dieser großen Füße vor ihr in der Luft schwebte. Sie unterdrückte den Zorn darüber, dass ihr diese eindeutig männlichen Körperteile nicht gleich an der Tür aufgefallen waren. Der Fehler hatte Strafe verdient. Bedächtig rollte sie einen ihrer langen Strümpfe herunter und zog ihn aus, setzte sich auf die Armlehne und schlug ebenfalls die Beine übereinander. Dann schob sie sich näher heran, wartete einen günstigen Takt ab und drückte ihre Fußsohle gegen seine, sodass sie ihn im gleichen Moment mit der ganzen Fläche von den Zehen bis zur Ferse berührte.

Einen Augenblick hielt er still, dann nahm er den Rhythmus der Musik wieder auf und öffnete die Augen. Kastanienbraun, zwischen langen Wimpern. Nicht mehr als ein leichtes Erstaunen war darin zu lesen. Schweigend maßen sie einander, ohne einen Gedanken erkennen zu lassen. Langsam bewegte Su ihren Fuß über sein Bein. Seine Haare kitzelten ihre Zehen. Die Wade entlang näherte sie sich dem Oberschenkel. Ungerührt saß er da, zog nebenbei den Kopfhörer von den Ohren und ließ ihn einfach hinter sich fallen. Erst als ihr Fuß in seinem Hosenbein verschwand, brach er das Schweigen.

„Was wird das?“ Seine Stimme war angenehm, ruhig und dunkel. Unaufgeregt.

„Was glaubst du?“, fragte sie zurück.

„Ich glaube, was ich sehe.“

„Was siehst du?“

„Ich sehe, was du machst.“

„Und das glaubst du?“ Su schüttelte den Kopf. „Du bildest dir nur ein, dass du glaubst, was du siehst. Aber stattdessen glaubst du, was du fühlst.“

„Ach ja? Was fühle ich denn?“

„Sag du es mir.“ Es gefiel ihr, wie er ihren Ton aufnahm.

„Warum sollte ich?“ Er grinste.

„Was das hier wird, hängt von dem ab, was du fühlst“, erklärte Su. „Ist doch ganz einfach.“

„Aha. Wenn ich an das glaube, was ich fühle?“

„Exakt.“

„Wo genau ist der Unterschied zu dem, was ich sehe?“ Er deutete auf ihr Bein. „Ich kann es sehen und ich spüre es auch.“

„Deine Augen schicken dir andere Signale als deine Haut, das sollte sogar einem Mann bekannt sein. Und diese Signale lösen unterschiedliche Reaktionen aus. Glaubst du an das, was du äußerlich fühlst oder an dein inneres Gefühl?“

„Das Äußere ist zuverlässiger.“ Er rieb über sein stoppeliges Kinn.

„Du stehst also auf Äußerlichkeiten. Du glaubst, was du siehst und was du außen spürst. Das ist oberflächlich.“

„Kann sein. Aber es ist real. Was unter der Oberfläche ist, kann man nur ahnen. Nicht wissen.“

„Aber du weißt, was du siehst?“ Sie lachte leise und ein wenig verächtlich, dann schüttelte sie wieder den Kopf. „Vergiss es. Du glaubst nur zu wissen, was du siehst, aber dein Gehirn täuscht dich. Es speichert Bilder ab. Immer, wenn du etwas siehst, vergleicht dein Gehirn das Neue mit dem, was es schon kennt. Es sortiert in Schubladen ein. Deshalb kannst du deiner Wahrnehmung nicht trauen. Dein Gehirn lässt dich glauben, dass du etwas siehst, was du schon kennst. Es schafft Vorurteile.“

„Evolutionsgeschichtlich gesehen eine durchaus sinnvolle Einrichtung, meinst du nicht?“

„Doch“, stimmte Su zu. „Evolutionsgeschichtlich. Blockiert aber das Lernvermögen, was neue Zusammenhänge und Wahrheiten betrifft.“

„Was ist deine Wahrheit?“ Er schob die Hand vom Kinn in den Nacken, zog den Zopf zurecht.

„Warum findest du es nicht selbst heraus?“

„Weil ich unter die Oberfläche müsste“, erklärte er gelassen.

„Und?“

„Du siehst nicht aus wie jemand, der es anderen erlaubt unter die Oberfläche zu kommen.“

„Schon wieder urteilst du nach dem äußeren Anschein.“ Sie rümpfte die Nase. „Was ist denn deine Wahrheit?“

„Dass ich glaube, was ich sehe; immer noch. Und ich glaube an meine Lernfähigkeit, was neue Wahrheiten betrifft.“

Seine Antworten reizten Su. Ein Kampf auf Augenhöhe? Vielleicht. „Wenn du so viel sehen kannst, dann sag mir - rein von außen betrachtet -, was meine Wahrheit ist.“

„Nichts ist so, wie es scheint?“

„Nicht schlecht.“ Anerkennend neigte Su den Kopf.

„Ich habe noch eine Wahrheit für dich“, sagte er. „Es wird Zeit, dass du deinen Fuß aus meiner Hose nimmst.“

Sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. „Und wieso soll ich das tun?“

„Weil das meine Oberfläche ist. Und wer da wann dran und drunter darf, bestimme ich.“

„Sicher?“ Provozierend langsam bewegte sie die Zehen über seine Haut.

„Ganz sicher“, bekräftigte er ohne das kleinste Zucken.

Su zog den Fuß zurück. „Du bildest dir also ein, dass du nicht manipulierbar bist?“

„Jeder ist manipulierbar.“

„Trotzdem denkst du, du kannst über dich selbst bestimmen.“

„Bis zu einem gewissen Punkt, ja.“

Jetzt wurde es interessant. Auffordernd stieß sie ihn an. „Na los, sag schon: Welcher Punkt?“

„Das ist verschieden.“

„Du sagtest, bis zu einem gewissen Punkt!“

Er runzelte die Stirn. „Ja. Richtig, aber das kannst du doch nicht wörtlich nehmen.“

„Kann ich doch.“

„Na gut, dann sag ich es so: Innerhalb gewisser Grenzen kann ich über mich selbst bestimmen. Ist das genau genug?“

„Wel-che-Gren-zen?“ Mit jeder Silbe verpasste sie ihm einen leichten Tritt gegen den Schenkel.

„Die das Leben eben setzt. Man muss essen, arbeiten, schlafen, sich um Dinge kümmern. Geld verdienen, um zu …“

Mit einem unkontrollierten Aufschrei schoss Su in die Höhe.

„Was ist los?“

Sein verständnisloser Gesichtsausdruck gab ihr den Rest. Kapierte der das wirklich nicht? „Ich glaubte, du könntest vernünftig mit mir reden. Und jetzt? Schwammige Floskeln. Vorhin warst du echt! Was soll dieses Geschwätz: Grenzen, die das Leben eben setzt. Das ist so trivial! Ich verschwinde.“

Eilig richtete er sich auf. „Hey, warte – bleib hier! Du hast Recht, okay? Ich wollte mich rausreden und du hast mich entlarvt. Na schön.“

Zu gehen bedeutet ihn gewinnen zu lassen.

„Und nun komm runter von der Palme. Weißt du, was du gerade gesagt hast? Ich glaubte. Das heißt doch, dass du nach deinem inneren Gefühl urteilst. Aber dein inneres Gefühl entsteht doch auch nur aus abgespeicherten Situationen, die schon mal da gewesen sind. Genau wie bei den Dingen, die wir sehen. Also: Wie steht es mit deiner Lernfähigkeit für Neues?“

Sie hörte zu, erregt und am ganzen Körper bebend.

„Ich bin was Neues für dich“, stellte er fest. „Du bist was Neues für mich. Ist es da nicht einen Versuch wert, verborgene Wahrheiten zu finden und unsere Lernfähigkeit zu testen?“

Er schaffte es, sie wütend zu machen. Und er schaffte es, dass sie trotzdem blieb. Das konnte gefährlich werden. Verborgene Wahrheiten - das war ihr Spiel. War er wirklich bereit es zu spielen? Su setzte sich wieder und nickte.

„Das ist es wert. Definitiv.“ Sie musterte ihn eingehend. „Vielleicht wirst du es bereuen“, sagte sie dann. „Denn vielleicht bin ich eine der Grenzen in deinem Leben.“

„Vielleicht.“ Er streckte seine langen Beine aus und legte sie quer über ihren Schoß.

„Willst du das herausfinden?“

„Definitiv.“

Eine Weile saßen sie nur da. Ihr Schweigen hatte nichts Unangenehmes.

„Wer bist du?“, fragte er dann.

Sie öffnete den Mund, aber er kam ihr zuvor.

„Halt. Ich weiß: auch das muss ich selbst herausfinden. Das gehört zu unserem Deal, nicht wahr? Sag mir einfach nur deinen Namen.“

„Su.“

„Und was tust du hier, Su?“

„Ich sitze auf dem Sofa?“

Er rollte die Augen. „Präzisiere. Weshalb bist du hier?“

„Ich warte auf den Mann, der hier wohnt.“

„Auf den Mann, der hier wohnt?“

„Ja, meinen Freund.“

„Deinen Freund?“

„Jack.“

„Jack?“

„Hast du ein Echo verschluckt, namenloser Halbaffe?“ Sie zupfte unsanft an den Haaren auf seinem Schienbein.

„Au! Nein, aber ich dachte …?“

„Du denkst zu viel.“ An seinen Füßen vorbei, beugte sie den Oberkörper zur Seite, um den Strumpf aufzusammeln und wieder überzuziehen. Lange konnte sie nicht mehr bleiben.

„Der Mann, der hier wohnt und auf den ich warte, heißt Jakob.“

„Und?“ Ihre Fingerspitzen glitten über seine Haut, kreisten um seine Knöchel.

„Und Jakob ist mein Vater.“

„Wo ist das Problem?“

„Er ist dein Freund?“

In der Haustür drehte sich der Schlüssel.

„Schätze, du kannst ihn gleich selbst fragen.“

Als Jakob das Wohnzimmer betrat, schubste Su die fremden Beine von ihrem Schoß, sprang auf und fiel ihm um den Hals. „Hallo Jack! Hast du was für mich?“

Verwirrt schaute Jakob von einem zum anderen und versuchte ihre Arme in seinem Nacken zu lösen, während er stumm verneinte.

„Beeile dich, Jack. Du weißt, ich brauche das. Dringend!“

„Sicher, ich gebe mir Mühe. Aber …“

Mit einem Zeigefinger auf seinen Lippen brachte sie ihn zum Schweigen. Wieder keine Antworten. Das letzte was sie von ihm hören wollte, waren Ausflüchte und Lügen. „Morgen? Ich verlass mich auf dich.“

„Tut mir leid, ich bin morgen nicht da.“

„Dann übermorgen.“ Ebenso abrupt, wie sie ihn umschlungen hatte, ließ Su von ihm ab. Mit einem Lächeln. Wie groß ihre Enttäuschung wirklich war, sollte er nicht merken.

Auf dem Flur schlüpfte sie in die Stiefel, machte dann kehrt und drückte Jakob einen innigen Kuss auf den Mund. Über die Schulter warf sie einen Blick zum Sofa.

„Tschüss, Halbaffe. Pass gut auf deine Oberfläche auf.“

„Werde ich machen, Su. Sehen wir uns wieder?“

„Definitiv!“

Unbewegt verharrte Jakob an Ort und Stelle, schaute erst Su hinterher - begleitet von bedächtigem Kopfschütteln -, und dann zu seinem Sohn.

„Hallo Erik“, sagte er schließlich. Seine Stimme klang schleppend, als koste es ihn Mühe sich zu konzentrieren.

„Wer war das gerade, Jakob? Oder soll ich dich ab jetzt lieber auch Jack nennen?“

Eriks breites Grinsen löste bei Jakob nur weiteres Kopfschütteln aus. „Ich dachte, ihr kennt euch. Es sah sehr vertraut aus, wie ihr miteinander dagesessen - gelegen - habt.“

Moritz strich um Jakobs Beine, sprang auf das Sofa und kuschelte sich in Eriks Ellenbeuge.

„So leicht kann man sich täuschen, Jack. Sie hat mir nur ihren Namen gesagt. Und dass sie deine Freundin ist.“

„Meine was?“ Jakob starrte ihn an.

„Eigentlich dachte ich, die Dame, für die du dich interessierst, heißt Lisa und ist Wissenschaftlerin. Ich bin echt beeindruckt von dir. Wobei ich nicht weiß, was mich mehr verblüfft: Das du so cool bist, zwei Freundinnen gleichzeitig an Land zu ziehen, oder dass eine davon ausgerechnet Su ist.“

Aufstöhnend raufte Jakob sich die Haare. „Du hast da was falsch verstanden: Su ist nicht meine Freundin.“

„Sagt sie aber.“ Und was Su sagte, meinte sie auch. Das hatte sie Erik unmissverständlich klar gemacht.

„Ja – nein, jedenfalls nicht so, wie du denkst.“

„Wie ist der Kuss dann zu deuten? Oder macht sie das bei jedem?“ Körperkontakt war sie jedenfalls generell nicht abgeneigt. Im Gegenteil. Das hatte er deutlich zu spüren bekommen. Es hatte äußerster Beherrschung bedurft, ihre Berührungen scheinbar gleichgültig hinzunehmen. „Sie war schon recht zutraulich.“

„Vorsicht, Erik. Sie ist nicht so - wie soll ich sagen?“

„Nicht so, wie sie aussieht? Das habe ich schon kapiert.“ Eine Frisur wie eine Mangafigur, Strümpfe wie Pipi Langstrumpf, dazu der Blick eines Vampirs und ein Temperament, für das ihm keine Beschreibung einfiel. „Was wollte sie von dir, was sie so dringend braucht?“ Jakobs hilfloses Suchen nach Erklärungen reizte Erik genauso hartnäckig nachzubohren, wie Su es getan hatte. „Das klang, als bist du ihr Dealer oder zumindest ein Drogenkurier.“

„Bist du verrückt, Erik?“ Endlich verließ Jakob den Platz neben der Tür und sank auf den Sessel. „Mit so was habe ich nichts zu tun. Außerdem glaube ich nicht, dass sie Drogen nimmt.“

„Das war ein Scherz. Die ist total anders, als alle Mädels, die ich kenne. Wo hast du dir die geangelt?“

„Das war eher andersrum.“ Jakob nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. „Eine lange, überaus merkwürdige Geschichte.“

Erik verschränkte die Hände hinterm Kopf. „Na dann los, Jakob. Märchenstunde. Ich habe Zeit.“

Mittwoch, 01. Mai

Schon an der Tür schlug Su die typische Geruchsmischung aus Desinfektionsmittel und Urin entgegen. Es kostete sie jedes Mal Überwindung das Pflegeheim zu betreten – und heute ungleich mehr als sonst. Viel zu lange war sie nicht bei Martha gewesen, hatte den Besuch vor sich her geschoben und nun musste sie ihr erzählen, dass Anni tot war. Ermordet.

„Scheiß dir nicht in die Hose, Su.“

Sie presste die Lippen aufeinander und eine Hand auf den schmerzhaft verkrampften Bauch. Doch das Gurgeln in ihrem Magen ließ nicht nach, bewegte sich unaufhaltsam durch die Speiseröhre aufwärts und das Brennen trieb ihr die Tränen in die Augen. Zum Kotzen dieses Leben. Einfach zum Kotzen. Sie hastete zur Besuchertoilette.

Minuten später stand sie wieder aufrecht vor dem Waschbecken.

„Du siehst echt klasse aus“, sagte sie laut zu ihrem Spiegelbild, das mit stumpfen Augen zurückguckte. Sie wusch sich die Hände, spülte den Mund aus, wusch die Hände wieder. Es half nichts, sie musste da jetzt durch. Martha war Annis Freundin und hatte ein Recht darauf zu erfahren, was geschehen war. Von ihr, die die beiden Frauen als Bote verbunden hatte, seit beide das Haus nicht mehr verlassen konnten. Mit Martha hatte Su nicht viel gemeinsam, bis auf die Sache mit Herbert. Der demonstrativ ihre Warnung in den Wind geschlagen hatte und deshalb in einem inkontinenzgetränkten Sessel gelandet war. Für einen Moment grinste Su. Herbert, das Arschloch, an seiner eigenen Arroganz gescheitert.

Ihr Blick streifte Kunstdrucke von Wiesenblumen in bunten Bilderrahmen und Lampen in modernem Design an den Flurwänden. Ein Hauch von Leichtigkeit über den Handläufen und dem streifigen Abrieb der Rollatorräder. Was für ein billiger Täuschungsversuch. Das hier war kein Hotel.

Die Tür zu Marthas Zimmer stand weit offen. Rechts lag eine Frau und röchelte im Schlaf durch ihre Schläuche. Aber das Bett an der linken Wand fehlte. Unsicher tastete Su nach dem Türrahmen. Kein Bett. Kein Nachttisch.

„Kann ich Ihnen helfen?“

Eine Hand packte Sus Ellbogen, fing sie auf, als der Schwindel ihre Knie einknicken ließ. Endstation. Ein ovales Gesicht mit besorgter Miene, ein hellblauer Kittel. Das Bild tanzte über Sus Netzhaut, ohne ihren Verstand zu erreichen.

„Kein Patient ohne Bett. Ohne Bett kein Patient“, murmelte sie und befreite sich von dem fremden Arm. Fass mich nicht an.

„Kommen Sie, Su. Setzen wir uns.“

Die Pflegerin dirigierte sie zur Sitzecke neben der Teeküche, auf einen der federnden Plastikstühle. „Martha ist ganz friedlich eingeschlafen.“ Ihre Hand tätschelte Sus Bein. „Kann ich irgendetwas für Sie tun?“

Fass mich nicht an!

Wortlos stand Su auf, vor sich die offene Tür zu dem Zimmer, in dem ein Bett fehlte. Dann drehte sie sich um und rannte - hinaus auf die Straße, geradeaus, weiter und weiter, ohne Ziel.

Sie hätte Jack gebraucht. Jetzt sofort. Wieso bist du nicht da, wenn ich dich nötig habe? Seine erstaunten Augen, wenn sie etwas Unerwartetes sagte. Die Verwirrung, wenn sie ihm zu nahe kam. Dann konnte sie fühlen, dass sie selbst noch lebte. An die andere Möglichkeit wollte sie nicht denken. Ihr Arm brannte vor Verlangen und sie biss sich in die Hand, bis der Schmerz sie beruhigte. Nein, soweit kam es nicht noch einmal. Sie hatte es Anni versprochen. Aber sie musste etwas tun, um sich abzureagieren. Auch der Halbaffe wäre ihr recht gewesen, einer zum Kräftemessen, zum Quälen. Aber gefährlich. Verdammt gefährlich.

Blieb nur sie selbst. Ein guter Gegner. Der beste Gegner von allen. Denn du bist immer da. Kannst mir nicht weglaufen. Hältst was aus. Zeig mir, wo die Grenze heute ist, Su.

Sie wählte eine einfache Grenze. Nur Justin würde meckern.

*

Als sie im Tolstoi eintraf und sich auf den Barhocker setzte, war ihr Bewusstsein bereits leicht getrübt.

„Hallo Su. Du hast heute keinen Dienst.“

„Weiß ich Justin. Bin heute Gast, gib mir einen doppelten Whiskey, bitte.“ Sie stützte den Kopf in beide Hände.

„Was ist los, Kleine? Du siehst nicht ganz frisch aus.“

Su lachte, ein tiefes, kehliges Lachen. Sie konnte genau spüren, wie es aus ihrem Bauch nach oben blubberte.

„Der Barkeeper, dein Freund und Helfer. Seelentröster in der Not!“ Es blubberte weiter.

Justin stellte den Whiskey vor ihr auf den Tresen und musterte sie missmutig. „Das gefällt mir nicht Su. Hast du was genommen?“

„Was genommen? Was soll ich denn genommen haben? Ein Stück Kuchen, eine Tasse Kaffee, eine handvoll Bonbons?“

„Eine handvoll Pillen, vielleicht?“

Sein Blick durchbohrte sie regelrecht.

„Oh, wie süß! Du machst dir doch nicht etwa Sorgen? Keine Angst, ich bin Morgen früh zum Dienst wieder fit. Mir geht es prächtig und mir wird es bald noch viel besser gehen.“ Sie kippte das Glas in einem Zug und hielt es ihm unter die Nase. „Davon hatte ich schon eine handvoll. Warte, das ist gelogen, so viele waren es noch nicht. Oder doch? Scheißegal. Davon möchte ich noch mehr!“ Das Leben wurde leicht und beschwingt und Justins Glatze glänzte im Mondlicht. Nein, kein Mondlicht, nur die Deckenlampe. Aber mit Mondlicht wäre es viel poetischer gewesen. Sie gluckste. „Komm, sei ein Schatz und gib mir noch einen.“

„Du hattest nichts sonst? Keine Drogen?“

„Nur Alkohol, ich schwöre! Ist zwar auch eine Droge, aber das interessiert niemanden. Egal. Die beste Droge ist ein klarer Kopf. Wusste schon Udo Lindenberg, der Mann mit dem Hut. Aber ich will ja keine Drogen - also, weg mit dem klaren Kopf.“

Es kratzte sie nicht, dass Justin wenig begeistert war, Hauptsache er ließ sie gewähren. Was konnte er schon tun? Sie war erwachsen, wenn er ihr nichts gab, ging sie eben woanders hin.

Zwischen den Tischen hastete Christine herum und balancierte ein Tablett über dem Kopf.

„Hey, Schnuckelchen. Was macht der Beziehungsstress?“ Die Frage war gemein. Su konnte genau sehen, was los war. Der Rock zu kurz, die Bluse zu eng, sodass alle Reize dem Betrachter üppig entgegenwogten.

„Nichts. Gar kein Beziehungsstress mehr“, murmelte Christine. Ihr Freund hatte Schluss gemacht, das war offensichtlich. Darum musste sie sich beweisen, dass sie bei anderen Männern Chancen hatte. Sofort.

Su kippte ihr Glas hin und her, die Eiswürfel kreisten. Alle Achtung. Soviel Eigeninitiative hatte Su ihr nicht zugetraut.

„Hoffentlich lässt sie sich nicht vom Erstbesten abschleppen, heute Abend.“

„Wie süß, machst du dir etwa Sorgen?“, äffte Justin sie bissig nach. „Ihr Mädels macht mich krank. Du säufst dir mit Vorsatz die Kutte zu und die andere baggerte alle männlichen Gäste an.“

„Touché, lieber Justin“, säuselte Su. „Vielleicht sollten wir im Laufe des Abends die Rollen tauschen? Christine trinkt für mich weiter und ich schleppe einen ab? Oder willst du lieber?“

Das Blubberlachen kam und ging, wie es wollte. Verlor sie etwa jetzt schon die Kontrolle? Das kam gar nicht in Frage. Su konzentrierte sich auf die Flaschen auf dem Regal über der Bar.

„Was hältst du davon, willst du lieber saufen oder einen Kerl mitnehmen, Justin?“

„Ich will, dass du die Klappe hältst, liebe Su. Lass Christine in Ruhe, der geht es dreckig genug.“

Su packte ihn am Hemd und zog ihn zu sich, bis ihre Nasen sich berührten. „Und wie geht es dir, mein Chef, mein Kojak, mein entzückender? Das Leben ist wunderbar beschissen. Und verdammt kurz. Gib mir noch einen Whiskey oder ich küsse dich auf der Stelle!“

„Womit habe ich das verdient?“ Ruhig aber bestimmt, drückte er sie zurück auf den Barhocker.

„Ich lebe, du lebst, wir leben - ist das nicht Grund genug?“ Es war nur das Lachen, das sich nicht kontrollieren ließ. Keine ihrer Bewegungen verriet, wie viel sie getrunken hatte. Die Worte verließen mühelos ihre Lippen und die Gedankengänge schienen ihr nicht verquerer als sonst.

„Weißt du, was echt komisch ist, Justin? Ich dachte immer, dass es im Grunde nur drei verschiedene Variationen an Typen gibt: Idioten, gewöhnliche Langweiler und Vernunftmenschen. Aber das stimmt nicht. Seit neustem weiß ich, es gibt zumindest noch ein anderes Wesen. Einen Halbaffen.“

„Aha. Und was unterscheidet ihn von den anderen?“

„Bin mir noch nicht sicher. Auf alle Fälle ist er kein Idiot. Ein vernünftiger Mensch ist er aber auch nicht und schon gar nicht gewöhnlich. Wie gesagt, eine eigene, eigenartige Spezies. Ein Halbaffe eben.“

„Und wieso Affe?“

Sie lachte und strich ihm über die Glatze. „Du bist so schön, wenn sich der Mond auf deinem Kopf spiegelt. Er ist ein Affe, weil er im Überfluss hat, was dir fehlt: Haare!“

Justin kniff die Augen zusammen und knurrte leise.

Su antwortete mit einem gierigen Stöhnen. „Mann, bist du sexy, wenn du sauer wirst!“

„Finger von mir, Su. Ich bin fast doppelt so alt wie du.“

„Du übertreibst, vielleicht doppelt so breit. Also, rein körperlich. Und selbst wenn es so wäre, was kümmert es mich? Sexy sein hat nichts mit dem Alter zu tun. Der beste Sex entsteht sowieso im Gehirn.“ Das Blubbern erfüllte sie von den Zehen bis in die Haarspitzen.

Als Christine zurückkam, rutschte Su vom Barhocker und hielt sie fest. Auf dem Tablett klirrten die schmutzigen Gläser.

„Christinchen, tut mir leid, mit deinem Freund“, flüsterte sie ihr zu. „Aber wenn er dich abserviert hat, ist er ein Arsch und keine Träne wert. Versprich mir, dass du keine Dummheiten machst. Es wäre bescheuert den einen Arsch einfach durch den nächsten zu ersetzen. Das hat keine Frau nötig.“

Christines Kulleraugen liefen über. Su nahm ihr das schwankende Tablett ab. So warme Worte von ihr, die sonst entweder schwieg oder mit bösartigstem Sarkasmus um sich warf. Damit hatte sie wohl nicht gerechnet. Ich lebe, du lebst, sie lebt. Die Grenze war neu und sie war etwas Besonderes.

Su stellte das Tablett auf die Theke, drückte Christine eine Serviette in die Hand und schob sie aus dem Gastraum. „Putz dir die Nase und verschwinde. Mein Dienst fängt gerade an.“

Justin schaute überrascht auf und beobachtete, wie Su die Gläser im Spülwasser versenkte und dann mit einem Lappen die Arbeitsfläche sauber wischte. „Was machst du da, Su?“

„Ich habe deiner Kellnerin gerade frei gegeben, Kojak. Die ist fertig für heute. Wirf mal eine frische Schürze rüber.“ Das war keine Frage, nur eine Ansage. Und sie hatte noch eine. „Ich schlaf heute Nacht im Hinterzimmer.“

„Entzückend, Baby.“ Justin hob die Schultern. „Verstehen muss ich das wohl nicht.“

Su küsste seine Glatze, band die Schürze um die Mitte und machte sich auf den verhassten Weg zwischen die Tische.

Donnerstag, 02. Mai

Ganz automatisch ging Su die Strecke zu Annis Wohnung, wie seit Monaten an jedem Donnerstag, zur gleichen Zeit, nach der Frühstücksschicht im Tolstoi. Anni lebte nicht mehr, doch ihr Verstand wollte diese Tatsache nicht akzeptieren. Vor dem Haus auf dem Gehweg stand ein silbern glänzender Mercedes. Beide Vorderreifen im Blumenbeet, das Heck zur Hälfte in der Feuerwehrzufahrt. Herbert, wie befürchtet und gehofft. So sehr Su ihn verabscheute, er war ihr einziger Zugang zu Informationen über Annis Tod. Sie betrat den kühlen, dunklen Hausflur und lehnte sich mit dem Rücken an die lange Reihe Briefkästen. Nervös zupfte sie an ihren Handschuhen herum, spürte den Druck der Metallkante im Kreuz. Die Nachwirkungen der letzten Nacht, klebten wie ein Paket Watte hinter ihrer Stirn. Es war eine neue Erfahrung gewesen, ein Experiment kurz vor der Vollendung abzubrechen und eine andere Grenze zu suchen. Mit einer Hand massierte sie sich den Nacken, rollte den Kopf in kleinen Kreisen hin und her. Gib Herbert, was er verlangt. Zeige ihm, was er sehen will und du kriegst, was du willst. Bei ihren Eltern funktionierte es. Meistens zumindest. Aber der Preis war hoch und sie hasste es.

Vorbei an den Türen im Parterre, näherte sie sich Annis Wohnung. Ihre Füße hoben sich nur mühsam die Stufen hinauf. Bleischwer. Die Absperrbänder baumelten lose vor dem Eingang und bewegten sich im Luftzug, der durch die geöffnete Tür strömte. Abwartend blieb Su stehen und lauschte.

„Kein Problem. Ich garantiere Ihnen, die Wohnung ist in einem Monat - ach, was sage ich -, spätestens in drei Wochen vermietet. Oder verkauft. Keine Frage. Sie verkaufen doch, wenn der Preis stimmt, nicht wahr?“

„Sie werden mich keine Träne weinen sehen, wenn ich die Bude los bin.“

Su hörte Herberts meckerndes Lachen, die viel zu hohe Stimme, die nicht zu seinem bulligen Äußeren passte.

„Sie und ich, wir sind Geschäftsmänner! Das habe ich doch gleich gesehen. Dafür habe ich einen Blick. Wir werden uns sicher einigen. Keine Frage.“ Der Makler redete schnell, übertrieben fröhlich. „Die Wohnung muss natürlich leer sein. Die Möblierung drückt den Preis, nicht wahr? Eine leere Wohnung sieht auch viel größer aus, macht einfach einen besseren Eindruck.“

„Selbstverständlich wird die Wohnung geräumt. Der ganze alte Plunder kommt raus.“

Die Schritte näherten sich der Tür, vor der Su wie angenagelt stand. Alter Plunder.

Der graue Anzug des Maklers saß tadellos, die schwarzen Schuhe glänzten aufdringlich perfekt poliert und das zuschaltbare Lächeln zeigte keine Spur von Vorbehalt.

„Na sowas! Ich glaube, da steht tatsächlich schon eine potentielle Interessentin bereit. Junge Dame, wie sieht es aus, wollen Sie einen ersten Blick riskieren?“ Einladend winkte er Su herüber. „Wenn hier erst entrümpelt ist, wird das ein schnuckeliges kleines Nest. Ach, was sage ich, ein großes Nest. Keine Frage. Perfekt, glauben Sie mir!“

„Die nicht.“ Herberts wasserblaue Augen starrten sie aus seinem feisten, rotbackigen Gesicht an. „Die setzt keinen Fuß in meine Wohnung.“

Erst als er zur Klinke griff, wich endlich die Starre von Su und sie machte einen schnellen Schritt nach vorn.

„Warten Sie!“ Zum ersten Mal wählte sie ihm gegenüber die förmliche Anrede, die ihr nur schwer über die Lippen kam. „Warten Sie, bitte. Ich wollte Ihnen mein herzliches Beileid aussprechen.“ Im Beisein des Maklers traute Herbert sich hoffentlich nicht, so wie sonst mit ihr zu reden. „Es tut mir so leid, was geschehen ist. Anni war ein wundervoller Mensch.“

Herbert grunzte etwas Unverständliches, was annähernd nach einer Zustimmung klang. „Sonst noch was?“

Sie nickte und senkte den Blick. Demut, Unterwürfigkeit. „Hat die Polizei schon eine Spur? Gibt es irgendwelche Hinweise?“ Vorsichtig hob sie die Augen. Seine breite Gestalt nahm den ganzen Türrahmen ein. „Und wann die Beerdigung ist, das wollte ich auch noch fragen.“

„Wage es nicht auf dem Friedhof aufzutauchen, wenn ich meine Mutter begrabe, du Missgeburt. Verschwinde. Und was die Polizei betrifft“, Herbert lachte hämisch, „denen werde ich Bescheid geben, damit sie dich auseinander nehmen. Sollte mich nicht wundern, wenn sie bei dir eine heiße Spur finden. Warst doch sowieso nur hinter ihrem Geld her und hast die alte Frau ausgenutzt. Warte es nur ab, dich krieg ich!“

Der Makler im Hintergrund hob leicht pikiert die Stimme. „Aber, ich bitte Sie, Herr …!“

„Was? Das ist jetzt meine Wohnung und die da, gehört bestenfalls im Main ersäuft. Wenn man sich überhaupt mit ihr befassen will. Keinen Funken Anstand im Leib, diese Person.“ Er drehte sich wieder zu ihr, die Tür schon halb geschlossen. „Lass dich nicht mehr hier blicken, kapiert? “

Es brannte. Es loderte. Die Flammen schlugen bis zum Himmel. Nie wieder kriechen oder nachgiebig sein, mit einem Menschen, der so verlogen war wie Herbert; hatte sie sich das nicht längst geschworen?

„Kein Funken Anstand im Leib. Ganz genau. Besser hätte ich es nicht ausdrücken können.“

In ihren Worten lag soviel Wut, dass die beiden Männer unwillkürlich innehielten.

„Wo ist dein Anstand, die Wohnung deiner Mutter zu verkaufen, wo sie noch nicht einmal unter der Erde ist? Wo ist dein Anstand, ihre Habseligkeiten als alten Plunder zu bezeichnen? Wo ist dein Anstand, ihr Leben entrümpeln zu lassen? Sie werden mich keine Träne weinen sehen, wenn ich die Bude los bin“, wiederholte sie. „Und deiner Mutter weinst du auch keine Träne nach, du gefühlloser Klotz. Nicht wahr? Keine Frage. Wenn der Preis stimmt!“ Sie imitierte den Tonfall des Maklers. „Anni hat genau gewusst, was sie an ihrem Sohn hatte. Darum hat sie dich so oft und gerne zu sich eingeladen, in ihr schnuckeliges kleines - oh Pardon - großes Nest!“

Sie hätte schreien können, mit den Fäusten gegen die Wand trommeln, ihn treten und verprügeln, mitten in sein dämliches, habgieriges Gesicht brüllen mögen. Aber sie tat es nicht. Zog nur einfach von außen, mit einem Ruck die Tür zu.

Ihr ganzer Körper bebte, der Druck stieg. Sie zerrte an den Handschuhen. Weg. Weg damit, ich muss es tun, muss …

Neben ihr maunzte der Kater, stellte sich auffordernd auf die Hinterbeine und präsentierte ihr seinen Hals zum Streicheln.

„Moritz.“ Su hob ihn auf und drückte ihr Gesicht in sein Fell. In Annis Wohnung hörte sie Herbert weiter laut herumzetern. „Mein wunderbarer, kleiner Moritz.“

Ohne sich noch einmal umzudrehen, stieg sie die Treppe hinauf und öffnete die Wohnung mit der Telefonkarte.

Stunden würden vergehen bis Jack nach Hause kam. Genug Zeit, um über ihr Leben nachzudenken. Einen Plan zu machen oder alles zu verwerfen. Alles.

Auf ihrem gemeinsamen Lieblingsplatz rollte sie sich mit Moritz zusammen. „Nur du brauchst mich. Vielleicht. Ab und zu, wenn dich der Pelz juckt.“

Mit seiner rauen Zunge leckte er über ihr Gesicht.

„Dummes Tier“, flüsterte sie zärtlich. „Dummes, dummes Tier.“ Dann angelte sie nach den Kopfhörern, um die Musik zu hören, von der sie zwei Tage zuvor nur das Pulsieren der Bässe in ihrem Körper gespürt hatte.

*

Sie musste eingeschlafen sein. Vor dem Fenster war es bereits fast dunkel, als sie die Augen aufschlug und aus den Kopfhörern kam kein Ton mehr. Moritz saß neben der Tür und verlangte nach Freiheit. Mit schweren Gliedern erhob sie sich und entließ ihn in den Abend. Die Musik, die der Halbaffe gehört hatte, war laut und intensiv, hatte ihre Gedanken übertönt und für eine Weile alle Gefühle gelöscht. Punk-Rock und Katzenschnurren. Solange sie nur das zum Überleben brauchte, gab es noch Hoffnung. Ich lebe, um Annis Tod aufzuklären. Und Jack würde ihr dabei helfen. Damit das funktionierte, durfte sie ihn nicht ängstigen mit ihrer eigenen Angst. Durfte nicht zulassen, dass er sich von ihr abwandte. Für ihn musste sie das ungezähmte Mädchen sein. Wie am ersten Abend. Das hatte funktioniert. Su, die ein bisschen verrückt war, aber harmlos, die mit ihm spielte und ihn herausforderte. Das war nicht schwer. Diese Su zu sein, strengte sie nicht an. Vieles davon war echt und machte Spaß. Durfte sie Spaß haben, obwohl Anni ermordet worden und sie dem Mörder noch keinen Schritt näher gekommen war? Du darfst alles. Nur nicht aufgeben. Annis kluge Sprüche fehlten ihr. Rettungsringe für den Kopf. Alles Vergangenheit. Vorbei.

Nacheinander schaltete Su die Lichter ein - im Wohnzimmer, auf dem Flur, in der Küche. Dort standen noch Brot und Marmelade vom Frühstück, ein schmutziger Teller und ein Glas.

Su räumte auf. Im Kühlschrank fand sie einen Rest Orangensaft, den sie direkt aus der Packung trank und stopfte diese eilig in den Müll, als sie einen Schlüssel am Eingang hörte. Noch an der Tür fing sie Jakob ab.

„Jack!“ Sie schlang die Arme um ihn. Er sah müde aus und spaßfrei. Wenn er es zuließ, konnte sie sein Rettungsring sein.

„Su?“ Der Name war Begrüßung und Frage zugleich

„Ich hab dein Schloss geknackt, um auf dich zu warten“, erklärte sie, als sei es die normalste Sache der Welt und strahlte ihn an. Wer konnte bei so viel Ehrlichkeit schon sauer sein? „Dann habe ich Musik gehört, die Küche sauber gemacht und gerade deinen O-Saft vernichtet. Aber das war höchstens noch ein halbes Glas voll und abgelaufen war der auch.“

„Hör mal Su, ich hatte einen wirklich anstrengenden Tag.“

„Schsch, nicht weiterreden, mein liebster Jack. Ich bin nicht hier, um dich zu nerven. Wenn du noch nichts herausgefunden hast, ist das okay. Nicht schön, aber okay. Mach dir meinetwegen nicht noch mehr Stress. Es gibt Tage, die man am besten gleich wieder vergisst.“

„Kann man so sagen.“ Er hängte seine Jacke an den Haken, zog die Schuhe aus und die Pantoffeln an. „Potthässlich“, er lächelte gequält und rieb sich die Augen.

„Aber deine Sache“, stellte Su klar.

Erschöpft nahm er auf dem Sofa Platz. „Mein Experiment hakt immer noch. Ich komme einfach nicht dahinter, welche Substanz ich verändern muss in der Dosierung. Kann auch sein, dass die Temperatur nicht stimmt. Es ist zum aus der Hose springen, wenn du Tage und Tage und noch mehr Tage da sitzt und nichts entwickelt sich, wie du es haben willst.“

Su blieb vor ihm stehen und streichelte über seinen Kopf. „Entspann dich, du hast Pause.“

„That’s life, nicht wahr? Immer, wenn du glaubst, du kommst einen Schritt voran, stellt dir einer ein Bein.“

„Du bist total verkrampft, Jack. Was du brauchst, ist eine Rückenmassage.“ Zeit für ein bisschen Spaß. Mit einem Satz sprang Su aufs Sofa und federte auf und ab. „Na mach schon Platz, damit ich ran komme.“ Sie schob ihn ein Stück nach vorne und quetschte sich mit gespreizten Beinen hinter ihn.

„Nein, lass das! Was machst du da? “

Als sie sein Hemd aus der Hose zog, versuchte er aufzustehen, doch sie klemmte ihn mit einem Bein fest. „Wie soll das mit der Entspannung funktionieren, wenn du deiner Masseurin davonläufst?“ Energisch legte sie seinen Rücken frei. „Das Kinn runter zur Brust, Augen zu und ganz locker atmen.“

Ihre Fingerspitzen kreisten mit sanftem Druck über seinen Nacken, bewegten sich in Wellenlinien zu den Schultern und zurück. Leichtes Klopfen, kräftiges Kneten. Es dauerte nicht lange und Jakob gab ein wohliges Grunzen von sich.

„So ist es brav. Ich tu dir gut, habe ich doch gesagt.“

„Hmhm. Oh, ja.“

„Das kannst du jederzeit haben. Das und noch mehr. Alles was du brauchst“, hauchte sie ganz leise in sein Ohr.

Mit einem Ruck rutschte er vom Sofa, plumpste auf den Boden vor dem niedrigen Couchtisch, zerrte hektisch das Hemd herunter und drehte sich um. Sein Blick flackerte.

„Was soll das heißen: Alles was ich brauche? Ich könnte dein Vater sein! Du bist doch, ich bin … also …!“ Er brach ab, mit einem verzweifelten, gurgelnden Geräusch, aus der Tiefe seiner Kehle. Mit beiden Händen fuhr er sich über den Kopf und starrte sie an, wartend auf eine Antwort, eine Erklärung.

Seine Reaktion amüsiert Su. Es war so wunderbar leicht ihn aus der Fassung zu bringen. Sie behielt die aufreizende Haltung bei und schaukelte mit den Knien. Auseinander, zusammen, wieder auseinander. „Was denkst du gerade, Jack?“

„Dass du, dass … Sex! Woran soll ich denn sonst denken, wenn du so dasitzt und mir solche Sachen zuflüsterst?“

Fast tat es ihr leid. Aber nur fast. „Du hast es selbst gesagt, Jack, ich könnte deine Tochter sein. Und du denkst an Sex.“ Sie legte einen Anflug von Entrüstung in ihre Stimme. „Hast du mich nicht vor kurzem noch mit einem Zombie verglichen?“ Demonstrativ leckte sie sich die Lippen. „Wird Zeit, dass deine Lisa dich endlich ran lässt, wenn du schon beim Anblick eines Zombies an Sex denkst. Ich habe jedenfalls nie davon gesprochen.“

Jakob rappelte sich auf, verwirrt und bestrebt sein Gleichgewicht zurückzugewinnen.

„Oh Jack! Komm schon wieder zu mir und sei nicht böse.“ Su ist ein liebes, kleines Mädchen. Bittend schaute sie ihn an und zog einen Schmollmund, dabei schlug sie die Beine unter und kniete sich auf dem Sofa hin. „Jaaaack?“ Der Name dehnte sich wie Kaugummi. „Lieber, lieber Jack. Ich ärgere dich nie wieder, versprochen! Aber sag deiner Lisa, es reicht, mit der Warterei. Schließlich seid ihr erwachsen. Du hast Liebe verdient. Wenn sie es ernst meint, darf sie dich nicht ewig hinhalten.“ Sie streckte die Hand nach ihm aus und erwischte seinen Hosenbund. Mit schwindender Gegenwehr ließ er sich näher ziehen.

„Du bist unmöglich, Su!“

„Das ist falsch. Wie du siehst und spürst, bin ich definitiv möglich.“ Die Gelegenheit war günstig und so schlang sie ihre Arme um ihn und schmiegte ihr Gesicht an seinen Bauch. „Ach Jack. Lieber, lieber Jack.“ Mit der Nase schob sie sein Hemd beiseite, bis sie nackte Haut spürte. „Davon abgesehen, dass ich das vorhin nicht so gemeint habe: Ich habe kein Problem mit deinem Alter.“

Jakob sog hörbar die Luft ein, als ihre Zungenspitze seinen Nabel umkreiste, langsam und feucht.

„Ich muss gehen.“ Sie drückte einen letzten Kuss auf seinen Bauch. „Du weißt, wo du mich findest!“

„Nein, Su“, sagte Jakob leise, als sie ihn stehen ließ und nach draußen ging. „Nein, weiß ich nicht.“

Freitag, 03. Mai

Das Fenster stand weit offen, die Dunstabzugshaube brummte. Auf allen Herdplatten köchelte und brutzelte es. Wie das duftete! Schweiß lief in dünnen Rinnsalen an Sus Schläfen herunter. Hochzufrieden wischte sie ihr Gesicht mit einem Küchentuch ab. Alles fertig, auf den Punkt und ohne Zwischenfälle. Auch das Timing stimmte. Genau im richtigen Moment, hatte Jakob die Küche betreten. Staunend hob er nacheinander die Deckel von den Töpfen und der Pfanne.

„Das muss ja Stunden gedauert haben.“

Su drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Höchstpersönliche Handarbeit. Hoffentlich hast du Hunger.“

„Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Das ist wirklich lieb, Su.“ Es fiel ihm schwer ihre Begeisterung zu bremsen. Er nahm all seinen Mut und seine Autorität zusammen. Ihr Anblick auf der Couch war ihm inzwischen so vertraut, dass er sich kaum noch darüber wunderte. Im Gegenteil, er erwartete sie dort zu sehen. Und genau das hatte sie am Vorabend vermutlich gemeint. Es beunruhigte ihn ein wenig, dass er immer noch fast nichts über sie wusste. Und noch viel mehr beunruhigte ihn, dass es ihn auch jetzt gar nicht wirklich kümmerte. Wichtiger war es, etwas anderes klarzustellen, sofort.

„Was willst du damit erreichen?“ Er deutete auf den voll beladenen Herd. „Was willst du von mir, Su? Du hast gestern versucht mich zu verführen - mir an die Wäsche zu gehen. Du weißt, ich will das nicht von dir.“

Nichts ist jemals umsonst und nichts wird ohne Hintergedanken gegeben. Völlig korrekt erkannt. Respekt. Trotzdem zog Su eine beleidigte Schnute.

„Aber Jack. Das ist Essen, weiter nichts. Und wenn ich jemanden mag, dann will ich ihn auch anfassen. Da bin ich wie Moritz. Kuscheln ist ein Grundbedürfnis.“ Sie rieb ihre Nase an seinem Hals. Sein Widerstand fühlte sich wunderbar an. Sein hilfloses Sträuben, das bereits schwächer wurde. „Ich weiß, dass ich bei dir nicht auf andere Art Hand anlegen soll. Das Essen ist nur ein kleines Dankeschön. Okay? Bitte sei nicht böse, Jack.“

Ihre Pupillen weiteten sich zum tiefsten Schwarz, das er je gesehen hatte. Sie ist wirklich wie eine Katze. Er seufzte. Sie ist wie ein Kind. Kapitulierend lehnte er seine Stirn an ihre.

„Ich bin nicht böse Su. Nur manchmal bist du mir zu …“

„Zu sehr Su, nicht wahr?“

Er musste wider Willen lachen. „Ja, ganz genau.“

Mitten in diesen vertrauten Moment hinein ertönte die Klingel. Dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz.

„Noch mehr Besuch?“ Su löste die Umarmung.

Wenn das der Halbaffe war, konnte es ein amüsanter Abend werden. Vater und Sohn im Doppelpack. Obwohl sie Jack lieber für sich alleine gehabt hätte. Während Jakob zur Tür trabte, huschte sie hinüber ins Wohnzimmer. Mehr Bewegungsfreiheit, bessere Ausgangsposition, frontale Begegnung.

Die Stimme auf dem Flur war ihr unbekannt - und weiblich.

Su streckte den Nacken und vergrub die Hände tief in den Hosentaschen. Kein Affe, kein Spaß. Und keine Stiefel an den Füßen. Einer Konkurrentin auf Socken zu begegnen war unwürdig. Sie biss auf ihre Zunge, um ihre Sinne zu schärfen. Höchste Alarmbereitschaft.

„Eine gelungene Überraschung!“ Jakob lachte grundlos und zu laut, während er die Frau herein dirigierte.

Das war dann wohl die wundervolle Lisa. Madame Curie sah allerdings eher aus wie ein Bondgirl. Mitten im Raum schaukelte Su auf den Zehenspitzen und musterte die Blonde, auf deren Gesicht sich leichte Bestürzung abzeichnete. Gut so. Der Schnalle wollte sie nicht gefallen. Die durfte sich gern vor ihr fürchten.

„Wer ist das?“, fragte Lisa leise. Aber nicht leise genug.

„Ich bin Su.“

Fragend wanderte Lisas Blick von Su zu Jakob.

„Äh ja. G-genau. Das ist Su.“ Zu weiteren Erklärungen fühlte er sich offenbar nicht in der Lage.

„Hallo Su. Entschuldige meine Unhöflichkeit.“

Blondie bemühte sich um ein Lächeln. Na sieh mal einer an, die kriegte sich schneller in den Griff als Jack.

„Ich war nur ein wenig irritiert, dass außer mir jemand da ist. Am besten fangen wir noch mal von vorn an.“ Beiläufig strich sie über Jakobs Arm. „Ich bin Lisa, Jakobs Freundin.“

Su ignorierte die ausgestreckte Hand. „Und ich bin Su, wie wir jetzt oft genug festgestellt haben. Jacks Freundin.“

Verunsichert zog Lisa ihre Hand zurück. „Jack?“

„Eine lange Geschichte“, stammelte Jakob. „Willst du dich nicht setzen, Lisa? Ich hole uns etwas zu trinken. Was möchtest du? Wasser oder Wein?“ Die Situation überforderte ihn. Eine Frau in der Wohnung war schon schwierig genug. Und jetzt Zwei. Diese Zwei. Er beeilte sich, den Raum zu verlassen.

Lisa steckte immer noch in ihrem Mantel.

„Ich hasse Pelze.“ Su wandte den Blick nicht von Lisas Augen. Blaue, unschuldige Porzellanaugen. Moritz erhob sich aus seiner bevorzugten Sofaecke und strich schnurrend um Sus Knöchel. Als er sich auf Lisa zu bewegte, machte diese einen Schritt rückwärts.

„Tut mir leid. Ich bin allergisch gegen Katzen.“

Moritz fauchte leise, umkreiste sie in einigem Abstand, fauchte wieder und kehrte zu Su zurück.

„Woher kennt ihr euch?“, fragte Lisa, als Jakob aus der Küche kam.

„Su war oft unten bei meiner Nachbarin.“

„Anni“, warf Su dazwischen.

„Du weißt, die alte Dame, die ermordet wurde.“

Lisa rieb sich wie fröstelnd die Hände. „Unerfreulich, diese Sache.“

„Sie war meine Freundin“, zischte Su. „Ein Mensch, keine Sache.“

„Das wollte ich damit nicht sagen!“ Lisa verlor das Duell, schaute zu Boden. „Wie bedauerlich, außerordentlich bedauerlich, das ganze.“

„Ich habe ihre Leiche gefunden. Kannst du dir vorstellen, wie sich das anfühlt?“

„Su.“ Jakob sah sie unglücklich an. „Können wir bitte das Thema wechseln, ja?“

Die Verwirrung in seinem Gesicht, zwang sie zu einem großherzigen Rückzug. Er wollte Lisa. Nicht sie.

„Schon gut, Jack. Ich gehe.“

Sie verkniff es sich, ihn vor Lisa zu küssen. Armer Jack, sie wird dir wehtun. Doch das musste er allein herausfinden. Sie würde da sein, um ihn wieder aufzubauen. Vielleicht konnte sie ihn dann sogar aus dem Spiel befreien. Noch war es dafür zu früh.

„Was ist mit deinem Essen?“, flüsterte Jakob, als sie ihn hastig umarmte.

„Ganz einfach.“ Su simulierte Leichtigkeit. „Füttere sie damit. Und dann leg sie flach.“

*

„Du bist ja schon wieder hier.“ Justin verspürte nicht die geringste Lust, den Ablauf des vergangenen Mittwochs zu wiederholen.

„Sieht so aus.“ Su lehnte sich an den Tresen.

„Du kriegst keinen Tropfen von mir, hörst du!“

„Absturz ist keiner geplant. Wo steckt Christine?“ Sie drehte sich einmal um sich selbst und reckte den Hals Richtung Küchentür.

„Macht ihr zwei jetzt auf dicke Freundschaft?“

„Sicher nicht. Aber sie ist nicht da, oder?“

„Noch nicht, nein. Lange lasse ich das nicht mehr mit mir machen: Heute komm ich oder auch nicht und morgen nur vielleicht. Das kann ich mir nicht leisten.“

„Ich habe Zeit.“ Gelangweilt langte Su über die Theke und drückte an den Hebeln der Zapfanlage herum. Es zischte.

Justin schlug ihr mit dem Geschirrtuch auf die Finger. „Sag nur, du hast auch Beziehungsstress und kommst deshalb lieber zur Arbeit?“

„Äh, Hühnerkacke.“ Su schnellte vor und erbeutete das Handtuch, schubste ihn beiseite und schlüpfte hinter die Theke. „Ich bin jung und brauche das Geld. Reicht das nicht? Habe nicht vor dich zuzutexten, habe des Weiteren nicht vor Fragen zu beantworten.“

„Dem Himmel sei Dank, du bist wie immer. Dann fang an. Gläser einsammeln, Tische abwischen …“

„Ich bin weder blöd, noch blond, noch heiße ich Christine.“

„Aber gemein bist du.“

„Klar, so wie immer, Kojak.“ Sie gab ihm einen Klaps auf die Glatze, schnappte sich einen Lappen und zog los.

„Weiber!“, stöhnte Justin.

„Das habe ich gehört!“

*

Jakob schenkte Lisa die größtmögliche Aufmerksamkeit, um sie die atmosphärische Störung bei ihrem Eintreffen vergessen zu lassen. Am Liebsten hätte er sich für jede kleine Unzulänglichkeit entschuldigt: die unaufgeräumte Wohnung, das einfache Geschirr, die fehlenden Servietten. Nur nicht für Su.

„Was wollte sie von dir?“

Er überlegte einen Moment. Ihm war nicht entgangen, dass Lisa auf das Thema Mord mit Verunsicherung reagiert hatte.

„Sie braucht ab und an jemanden zum Reden, Trost, nach der Geschichte mit meiner Nachbarin. Das ist alles.“ Er drehte ungern an der Wahrheit und zupfte an seinem Hemdkragen herum.

„Das ist wirklich lieb von dir, aber - ohne dir zu nahe treten zu wollen -, vielleicht etwas naiv. Auf mich wirkt sie weniger traurig als aggressiv und durchaus auch bedrohlich. Du gibst ihr hoffentlich kein Geld? Das wäre grundfalsch, dann wirst du diese Person nie mehr los!“ Zärtlich legte Lisa ihre Hand auf seine. „Ich will nicht, dass sie dich ausnutzt.“

„Nein. Kein Geld. Mach dir um Su keine Gedanken.“

Mit leisem Lachen erhob sich Lisa, umrundete den Tisch und setzte sich auf Jakobs Schoß. „Ich mache mir Gedanken um dich, nicht um sie“, korrigierte sie. „Darum werde ich dich aus den Fängen dieses Wesens befreien und dafür sorgen, dass du deine freie Zeit angenehmer verbringst. Nämlich mit mir. Klingt das verlockend?“

Die Verlockung war so offensichtlich, dass es Jakob die Sprache verschlug.

„Ich habe das ganze Wochenende für dich reserviert.“

Aufstöhnend schüttelte er den Kopf. „Nur zu gern, aber ich muss nach Zürich, zum zweiten Teil des Seminars, auf dem ich schon vergangenes Wochenende war. Mein Flieger geht morgen früh um sechs.“

„Und was ist“, sie schaute auf ihre Armbanduhr, „bis dahin?“

Das Angebot war unmissverständlich. Sogar für Jakob. Sekundenlang verließ ihn jede Vernunft. Er hielt den Atem an und spürte ein plötzliches Unbehagen. Zu eindeutig, zu unverblümt, jeder Satz, der ihm in den Sinn kam. Überstürzt. Er hasste halbe Sachen. War kein Typ für eine schnelle Nacht. Eskalierende Leidenschaft. Nicht mal Su hatte das geschafft. Aber das hier hatte nichts mit Su zu tun. Überhaupt nichts.

„Ich kann nicht, Lisa. So sehr ich auch möchte.“

„Du und ich, das ist etwas Besonderes.“

Die Mischung aus Feuer und Sanftmut in ihrer Stimme brachte seinen Verstand in Not.

„Ruf mich an, wenn du angekommen bist. Und vor dem Schlafen gehen, damit ich dir eine gute Nacht wünschen kann. Und wenn du nach Hause kommst, ruf mich wieder an.“

Erleichtert seufzte er. Womit hatte er das verdient?

Sie küsste seine Stirn und stand auf. „Das Essen war ganz köstlich, mein Lieber. Herzlichen Dank. Und nun lass ich dich allein. Du musst sicher noch packen.“ Ihre Hand fuhr liebkosend über seine Wange. „Sag mal. Wer kümmert sich eigentlich um deine Katze, wenn du weg bist?“

„Das macht Su.“

Su?“ Der Name zischte zwischen Lisas Lippen hindurch. „Der Gedanke, dass sie in deiner Wohnung ungehindert ein und ausgehen kann, gefällt mir nicht. Davon abgesehen …“ Sie druckste herum. „Hast du keine Angst wegen dem Einbruch?“

„Wenn Su hier übernachtet, wird sicher niemand einbrechen.“

„Aber wenn …?“ Lisa hob abwehrend die Hand, als habe sie um ein Haar etwas Falsches gesagt.

„Was wolltest du sagen, raus damit.“

„Versprich, dass du nicht wütend wirst.“

„Verspreche ich, also?“

„Wenn sie es gewesen ist? Was macht eine wie sie dauernd bei einer alten Frau? Überleg doch mal! Vielleicht wurde Su erwischt, als sie etwas stehlen wollte. Da hat sie die Nerven verloren und mit dem Aschenbecher zugeschlagen.“

Jakob zog Lisa in seine Arme und streichelte besänftigend ihren Nacken. „Su ist in Ordnung, wenn man sie näher kennt. Das wirst du noch merken.“ Er spürte, wie sich ihr Rücken bei seinen Worten versteifte.

„Hast du sie dir mal genau angesehen? Objektiv und ohne Mitleid. Ihre Augen sind beängstigend! Und die Aufmachung?“ Lisa befreite sich aus der Umarmung und schob Jakob auf Armeslänge von sich. „Warum gibst du nicht mir deinen Schlüssel? Ich kann mich um die Katze kümmern, solange du weg bist.“

„Das würdest du tun, trotz deiner Allergie?“

„Hauptsache, diese Su kommt nicht mehr in deine Wohnung.“

Das Argument versetzte ihm einen Stich. Nicht für ihn, sondern gegen Su. „Über Su diskutiere ich nicht. Sie kann kommen und gehen, wann sie will. Punktum.“

„Das ist nicht dein Ernst!“

„Doch. Absolut. Das musst du akzeptieren.“

„Muss ich das?“ Abrupt verließ Lisa den Raum.

Einen Moment starrte Jakob auf den zartroten Abdruck des Lippenstifts an Lisas Glas, die leeren Teller und Schüsseln. Hätte er ihr sagen sollen, dass Su gekocht hatte? Wahrscheinlich hätte das nichts geändert. Lisas Besorgnis war unbegründet, aber auch rührend.

Vor dem Spiegel im Flur tupfte sie sich die Wimpern.

„Lass uns nicht im Streit auseinander gehen, Lisa.“

„Dann wird Su also dieses Wochenende nicht her kommen?“

Umständlich half er ihr in den Mantel. „Ich vertraue ihr.“

„Ist das dein letztes Wort?“

„Ja.“ Die Eindeutigkeit und Härte seiner eigenen Antwort brachte Jakob kurz aus dem Gleichgewicht. Er hatte keinen Gedanken an die möglichen Konsequenzen daraus verschwendet.

Lisas Hand lag bereits auf der Klinke. „Na gut, Jakob Seibel“, sie seufzte resigniert. „Eines Tages wirst du einsehen, dass ich Recht hatte. Hoffentlich musst du es nicht zu sehr bereuen. Ruf mich an, wenn du in Zürich bist.“

*

Das Tablett Überkopf jonglierend schlängelte Su sich zwischen den Gästen hindurch. Ihr Schädel dröhnte. Die Welt bestand aus Hohlköpfen und lauten Geräuschen, aus Gestank und Oberflächlichkeit und sobald sie glaubte etwas Neues und Gutes gefunden zu haben, tauchte plötzlich jemand auf, der alles kaputt zu machen drohte. Wieso musste es diese Lisa in Jacks Leben geben? Eine, die auf Augenhöhe mit ihm stand. Wissenschaftlerin. Gebildet, schön und zum Kotzen perfekt. Das gurrende Lachen, der mädchenhafte Augenaufschlag, wenn sie Jack anhimmelte – ganz Weibchen, um ihn einzuwickeln. Und er? Mann, der stand so unter Überdruck, dass sie fast schon wieder Mitleid hatte. Mit ihm. Und nur mit ihm. Alle anderen, die ihre Bahn kreuzten, gingen ihr grundlos auf den Sack. Mit Justin musste sie sich arrangieren, er war schließlich ihr Chef. Und Christine, die zwar noch aufgetaucht war, aber nach wie vor in nahezu unbrauchbarem Zustand, galt es zu ertragen. Viel schwieriger waren die Gäste. An der engsten Stelle ihres Reviers, saß ein Dreierpack, raumgreifend in selbstverliebter Wichtigkeit. Studenten einer Geisteswissenschaft, darauf hätte sie gesetzt, maximal einer kam für BWL in Frage. Jeder auf seine Art perfekt gestylt.

„Könnt ihr mir mal erklären, warum wir uns ausgerechnet in einem Kommunisten-Café treffen?“ Nummer eins strahlte mit seinem Outfit um die Wette: weißes Hemd, mit aufgekrempelten Ärmeln, und im weit geöffneten Ausschnitt eine breite Goldkette, die genau diesen Tick drüber war, den es brauchte, um cool zu sein und nicht spießig.

„Hast du was gegen Kommunisten?“ Der Zweite trug ein Che-Guevara-Shirt und einen passend gestutzten Bart.

„Na ja, nicht direkt, aber Café Tolstoi klingt doch sehr programmatisch.“

„Im Ursprung ist der Kommunismus eine feine Sache. Natürlich gab es Rückschläge. Gravierende, gebe ich zu. Weder in Russland noch in China ist es optimal gelaufen.“

Russland. Su biss sich auf die Zunge, als sie drei Bier vor ihnen auf den Tisch stellte. UdSSR. Sowjetunion, nicht einfach Russland.

Sie prosteten einander zu, ohne von ihr Notiz zu nehmen.

„Auf den real existierenden Sozialismus!“ Der Sonnyboy strahlte weiter.

„Richtig existent ist der ja nicht mehr im Osten.“ Nummer drei machte auf 70er Jahre Ostblockdissident. Verwaschenes Hemd, groß gemustert und mit noch größerem Kragen, dazu ein Cordsakko, Lederflicken auf den Ellbogen. „Kuba. Nur dort funktionierte es einigermaßen. Dein Che und Castro, das sind die Einzigen, die es drauf hatten.“

„Und was ist jetzt mit Tolstoi? Welche kommunistische Idee hat der ausgebrütet? Kulturrevolution oder Bauernaufstand?“

„War ein Kumpel von Marx und Engels, denke ich mal.“ Che kraulte sich gedankenschwer den Kinnbart. „Er hat vor allem belletristische Bücher geschrieben. Echt fette Schmonzetten, Herzschmerz und Familiendrama. Verstehe gar nicht, wie das zu einem Revoluzzer passt.“

„Im Grunde passt das schon. Ein russisches Seelchen eben. Dort heißt es nicht Vaterland, sondern Mütterchen Russland – und alle baden in Melancholie und Wodka.“ Sonny lachte. „Mal im Ernst, wenn der etwas von großer politischer Bedeutung verfasst hätte, wäre uns das im Studium längst untergekommen. Aber egal wie lange ich drüber nachdenke, tut mir leid Freunde, dem Kommunismus kann ich wenig abgewinnen. Auch wenn vielleicht was dran ist, dass gesellschaftlicher Fortschritt nur durch Revolutionen zu erreichen ist.“

„Revolución!“ Che ballte die Faust.

„Oh, Mann. Hör bloß auf mit den ganzen politischen Traktaten. Damit quälen sie uns auch dauernd. Dazu noch Philosophie und Pädagogik und all so ein Mist. Ich kann euch sagen, das schlaucht. Lehramt hatte ich mir echt gechillter vorgestellt. Noch ein Bier, Jungs? Hey!“ Der pädagogisch gequälte Spätsiebziger pfiff unelegant auf den Fingern und winkte Su heran. „Drei Bier für das denkende Volk, wenn es möglich ist.“

„Das mit dem Bier schon.“ Mit dem denkenden Volk wurde es deutlich schwieriger.

Als sie den Nachschub auf dem Tisch platzierte, hielt der Kubafan sie am Arm fest. „Du kannst uns doch bestimmt etwas über den Genossen Tolstoi erzählen.“ Er zwinkerte seinen Kumpels zu und bildete sich ein, einen guten Witz zu machen. „Was hatte der alte Kommunist denn so drauf?“

Mit spitzen Fingern entfernte Su seine Hand von ihrem Handschuh. „Lew Nikolajewitsch Tolstoi war ein Reformer und ein Vordenker. Nenn ihn von mir aus Sozialist, aber er war kein Kommunist im heutigen Sinne. Es war ganz und gar nicht die Diktatur des Proletariats, die er anstrebte. Und was die erwähnten Schmonzetten betrifft“, eiskalt richteten sich ihre Augen auf den möchtegern Che. „Krieg und Frieden und Anna Karenina sind gesellschaftskritische Romane – Weltliteratur – durch und durch politisch. Nicht einfach Kitsch.“

Der Strahlemann mit dem Goldkettchen zog das Genick schon ein, bevor sie ihn ansprach. Was für ein Würstchen.

„Einer dieser von dir geschmähten Kommunisten, Marx, der zwar der gleichen Zeit entstammt wie Tolstoi, was beide noch lange nicht zu Kumpels macht, hat folgendes zum Thema Revolution gesagt: Alle Revolutionen haben bisher nur eines bewiesen, nämlich, dass sich vieles ändern lässt, bloß nicht die Menschen. Und du, der du ja anscheinend beabsichtigst, deine unschätzbaren Weisheiten als Lehrer an künftige Generationen weiterzugeben“, jetzt fixierte sie den Dissidenten, „du solltest dich mal mit Schulgeschichte und Reformbewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschäftigen. Summerhill, sagt dir das was? Die haben viele Ideen Tolstois aufgegriffen. Er war berühmt und verfolgt, verehrt und angefeindet. Und wenn ihr Augen im Kopf hättet, die die Welt sehen und nicht nur das Bier im Glas, hättet ihr all das, was ich euch erzählt habe – und mehr –, in nächster Nähe herausfinden können.“

Damit ließ sie drei sprachlose Denker am Tisch zurück, die sich peinlich berührt umschauten. Bilder und Berichte, Textauszüge und Zitate Tolstois bedeckten die Wände des Cafés. Gerahmte Collagen, die Su eigenhändig zusammengestellt hatte.

An der Theke nahm Justin sie beiseite. „Mach dir nichts draus. Du kennst das doch, die Weisheit wächst mit jedem Bier.“

Ein kleiner Trost für ihre leidende Seele, dem er noch eine unmissverständliche Botschaft zufügte.

„Und jetzt schalte deine Ohren auf Durchzug und kümmere dich nur noch um den Text, der für dich bestimmt ist: noch zwei Bier oder die Rechnung, bitte. Das erleichtert dir das Leben.“

„Die haben mich doch gefragt!“ Su kippt Getränkereste in den Ausguss. „Aber ich werde mich bemühen, Kojak. Versprochen. Immerhin sind sie geblieben, das ist doch ein Fortschritt.“

Justin nickte wenig begeistert. „Gäste, die davonrennen, weil du ihnen eine Predigt gehalten hast, kann ich auch nicht wieder gebrauchen. Das hatten wir schon.“

Su packte die nächste Ladung Gläser aufs Tablett und biss die Zähne aufeinander. Die drei Freunde unterbrachen ihre Unterhaltung, sobald sie in die Nähe kam. Keiner von ihnen fragte sie nochmals nach ihrer Meinung.

Für eine Weile gelang es Su Gespräche über Autos, Handys, Videospiele und andere teure Hobbys an sich abgleiten zu lassen. Dabei spürte sie, wie eine junge Frau sie fortwährend musterte, so unverhohlen geringschätzig, dass sie nicht umhin konnte den Blick zu erwidern. Taxieren konnte sie auch - und blitzschnell einordnen: Nicht älter als sie selbst, betrunken, gestylt und gelangweilt. Noch ein paar Minuten mehr und die Schnepfe würde versuchen ihr ein Bein zu stellen oder etwas ähnlich Spaßiges.

„Kann ich irgendetwas gegen dich tun?“, fragte Su liebenswürdig.

„Du? Ich habe alles was ich brauche. Mein Bier, meine Zigarette, meinen Freund.“ Demonstrativ küsste sie den Mann neben sich. Die anderen am Tisch johlten und beobachteten gespannt Sus Reaktion. „Draußen steht mein Cabrio und nach dem Studium wartet ein großartiger Job auf mich. Nein, ich wüsste nicht, was ausgerechnet du für mich tun könntest. Es sei denn du möchtest mir erklären, welche Daseinsberechtigung ein Freak wie du hat, in einer Welt, die für Menschen wie uns gemacht ist. Für Gewinner.“ Beifall heischend sah sie sich um und erntete das erwartete Gelächter.

Su wischte ein paar Krümel beiseite und antwortete betont unaufgeregt und leise. „Mein Bier, meine Zigarette, mein Freund?“ Versprechen hin oder her. Dazu zu schweigen konnte Justin nicht von ihr verlangen. „Frei nach Tolstoi: Die Menschen trachten im Leben nicht danach zu tun, was sie für gut halten, sondern danach, möglichst viele Dinge Mein zu nennen. Ich vermute allerdings, du hast ihn missverstanden.“

Das gezierte Lächeln des Designermädchens hakte.

„Meine Lebensberechtigung, ist das Leben selbst, ich bin der einsame Rufer in der Nacht, vielleicht ein Wegweiser oder ein Prophet? Wer wissen will, was ich bin, dem bleibt nur eine Wahl: sich mir zu stellen und es selbst herauszufinden. Aber das setzt Geist voraus und Willen. Folglich wirst du es nie verstehen. Auch wirst du es nie versuchen, weil ich etwas bin, das niemals deins sein kann. Ein freies Wesen, das nur sich selbst gehört. Tut mir leid - nein nicht wirklich. Noch ein Bierchen zur Beruhigung, die Herrschaften? Oder hat der Mohr seine Arbeit getan und kann gehen?“ Mit einer knappen Verbeugung machte sie kehrt.

Kopfschüttelnd nahm Justin ihr am Tresen das Tablett aus der Hand. „Du bist unbelehrbar.“

„Hast du gehört, was die gesagt hat? Ich mag ein Freak sein, aber das gibt ihr kein Recht sich über mich zu erheben. Dabei ist sie eigentlich bedauernswert, die verwöhnte Bratze.“

„Leise, Su.“

„Ehrlich! Ich meine - sieh sie dir an -, die Nase ist so falsch wie ihre Titten.“ Mit Genugtuung sah sie Justins Mundwinkel zucken. Das genügte ihr als Zustimmung.

„Du bleibst jetzt hinter der Theke, Su.“

„Zu blöd, dass ihr reicher Daddy kein Hirnchirurg ist. Das wäre mal eine OP zum Geburtstag gewesen.“

„Tu mir den Gefallen, zapfe Bier, fülle Gläser und schweige.“

„Aber …“

„Schweige! Wir können vorm Eingang keinen IQ-Test ausfüllen lassen, nur weil dir oberflächliche Menschen zuwider sind. Das sind meine Gäste und ich lebe davon, dass sie hierher kommen. Auch du, nebenbei bemerkt. Also, schweig und lass sie reden.“

Su schob ein Pfefferminz zwischen die Zähne, salutierte und sprach kein Wort mehr, bis der letzte Gast das Café verlassen hatte.

Justin stellte die Stühle hoch. „Du siehst todmüde aus. Willst du hinten schlafen? Musst dir den Platz nur wieder mit Rufus teilen.“

Sie wischte die Theke trocken und verstaute den Lappen im Eimer unter der Spüle. „Das ertrag ich auch noch. Was hat er heute gefressen? Ich hoffe keine Leberwursthäppchen?“

„Rufus ist auf Diät, keine Angst.“

„Super. Dann leg ich mich zu meinem Kuscheltier.“

Im Hinterzimmer schnarchte die dänische Dogge im Bett. Su schob Rufus ein Stück beiseite und drehte ihm den Rücken zu.

Samstag, 04. Mai

Es schnaubte neben ihrem Ohr. Zwei Pfoten drückten sich in ihren Bauch. Dann kratzten Krallen auf Holz. Aus dem Schnauben wurde Winseln. Su öffnete ein Auge und schälte sich gähnend aus dem Bett. Der Hund schoss nach draußen und sie trottete in die Küche, wo Justin das Frühstück vorbereitete. Nur einen Schluck Kaffee im Vorbeigehen und dann weg, bevor das Tolstoi wieder öffnete. Samstags etwas später als während der Woche. Und zum Glück heute ohne sie. Keine Macht der Welt konnte sie dazu bewegen, sich schon wieder mit fremden Menschen zu befassen, sei es nun schweigend oder sprechend.

Sie trank aus Justins Tasse, küsste seine frisch rasierte Wange und verschwand durch den Hinterausgang.

Unentschlossen wanderte sie am Mainufer entlang und nahm den Umweg über den Eisernen Steg auf die andere Seite. War sie wirklich in einem Zustand, in dem sie Jack gegenübertreten wollte - und Lisa? Die war nicht leicht einzuschüchtern. Su kickte eine Blechdose vor sich her. War sie einfach nur neidisch, weil er Lisa wollte? Weil Lisa ihn vielleicht gehabt hatte, in der vergangenen Nacht. Weil sie erfolgreich war und ihr Leben im Griff hatte. Weil sie hinkriegt, was ich bisher nicht geschafft habe und vielleicht niemals schaffen werde? Nein. So war das nicht. Und sie war mehr als bereit, es mit Lisa aufzunehmen.

Zornig versenkte sie die Dose im nächsten Mülleimer. Sie konnte nicht anders. Es war falsch, Müll herumliegen zu lassen. Und wenn sie wusste, dass etwas falsch war, musste sie handeln. Daran führte kein Weg vorbei. Scheiße, verdammte. Und manchmal musste sie handeln, obwohl sie genau wusste, dass es falsch war, was sie tun würde, und konnte es genauso wenig bremsen. Der innere Zwang, der sie pausenlos antrieb, etwas zu tun oder nicht zu tun, entzog sich ihrer Kontrolle.

Entschlossen näherte sie sich Jakobs Wohnung und klingelte, ließ den Knopf los, klingelte wieder. Das sollte als Vorwarnung genügen. Hinter ihr maunzte Moritz.

„Showtime, mein Süßer!“ Su sprintete die Treppe hinauf und zückte die Telefonkarte. Im Geiste sah sie eine halbnackte Lisa vor sich, die erschreckt das Weite suchte. Das Schloss sprang auf. Stille kroch ihr entgegen. Die typische Stille einer menschenleeren Wohnung. Es roch nicht mal mehr nach Lisas schwerem Parfüm. Schade. Dieser Frau wäre sie jetzt gern auf die Nerven gegangen. Auch wenn Jack es ihr vielleicht ein wenig übel genommen hätte.

Sie folgte Moritz’ Maunzen in die Küche und fand einen Zettel auf dem Tisch, darunter einen großen Umschlag.

„Liebe Su, ich vermute und hoffe, es ist Samstagmorgen, wenn du diese Nachricht liest. Ich verbringe das Wochenende in Zürich. Rein beruflich und nicht mit Lisa, wenn dich das interessiert.“ Der Satz verdiente einen fetten Knutscher. „Sei so lieb und kümmere dich um Moritz. Du kannst gerne bleiben, bis ich wiederkomme. Ich hoffe, du bist mir nicht böse. Dein Essen war wundervoll! Im beiliegenden Umschlag findest du, worauf du die ganze Zeit gewartet hast. Bitte entschuldige, dass es so lange gedauert hat. Hoffentlich hilft es dir weiter. Ich habe es gestern vor lauter Aufregung ganz vergessen. Bis Sonntag: Jakob.“

Su riss die Klebelasche auf. Zwei Blatt Papier. Das erste zeigte Bilder des eingescannten Fingerabdrucks, den sie vom Lichtschalter genommen hatte. Einmal das schwache, kaum erkennbare Original und einmal digital bearbeitetet. Die Linien traten klarer hervor, Lücken waren vom Computer berechnet und vervollständigt worden. Fehlte nur der passende Mensch zum Abdruck. Das zweite Blatt enthielt chemische Formeln und Analysedaten, mit denen Su nichts anfangen konnte. Abschließend ergänzt durch eine handschriftliche Notiz, die besagte, es handle sich nicht um ein Menschenhaar, sondern um ein Tierhaar. Der Rest darunter ließ sich nicht entziffern.

Dieses verdammte Rätsel sperrte sich, spannte sie weiter auf die Folter. Wusste Jack mehr, als auf diesen beiden Papierbögen stand? Wenn ja, musste sie sich nur noch bis morgen gedulden. Hart, aber zu vernachlässigen, dank der Genugtuung, die seine Zeilen ihr schenkten.

„Zeit zum Frühstücken, Moritz.“ Su öffnete eine frische Dose Katzenfutter und wechselte das Wasser im Napf. „Wir sind ein gutes Team, nicht wahr? Jack kriegt alles von uns, was er braucht. Er sollte Lisa auf den Mond schießen. Die taugt nichts. Eine mit Katzenallergie kann nicht gut für Jack sein.“ Sie hockte sich auf den Küchenfußboden und schaute Moritz beim Fressen zu. „Du hast immer Hunger. Ich nicht. Nie. Jedenfalls merke ich nichts davon. Menschen sind seltsame Wesen, was? Kannst du dir das vorstellen, dass man verlernt, was es heißt Hunger zu haben oder satt zu sein? Sicher nicht. Wenn ich ehrlich bin, habe ich keine Ahnung, wann ich zuletzt gegessen habe oder was. Es ist mir einfach egal. Obwohl ich gerne esse.“

Der Kater schmatzte.

„Du meinst, das passt nicht zusammen? Hast schon Recht. Dabei habe ich eine genaue Vorstellung davon, wie ein gutes Essen aussieht. Ja, tatsächlich optisch, aber auch, wie es riecht, wie es schmeckt, wo, wann und mit wem ich es genießen will. Das ist der Punkt. Alles muss stimmen, um ein Essen zu genießen. Sonst ist es nur Nahrungsaufnahme. Wenn ich in der Mensa esse oder in der WG. Das sind reine Notfallmaßnahmen. Also der Normalfall. Das vergesse ich oft einfach, bis ich fast umkippe und mir irgendwas reinzwänge. Aber richtig essen, mit Genuss, das kommt so selten vor, das ist, wie … Hörst du eigentlich zu, du alter Fresser?“

Der Kater hatte inzwischen sein Mahl beendet und putzte sich. Er hob den Kopf, seine Ohren zuckten. Gemächlich schlenderte er zu ihr, legte sich auf ihren Beinen zurecht und putzte weiter.

„Der Herr gewährt mir die Ehre ihn kraulen zu dürfen? Wenn also alles stimmt bei einem Essen und du alle Sinne einsetzten kannst - sehen, riechen, schmecken, fühlen -, glaub mir, das ist wie …“ Sie überlegte. „Wie Sex. Richtig guter Sex. Du musst dich genauso darauf einlassen und hingeben, damit du den vollen Genuss erlebst.“ Sie streichelte die vibrierende Kehle. „Volle Leidenschaft, volle Befriedigung.“

Genauso klang sein Schnurren.

„Hallo Su.“

Erschrocken packte ihre Hand ins Katzenfell und Moritz unterbrach protestierend seine Körperpflege.

„Hallo Halbaffe“, sagte Su betont gleichgültig, obwohl ihr Herz raste. Eiskalt überrumpelt. Wie sie das hasste. Ganz langsam drehte sie den Kopf.

„Du kannst mich Erik nennen, wenn du willst.“

„Und wenn nicht?“

„Dann nenn mich eben Halbaffe.“

Es kostete Su mehr Mühe als sonst, ihren Puls zu zügeln. „Erik. Wie passend“, spottete sie. „Bist ein echt nordischer Typ.“

„Habe ich von meiner Mutter.“ Er ging an ihr vorbei zum Kühlschrank und holte Orangensaft heraus.

„Du hast eine Mutter?“

„Jeder hat eine Mutter.“ Erik setzte sich auf einen der Stühle.

„Rein biologisch schon.“

„Meine ist nicht nur biologisch, sondern sehr real.“

Su schob den Kater von ihrem Schoss und stand auf, dann platzierte sie sich vor Erik auf dem Tisch. „Wohnst du bei ihr?“

„Nein. Wieso?“

„Weil du so ausgeschlafen und fröhlich aussiehst, als hätte Mami dir dein Frühstück ans Bett gebracht.“

Erik lachte. „Ganz im Gegensatz zu dir. Mit Verlaub: Gnädigste machen den Eindruck, als sei das Bett letzte Nacht ein unbequemes gewesen.“

„War nicht mein eigenes, wenn du das meinst.“

„Immerhin war es ein Bett und keine Parkbank.“

„Nicht in dieser Nacht.“

Er kippte mit dem Stuhl ein Stück rückwärts und lehnte die Knie gegen den Tisch. „Das heißt, du hast schon auf der Straße geschlafen?“

„Schon.“

„Und letzte Nacht?“

„In einem eigentlich sehr gemütlichen Bett. Allerdings hatte ich es nicht für mich allein.“

Erik streifte die Schuhe von den Füßen und ließ sie zu Boden fallen. „Aber du hast nicht bei Jakob geschlafen?“

„Der ist doch gar nicht da. Zürich, das ganze Wochenende.“

„Du hältst nicht viel von einer gewissen Exklusivität, oder?“

„Du meinst, im Sinne von Treue?“

Er trank den Saft direkt aus der Packung und leerte sie, ehe er antwortete. „Scheint zumindest so.“

„Nichts ist so, wie es scheint, hast du mal gesagt.“

„Ich will wissen, ob es auch in diesem Fall stimmt.“

„Finde es doch heraus.“ Ein kleiner Schubs würde genügen, um ihn zum Umkippen zu bringen.

„Das kann ich nicht. Wie du es mit der Treue hältst, findet nur der heraus, der eine Beziehung mit dir hat. Soweit ich mich erinnere, ist das Jakob. Nur deshalb will ich wissen, in wessen Bett du geschlafen hast.“

„Treue, ja? Bist du ein Spießer? Nur mal so als These in den Raum gestellt. Egal, das musst du nicht beantworten.“ Zum Treuebruch gehörten zwei. Doch auf die Idee kam der Halbaffe offenbar nicht. „Beziehungen, die Ausschließlichkeit verdienen, sind selten. Die meisten beruhen auf mehr oder weniger faulen Kompromissen.“

„Was ist mit dir und Jakob, sind das auch faule Kompromisse?“

„Mit mir und Jack ist das ganz anders.“

„Wie anders?“

„Geht dich nichts an. Definitiv.“

„Doch. Ich will nicht, dass du mit ihm spielst!“

„Ich soll also nur mit dir spielen dürfen?“ Sie drückte die Zehen gegen seine Brust.

„Es geht nicht um mich.“

„Bei allem, was wir machen und wollen geht es immer um uns selbst. Manchmal nicht vordergründig, aber unsere eigenen Bedürfnisse sind immer mit im Spiel.“

„Das ist vielleicht bei dir so. Ich will einfach nicht, dass du ihn verletzt.“

„Wie ergreifend. Der Mann ist erwachsen. Jack weiß sehr genau, was er will und was er tut.“ Sie sah den Zorn in Eriks Augen wachsen.

Er packte ihren Fuß und ließ den Stuhl zurück auf alle vier Beine krachen. „Wessen Bett?“

„Nicht seines und nicht deines. Oh! Weht der Wind etwa aus dieser Richtung?“

„Ich lach mich tot.“

„Och nö, das wäre schade! Mit Jack kann ich nicht streiten. Mit dir schon. Ihr seid so verschieden, das gefällt mir. Komm schon Erik, willst du mir noch mehr spießige Fragen stellen? Oder bin ich jetzt dran?“

Erik zögerte. Es war nicht seine Art, sich in das Leben seines Vaters einzumischen. Aber Su war ja auch nicht gerade alltäglich. Er konnte sich kaum vorstellen, dass die beiden wirklich eine Beziehung hatten. Andererseits war sie hier. Immer wieder. Mit Jakobs Einverständnis. Welche ihrer Bemerkungen musste er ernst nehmen und welche dienten nur den Zweck ihn herauszufordern? Er musste vorsichtig sein, wenn er ihre Fallen umgehen wollte. Aufstöhnend fuhr er sich mit der Hand über den Nacken, dann brachte ihn die Erkenntnis zum Lachen. Spießer. So ein Mist. Sie hatte ihn längst vorgeführt - und er war voll drauf angesprungen.

„Also gut“, stimmte er zu. Er würde ihr Spiel noch lernen. „Du fragst, ich antworte.“

„Ehrlich und wahrhaftig, mein braves nordisches Spießeräffchen! Lass mich überlegen, was ich von dir wissen will. Welche Vorlieben hast du?“ Mit leisem Gurren beugte sie sich vor. „Im Bezug auf - Essen? Was bereitet dir Genuss? Hast du es lieber fest oder zart, süß oder scharf? Allein, zu zweit? Bist du der feurige oder der fade Typ?“

„Du bist sicher, dass du vom Essen sprichst?“

„Selbstverständlich.“

Ihre Augen blitzten vor Vergnügen. Alles an ihr war zweideutig. Faszinierend. Erik konnte den Blick keine Sekunde abwenden. „Wenn du es so willst, bin ich eher ein feuriger Typ. Wobei ich … Warum lachst du?“

„Weil ich noch nie einen Mann getroffen habe, der sich nicht als feurigen Typ definiert hat!“

„Hey, es geht ums Essen, richtig? Und nur ums Essen. Auch richtig? Also, was ich noch zur Schärfe sagen wollte: Wenn sie zu extrem ist, kannst du keine Nuancen mehr unterscheiden. Dann ist egal, was du isst. Alles schmeckt gleich und manchmal tut es nur weh. Das ist nichts für mich. Vielleicht passt das ja zu meinem, wie du meinst, spießigen Leben. Trotzdem, ich will keinen Einheitsbrei, auch wenn er scharf ist.“ Wusste er selbst noch, worüber er gerade sprach? Ganz sicher war er nicht.

„Muss es überhaupt immer scharf sein?“

Sus Füße schaukelten vor und zurück, trafen den Wendepunkt jedes Mal millimetergenau vor seinem Schritt.

Entschlossen bezog Erik auch diese Frage auf das Thema Essen und widerstand dem Bedürfnis nach hinten zu rutschen.

„Natürlich muss es nicht immer scharf sein. Ich liebe süße Desserts. Eine Crema Catalana oder Tiramisu; wenn du die Augen schließt und die süße Masse auf der Zunge spürst - Kaffee, Likör, Mascarpone -, wie sie deinen Gaumen streichelt und durch deine Kehle gleitet.“

Su leckte sich die Lippen und stöhnte inbrünstig. „Ja, gib mir Sahne!“, dann prustete sie los. Zu schön, wie Erik sich um Haltung bemühte. Wirklich tapfer. Tatsächlich hatte sie bei seinen Worten für eine Sekunde Zucker geschmeckt, die Konsistenz im Mund gefühlt. „Wie isst du Schokolade: Beißen und kauen?“

„Niemals. Ganz langsam auf der Zunge zergehen lassen, damit sich das Aroma richtig entfalten kann.“

Volle Punktzahl bei der Gewissensfrage. „Es braucht Zeit, nicht wahr? Gutes Essen braucht einfach Zeit.“

„Stimmt.“ Erik kippelte wieder mit dem Stuhl. „Wie steht es mit deinen Vorlieben? Scharf oder exotisch?“

„Bizarr. Aber das ist meine Fragerunde. Nur zu deiner Beruhigung, ich mag es ab und zu auch bodenständig. Frag Jack, der kann dir das bestätigen.“

„Nein!“

Sein spontaner Aufschrei brachte Su schon wieder zum Lachen. „Essen, Erik. Immer noch. Frag ihn. Ich schwöre, du wirst keine Sauereien zu hören kriegen - nicht mal Schweineschnitzel. Ich habe für ihn Rinderroulade gekocht. Aber du hast echt eine schmutzige Phantasie.“

„Wer hat denn vorhin gesagt, gutes Essen ist wie guter Sex?“

„Du hast gelauscht!“

Ertappt fühlte Erik Hitze über seinen Nacken bis zu den Ohren aufsteigen. „Ja.“

„Du bist ein unanständiger und ein ungezogener Kerl.“ Ihr Gesichtsausdruck signalisierte höchste Zufriedenheit.

„Das liegt an dir“, maulte er und stand auf. Das Thema war jetzt hoffentlich durch. Schon wieder verunsicherte sie ihn.

Er griff nach dem unbeschrifteten Umschlag.

„Halt, das gehört mir!“

„Wieso dir? Da steht kein Name drauf.“

„Das hat Jack für mich dagelassen. Gib mir das wieder.“ Su sprang sie vom Tisch und stellte sich auf die Zehenspitzen, um nach dem Papier zu angeln.

„Kann ja jeder sagen.“

„Schnüffelst du immer in den Sachen anderer Leute herum?“

„Normalerweise nicht. Wobei ich Jakob nicht zur Kategorie andere Leute zähle.“ Ungerührt hielt Erik sie mit einer Hand auf Abstand und das Objekt der Begierde in für sie unerreichbarer Höhe. „Das hier scheint interessant zu sein. Wenn ich auch keine Ahnung habe, worum es geht.“

„Erik!“ Ihre Stimme nahm einen flehenden Ausdruck an.

Für einen Sekundenbruchteil ließ seine Körperspannung nach und Su nutzte die Gelegenheit, ihn in die Seite zu zwicken. Mit einem überraschten Schmerzenslaut knickte er ein und sie entriss ihm die Unterlagen.

„Sieg!“ Triumphierend fuchtelte sie mit dem Umschlag vor seiner Nase, während er sich noch krümmte. „Jammern statt kämpfen? Ich dachte, du bist der feurige Typ.“

Mit gesenktem Kopf, die symbolischen Hörner voran, ging Erik zum Angriff über. Na bitte, wenn sie es so wollte.

„Rache!“

Kreischend vor Lachen flitzte Su ins Wohnzimmer und er jagte hinterher. Aus dem Augenwinkel sah er Moritz mit gesträubtem Nackenfell vom Sofa auf die Fensterbank flüchten.

Lauernd umkreisten sie den Sessel, dann den Tisch. Erik schätzte die Entfernung und die Standfestigkeit, wagte einen Tritt auf die Tischplatte und brachte Su mit einem Sprung zu Fall. Gemeinsam landeten sie zuerst auf und danach neben dem Sofa.

„Sag es noch mal, Su: Wer hat gesiegt?“ Mit seinem ganzen Gewicht drückte Erik sie zu Boden. „Bin ich dir jetzt feurig genug oder nicht?“

„Megafeurig. Wie ein wildes Tier. Wenn du nicht vorhast, das noch weiter unter Beweis zu stellen, kannst du deinen Astralleib von meinem runter nehmen.“ Hartnäckig streckte sie den Arm von sich, als könne sie den Umschlag damit seinem Zugriff entziehen. Aber Erik machte gar keinen Versuch. Allerdings bewegte er sich auch nicht von ihr runter. „Mir geht die Luft aus, Erik.“

„Mal überlegen, Su ohne Luft, bedeutet Su sprachlos. Wäre eine neue Erfahrung. Au!“ Wieder hatte sie ihn gekniffen.

„Ja: Au. Du tust mir weh!“

„Entschuldige, zu viel Temperament. So sind wir eben, wir feurigen, nordischen Stiere.“ Grinsend rollte er sich zur Seite ab.

„Halbaffen“, korrigierte sie und zog sich hoch aufs Sofa. „Von Stieren war keine Rede.“

Er nahm die Degradierung gelassen. „Verrätst du mir, was das für Unterlagen sind, um die du so erbittert kämpfst?“

Unschlüssig musterte Su abwechselnd die Papiere und Erik, der auf dem Boden vor ihr saß. Sein Blick verriet Neugier, aber auch die Bereitschaft, ein nein zu respektieren.

Sie rutschte in ihre Lieblingsecke. „Was hat dir Jack über mich erzählt, woher wir uns kennen und weshalb ich hier bin?“

Erik zögerte keine Sekunde mit seiner Antwort. Er wusste von ihrer Freundschaft mit Anni und deren gewaltsamen Tod, dass Su die Leiche gefunden und Jakobs Rotwein getrunken hatte. Viel war das nicht.

„Du hast die Beweise nicht erwähnt“, bemerkte Su.

„Welche Beweise?“

„Die ich am Tatort gesichert habe.“

„Hast du?“

„Du weißt es doch.“

„Nein. Wirklich nicht.“

Su konnte sehen, dass er die Wahrheit sagte. Auf der Fensterbank tänzelte Moritz, die Schwanzspitze hoch aufgerichtet. Der arme Kerl traute dem Frieden immer noch nicht. Vergeblich versuchte sie ihn anzulocken. „Am Abend, bevor ich zu Jack kam, war ich noch mal in der Wohnung.“

„War die nicht versiegelt?“

„Vorher schon. Dort habe ich einen Fingerabdruck vom Lichtschalter genommen, für den Fall, dass die Polizei ihn übersehen hat.“

„Hast du einen Grund anzunehmen, dass sie nicht ordentlich arbeiten?“

„Bin nur kritisch.“ Angeborene Skepsis und Lebenserfahrung. Zu viel Information, die ihn nichts anging. „Neben der Eingangstür hing ein Haar an der Tapete, etwa auf Kniehöhe. Das müssen die ja wohl übersehen haben, wenn ich es finden konnte.“

Erik rieb sich mit beiden Händen die Waden und suchte nach der richtigen Formulierung. „Kann es sein, dass dieses Haar erst nachträglich von der Polizei eingeschleppt wurde? Oder vielleicht sogar von dir. An deiner gekrempelten Hose. Dann konntest nur du das finden.“

Wieso war sie nicht auf diesen Gedanken gekommen? Ihr Magen krampfte sich zusammen, als müsse sie sich gleich übergeben. Schon wieder hast du einen Fehler gemacht. Du nichtsnutziges, hirnloses Geschöpf.

Erik spürte Sus merkwürdige Anspannung, ihre Augen wirkten gleichsam nach innen gekehrt. „Was hat Jakob für dich herausgefunden? Steht das in deinen Unterlagen?“

Sus Blick klärte sich. „Es ist kein Menschenhaar. Demnach nicht von einem Polizisten. Von welchem Tier es stammt, kann ich aber nicht lesen.“ Sie musste bei der Sache bleiben, durfte nicht abdriften. Es ging um Anni. Um Gerechtigkeit. Bereitwillig gab sie die Untersuchungsergebnisse weiter. Vielleicht gelang es Erik die Sauklaue zu entziffern. Sie betrachtete ihn, während er die Blätter studierte. Seine Haut schimmerte wie Sommer zwischen den dunklen Haaren und er trug wieder kurze Hosen, obwohl es draußen noch ziemlich frisch war.

„Trägst du nie Socken?“ Die Frage entschlüpfte ihr, ehe sie darüber nachgedacht hatte.

„Ist das hierfür von Bedeutung?“ Er zeigte auf die Ergebnisse.

„Nein. Aber du hast keine an und letztes Mal auch nicht. Hat das für dich eine Bedeutung?“

„Ich mag keine Socken.“

Moritz balancierte auf der Rückenlehne des Sofas heran, kletterte über Sus Schulter und ringelte sich neben ihr zusammen.

„Warum magst du keine Socken?“

„Sag mal, wo liegt eigentlich dein Problem? Ich dachte, du willst dringend wissen, was hier steht.“

Su zuckte die Schultern. „Kein Problem. Das eine ist wichtig für mich, das andere für dich. Kannst du mit dem Gekrakel etwas anfangen?“

„Nicht mehr als du. Aber ich weiß jemanden, der es kann. Ein Zoologe.“ Kein Freund, aber ein Fachmann.

„Bräuchten wir nicht eher einen Schriftgelehrten?“

„Er versteht die ganzen Formeln und kann daraus Rückschlüsse auf den letzten Satz ziehen. Oder willst du lieber warten, bis Jakob zurückkommt?“

Su biss an einer verbliebenen Fingernagelecke herum. Noch ein Fremder. Dem es völlig gleich sein würde, falls er mit seiner Einschätzung daneben lag. Dessen Aussage sie glauben sollte, ohne Grund. Nur, weil er studiert hatte und Erik ihn kannte. Unruhig rutschte sie über das Sofa.

„Deine Entscheidung. Ich muss sowieso gleich weg. Ist fast kein Umweg bei ihm vorbeizufahren und ihm das zu zeigen. Dann kriegst du dein Ergebnis vielleicht heute noch.“

Die Fingerkuppe schmerzte, ihr Herz klopfte heftig.

„Du blutest.“ Erik zog ihr den Finger aus dem Mund. „Warum bist du so nervös? Ich bring dir die Sachen später wieder vorbei. Oder du gibst mir deine Handynummer, das geht noch schneller.“

„Hab kein Handy“, murmelte sie.

„Dann eben die Festnetznummer.“ Ganz nebenbei wickelte er ihren Finger in ein Taschentuch.

„Hab ich auch nicht.“ Gedankenverloren kaute Su an einem anderen weiter.

„E-Mail?“ Kommentarlos rettete Erik den nächsten Finger. „Wie erreicht dich Jakob - oder deine Familie, Freunde?“

„Gar nicht. Ich erreiche sie. Wenn ich etwas will, komme ich vorbei.“ Das stimmte nicht immer. Mit ihren Eltern musste sie schon telefonieren. Aber sie musste nicht mit Erik über ihre Eltern reden. Und per E-Mail kommunizierte sie ausschließlich und notgedrungen mit Professoren und Kommilitonen.

„Wieso?“

„Weil ich es hasse, dass alle sich einbilden, immer und überall erreichbar sein zu müssen. Außerdem hasse ich die Klingeltöne, viel zu laut und aufdringlich, genau wie die Gespräche. Hörst du manchmal zu, wenn andere telefonieren? Sicher tust du das – es geht nämlich gar nicht anders. Außer den Wichtigtuern, die gern Geschäftsgeheimnisse in der U-Bahn verbreiten, gibt es noch zwei anderen Varianten.“ Sie reckte den verwickelten Zeigefinger in die Luft. „Die einen plärren ihre ganze Lebensgeschichte in die Welt - wie lange ihr Intimpiercing vereitert war oder mit welcher Bitch ihr Ex rumgevögelt hat, als sie noch zusammen waren. Die anderen reden, wie sie ihre Kurznachrichten schreiben: ohne jeglichen geistigen Inhalt und ohne Grammatik.“ Angewidert verzog sie das Gesicht. „Braucht man diese Art der Kommunikation? Wenn ich nichts zu sagen habe, halte ich den Mund. Wenn ich etwas zu sagen habe, ziehe ich das persönliche Gespräch vor. Du musst den anderen sehen, seine Körpersprache, die versteckten Signale deuten. Du erfährst viel mehr, als nur das, was in den Worten steckt. Nichts ist leichter, als am Telefon zu lügen. Aber schau in die Augen eines Menschen und lüge, ohne dass er es merkt, dann bist du ein Künstler.“

Erik fing ihre Hand auf dem Weg zu den Zähnen ein. „Bist du ein Künstler, Su?“

„Was?“ Sie starrte ihn an, wie aus einem Traum erwacht.

„Bist du ein Künstler? Kannst du mir in die Augen sehen und mich belügen, ohne dass ich es merke?“

Ihre eben noch leidenschaftliche Aufregung wich reinem Übermut. „Das wüsstest du gerne. Erik, nordischster aller Halbaffen. Erik, der Sockenlose!“ Sie beugte sich zu ihm, bis ihre Nase seine fast berührte und schob den unblutigen Zeigefinger zwischen seine Zehen. „Das ist deine Aufgabe. Immer noch: Finde es heraus“, hauchte sie.

„Du riechst nach Pfefferminz.“

„Warum ohne Socken?“

„Warum mit Socken?“

Su zog ihn am großen Zeh und küsste seine Stirn.

„Womit habe ich das verdient?“

Mit keiner anderen Antwort hätte er sie glücklicher machen können. Wahrheiten finden, lernen, wer der andere ist. Finde es heraus; das galt auch für sie.

„Mach dich auf die Socken, sockenloser Erik, sei mein edler Ritter in der Not. Beschaffe mir meine fehlende Information.“

Ein Lächeln zuckte in Eriks Mundwinkeln. „Was kriege ich zur Belohnung? Der Ritter im Märchen kriegt immer die Hand der Prinzessin.“

„Eklig, oder? Was soll er nur mit ihrer Hand. Gut, dass hier keine Prinzessin rumlungert, die wahllos ihre Hände verteilt. Was kann ich dir bieten, was du von mir willst?“

„Sag mir, wo ich dich finde, wenn ich dich suche.“

„Hier.“

„Wenn du nicht hier bist?“

„Du findest mich hier. Nirgends sonst.“ Su legte den angekauten Finger über seine Lippen. „Wenn ich will, dass du mich findest, wird es so sein. Vielleicht bin ich die Märchenfee, die wie von Zauberhand auftaucht und verschwindet, wenn ich schon keine Prinzessin bin. Wer weiß?“ Ihr Augenaufschlag schaltete die Falle scharf, die ihre Stimme ausgelegt hatte.

Erik schmeckte Blut. „Mach ein Pflaster drum, Fee. Du blutest immer noch. Genau! Jetzt weiß ich es. Das soll meine Belohnung sein, mein Wunsch an die Märchenfee: Hör auf, dir die Finger zu zerbeißen. Das sieht Scheiße aus.“ Er drückte einen Kuss auf Zeige- und Mittelfinger und diese dann auf ihre Stirn. „Ich finde dich hier?“

„Genau hier.“ Sie hielt seinen Arm fest. „Erik?“

„Ja?“

„Das Bett von letzter Nacht. Es gehört Rufus.“

*

Stunden vergingen, in denen Su ungestört durch Jakobs Wohnung stöberte, seine Musik hörte, in seinen Büchern blätterte. Eine wilde, scheinbar wahllose Mischung. Neben seinem Computer stapelten sich lose Zettel mit Notizen. Mehrere mit winzigen Zahlen und Daten gefüllte Bücher. Su verstand kein Wort. Was auch immer es bedeuten mochte, es war ihm wichtig. Wahrscheinlich hing es mit seiner Arbeit zusammen. Die Blätter waren übersät mit bunten Markierungen, Ausrufezeichen, Kringeln, Fragezeichen. Alles lag so angeordnet auf dem Schreibtisch, dass er jederzeit weiterarbeiten konnte. Ob Jack einen Code benutzte, um seine Gedanken zu schützen? Wie Leonardo da Vinci, der alles, was nicht für andere bestimmt war, in Spiegelschrift notiert hatte. Su zählte die Zeilen und die Zeichen pro Zeile. Das Telefon drängte sich dazwischen. Irgendwo gab es ein Geheimnis in diesen Aufzeichnungen. Je länger sie auf die Zahlen und Buchstaben starrte, umso sicherer wurde sie. Da war etwas.

Nach dem fünften Klingeln schaltete sich der Anrufbeantworter ein.

„Bist du da, Su?“

Sie hob den Kopf. Erik.

„Geh ran, wenn du noch da bist. Ich weiß, du ziehst das persönliche Gespräch vor, aber ich schaffe es doch nicht mehr heute noch mal vorbeizukommen.“

Su hörte ihn atmen, ging näher, sah das Lämpchen am Telefon blinken.

„Komm schon, es ist ein Telefon, es beißt nicht. Du musst nur den Hörer abnehmen. Ich dachte, du willst das Ergebnis möglichst schnell?“ Wieder legte er eine Pause ein, wartete auf eine Reaktion. „Na gut, dann eben kurz und schmerzlos: Dein Fundstück ist tatsächlich ein Haar und stammt von einem heimischen Wildtier. Genauer gesagt, von einem Fuchs. Hilft dir das? Ich kann mir spontan keinen Reim darauf machen. Bist du wirklich nicht da? Schade, ich hätte das gern mit dir besprochen. Ja, dann, hoffe ich, du hörst das ab, Märchenfee. Und denk an meine Belohnung. Ich will kein Blut mehr sehen, wenn wir uns wieder treffen. Wir sehen uns doch wieder? Schätze, das liegt allein in deiner Hand. Ach ja, falls nicht Su das abhört, sondern Jakob, ich erkläre es dir bei Gelegenheit. Das war es jetzt. Nein, Moment! Nachtrag für Su: Ich gebe dir noch die Nummer des Zoologen durch. Und meine. Nur für alle Fälle.“ Es folgte Papiergeraschel, eine Reihe von Zahlen und ein Moment der Stille. „Also, dann: tschüss.“

„Tschüss Halbaffe“, murmelte Su. Eine Information mehr, die es zu speichern und zu bewahren galt. Ein Fuchshaar. Seltsam.

Aus der Küche holte sie sich etwas zu trinken und einen Apfel. Die Sonne stand bereits tief und Su öffnete das Fenster. Die Luft war warm, brachte aber keine Erfrischung. Am Straßenrand parkte ein Sportwagen im Haltverbot. Undeutlich erkannte sie eine Frau auf dem Fahrersitz, die zu ihr nach oben sah. Lisa? Su hob probeweise die Hand zum Gruß, doch die Frau startete den Motor und brauste davon.

Jack hatte geschrieben, sie dürfe hier bleiben. Genau das würde sie tun. Su schaltete die Lampe über dem Schreibtisch ein. Es gab ihr die Gelegenheit Jacks System genauer zu untersuchen. Nicht, dass es einen speziellen Grund gab, das zu tun. Es gab aber auch keinen Grund, es nicht zu tun. Und wenn es für Jack wichtig war, ein solches Verschlüsselungssystem anzuwenden, dann konnte es auch wichtig sein, den Schlüssel zu kennen. Man konnte nie genug Details über andere sammeln. Egal wie banal sie auf den ersten Blick erschienen. Wie zum Beispiel das Verweigern von Socken.

Montag, 06. Mai

In der Küche schepperte Geschirr und gleich darauf hörte Su unterdrücktes Fluchen. Schlagartig war sie wach. Verdammt! Verschlafen. Mit einem Satz sprang sie aus dem Bett und zog sich an. Zur ersten Vorlesung schaffte sie es garantiert nicht mehr pünktlich, wenn sogar ihre Mitbewohner bereits aus ihren Zimmern krochen. Hastig huschte sie ins Bad und versuchte unbemerkt an der Küchentür vorbeizukommen. Fehlversuch.

„Die Polizei war hier.“ Katrin beschmierte eine dicke Scheibe Brot mit reichlich Marmelade. „Sie wollten zu dir.“

„Wann?“

„Samstag. Haben nicht gesagt, worum es geht. Du sollst dich im Präsidium melden, bei einem … Warte.“ Sie stopfte ein Stück Brot in den Mund und leckte die Finger sauber. Dann kramte sie zwischen unzähligen Notizzetteln auf dem Tisch herum. „Bei einem Herrn Neumaier sollst du dich melden, Kriminalhauptkommissar. Rita sagt, die waren letzte Woche schon mal da. Das hat sie voll vergessen, dir auszurichten. Was’n los?“ Ihre Neugier hinderte sie nicht am Essen. Genüsslich schob sie das nächste Stück Brot zwischen die Zähne und wartete auf eine Erklärung.

Su winkte ab. „Keine große Sache.“ Katrin zu belügen war leicht, dabei fühlte sie niemals Reue. „Da war ein Autounfall in der Nähe der Uni, letzte Woche. Ich hatte ihnen meine Adresse gegeben, vermutlich brauchen die noch eine Zeugenaussage.“

„Bei einem Kriminalkommissar?“, nuschelte Katrin schwerverständlich mit vollen Backen.

„Was weiß ich. Das war vielleicht ein Fehler oder sie wollen sich wichtig machen, damit ich auch komme. Vielleicht hat auch der eine Fahrer den anderen hinterher gelyncht? Mach dir mal keine unnötigen Gedanken.“

„Okay.“ Katrin sah nicht aus, als ob sie sich über etwas anderes als ihr Frühstück Gedanken machten wollte. „Auch einen Kaffee?“

„Lass mal, echt nett von dir“, presste Su mit Mühe hervor. Bloß nicht mit diesem Krümelmonster an einem Tisch sitzen, das jetzt die Tasse an den vollen Mund hob. Hinterher schwammen bestimmt Bröckchen darin herum. „Ich muss dringend zur Uni - und wie es aussieht danach zur Polizei.“

*

Misstrauisch beäugte Su die Fassade. Schon von außen betrachtet, war das Polizeipräsidium an der Adickesallee kein Ort zum Wohlfühlen. Es gab nichts, was sie sich vorzuwerfen hatte. Keinen Grund nervös zu sein. Trotzdem hatte sie den Besuch hinausgezögert, statt ihn schnell hinter sich zu bringen. Sie hätte einfach die erste Vorlesung schwänzen können. Kunsthistorische Analyse und Epochenabgrenzung in der Architektur, staubtrocken und ohnehin das allerletzte, womit man einen Montag beginnen wollte. Dazu der böse Blick ihres Professors, als sie mit zwanzigminütiger Verspätung eingetrudelt war. Sie hatte es in Kauf genommen und danach viel Zeit in der Bibliothek verplempert, sich für eine praktische Übung eingetragen und um einen Aushilfsjob beworben, den sie nicht haben wollte. Alles nur, um dieses Gebäude nicht betreten zu müssen. Jetzt stand sie in der Einganghalle. Weitere Minuten verstrichen, bis sie sich endlich an den Empfangsschalter stellte.

„Ja?“

Die Polizistin hinter der Scheibe sah kaum hoch. Was war das denn für eine Begrüßung?

„Guten Tag.“ Su stützte die Ellbogen auf die Ablage „Kommissar Neumaier will mich sehen.“

„Ihr Name?“

„Su.“

„Und wie noch?“

„Sagen Sie ihm, Su ist da. Er weiß, wer ich bin.“

Zweifelnd verzog die Polizistin das Gesicht und wählte eine Nummer. Alexandra Müller, stand auf dem Schild an ihrem Revers. Nichtssagend. Ein Name wie jeder andere. Ich bin Su. Einzigartig und unverwechselbar. Wenn der Kommissar das noch nicht wusste, verstand er nichts von seiner Arbeit.

„Ich soll ausrichten: Su ist da.“ Alexandra Müller behielt sie im Auge. „Sofort? Alles klar. Ja, ich bring sie hoch.“

Eins zu Null.

„Kommen Sie mit.“ Die Polizistin betätigte den Türöffner. An weiterer Kommunikation hatte sie offenbar kein Interesse. Zügig ging sie voran zum Aufzug, geleitete Su in den zweiten Stock und weiter über breite Flure. „Hier ist es.“ Abrupt hielt sie an und klopfte energisch. Drinnen näherten sich Schritte.

„Vielen Dank. Auf Wiedersehen und einen schönen Tag noch, Frau Müller“, säuselte Su betont freundlich.

„Ja.“ Schon halb im Gehen wandte diese sich um. „Ja, das wünsche ich Ihnen auch - Su.“

Zwei zu Null. Su straffte den Nacken. Höflichkeit sticht Ignoranz.

„Frau Dobler?“ Ein großer, leicht übergewichtiger Mann, Ende vierzig, mit vollem Haar und aufmerksamen Augen stand in der Tür und streckte ihr die Hand entgegen.

Gib dem netten Onkel schön die Hand, Susanne. Widerstrebend griff Su zu. Der Kommissar saß im Zweifelsfall am längeren Hebel. Obwohl er schwitzte, war Neumaiers Händedruck fest und trocken. Immerhin.

Er verlor kein Wort über ihre Handschuhe.

„Nehmen Sie bitte Platz, Frau Dobler. Ich freue mich, dass Sie freiwillig zu mir gekommen sind.“

Freiwillig. Mit beiden Händen fasste sie die Stuhlkante. Was sollte das denn heißen? Su schaute sich um. In der Ecke an der Wand standen ein Projektor und ein Flipchart, ausgestattet mit diversen Farbstiften. Zwei Kunstdrucke über einem halbhohen Schrank, darauf eine Kaffeemaschine, neben der ein Ventilator brummte. Trotz des zusätzlich gekippten Fensters war es stickig.

Neumaier setzte sich ihr gegenüber und schlug eine der beiden Akten auf, die vor ihm lagen. „Es gibt noch einige ungeklärte Fragen, die Ihre Beziehung zum Mordopfer Frau …“ Er warf einen raschen Blick auf die untere der beiden Akten.

„Anni“, fuhr Su ihm dazwischen.

„… betreffen. Sie kannten sich schon länger?“

„Fünf Jahre, fünf Monate und sieben Tage, vor ihrem Tod.“

„Wo sind sie einander zum ersten Mal begegnet?“

„Was hat das mit ihrem Tod zu tun?“

„Beantworten Sie bitte einfach meine Frage, Frau Dobler.“

„Nein.“

Kommissar Neumaier trommelte mit seinen dicken Fingern auf der Tischplatte. „Wir klären die Frage nach dem Warum später, Frau Dobler. Ich will es Ihnen nicht unnötig schwer machen. Sie haben sich in einer psychiatrischen Einrichtung kennen gelernt, ist das richtig?“

„Richtig.“

„Weshalb waren Sie dort?“

Sie rutschte an der Stuhllehne tiefer, bis sie den Hinterkopf anlehnen konnte und legte den rechten Fuß auf den linken Oberschenkel. Darauf wollte er also hinaus. Wenn er sich einbildete, sie damit einschüchtern zu können, hatte er sich geschnitten. Geschnitten. Sie biss sich auf die Zunge. Über den Witz hätte Anni garantiert mit ihr gelacht.

„Herbert hat seine Mutter einweisen lassen. Wegen einer Persönlichkeitsstörung.“ Dabei hatte sie doch nur Lisbeth bei sich gehabt, die Anni mit ihrer Grantelei vor der Welt beschützte, wenn alles zu viel für sie wurde.

„Das war nicht meine Frage.“

„Ich sag Ihnen, da waren weit gestörtere Persönlichkeiten unterwegs und die wenigsten davon trugen Patientenkleidung.“ Lisbeth war nie länger als ein paar Stunden am Stück geblieben.

„Wie kam es zu Ihrer Freundschaft mit der alten Dame?“

„Anni war nett. Und clever. Ganz einfach. Sie hat das System durchschaut und den Herbert auch. Der wollte sie los sein. Hat aber nur kurzfristig funktioniert. Denn Anni war weder eine Bedrohung für sich, noch für andere. Drum mussten sie sie immer wieder raus lassen.“ Su sprach schnell und in schnodderigem Tonfall. Mal sehen, wie lange es dauerte, bis dem dicken Bullen die Nerven durchgingen. „Gemeinsam hatten wir ruckzuck den Bogen raus, wie sie die Ärzte und Pfleger austricksen konnte, damit es schneller geht. Ehrlich, sie war völlig harmlos. Und nein, ich hatte und habe deswegen kein schlechtes Gewissen. Alles, was sie wollte, war zu Hause sein und in Ruhe gelassen werden.“

„Wie ging es Ihnen in dieser Zeit?“

„Bestens. Mit Anni ging es mir super.“ Desinteressiert spielte sie mit dem Schnürsenkel ihres Stiefels, den sie ein wenig lockerte, um sich am Knöchel kratzen zu können.

„Sie hatten also gar kein Problem?“

„Wissen Sie doch alles. Sie haben meine Akte. Nein, ich hatte ebenso wenig ein Problem wie Anni. Oder sagen wir so: Ihr einziges Problem war ihr Sohn und mein Problem meine Eltern.“

Kommissar Neumaier antwortete nicht, notierte nur etwas auf einem Blatt. „Sie waren danach noch für einige Zeit unter der Adresse ihrer Eltern gemeldet, richtig?“

„Ja.“

„Haben Sie auch dort gewohnt?“

„Was ist daran wichtig?“

„Bitte, beantworten Sie meine Frage, Frau Dobler.“

„Hören Sie auf mit diesem Frau Dobler Quatsch. Ich kenne meinen Namen und Sie kennen die Antworten auf all die Fragen, die Sie mir stellen. Wozu ist das gut? Beschäftigungstherapie? Haben Sie sonst nichts zu tun? Ich schon, wissen Sie. Also tun Sie mir den Gefallen und kommen Sie endlich zu Potte!“

Kommissar Neumaier schmunzelte. Feuer im Blut, das Mädchen, und eindeutig nicht auf den Kopf gefallen. Von ihrem Äußeren ließ er sich nicht täuschen – und weder von dem einen, noch dem anderen aus der Ruhe bringen.

„Sie wurden mehrere Male in Frankfurt mit einer Gruppe von Wohnsitzlosen in Gewahrsam genommen und ihre Personalien festgestellt.“

Feindselig starrte Su ihn an. Keine Frage, keine Antwort.

Neumaier seufzte. „Ich dachte, Sie haben es eilig?“

„Was wollen Sie denn von mir hören? Dass ich auf der Straße gelebt und mir Freunde ausgesucht habe, die nicht der Norm entsprechen. Vielleicht wollte ich lieber abends durch die Stadt ziehen, als bei Mami auf dem Schoß zu sitzen. Ist das etwa strafbar?“

„Nein, selbstverständlich nicht.“

„Hat man irgendwann Drogen bei mir gefunden? Habe ich irgendwann etwas Illegales getan? Konnte man mich mit einer Straftat in Verbindung bringen?“

„Nein.“

„Also, was genau werfen Sie mir vor? Mit welchem Recht stöbern Sie in meiner Vergangenheit und befragen mich zu meinem Lebenswandel?“ Verteidige dich, Kommissar, verteidige dich! Er sollte die Geduld verlieren. Er, nicht sie. Unauffällig kniff Su sich in die Unterarme. „Ich habe allein geschlafen in der Nacht als Anni starb. Ist das ein Verbrechen? Kann leider keinen Junkie bieten, mit dem ich gevögelt habe und der mir ein Alibi gibt, das Sie dann anzweifeln können.“

„Wir müssen jedem Hinweis nachgehen, egal was wir davon halten. Betrachten Sie meine Fragen als reine Routine. Das ist nichts Persönliches.“ Neumaier wirkte wenig überzeugt von seinen eigenen Worten, als er weiter sprach. „Das Opfer hat am Freitag auf der Bank zweihundert Euro abgehoben, aber in der Wohnung wurde kein Bargeld gefunden.“

„Und daraus schließen Sie messerscharf, dass ich Anni beklaut habe? Gratuliere.“ Su schnaubte verächtlich. „Also erstens hat nicht das Opfer Geld abgehoben, sondern ich. Falls es Ihnen entgangen ist, Anni konnte seit längerem das Haus nicht mehr verlassen. Und zweitens habe ich für sie eingekauft. Für etwa fünfzig Euro, der Rest muss noch da sein. Kassenzettel und Portemonnaie liegen in ihrer Küchenschublade ganz rechts.“

„Die Belege sind da, das Geld aber nicht.“ Bedächtig wiegte Neumaier den Kopf. „Sie sind eine intelligente Frau. Sie wissen, dass wir ihre Finanzen überprüfen können, wenn wir einen Verdacht gegen Sie haben. Und wenn wir da etwas finden, wird es wirklich ungemütlich für Sie.“

„Soll ich jetzt Angst kriegen oder was? Ich wette, Herbert hat Ihnen diesen Scheiß erzählt. Dass ich Anni ausgenutzt habe. Dieses Arschloch. Dieser widerliche Drecksack. Protokollieren Sie das, läuft vielleicht ein Band mit? Ist mir nur recht. Der ganze alte Plunder muss weg, hat er gesagt. Annis Möbel, ihre Erinnerungsstücke, ihr Leben. Für den zählt nur Kohle. Der kann sich nicht vorstellen, dass es jemandem nicht um Geld geht. Und auf die Wohnung ist Herbert schon ewig scharf. Jetzt kann er sie endlich verwerten. Der Makler war schon da.“

„Wollen Sie damit andeuten, er hätte ein Motiv?“

„Nein. Quatsch. Sie wollen mich zu einer Gegenanschuldigung verleiten? Nicht mit mir. Herbert ist ein Scheißkerl, habe ich das schon erwähnt? Aber kein Mörder. Dazu ist der viel zu faul. Der hat auch niemanden beauftragt. Können Sie vergessen. Das erfordert Initiative und Ideen - und kostet Geld. Aber der Kerl ist geizig, langweilig, phlegmatisch, konservativ und konventionell. Der war es nicht.“

Über Neumaiers Gesicht zuckte ein Grinsen. „All diese Attribute treffen auf Sie nicht zu.“

Der sollte sich bloß nicht einbilden über sie lachen zu können. „Glauben Sie ernsthaft, ich habe Anni wegen ein paar lumpiger Euro umgebracht?“

„Nein. Aber was ich glaube, ist zweitrangig. Für mich sind Sie vor allem eine wichtige Zeugin. Sie kannten das Opfer gut, und auch ihre Familienverhältnisse. Was genau wollten Sie an dem Sonntagmorgen bei Frau Seiler?“

„Ihre ’ne frischen Dauerwellen drehen. Mit ihr Fernsehgucken. Nichts Besonderes.“ Su hob die Schultern. „Das sollte in Ihrem supertollen Protokoll auch drinstehen.“

„Leider war ich bei Ihrer ersten Befragung nicht anwesend.“ Neumaier nickte. „Und ich mache mir gerne selbst ein Bild. Bitte entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten. Aus einem gewissen Abstand betrachtet sehen die Dinge manchmal anders aus. Daher gibt es ja möglicherweise etwas, was Sie mir mitteilen wollen.“ Auffordernd lehnte er sich zurück und verschränkte die dicken Finger in seinem Schoß.

„Fragen“, stieß sie hervor. „Ich habe Fragen.“

„Nur zu.“

„Welche Indizien sind schon ausgewertet? Gab es Dinge die nicht in die Wohnung gehören? Wie genau ist Anni gestorben? Haben Sie die Tatwaffe? Gibt es eine heiße Spur?“

Wieder zuckten seine Mundwinkel und Su ballte die Hände zu Fäusten, so fest sie konnte. Wage dich nicht zu lachen!

„Wenn wir eine heiße Spur hätten, säßen wir beide nicht hier. Ich versichere Ihnen, dass wir daran arbeiten, aber Einzelheiten darf ich Ihnen nicht nennen. Zum Abgleich und Ausschluss brauche ich auch Ihre Fingerabdrücke. Ich hoffe, Sie kooperieren, ansonsten müsste ich …“

„Klar. Mache ich.“ Sie zögerte keine Sekunde. „Hat mich sowieso gewundert, dass die nicht sofort genommen wurden. Ich meine, das ist doch naheliegend. Ich habe Anni gefunden und ausgesagt, dass ich oft in der Wohnung war. Meine Fingerabdrücke müssen so ziemlich überall sein. Meine und ihre. Sonst keine. Höchstens noch die von Herbert.“

Neumaier klopfte mit dem Fingernagel gegen seine Zähne und dachte nach.

„Sollten wir es nicht gleich tun?“

Missmutig nickte er. So eine Stümperei. Und dieses sonderbare Mädchen durchblickte das sofort. Nichts war an dem Tag gelaufen, wie es sollte. Kollege Berninger im Urlaub, die Jungs von der Bereitschaft anderweitig im Einsatz und die Mannschaft vor Ort offenbar überfordert. Er machte ihnen keinen Vorwurf. Mord war eine Nummer für sich. Es hätte sein freier Sonntag sein sollen, mit entspanntem Familienausflug. Er hatte sich alle Mühe gegeben und war trotzdem nicht mehr richtig bei der Sache gewesen, nachdem er von dem Mord gehört hatte. Am Ende enttäuschte er alle. Seine Frau schwieg eisig während der gesamten Rückfahrt, die Kinder stritten, der Verkehr staute sich wegen zahlloser Baustellen und er stand kurz vor einem Herzinfarkt. Noch so ein leidiges Thema, an das er lieber nicht denken wollte. Herztabletten schlucken zählte nicht zu seinen Leidenschaften. „Warten Sie einen Augenblick.“

Su richtete sich auf, als er im angrenzenden Büro verschwand. Sollte sie ihm sagen, dass sie selbst Beweise gesammelt hatte? Wahrscheinlich kam es nicht gut an, dass sie in der versiegelten Wohnung gewesen war.

Mit einem elektronischen Messgerät kehrte Neumaier zurück, nahm ihre Hand und rollte jede Fingerkuppe einzeln über den Scanner. Komisch, dass er das machte, als sei sie ein Kleinkind. Auch jetzt verlangte er nicht, dass sie die Handschuhe ablegte.

„Waren da Sachen, die nicht zugeordnet werden konnten?“ Solange er Abdrücke nahm, war er vielleicht unaufmerksam ihren Fragen gegenüber. „Außer den Fingerabdrücken. Haare, Fasern, Gegenstände oder so.“

„Alle Gegenstände wurden vom Sohn identifiziert. Die Tatwaffe wurde nicht gefunden. Wir vermuten aber, dass es ein Aschenbecher war, denn laut seiner Aussage fehlt der. Natürlich haben wir auch …“ Den Ringfinger ihrer linken Hand hochhaltend, drehte er Su den Kopf zu. „Hey, Sie versuchen mich auszutricksen! Sie ausgefuchste, kleine …!“

„Kleine was? Wollten Sie mich gerade beleidigen?“

„Nein. Sicher nicht.“ Er lachte leise auf. Die kleine Ratte hatte es wirklich in sich. Das verdiente seinen Respekt, seine Aufmerksamkeit - und große Vorsicht. Denn da war etwas. Etwas, das sie vor ihm verbarg. „Frau Dobler, gibt es noch etwas, was ich wissen sollte?“ Er drückte ihren kleinen Finger auf das Gerät und beobachtete ihr Gesicht aus den Augenwinkeln. „Egal was es ist. Wir sind hier unter uns. Wenn Sie es wollen, verlässt es nicht diesen Raum.“

Su zögerte. Er hatte gelächelt, als sie sich gegen seine Fragen wehrte. Vielleicht hatte sie seinen Gesichtsausdruck falsch gedeutet und er hatte es freundlich gemeint. Seltsamerweise war ihr der dicke, schwitzende Mann sympathisch. Er roch auch nicht unangenehm.

„Reden Sie mit mir. Ich spüre doch, dass Sie etwas drückt. Darf ich Sie Susanne nennen? Glauben Sie mir, es wird Sie erleichtern.“

Es wird Sie erleichtern, Susanne. Ihre Mutter wünscht es sich sehr. Ich bin gekommen, um mit Ihnen zu beten und Ihnen die Beichte abzunehmen. Quälen Sie sich nicht länger. Nichts ist so schlimm, dass unser lieber Vater es uns nicht vergeben könnte. Aber Sie haben sich versündigt, Susanne. Es liegt nicht in unsrer Hand, über Leben und Tod zu entscheiden. Beichten Sie, dann wird Ihnen vergeben.

Mit schrillem Quietschen ruckte der Stuhl nach hinten, als sie aufsprang. „Es gibt nichts zu beichten, nichts zu vergeben! Keine Sünde, über die Sie zu richten haben. Sie nicht und kein Gott und keine Mutter und kein Vater! Und nein, Sie dürfen mich nicht Susanne nennen. Mein Name ist Su. Einfach Su.“ Sie riss ihre Tasche an sich und stürzte aus dem Zimmer.

*

Den Kopf auf den Knien und mit beiden Armen bedeckt, saß Su auf einer Bank im Grüneburgpark. Sie war vom Präsidium aus direkt hierher gelaufen. Nicht gerannt, dazu hatte ihr die Luft gefehlt. Fast zwanzig Minuten ohne anzuhalten, kopflos, durch die Unterführung, quer über den Campus und am Café vorbei. Dieser scheißblöde Neumaier. Alles hatte er kaputt gemacht mit seinem dummen Gewäsch.

Wenn es nur endlich aufhören würde! Das Hämmern hinter ihrer Stirn und dieser Gedanke, der unaufhörlich kreiste. Dabei hatte sie gehofft zwischen den alten Bäumen zur Ruhe zu kommen, so wie sonst manchmal, wenn sie aus einem der Unigebäude flüchtete. Offene Wiesenflächen und der Blick zum Sendeturm, der den Himmel berührte. Weite, Freiheit. Aber sie steckte fest. Eingesperrt in ihrem eigenen Schädel und aufs Rad geflochten. Sie presste die Hände auf die Augen, doch das Bild stand deutlich vor ihrem Geist. Sie presste die Hände auf die Ohren, doch die Stimme wisperte weiter. Es gibt einen Weg. Du kennst ihn. Du weißt, wie er zu gehen ist. Nur er erleichtert dich wirklich. Dazwischen mischten sich Annis mahnende Worte. Mach das nicht wieder, Kind. Versprich mir das. Es ist zu gefährlich. Irgendwann geht es schief und es gibt kein zurück.

Su machte sich nichts vor. Es war nicht ihr Versprechen an Anni, das sie in diesem Moment davon abhielt, den bekannten Ausweg zu nutzen. Sie war nur zu feige. Und zu blöd einen anderen zu finden. Noch nie hatte sie etwas richtig gemacht in ihrem Leben, war ein dämlicher Egoist, der in Selbstmitleid badete. Schon wieder ein Fehler. Aber heute würde sie nicht daran zerbrechen.

Von irgendwoher hörte sie die Glocken einer Kirche. Viertel vor drei. Das reichte, um rechtzeitig in der nächsten Vorlesung zu sein. Am Abend konnte sie Jack sehen. Ein Lichtblick. Ein Ziel. Ihr Rettungsring.

*

Der Rettungsring war schon zu Hause, als sie endlich bei ihm ankam. Moritz begrüßte sie an der Tür und flitzte nach draußen. Jakob lag lang ausgestreckt auf dem Sofa, eine Zeitung auf dem Bauch, und schlief. Leise setzte Su sich neben ihm auf den Boden und schaute ihn an. Er war völlig entspannt. Seine gleichmäßigen Atemzüge füllten den Raum. Sie legte den Kopf an seine Seite, schloss die Augen; dann zog sie seinen rechten Arm von seinem Bauch, legte ihn auf ihrer Schulter ab und genoss seine Wärme. Jakobs Hand baumelte über ihren Rücken und sie wünschte, der Augenblick könnte für immer andauern. In ihrer Kehle wuchs unaufhaltsam ein Kloß. Es durfte nicht sein, dass sie dem nachgab. Seit Anni nicht mehr lebte, konnte sie ihre Gefühle von Tag zu Tag schlechter im Zaum halten. Wut mischte sich mit Verzweiflung, Freude schlug um in Übermut oder wie jetzt in Melancholie. Von einer Sekunde zur anderen kippte die Stimmung von hoch auf tief und sie konnte dem nichts entgegensetzen oder den freien Fall bremsen. Keine Tränen jetzt. Alles nur keine Tränen. Was sollte Jack denn denken, wenn er aufwachte und sie da hockte und heulte? Sie war das starke, wilde Mädchen, das Abenteuer, die Versuchung, die ihn lockte und der er tapfer widerstand. Und er war für sie, er war …

Sie blinzelte und schniefte leise. Ich muss mich konzentrieren und an etwas anderes denken. Sie versuchte sich an den Inhalt der letzten Vorlesung zu erinnern. Der trockene, leidenschaftslos gesprochene Vortrag des Professors tröpfelte Wort für Wort erneut durch ihr Gehirn. Dabei gab es so viel Leidenschaftliches über Kunst zu sagen. Kein Kunstwerk, kein Künstler, kein Stil konnte jemals ohne Leidenschaft auskommen. Einzig dieser Professor konnte das. Die heftige Trauer, die sie gerade noch im Würgegriff gehalten hatte, verpuffte und machte Platz für ein nicht näher zu definierendes Gefühl von Ärger.

Jakob sollte nicht schlafen. Sie zog die Nase hoch, laut dieses Mal, schob seinen Hemdsärmel nach oben und bedeckte seinen Arm mit kleinen, trockenen Küssen. Keine Reaktion. Su verschärfte die Maßnahmen, zupfte mit den abgenagten Fingerkuppen an den Haaren seines Unterarms. Erst ganz leicht. Dann stärker. Sein Arm zuckte zur Seite, doch sie hielt ihn fest, zupfte weiter. Unruhig wälzte er sich auf die Seite und öffnete endlich die Augen. Sofort schmiegte Su wieder ihr Gesicht an seinen Arm.

„Hallo Schlafmütze“, sagte sie zärtlich.

„Hm, hallo Su“, murmelte er zurück und legte die linke Hand in ihren Nacken, um sie zu kraulen.

„Aufwachen! Du verschläfst sonst deinen Feierabend.“ Sie schüttelte ihn leicht. „Jack. Du hast mir noch gar nichts von Zürich erzählt. Jaaack!“

„Ja doch. Gleich. Nur einen Moment noch.“ Eine kleine Duftwolke aus Schweiß, Rasierwasser und Deodorant verbreitete sich um ihn, als er sich aufrichtete. „Ich hab mich noch nicht mal umgezogen. War ein anstrengendes Wochenende und der Tag heute auch!“ Er rieb sich die Augen, ließ den Kopf kreisen und schüttelte sich.

Su beobachtete seine Bemühungen, reichte ihm die Brille vom Tisch und ein Glas Wasser, um den Vorgang des Erwachens zu beschleunigen. „Versuchen wir es noch mal. Hallo Jack.“

„Hallo Su. Bin wieder voll da und einsatzbereit.“

„Das klingt maßlos übertrieben, aber vielversprechend. Halbe Hirnleistung maximal, du guckst wie ein Maulwurf auf Valium. Was machen wir mit dem angefangenen Abend?“

„Du willst mich provozieren.“ Prüfend schaute Jakob sie an. „Und ich ahne, was du vorhast. Das sehe ich an deiner Nasenspitze.“

„Meine Nase ist nicht spitz.“

„Dann sehe ich es eben an deiner Nasenrundung, ist das besser? Du willst es wieder tun. Du willst es mir zeigen, so wie letztes Mal? Mich demütigen und den alten Mann anschließend auslachen.“

„Ich habe dich nicht ausgelacht. Davon abgesehen stimmt deine Annahme. Mein geliebter alter Mann, zeig mir, ob du heute länger durchhältst.“

„Wie viel Zeit hast du?“

„Die ganze, lange Nacht, Süßer!“

Jakob kreuzte abwehrend die Hände. „Dafür reicht meine Kondition nicht, das kann ich dir jetzt schon sagen.“

„Oh, ich kann sehr überzeugend und motivierend sein.“

„Ich weiß.“

„Bleib sitzen.“ Sie drückte ihn zurück in die Kissen. „Ich hol die Spielsachen und dann tun wir es einfach hier.“

„So ist es brav, die Kleine springt, damit der alte Mann sich nicht zu sehr anstrengen muss, sehe ich das richtig?“

„Der Text mit dem alten Mann war von dir, bitte ich zu beachten. Du weißt doch, dein Wunsch ist mir Befehl. Solange ich dann kriege, was ich von dir will.“

„Mädchen, Mädchen, gut, dass niemand dieses Gespräch mit anhört. Man könnte ja glauben, dass …“

„… dass du ein alter Lustmolch bist und ich ein schlimmes Mädchen. Na und?“

Mittwoch, 08. Mai

Noch vor der Dämmerung stand sie leise auf, um in die Küche zu gehen. Vor allen anderen. Sie wollte niemanden sehen und das Haus verlassen, bevor sie erwachten. Zwischen ungespülten Tellern und Müslischalen mit angetrockneten Resten schmierte sie Brote und kochte eine Thermoskanne voll Tee. Christine war gestern wieder nicht zu ihrer Schicht im Tolstoi erschienen. Su hatte den Laden allein mit Justin geschmissen und zugesagt, gleich zum Frühstück wieder da zu sein, weil sich noch eine weitere Aushilfe krank gemeldet hatte. Das bedeutete, kein Jack am Abend und kein Jack am Morgen. Sie merkte, wie sie mehr und mehr für diese Stunden lebte. Die Tage in Bereiche mit und ohne Jack teilte. Obwohl es falsch war, Anni durch Jack ersetzen zu wollen. Anni wusste alles, Jack nichts. Zwei Welten, unterschiedliche Galaxien. Und irgendwo dazwischen rangierte Erik. Er war Jack ähnlich und doch in vielem ganz anders. Ihn konnte sie nicht so leicht aus der Fassung bringen. Mal sehen, wie weit er wirklich bereit war mitzugehen. Im Stehen trank sie ein Glas Milch. Erik war ein weiteres Spiel. Mehr nicht. Jack dagegen war ihr neues Ventil, ein Fixpunkt. Das ging tiefer. Es konnte über das Spiel hinauswachsen.

Sie wickelte die Brote in Pergamentpapier, packte sie mit dem Tee in ihre Umhängetasche und verließ das Haus um kurz nach fünf. Blacky war bestimmt schon wach.

Die Einsamkeit der frühen Morgenstunden tat ihr gut. Sie nahm die U-Bahn zur Konstablerwache, mitten hinein ins Herz der noch schläfrigen Stadt. Nur langsam kam das Leben in Gang.

Ihr Weg führte ans Mainufer und unter die Flößerbrücke.

„Morgen Blacky.“ Su legte dem alten Mann einen Arm um die Schulter. „Was macht dein Rheuma?“

„Geht so, Mädchen. Geht so. Hab schon bessere Tage gehabt, hab schon schlechtere Tage gehabt.“

Seine große, braune Mischlingshündin kam wedelnd auf sie zu. Su kraulte ihr das verfilzte Fell. „Du brauchst eine Bürste, für sie. Und ein Flohhalsband.“

„Brauch ich auch.“ Er kratzte sich und kicherte. „Hast du was zu Essen?“

„Na klar.“ Sie packte die Brote und eine Dose Hundefutter aus. „Und etwas Warmes zum Trinken hab ich auch.“

„Danke, Mädchen.“ Er hustete scheppernd.

„Du musst zum Arzt, das weißt du.“

„Hab keine Zeit heute. Morgen vielleicht“, sagte er wie jedes Mal und winkte ab.

Eine Nacht in einer städtischen Unterkunft hätte ihm auch gutgetan. Ein Bett und eine Dusche. Zwecklos das vorzuschlagen; er war sicher, dort immer beklaut zu werden. Su öffnete die Dose und stellte sie dem Hund hin. „Bürste und Flohhalsband. Fehlt dir sonst noch was?“

„Nein, Mädchen. Essen ist da, Tee ist da, die Sonne kommt gleich. Hab alles was ich brauche. Kippen bringst du mir ja keine.“ Er hustete wieder, dass man glauben konnte, die Lunge löse sich in großen Fetzen aus seinem Körper.

„Nein, keine Kippen.“

„Ein Gedicht vielleicht?“

„Wonach steht dir der Sinn an diesem schönen Morgen?“

„Etwas fürs Herz. Ein bisschen Liebe, wenn es geht.“

Su lächelte. Blacky war durch und durch berechenbar - ein Romantiker - und seine anspruchslosen Wünsche leicht zu erfüllen. Es störte ihn nicht, das gleiche Gedicht fünfmal hintereinander zu hören. Im Gegenteil.

„Aber heute nur eine Strophe, ja? Die anderen beiden kriegst du beim nächsten Mal.“

Blacky nickte ernsthaft. „Eine Strophe ist gut. Nicht so viel auf einmal, für meinen wirren Kopf.“

Su richtete den Blick kurz hinaus auf den Fluss, dann schaute sie ihm direkt in die Augen. Brechts Erinnerung an die Marie A. mochte er am liebsten. Wegen des Sommerhimmels und des Pflaumenbaums und weil seine Frau Marie geheißen hatte. Zumindest behauptete er das an manchen Tagen. Su gefiel besonders die Stelle mit der Wolke. „Sie war sehr weiß und ungeheuer oben und als ich aufsah, war sie nimmer da.“

„Nimmer da. Nimmer da.“ Die Augen des alten Mannes wurden wässrig und er wischte mit dem Ärmel durch sein Gesicht.

Su küsste seine raue Wange. „Wir sehen uns Morgen. Und Morgen gehst du auch zum Arzt, versprochen?“

„Versprochen“, bekräftigte er. Wie jedes Mal.

*

Der Container stand auf dem Gehweg. Groß und leer. Ein unmissverständliches Zeichen, dass Herbert wirklich keine Zeit verlor. Su saß auf den Stufen vor der Haustür. Morgen würde sich die Mulde füllen und Annis Existenz musste weichen. Einem gemütlichen Nest für einen neuen Mieter.

Moritz ringelte sich auf ihrem Schoß und schnurrte. Sein Kopf lag vertrauensvoll in ihre Hand und er ließ sich die Kehle streicheln. Nur sein Ohr bewegte sich, als neben ihnen eine Fahrradbremse quietschte. Ein Rennrad mit schmalen Reifen, von dem ein haariger Radfahrer abstieg, mit Sonnenbrille, Helm und hautenger Kleidung.

„Hey Su, hallo Moritz.“ Erik setzt die Brille ab und ging vor ihnen in die Hocke. Dabei federte er auf den Zehen. „Ich habe dich heute Morgen gesehen. Am Mainufer.“

„Kann sein.“

„Was machst du dort, so früh am Tag?“

Der Kater dehnte den Rücken und gähnte. Geschmeidig sprang er zu Boden, um seinen Kopf an Erik zu reiben und sich zwischen seinen Beinen hindurchzuschlängeln. Dann ließ er sich wieder bei Su nieder.

„Gegenfrage: Was machst du dort?“

Erik nahm den Helm herunter und wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn. „Ich laufe.“

„Wozu?“

„Für mich.“

„Aus welchem Grund?“

„Weil es Spaß macht.“

„Was daran macht Spaß?“

Erik lachte. „Wenn der Schmerz nachlässt.“

Jetzt wurde es interessant. Sehr interessant. „Erzähl mir mehr.“

„Was willst du wissen?“

„Wie oft läufst du, wie weit, wie lange, was ist das für ein Schmerz und wann kommt er? Was machst du dann?“

Bedächtig wiegte er den Kopf hin und her. „Das sind eine Menge Fragen. Ich werde sie dir alle beantworten. Aber wenn du nichts dagegen hast, würde ich gern zuerst duschen.“ Er hob die Achseln und zog die Nase kraus. „Ich stinke, wie ein nasser Puma.“

Su packte ihn am T-Shirt, beugte sich vor und roch an seinem Hals. „Bist du sicher, dass das Puma ist?“ Sie schnüffelte auf der anderen Seite. „Nicht Iltis oder Waschbär?“

„Du spinnst!“ Er drückte ihr die flache Hand auf die Stirn und schob sie ein Stück weg. „Halt mir mal die Tür auf, bitte.“ Er schulterte das Fahrrad und sie folgte ihm nach oben. Moritz trollte sich.

„Hast du am Samstag meine Nachricht noch gehört?“

„Ja. Danke, das ging wirklich schnell.“ Zum Glück fragte er nicht nach, weshalb sie nicht rangegangen war.

„Kannst du etwas damit anfangen?“

„Noch nicht. Aber das kommt noch, da bin ich sicher.“

Erik war eher skeptisch, doch er behielt seine Meinung vorsorglich für sich. Das Rad parkte er im Flur der Wohnung und hängte den Helm an den Lenker. Dann streifte er die Schuhe von den Füßen.

„Dauert nicht lange“, nuschelte er, während er das Shirt über den Kopf zerrte und im Bad verschwand. Die alten Wasserrohre gurgelten, als die ersten Liter Wasser hindurchströmten. Bis die Temperatur stimmte, dauerte üblicherweise einige Minuten.

„Machst du das oft?“

Beim Klang ihrer Stimme zuckte Erik zusammen. Verdammt. Damit hätte er eigentlich rechnen müssen. Su konnte ein Zimmer sehr leise betreten. Und ihr Schamgefühl folgte anderen Regeln als üblich. „Was meinst du?“

„Hierher kommen zum Duschen. Hast du keine Dusche zu Hause?“

„Was machst du dauernd hier, hast du kein zu Hause?“ Verborgen hinter dem Vorhang fühlte er sich mutig. Er schäumte sich ein und hoffte, dass sie ihm dieses bisschen Privatsphäre zugestand.

„Ich habe zuerst gefragt.“

„Na und? Du beantwortest meine Fragen fast immer mit einer Gegenfrage. Wieso darf ich das nicht?“

„Weil ich das nicht will.“

„Und was du willst, muss ich machen?“

„Ja, weil es sonst nicht funktioniert.“

„Was?“

„Na mit uns.“

Die Seife brannte in seinen Augen. „Ist mir neu das es etwas mit uns gibt, was funktionieren müsste.“

„Wir haben eine Vereinbarung, das hast du doch wohl nicht vergessen?“ In Sus Stimme schwang eine Mischung aus Empörung und Entsetzen.

„Nein, habe ich nicht.“ Der Duschvorhang näherte sich und er verpasste ihm eine Ladung Wasser, damit er sich nicht um seine Beine wickelte. Psycho. Mit vertauschten Rollen. Der Mann unter der Dusche und die Frau davor. „Du hast nicht zufällig ein Messer bei dir?“

Su legte beide Hände an den Vorhang und drückte die Nase dagegen. „Grüße von Hitchcock“, wisperte sie heiser. Erkennen konnte sie nichts, doch ihre Bewegungen zeichneten sich auf der anderen Seite für Erik deutlich sichtbar ab. „Hast du Angst vor mir?“

„Sollte ich?“

„Nicht, wenn du schön brav bist.“

Er drehte das Wasser ab und sofort tauchte neben dem Vorhang ein Badetuch auf. Nur das Tuch. Erstaunlich. Erik schlang es um die Hüften ohne sich abzutrocknen und stieg aus der Dusche.

Su hatte sich bis zur Tür zurückgezogen. „Kein Messer - ganz umsonst gefürchtet.“

„Kannst du mich mal für einen Moment alleine lassen?“

„Kann ich.“ Sie rührte sich nicht vom Fleck und betrachtete ihn interessiert. Die langen Haare hingen über seine Schultern. Wasser floss in Rinnsalen über seine Brust. „Soll ich?“

„Ja, sollst du.“

„Okay.“ Sofort drehte sie sich um und verschwand.

Unmöglich! Erik rieb den angelaufenen Spiegel trocken und griff zum Fön. Unmöglich aber faszinierend. Er musste zugeben, dass ihn schon lange kein Mensch mehr so neugierig gemacht hatte wie Su. Es konnte kompliziert werden. Aber das war der Reiz. Er hatte sich auf das Spiel eingelassen, ohne zu wissen, was auf ihn zukam. Nur eins war klar: Worte waren sowohl ihr Spielzeug, als auch ihre Waffe. Wenn er weiter mitspielen wollte, musste er genau auf seine Wortwahl achten. Präzision war gefordert, Wahrheit und Vorsicht. Immer. Er zweifelte, dass sie Fehler verzieh. Es konnte jederzeit vorbei sein. Ungewohnt und prickelnd. Er wollte nicht, dass es schnell vorbei war.

Su erwartete ihn in der Sofaecke, durch die Kopfhörer abgeschirmt von der Welt. Erik zog den einen Hörer ein Stück von ihrem Ohr und lauschte. Die Haare nur nachlässig zum Zopf zusammengefasst, noch ein wenig feucht, Wasserflecken auf der Wäsche. Er hatte sich beeilt.

Jakobs Deo kribbelte in Sus Nase. Seltsam und irgendwie falsch es an einem anderen Körper zu riechen.

„Klingt ganz gut.“

„Du kennst das nicht?“

„Nein. Klassische Musik ist nicht so meins. Da bin ich Banause, durch und durch“, gab Erik unumwunden zu und zeigte die Zähne, in gespielter Verlegenheit.

„Das ist die Moldau. Erst plätschert sie nur, dann wird sie wild und reißt dich mit, bis du mit dem Ertrinken kämpfst und am Ende erschöpft das Ufer erreichst. Grins nicht so doof. Das ist kein Scherz!“ Sie verpasste ihm einen ungnädigen Schlag und hielt ihm den Kopfhörer hin. „Du musst die Augen schließen und dich voll darauf einlassen.“

„Ein andermal.“ Musik hören konnte er jederzeit. Im Augenblick galt sein Interesse ihr und den Fragen, die sie nicht beantworten wollte. „Wohnst du eigentlich hier in der Nähe?“ Er setzte sich auf den kleinen Tisch vor dem Sofa.

„Wieso?“

„Ich habe mich gefragt, wo du hergekommen bist, heute Morgen.“

„Hast du eine Antwort gefunden?“

„Nein. Deshalb frage ich dich ja: Wo bist du hergekommen und wo wohnst du?“

„Oh, ich verstehe! Wie konnte ich das vergessen: Du glaubst, was du siehst. Logisch. Su am Morgen am Mainufer heißt, sie lebt auf der Straße. Wenn sie nicht in fremden Betten, bei irgendwelchen Kerlen übernachtet. Leuchtet ein. Wenn du mich vor der Kirche getroffen hättest, glaubtest du dann, ich wäre eine Nonne?“

Erik sah sie verdutzt an, dann lachte er. Die Runde ging eindeutig an Su. „Erwischt. Gebe mich geschlagen. Es ist nicht immer, wie es aussieht. Lektion verstanden. Wie steht es mit einer Antwort?“

„Ich wohne in einem Haus und ich kam aus einem Haus.“

„Danke, keine weiteren Fragen, Euer Ehren.“ Es juckte ihn, aber er bohrte nicht nach. Sie würde ohnehin keine weiteren Antworten geben.

Su kletterte halb über die Sofalehne, um die Musik abzuschalten, blieb oben sitzen und schaute auf ihn herunter. Der Platz gefiel ihr. „Wolltest du nach dem Duschen nicht meine Fragen beantworten?“

„Klar, das war ja abgesprochen. Wo soll ich anfangen?“

Su zwang sich, nicht gleich mit dem wichtigsten Punkt herauszuplatzen. „Wie oft läufst du?“

„Etwa zwei bis drei, gelegentlich auch viermal die Woche, das hängt davon ab, wann der nächste Lauf ist und ob ich zusätzlich noch Rad fahre. In den letzten Wochen vor einem großen Lauf, muss ich mein Training umstellen.“

„Was heißt großer Lauf?“

„Ein einfacher Stadtlauf geht über eine Distanz zwischen 5 und 20 Kilometern. Der größte, den ich bisher mitgemacht habe ist der Frankfurt Marathon, na ja, wie der Name schon sagt, komplette zweiundvierzig Kilometer.“

„42,195 Kilometer.“

„Richtig. Ab und zu gebe ich mir eine ganz besondere Nummer und mache einen Triathlon mit, also Schwimmen, Radfahren und Laufen hintereinander. Dafür muss ich natürlich noch zusätzliche Trainingseinheiten einlegen, wie gerade zurzeit. Das Ziel ist, alles aus mir herauszuholen was geht. Meine Grenze finden.“

„Du willst also jedes Mal die Grenze überschreiten.“

„Nein. Überschreiten ist nicht gut. Ich versuche sie zu verschieben. Die Leistungsgrenze hängt von vielen Faktoren ab. Sie ist bei jedem Start anders. Manchmal hast du deine Grenze schon erreicht, wenn du einfach nur ankommst, ohne eine besonders gute Zeit oder eine bessere Platzierung als im letzten Jahr. Aber du hast es durchgezogen, bis zum Schluss und das macht dich glücklich und zufrieden.“

„Verstehe ich nicht.“

„Musst du auch nicht. Das ist meine Einschätzung und meine Motivation. Ich laufe für mich. Punkt. Das war’s. Für niemanden sonst. Manchmal gegen die Uhr, um meine Zeit zu knacken, manchmal gegen den Muskelschmerz, um ihn zu überwinden. Ja, auch mal gegen einen Typen, der am Start neben mir steht und mich irgendwie herausfordert, um zu sehen, ob ich ihn packe. Vielleicht ist es verrückt, aber ich habe hinterher noch nie Frust gehabt, weil es nicht so gelaufen ist, wie ich wollte. Es fühlt sich gut an für mich. Immer.“

„Aber du hast vorhin von Schmerz gesprochen. Es macht Spaß, wenn der Schmerz nachlässt.“

„Stimmt, das habe ich gesagt.“

„Aber nicht gemeint?“

Sage nie etwas zu ihr, was du so nicht meinst.

„Doch, aber eher scherzhaft. Es macht Spaß jeden Muskel bei der Arbeit zu spüren. Kontraktion und Entspannung. Ein ganz ursprünglicher Beweis, dass man lebendig ist.“

Su schluckte eine giftige Bemerkung runter.

„Irgendwann kippt das Gefühl und ist nicht mehr angenehm; Übersäuerung tut verdammt weh. Sogar wenn du alles richtig machst im Training oder Wettkampf, kann es sein, dass du hinterher Schmerzen hast. Muskelkrämpfe. Du bist total ausgepowert, das Atmen tut weh, jeder Schritt wird zur Qual, aber dein Körper beschenkt dich gleichzeitig mit Glückshormonen. Zum Start gibt’s Adrenalin satt und im Ziel Endorphine pur. Das ist der Spaß am Schmerz.“

„Du bist echt nicht ganz dicht.“

„Kann schon sein.“

Seine Augen lächelten immer noch. Es fiel ihr schwer seine gute Laune zu ertragen. Seine Gelassenheit.

„Und wie testest du deine Grenzen?“

Das war’s. Die eine Frage zu viel. Su stand auf. „Ich muss los.“

„Nein. Musst du nicht. Du willst nur nicht antworten.“ Erik saß immer noch auf dem Tisch. Seine Stimme blieb ruhig, doch sein Blick heftete sich fest auf ihr Gesicht. „Du weichst mir aus, Su. Warum? Bisher hast du nie zuerst weggesehen, heute siehst du mich gar nicht erst richtig an. Was ist los?“

Dieses Arschloch. Finger in die Wunde und dann drehen, das hatte er drauf. Wenn der sich einbildete, die gleiche Nummer abziehen zu müssen wie Neumaier, dann war es das. Sie rutschte von der Sofalehne.

„Habe ich einen Stempel auf der Stirn, auf dem steht, muss dringend meine Seele erleichtern? Bin ich dir Rechenschaft schuldig? Habe ich irgendetwas Derartiges verpasst?“ Sie schüttelte seine Hand ab, die er leicht auf ihren Arm legte. „Finger weg!“

„Friss mich nicht. Wir haben eine Vereinbarung.“

„Daran musst du mich nicht erinnern!“

Der sollte es nicht wagen, sie für blöd zu halten. Sie drängte sich an ihm vorbei, hätte am liebsten seinem Rennrad stellvertretend einen Tritt verpasst.

Erik ließ nicht locker. „Neues entdecken, Lernfähigkeit testen, Wahrheiten finden. Hast du geglaubt, das geht, ohne etwas von dir preiszugeben?“

Auf dem Flur zerrte sie die Tasche über die Schulter und verhakte sich an der Garderobe. Der Stoff knirschte.

„Su. Warte.“

Sie drehte sich nicht um.

„Geh nicht meinetwegen. Du wolltest zu Jack, nicht zu mir.“ Er schwieg einen Augenblick. Gib unser Spiel nicht auf, Su. „Bleib, und ich bin still, wenn du willst.“

Seine Hand streifte den Riemen der Tasche langsam wieder von ihrer Schulter. Er schob sich an ihr vorbei, stupste sie an. Gegen den Arm, das Schlüsselbein. „Su?“

Scheißkerl. Wieso war der immer noch nett? Ihr Zeigefinger mit dem abgekauten Nagel näherte sich ihm und Erik legte seine Fingerkuppe an ihre.

„Bin ich E.T. oder was?“ Sie hatte kein zu Hause, mit dem sie telefonieren wollte. Doch sie wich seiner Berührung nicht aus.

„E.T. eher nicht, aber ein bisschen außerirdisch bist du schon.“

„Möglich.“ Su grinste. „Kennst du den Film Alien?“

Sie schwiegen.

Kein Gespräch, keine Musik. Nur die gleichförmigen Geräusche der Straße füllten das Zimmer, gelegentlich durchbrochen von einer Hupe. Su lag auf dem Sofa und starrte zur Decke. Ihre Beine baumelten über der Armlehne. Bei jedem Auf und Ab knarrte das Polster. Leise aber nervig. Sie erhöhte die Frequenz.

Selbst ihr Schweigen geriet zu einem Kräftemessen und sie genoss das Gefühl mit jeder Minute Boden gut zu machen. Eriks Ruhe, die sie vorhin so wütend gemacht hatte, schwand allmählich.

„Scheint, als wird es bei Jakob wieder spät im Labor.“

„Ich dachte schon, du wartest darauf, dass ich zuerst etwas sage.“ Denn Wettkampf hätte er verloren. Lieber wäre sie stumm verrottet als klein beizugeben. Sie stand auf und trat ans Fenster.

„Willst du jetzt was sagen?“

„Ja, dass ich wirklich gehe, runter zu Anni.“

„Was hast du vor?“

„Vor dem Haus steht ein Container. Herbert lässt Annis Sachen wegschmeißen. Ihr ganzes Leben landet auf dem Müll. Das ist Scheiße. Es darf nicht alles vergessen werden, ich will etwas davon bewahren.“

„Und was?“

„Sag ich dir, sobald ich es gefunden habe.“

Im Gegenlicht sah Erik nur ihre Umrisse. Der Gedanke gefiel ihm. Wobei ihn diese Art von Sentimentalität an Su überraschte.

„Ich komme mit. Einer sollte Schmiere stehen, oder? Dann behaupte ich, dass wir verdächtige Geräusche gehört haben, wenn jemand fragt.“

Wollte sie das? Wieder kaute sie an den nicht vorhandenen Fingernägeln. Erik in Annis Wohnung. Es erschien ihr wie ein Tabubruch in mitzunehmen, ein Eindringen in Annis Intimsphäre, und in ihre eigene. Andererseits konnte er tatsächlich hilfreich sein, wenn sie eine Ausrede brauchte. Ein kaum merkliches Nicken, dann löste sie sich vom Fenster.

„Na gut. Komm mit.“

Eine Etage tiefer hing noch ein letzter Rest des polizeilichen Siegels am Rahmen. Annis Tubenkleber sei Dank. Mit dem Daumen rieb Su darüber, bis sich der Papierfetzen in kleinen Röllchen ablöste. Lautlos knackte sie das Schloss.

„Ich dachte, du hast einen Schlüssel.“

„Brauche ich nicht.“

Erstaunlich, dass Erik den kleinen Einbruch einfach so akzeptierte. Er blieb erst hinter ihr zurück, als sie zielsicher das Schlafzimmer ansteuerte.

Es war ungewohnt, den Raum alleine zu betreten. Ihre Finger strichen über die Möbel - Annis Schrank, die Kommode, ihr Bett -, zogen die Nachttischschublade auf. Ein paar Taschentücher lagen darin, ein Buch, die Lesebrille und einige Bonbons. Im Unterschrank frische Wäsche. Nichts, was als Erinnerungsstück bestehen konnte. Ganz hinten in der Kommode entdeckte sie eine abgegriffene Pappschachtel, aber hier war es zu dunkel, um den Inhalt genauer zu betrachten. Su wollte keine Lampe einschalten und trug die Schachtel zum Wohnzimmerfenster, durch das noch ausreichend Licht hereinfiel.

Sie hörte, wie Erik die Luft anhielt. Herbert hatte es nicht für nötig gehalten die Spuren vollständig zu beseitigen. Warum auch? Hätte er sich etwa selbst dazu herablassen sollen, den Boden zu schrubben - nur, um den Entrümplern den Anblick zu ersparen?

„Einfach nicht runter schauen“, sagte sie leise. „Es tut weh, wenn man sie kannte und ansonsten ist es eklig.“

„Was hast du da?“

Sie hob den Deckel. „Briefe und alte Fotos.“

Darunter lagen in Seidenpapier eingeschlagen zwei Haarbänder und eine kindliche Zeichnung. Zwei Mädchen mit genau diesen Bändern im Haar.

„Meinst du, sie hat das selbst gemalt?“ Erik nahm ihr behutsam das Blatt aus der Hand. „Auf jeden Fall muss ihr das viel bedeutet haben.“

Sorgsam legte Su beides zurück und presste die Schachtel gegen die Brust. „Das ist das Richtige.“

„Sonst noch etwas, was du mitnehmen willst?“

„Nein. Das ist alles.“

Im Treppenhaus atmete sie langsam ein und wieder aus. Sachte zog Erik die Tür ins Schloss. Ein unauffälliges Klacken, kurz und ohne Nachhall, besiegelte das Ende. Vorbei. Sie würde diese Räume nie mehr betreten.

„Kommst du wieder mit rauf?“

„Nein.“ Die Schachtel, die die Essenz eines ganzen Lebens in sich trug, wog zu schwer. „Ich muss jetzt allein sein. Grüße Jack, wenn er kommt.“ Nach den ersten fünf Stufen blieb sie stehen und drehte sich um. „Erik?“ Er hatte sich noch nicht bewegt und sie spürte einen Kloß im Hals. „Danke.“

Erik blieb auf dem Treppenabsatz stehen, bis ihre Schritte mit den Geräuschen der Straße verschmolzen. Erst dann ging er hinauf in Jakobs Wohnung. Wieder hatte er eine neue Seite an Su entdeckt, nachdem sie vorher den vollen Kampfmodus gezeigt hatte. Schade, dass sie nicht geblieben war, aber vermutlich auch besser. Es hielt die Spannung aufrecht.

Im Bad räumte er die Wäsche auf, die er nachlässig hatte herumliegen lassen, nur um möglichst schnell wieder bei Su zu sein. Schon verrückt, wie er sich aufführte.

Er ließ sich im Wohnzimmer nieder und startete ihre Musik. Friedrich Smetana. Die Moldau. Warum nicht? Das Wasser säuselte, plätscherte, trug ihn davon.

Als er die Augen wieder aufschlug, war es stockfinster und zwecklos noch länger auf Jakob zu warten.

Donnerstag, 09. Mai

Es roch nach Kaffee, angebrannten Spiegeleiern und Rasierwasser. Demnach hatte Rüdiger heute frei. Das bedeutete ein Waschbecken voller Bartstoppeln, Zahnpastareste am Spiegel und widerwärtig gute Laune. Su murmelte im Vorbeihuschen einen raschen Gruß in die Küche und verzog sich in ihr Zimmer. Die Dielenbretter knarrten. Na toll. Leise zählte sie von zehn rückwärts. „Drei, zwei, eins.“ Es klopfte.

„Bonjour Madam, schön, dass du uns die Ehre deiner Anwesenheit gibst.“ Erwartungsgemäß stand Rüdiger vor ihr. Auf ein Herein hatte er nicht gewartet.

„Was willst du?“

„Du bist dran mit Einkaufen. Putzmittel, Klopapier und so. Basics. Die Liste hängt seit Samstag an der Pinnwand.“

„Ich kümmere mich darum.“ Hinter dem Rücken ballte Su die Hände zu Fäusten, doch sie lächelte. „Sofort nach dem Duschen. Allerdings hab ich es ein bisschen eilig, muss gleich noch an die Uni.“ Ihre Lieblingsausrede, die manchmal sogar stimmte.

Er blieb stehen, einen Fuß im Türspalt. „Hör mal, wir haben gestern Abend lange geredet. Wir sind alle der Meinung, dass du dich ein bisschen mehr in die Gruppe einbringen müsstest.“

„Tut mir echt leid, aber ich habe soviel zu tun. Das Studium, der Job und …“ Die beiden alten Damen, um die ich mich kümmere, hatte sie sagen wollen. Der Satz hallte ungesagt in ihrem Innern wider. Vorbei. Alles vorbei. Ihr Schmerz entlud sich in einem aufrichtigen Seufzen. „Echt Rüdiger, ich find das voll in Ordnung, dass ihr das kritisiert.“ Ohne Zögern log sie ihm ins Gesicht. Die Wahrheit ging andere einen Dreck an. „Sobald ich wieder ein bisschen Luft habe, könnt ihr mit mir rechnen. Versprochen.“

„Wenn du jemanden zum Reden brauchst: Wir sind da.“

Wie es sie ankotzte, dieses ewige Verständnis. Dieses geheuchelte Interesse. „Super. Total lieb von euch.“

Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und war endlich allein. Keine zwei Minuten später klopfte es wieder.

„Namaste, Su.“ Ritas mitleidige Miene machte jeden Zweifel überflüssig. Rüdiger hatte sofort getratscht. „Dir geht es nicht gut, gell? Magst du auf einen Sprung zu mir rüber kommen? Ich hab einen superguten neuen Vanilletee.“

Eine Tasse Tee in der räucherstäbchengeschwängerten Luft der ewig halbdunklen Aromahöhle in der Rita hauste. Das war reine Folter für ihre Atemwege. Und wofür diese Strafe? Weil sie immer häufiger ihre Deckung vernachlässigte. Weil sie inkonsequent war. Feige und schwach. Lange konnte sie hier nicht mehr bleiben. Ohne Anni wurde es ständig härter, die Rolle durchzuhalten. Ihre Fassade bröckelte. Das Schicksal hatte Rita als verdiente Prüfung geschickt. Widerstandslos folgte sie.

Unter ihrem Kopfkissen blieben unangetastet Annis Briefe zurück.

*

Gleichzeitig mit dem Klingeln, drehte Erik den Schlüssel und stürzte in die Wohnung. Keine Zeit für Rücksichtnahme.

„Jakob? Tschuldige, wenn ich störe! Bin gleich wieder weg, wenn es so ist.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand er auf der Toilette und verschaffte sich Erleichterung. Das war verdammt knapp gewesen – und verdammt peinlich.

Als er zwei Minuten später wieder herauskam, stand Jakob feixend auf dem Flur.

„Na, das war ja eine eilige Angelegenheit Und ich dachte schon, du kannst es nicht erwarten, deinen alten Vater zu besuchen.“

Erik deutete eine Verbeugung an. „Bitte um Vergebung meiner Unhöflichkeit. Meine Laufstrecke war im Verhältnis zur Flüssigkeitsaufnahme ein bisschen zu lang und ich wollte nicht am Mainufer an einen Baum pinkeln.“ Das wäre noch peinlicher gewesen, als der hektische Überfall, den er gerade abgeliefert hatte.

„Vergebung gewährt. Was führt dich zu mir, außer deinem dringenden Bedürfnis?“

„Wie kommst du darauf, dass noch mehr dahinter steckt?“

„Du wählst deine Laufstrecke nicht zufällig, bei mir vorbei. Entweder streikt deine Dusche oder dein Computer, dein Kühlschrank ist leer oder du hast ein Problem zu besprechen.“

„Wow. Das hört sich berechnend an. Soll ich lieber wieder gehen?“

Jakob legte den Arm um seine Schulter. „Schon in Ordnung. Ich freue mich, dass du da bist.“

„Bist du allein?“

„Ja, wieso?“

„Davon kann man bei dir in letzter Zeit nicht unbedingt ausgehen. Bei deinen zahllosen Frauengeschichten.“ Schnell zog Erik das Genick ein, konnte dem Klaps auf den Hinterkopf aber nicht mehr ausweichen. Grinsend lümmelte er sich auf das Sofa.

Genau in Sus Ecke. Jakob konnte den Impuls gerade noch unterdrücken, es auszusprechen. „Dich plagen also nur Bosheit und deine ungesunde Phantasie“, sagte er stattdessen.

„Du hast ja echt eine hohe Meinung von mir. Und Recht hast du auch. Schieß los, Jakob. Was gibt es Neues, seit letzter Woche?“

„Am Wochenende war ich in Zürich“, begann Jakob zögerlich.

„Weiß ich, hat Su erzählt. War Lisa dabei?“

„Hat Su dir das nicht auch verraten?“

„Nein. War nicht unser Thema.“

„Soll ich besser dich fragen, was los war?“

Erik biss sich auf die Zunge. Den Ausflug in Annis Wohnung wollte er lieber für sich behalten. „Sollst du nicht. Komm schon, raus mit der Sprache. Wieso war Su hier, als du in Zürich warst und warum warst du dort ohne deine Traumfrau?“

„Das dauert länger.“

„Hatten wir das nicht vor kurzem schon mal?“ Erik sprang auf und griff nach Jakobs Telefon. Ausnahmsweise sparte er sich den Hinweis auf die sinnlosen Kosten für den zusätzlichen Festnetzanschluss. Der Anrufbeantworter war für die Kommunikation mit Su hilfreich gewesen. Sein Finger glitt über die Liste der eingespeicherten Nummern. „Ich bestelle uns eine Pizza, bevor die Märchenstunde für heute beginnt.“

„Sehr witzig.“

„Was ist witzig an einer Pizza?“

„Vorsicht, Junior, treib es nicht zu weit!“

„Das ist nur der Einfluss deiner wilden Freundin. Das färbt allmählich ab.“

„Su ist nicht meine Freundin. Aber, wozu sag ich das? Du glaubst ja sowieso, was du willst.“ Jakob warf in gespielter Verzweiflung die Arme in die Luft. „Die Pizza zahlst du.“

Erik gab die Bestellung durch und ließ sich wieder auf dem Sofa nieder. Das neue Leben seines Vaters als Casanova amüsierte ihn mindestens so sehr, wie es diesen offensichtlich überforderte. Ihn damit aufzuziehen machte einen Heidenspaß. Außerdem wollte er unbedingt dahinter kommen, wie er sich das Verhältnis zwischen Jakob und Su tatsächlich vorzustellen hatte. Zueinander oder miteinander? Wobei er auf Einzelheiten gern verzichtete. Die Neugier brannte in der Kehle wie billiger Kartoffelschnaps. „Verstehe ich das richtig: Lisa hat dir ein eindeutiges Angebot gemacht und du hast sie abblitzen lassen?“, fasste er schließlich zusammen.

Bei dem Wort Abblitzen verzog Jakob gequält das Gesicht. „Ich hatte keine Wahl. Das Seminar war gebucht.“

„Als ob es um das Seminar ging. Lisa hat von dir verlangt, dass du dich von Su fernhältst, das war der Punkt. Du hättest nur ja sagen müssen und sie wäre über Nacht geblieben.“

„Vielleicht.“

„Aber du wolltest ihrer Bedingung nicht nachgeben.“

Jakob gab auf und nickte.

„Dir war klar, dass die Frau, die du seit Wochen umwirbst, komplett aus deinem Leben hätte verschwinden können?“

„Ist sie aber nicht.“

„Schwein gehabt. Wieso bist du das Risiko eingegangen?“

Das Klingeln des Pizzaboten verschaffte Jakob ein wenig Bedenkzeit, während Erik das Essen in Empfang nahm und bezahlte. Warum? Die Frage war vollkommen berechtigt. Und doch hatte er sie sich nicht gestellt. Erik reichte ihm einen Pizzakarton und faltete sich wieder in Sus Sofaecke zusammen. Machte der Junge das absichtlich, um ihn zu einer dämlichen Reaktion zu verleiten? Ihre Ecke. Weitere Minuten verstrichen, in denen sie schweigend aßen. Doch Eriks Blick ließ keinen Zweifel zu: Jakob würde antworten müssen. Nach dem zweiten Stück Pizza gab er sich einen Ruck.

„Lisa spricht von Su, als wäre sie gefährlich, eine potentielle Bedrohung. Ich sehe sie ganz anders. Außerdem hat sie nichts mit Lisa und mir zu tun. Su ist meine Sache.“

„Deine Sache? Lass das besser keine der beiden hören.“ Die Peperoni biss auf Eriks Zunge. Er hatte seine Pizza extra scharf bestellt. „Du schläfst also doch mit Su.“

„Erik!“

„Was denn? Nenne mir einen anderen Grund, weshalb du sie verteidigst und gegenüber Lisa vorziehst. Sei ehrlich, in gewisser Weise ist Su skrupellos.“

„Lisa hat sie des Mordes verdächtigt!“

„Mord?“ Erik verschluckte sich und hustete mühsam seine Atemwege frei. „Su schert sich einen Dreck um Konventionen und macht mit anderen Menschen, was sie will. Aber Mord ist absoluter Quatsch.“ Ihre zaghaften Bewegungen beim Betreten von Annis Schlafzimmer und die Veränderung ihrer Stimme, hatte er sich weder eingebildet, noch waren sie Anzeichen für Reue oder vorgegaukelt um ihn zu blenden. Im Gegenteil. Bei diesem kurzen Ausflug war Sus sorgfältige Deckung brüchig geworden. Ganz sicher.

„Du meinst, in dem Sinne skrupellos, dass sie sagt, was sie denkt und dabei keine Rücksicht nimmt?“

„Sie sagt, was sie denkt. Aber nicht unbedacht und schon gar nicht ohne Grund. Es muss gedeutet werden, hat oft mehr als eine Dimension. Was ihre Handlungen betrifft, bin ich mir uneinig, ob sie tut, was sie will oder was ihr Gegenüber erwartet.“ Erst als er es aussprach, wurde Erik klar, dass er damit seine vorhergehende Überlegung über den Haufen warf. Von wegen sicher. „Sie liebt die Provokation.“ Zumindest das stand fest. Su lebte die Provokation.

„Du meinst, nichts ist echt?“

Der Pappkarton auf seinen Knien weichte langsam durch. Erik pulte eine Olive aus dem Teig und nagte den Kern ab. „Nicht nichts. Ich weiß nur nicht, was echt ist an ihr. Manchmal habe ich schon das Gefühl, sie ist eins zu eins authentisch. Was du siehst, das kriegst du auch. Aber beim nächsten Mal, ist alles anders.“ Er hob die Schultern.

Jakob überlegte. „Du kriegst, was du siehst? Dann ist es eine Wahrnehmungsfrage. Da jeder etwas anderes in ihr sieht, kriegt jeder etwas anderes.“

„Nichts ist so, wie es scheint, aber manchmal vielleicht doch. Ja, großartig.“ Erik nickte. „Was das Bedrohliche an ihr betrifft – na ja -, bedrohlich klingt für mich etwas übertrieben. Aber Su bringt meine Vorstellungen von der Welt durcheinander. Sie ist deine Freundin, schon das allein ist ein Knaller. Nichts bleibt einfach. Denn sie stellt alles in Frage, auf den Kopf. Und umgekehrt. Manche Dinge sind plötzlich ganz klar. Su bringt sie auf den Punkt. Auch wenn wir unterschiedlicher Meinung sind, ist doch Logik drin. Das bedroht mein funktionierendes System. Dabei schafft sie es, dass ich den Eindruck bekomme, ihr funktionierendes Chaos hätte viel mehr System, als meine Ordnung. Merkst du was? Ich verliere vollkommen den Faden, wenn ich nur darüber nachdenke.“

„Du scheinst viel Zeit mit ihr zu verbringen.“

„Nein, eigentlich nicht. Wir haben uns nur ein paar Mal getroffen. Zufällig. Hier in deiner Wohnung. Gespräche mit Su sind eben sehr intensiv.“ Ganz anders, als mit anderen Menschen.

„Gespräche.“ Jakob schmunzelte, beugte sich im Sessel weit nach vorn und betrachtete seinen Sohn aufmerksam. „Weitere intensive Erfahrungen mit Su hast du keine gemacht?“

„Du versuchst den Spieß umzudrehen, weil du dich um eine Antwort auf meine Frage drücken willst.“ Erik kratzte den letzten angeklebten Käserest von der Pappe und warf den Pizzakarton auf den Fußboden. „Ich habe nur mit Su gesprochen. Aber sie übernachtet in deiner Wohnung. Und das nicht nur am vergangenen Wochenende. Es geht mich nichts an – weiß ich -, aber ich will es trotzdem wissen. Keine Ausflüchte. Schläfst du mit ihr?“

„Wieso ist dir das so wichtig, fürchtest du die Konkurrenz?“ Urplötzlich lachte Jakob los. „Mensch Erik, ist dir eigentlich klar, dass wir ein total bescheuertes Gespräch führen? Es fehlt nicht viel und es klingt wie ein Dialog mit Su. Wenn es dich beruhigt: Nein, ich schlafe nicht mit ihr. Das habe ich auch nicht vor. Sie könnte meine Tochter sein.“ Er hob abwehrend die Hand. „Ich weiß, ich weiß: Das interessiert sie nicht die Bohne. Und ich gebe zu, wenn ich gewollt hätte, die Gelegenheit war da.“ Mehr als einmal. „Auf jeden Fall stimme ich dir zu: Sie bringt meine normale Welt ins Wanken.“

„Ich schätze, genau deshalb fasziniert sie dich.“

„Nur mich?“

Auf die Frage ging Erik nicht ein. Die Unterhaltung nahm tatsächlich absurde Züge an. Extrem und eigenartig. Wie Su. „Irgendwie kann ich deine Entscheidung schon verstehen.“

„Ach, wirklich?“

Die Überraschung in Jakobs Gesicht brachte Erik aus dem Konzept. „Ja. Was hast du denn erwartet?“

„Dass du vielleicht auf ihr Angebot eingegangen wärst.“

„Welches Angebot? Ach so, mit Su zu schlafen. Daran habe ich gerade gar nicht gedacht. Ich meinte, dass ich Lisa vielleicht auch hätte gehen lassen. Wenn ich ehrlich bin, finde ich Su sexuell nicht besonders anziehend.“ Erik lachte. „Mann, klingt das Scheiße, aber es sind tatsächlich die inneren Werte, die mich an ihr interessieren.“ Ausschließlich.

„Da sieht man doch den Altersunterschied“, murmelte Jakob. „Mich bringen durchaus auch ihre körperlichen Reize aus der Fassung. Sie kann sehr verlockend sein.“

„Also doch!“

„Nichts, also doch. Ich habe nicht und ich werde nicht. Aber reizen darf es mich wohl. Ich bin schließlich nicht aus Holz.“

Erik grinste. Der Holzklotz in der Familie war demnach er. Damit konnte er gut leben. „Mensch Jakob, was hast du uns da nur eingefangen?“

„Hab ich nicht.“ Jakob lehnte sich im Sessel zurück und schloss mit einem Seufzer die Augen. „Sie ist mir zugelaufen.“

Samstag, 11. Mai

Der Container vor dem Haus war weg, Annis Name vom Klingelschild entfernt, der Briefkasten zugeklebt. Und kein Jack, der ihr Zuflucht geben konnte, sie halten und trösten. Wieso war er nie da, wenn sie ihn nötig hatte? Seine alten Pantoffeln standen auf dem Flur und daneben lagen unordentlich hingeworfen ein Paar Turnschuhe.

Su presste die Handballen auf die Augen und schluckte ihre Enttäuschung herunter. Na gut, dann eben ein Spielchen mit dem Halbaffen. Nach ihren Vorgaben und diesmal ohne emotionale Entgleisung. Er sollte nicht mal ansatzweise auf die Idee kommen Anni zu erwähnen. Er nicht.

Erik saß im Wohnzimmer am Computer und tippte konzentriert auf der Tastatur. Dabei hörte er laute Musik über die Kopfhörer. Beste Chancen ihn eiskalt zu erwischen. Während er nach rechts auf irgendwelche Unterlagen blickte, schob sie von links ihr Bein über ihn und setzte sich ohne Vorwarnung auf seinen Schoß. Er zuckte so heftig zusammen, dass sie beinahe gemeinsam vom Stuhl gefallen wären.

„So schreckhaft heute?“ Su schob die Kopfhörer in seinen Nacken und streichelte dann fast zärtlich sein Ohr.

„Spinnst du, Su? Was soll das?“

Sie ignorierte seinen Ärger. „Wie kann man nur so vertieft in seine Arbeit sein, dass man nicht merkt, wenn sich ein anderer Mensch nähert. Spürst du nicht die Körperwärme, die von mir ausgeht?“ Herausfordernd bewegte sie ihre Hüfte in kleinen Kreisen und ließ die behandschuhte Hand über seinen Hals zur Brust gleiten.

„Lass das, Su!“

„Warum? Es ist ein wunderschöner Tag, den man mit angenehmeren Dingen verbringen kann, als mit einem Computer.“

„Ich will das nicht, das weißt du.“

„Spielverderber. Hast du gar keine Zeit für mich?“

„Warum kannst du das nicht einfach so fragen ohne diese Anmachnummer? Warum arbeitest du immer mit Sex?“

„Tu ich das?“

„Ja!“

„Ich arbeite nicht.“

„Ach nein?“

„Nein.“

„Du spielst?“

„Aber ja. Natürlich.“

„Du meinst, es ist natürlich, mit Sex zu spielen?“

„Es liegt in unserer Natur. Sex ist die elementare Grundlage, die Basis unseres Lebens.“

„Dann missbrauchst du diese Basis.“

„Nein, ich ge-brauche und nutze sie.“

„Als Mittel zum Zweck.“

Su wickelte eine seiner Haarsträhnen um ihren Finger. „Ja, auch.“

„Warum?“

„Weil es funktioniert.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739435077
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (November)
Schlagworte
Sinn Suche Abenteuer Krimi Autoaggression Spannung Liebe Wahrheit Vertrauen Liebesroman

Autor

  • Brigitte Pons (Autor:in)

Brigitte Pons lebt und arbeitet südlich von Frankfurt/Main. Sie schreibt Romane und Kurzgeschichten und ist immer auf der Suche nach dem perfekten Text. Dabei lässt sie sich weder in eine Schublade sortieren, noch auf ein Genre festlegen, stattdessen balanciert sie lieber im Grenzbereich. Ihre Art zu schreiben charakterisiert die folgende Aussage: "Emotionen sind der Dünger meiner Phantasie und Worte ihre Früchte!" Mehr auf meiner Homepage: brigittepons.de Kontakt: brigittepons@web.de
Zurück

Titel: Su