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Kruento - Der Krieger

von Melissa David (Autor:in)
414 Seiten
Reihe: Kruento, Band 4

Zusammenfassung

Eine gebundene Vampirin, eine Abmachung, die nicht eingehalten wird und ein übermächtiger Gegner, der sein Eigentum zurückfordert.

Die Vampirin Etina lebt zurückgezogen in Frankreich, bis sie auf das Château des Fränkischen Blutfürsten geholt wird. Sie soll an der Seite ihres Ehemannes Sebum stehen, wenn er den Thron besteigt.
Das Leben an der Seite ihres brutalen Gatten treibt Etina in große Verzweiflung. Als sich auch noch ihr Sohn von ihr abwendet, verlässt sie der letzte Lebenswille. Sie beschließt zu sterben – schnell und schmerzfrei. Um sich diesen Wunsch zu erfüllen, geht sie mit einem geheimnisvollen Gefangenen im Château einen riskanten Handel ein und hilft ihm auszubrechen. Ein fataler Fehler, denn der Mann ist nicht bereit, seinen Teil der Abmachung einzuhalten. Stattdessen nimmt er Etina mit auf eine lange, gefährliche Flucht mit ungewissem Ausgang.

Jedes Buch ist in sich abgeschlossen.

Die Reihe im Überblick
Kruento - Heimatlos (Novelle)
Kruento - Der Anführer (Band 1)
Kruento - Der Diplomat (Band 2)
Kruento - Der Aufräumer (Band 3)
Kruetno - Der Krieger (Band 4)
Kruento - Der Schleuser (Band 5)
Kruento - Der Informant (Band 6)

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Klappentext


Die Vampirin Etina lebt zurückgezogen in Frankreich, bis sie auf das Château des Fränkischen Blutfürsten geholt wird. Sie soll an der Seite ihres Ehemannes Sebum stehen, wenn er den Thron besteigt.

Das Leben an der Seite ihres brutalen Gatten treibt Etina in große Verzweiflung. Als sich auch noch ihr Sohn von ihr abwendet, verlässt sie der letzte Lebenswille. Sie beschließt zu sterben – schnell und schmerzfrei. Um sich diesen Wunsch zu erfüllen, geht sie mit einem geheimnisvollen Gefangenen im Château einen riskanten Handel ein und hilft ihm auszubrechen. Ein fataler Fehler, denn der Mann ist nicht bereit, seinen Teil der Abmachung einzuhalten. Stattdessen nimmt er Etina mit auf eine lange, gefährliche Flucht mit ungewissem Ausgang.

Impressum



E-Book

1. Auflage März 2018

204-346-01

Melissa David

Mühlweg 48a

90518 Altdorf

Blog: www.mel-david.de 

E-Mail: melissa@mel-david.de 



Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss

www.juliane-schneeweiss.de

Bildmaterial: © Depositphotos.com


Lektorat, Korrektorat:

Jana Oltersdorff



Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form bedürfen der Einwilligung der Autorin.

Personen und Handlungen sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Kruento





Der Krieger

Band 4


von

Melissa David

Vorwort


Lieber Leser,


dieses Buch enthält ein Glossar, das sich im Anschluss der Geschichte befindet. In diesem Glossar werden unbekannte Begriffe erklärt. Wenn du das Glossar vorab lesen möchtest, bitte hier klicken.

Um auch die Vampirbegriffe, die im Buch verwendet werden, zu verstehen habe ich unbekannte Wörter beim ersten Auftauchen direkt zur Erklärung verlinkt. Du musst also nur draufklicken. In der Regel kommst du mit „zurück“ wieder zur aktuellen Textstelle.

Ich hoffe, dir ist das Glossar eine Hilfe, um die Welt der Kruento besser zu verstehen. Solltest du technische Probleme haben, kannst du dich gerne unter melissa@mel-david.de an mich wenden.

Du möchtest noch tiefer in die Welt von Kruento eintauchen? Auf meinem Blog findest du spannende Artikel mit Hintergrundinformationen über die Kruento.


Nun wünsche ich dir viel Spaß beim Lesen. Mache dich bereit, und tauche ein in die Welt der Kruento.


Deine Melissa David

Kapitel 1


Wochen. Monate. Jahre.

Rastus wusste nicht, wie lange er schon hier war. Ein steinernes Bett, kein Licht. Wenn er die Hände ausbreitete, berührten seine Finger den nackten Fels seines Gefängnisses. Jegliches Zeitgefühl war ihm abhandengekommen. Ab und an kam ein Wärter, öffnete die Klappe der schweren Holztür und schob einen Arm hindurch. Rastus war es egal, wem die Hand gehörte. Gierig machte er sich über das Handgelenk her, trank, so viel er konnte, ehe ihm die Nahrungsquelle wieder entzogen wurde. Sie gaben ihm nie genug, so dass er kaum zu Kräften kommen konnte und keinen Ausbruch wagen würde, aber immerhin so viel, dass er bei klarem Verstand blieb. Wenn die Holzklappe sich schloss, war er wieder auf unbestimmte Zeit allein.

Seit er das letzte Mal Blut getrunken hatte, war schon wieder viel zu lange her. Es drang zwar weder Tages- noch Mondlicht in seine Zelle, aber seit geraumer Zeit nagte der Hunger an ihm. Er konnte sich nicht erinnern, während seiner Gefangenschaft schon einmal so hungrig gewesen zu sein. Da die Zeit hier unten still stand, konnte er sich auch irren, und es waren noch nicht so viele Tage vergangen, wie er glaubte.

Rastus bewegte vorsichtig den Kopf. Die Bewegung tat seiner verspannten Muskulatur gut. Er stand auf und lockerte seine Schultern. Auch seine Beine waren steif.

Etwas streifte ihn. Es war kein richtiges Gefühl, eher eine Ahnung, die seine Aufmerksamkeit erregte. Rastus versuchte, sich auf seine Sinne zu konzentrieren. Ein undefinierbarer Geruch lag in der Luft. Beehrte einer der Gefängniswärter ihn mit seiner Aufmerksamkeit? Nein, das war es nicht. Es schien, als ob sich eine dunkle Nebelwand um das alte Gemäuer legte und jeden Winkel durchdrang. Er lauschte, sog die Luft tief ein, konnte diese seltsame Energie jedoch nicht näher beschreiben.

Er setzte sich, legte den Kopf gegen die Wand und schloss die Augen. Wann würde er endlich eine Chance bekommen, aus diesem verfluchten Gemäuer zu fliehen? Er konnte durchhalten, war immer zäh gewesen. Aber ohne den festen Glauben daran, dass er dieses Gefängnis überleben würde, hätte er längst aufgegeben. Es war die Einsamkeit, die ihm am meisten zu schaffen machte. Niemand, der mit ihm redete, niemand, dem er sich verbunden fühlen konnte. Sein Clangeruch hatte immer weiter abgenommen, bis er ihn schließlich nicht mehr wahrnahm. Stattdessen roch er nun nach diesem Loch. Er fühlte sich wie ein clanloser Vampir, abgeschnitten von der Außenwelt. Er war nicht dafür gemacht, allein zu sein. Er brauchte ein Gegenüber. Aber außer ihm gab es keine lebende Seele in diesem dreckigen, dunklen Gemäuer. Sogar das Ungeziefer hielt sich von ihm fern, als spürte es, dass er ein mächtiges Raubtier war. Seine Zähne waren ständig ausgefahren, und auch seine Augen hatten den besonderen Glanz seiner Spezies angenommen. Er war zu hungrig, um seinen Körper zu kontrollieren.

Rastus ballte die Hände zu Fäusten. Diesem alten Vampir wäre er gerne gegenübergetreten. Den hätte er liebend gern in die Finger bekommen. Seine Faust schnellte auf die Liege nieder. Die Wucht des Aufpralls spürte er bis in die Schultern. Er hätte den Alten genüsslich zwischen seinen Händen zermalmt, zerquetscht wie eine Made. Ihn, der laut der Aussage seiner Schwägerin Sam nicht einmal mehr Zähne im Mund hatte, um sich zu nähren.

Rastus lachte laut. Seine Stimme hörte sich fremd an, als sie von den kahlen Wänden widerhallte.

Warum hatten sie ihn nicht umgebracht? Diese Frage schwirrte immer wieder durch den Kopf. Indem er zurückgeblieben war, hatte er den anderen die Flucht ermöglicht. Er lächelte, als er daran dachte, wie sein Bruder getobt haben musste. Darius verlor nicht gerne und hasste es, wenn andere den Helden spielten. Doch diesmal war er an der Reihe gewesen. Ein einziges Mal hatte er eine Aufgabe im undurchsichtigen Plan eines mysteriösen Schöpfers gehabt. Oder war es nur der Zufall des Universums, dass er Sam, Jendrael und Arnika zur Flucht hatte verhelfen können? Er hatte aufgehört, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Um klar denken zu können, war er ohnehin viel zu hungrig.

Ein Geräusch ließ Rastus den Kopf heben. Er lauschte angestrengt. Hatte er sich verhört? Nichts als Stille umgab ihn. Nur dieser undurchdringliche Nebel, der in alle Poren des alten Gemäuers kroch. Rastus konzentrierte sich darauf, versuchte zu erspüren, wo diese Kraft ihren Ursprung hatte. Doch er war geschwächt und viel zu müde. So ließ er es schließlich bleiben. Wenn einer seiner Gefängnisaufseher käme, um ihm die nächste Mahlzeit zu reichen, würde er nachfragen. Ein bitteres Lächeln umspielte seine Lippen, denn er wusste nur zu gut, dass er zu ungeduldig und zu hungrig war. Er würde nicht warten können, bis der Wärter ihm eine Antwort gab, sondern seine Zähne in das menschliche Fleisch graben, sobald das Handgelenk durch die Öffnung hindurchgeschoben wurde. Schon jetzt lief ihm bei dem Gedanken an frisches Blut das Wasser im Mund zusammen.

Verflucht, war er ausgehungert! Auch wenn der Hunger an ihm nagte, wusste er, es würde ihn nicht umbringen. Vampire verhungerten nicht. Bevor sein Körper alle Energiereserven aufbrauchte, würde er automatisch in eine Starre, dem tierischen Winterschlaf ähnlich, verfallen. Die nötigsten Körperfunktionen würden aufrechterhalten, alles andere vorübergehend eingestellt werden. Er hatte das zum Glück noch nie am eigenen Leib erlebt und wenn er ehrlich war, legte er auch keinen Wert darauf, diesen Zustand zu erreichen.

Müde streckte er sich auf dem kahlen Stein aus, der ihm als Lager diente. Ein Gähnen unterdrückend, drehte er sich auf die Seite, bettete den Kopf auf den Arm und schloss die Augen. Während sein Körper hungerte und sein Geist unruhig hin und her streifte, wartete Rastus auf den erlösenden Schlaf, der ihn glücklicherweise bald übermannte.

Ein Quietschen. Augenblicklich war Rastus wach und stand senkrecht. Wie lange hatte er geschlafen? Häufig schoss er im Schlaf hoch, glaubte, dass jemand zu ihm kam. Diesmal hatte er sich das Geräusch jedoch nicht eingebildet. Die schwere eisenbeschlagene Holztür, die den Kerker vom restlichen Haus trennte, wurde aufgeschoben und verursachte das knarzende Geräusch. Frische Luft strömte zu ihm herein. Sie trug den Duft des fränkischen Clans und noch etwas anderes mit sich. Schritte waren zu hören. Rastus lauschte angestrengt und machte zwei Personen aus.

„Kein Wort, sage ich dir!“, herrschte der eine den anderen an. Sie waren weit entfernt, mussten sich noch auf der Treppe befinden, doch Rastus’ Gehör war, wie bei allen Vampiren, äußerst gut ausgeprägt.

Er konzentrierte sich ganz auf die Geräusche, versuchte ein weiteres Atemgeräusch – seine Nahrung – zu lokalisieren. Doch er hörte nur die schweren Stiefel, die über den Boden scharrten, und den langsamen, regelmäßigen Atem zweier Vampire. Sie waren noch nie zu zweit gekommen.

Da war noch etwas, das sie begleitete. Rastus brauchte einige Augenblicke, bis bei ihm der Groschen fiel. Der fremdartige Duft schien ihnen nicht nur zu folgen, sondern hüllte seine Besucher regelrecht ein. Und dann wusste er plötzlich, was es zu bedeuten hatte. Der alte Vetusta war tot. Der Geruch des Clans hatte sich verändert, nur unwesentlich, aber für seinesgleichen dennoch deutlich wahrnehmbar.

Rastus war auf der Hut. Was wollten die Vampire? Kamen sie, um ihn zu holen, ihn in die Freiheit zu entlassen? Der kleine Hoffnungsschimmer verflog ebenso schnell, wie er gekommen war. Warum sollten sie ihn einfach gehen lassen? Wussten sie überhaupt, dass er da war?

Die Vampire waren ihm nun sehr nahe. Er konnte sie durch die geschlossene Tür zwar nicht sehen, aber er hörte und roch sie.

„Hier?“, fragte der zweite Vampir.

„Ich sagte dir doch, du sollst still sein!“, herrschte der andere ihn an. „Der Befehl kam von ganz oben!“

Sie schwiegen, wie immer, wenn sie sich ihm näherten. War es, um ihm alle sozialen Kontakte zu verwehren?

Ein Schlüssel wurde unweit von ihm umgedreht, allerdings nicht seine Tür. Metall quietschte. Die Schritte polterten weiter und blieben stehen. Rastus wartete, doch er konnte die folgenden Geräusche nicht richtig einordnen. Einmal glaubte er, dass ein Nagel in Holz geschlagen wurde, aber vielleicht irrte er sich. Seine Lider waren schwer, er sehnte sich nach Schlaf. Solange diese Unbekannten in seiner Nähe waren, würde er sich nicht erlauben, nachlässig zu sein.

„Fertig!“, stellte der Jüngere schließlich fest und bekam ein wütendes Zischen als Antwort.

Rastus ließ die Tür nicht aus den Augen. Würde sie sich öffnen? Hatten sie doch irgendwo eine Mahlzeit für ihn dabei? Seine Zunge klebte unangenehm am Gaumen, und sein Hals brannte. Doch die Tür öffnete sich nicht, und die Schritte entfernten sich.

Frustriert sank er in sich zusammen. Hätte er auf sich aufmerksam machen sollen? Aber was hätte das schon genützt?

Die schwere Tür schloss sich hinter den Männern, und er war wieder verlassen. Erschöpft sank er auf sein Nachtlager. Seine Augen schlossen sich von allein und noch ehe er einmal Luftholen konnte, war er eingeschlafen.


* * *


Es war weit nach Mitternacht, als ein schwarzer Mercedes die Privatstraße entlangfuhr, die zum Château de Potestas führte. Etina saß stumm auf dem Rücksitz und betrachtete die vorbeiziehende Landschaft. Der eindrucksvolle Vampir hinter dem Steuer, dessen Oberarme dicker als ihre Schenkel waren, hatte sie von dem Landsitz abgeholt, auf dem sie seit Jahren lebte. Schweigend hatte er ihr eine kurze Notiz von ihrem Homen überreicht und gewartet, bis sie die nötigsten Sachen zusammengepackt hatte. Was machte sie hier? Warum hatte der Dan sie herbestellt? Das flaue Gefühl in ihrem Magen ließ nicht nach. Sie hasste diesen Ort, hasste alles, was damit zusammenhing. Es war Jahre her, seit sie das letzte Mal herkommen musste. Damals war sie in Begleitung ihres Homen hier gewesen. Der Vetusta hatte sie herzitiert, um sein erstes legitimes Enkelkind zu sehen.

Der Mercedes bremste ab. Ein schmiedeeisernes Tor versperrte ihnen die Weiterfahrt und wurde nun eilig geöffnet. Der Fahrer nickte den Wache schiebenden Vampiren zu, dann setzten sie ihren Weg fort.

Der abartige Geruch nach Exkrementen und Mensch lag in der Luft. Übelkeit erfasste Etina, und sie musste sich beherrschen, sich nicht zu übergeben. Gut, dass ihre letzte Mahlzeit schon einige Tage zurücklag. Etinas Finger verkrampften sich in ihrem Schoß. Sie hielt den Blick gesenkt, wollte nicht sehen, was sich draußen neben dem Auto abspielte. Als sie aus den Augenwinkeln die dünnen Arme sah, die sich dem Wagen entgegenreckten, schloss sie die Augen und betete, dass sie schnell den Zwinger passiert hätten.

Warum war sie hier? Warum hatte Sebum sie auf das Château bringen lassen? Seit über einem Jahr hatte sie Sebum nicht gesehen. Er hatte ihr erlaubt, in Reims zu bleiben, und sie war dankbar gewesen, mit ihm nicht nach Paris gehen zu müssen. Sie hasste Paris. Es war laut und überfüllt. Sie liebte die Abgeschiedenheit ihres Hauses in Reims. Vier Dienstboten, die sich um all ihre Belange kümmerten. Nicht mehr und nicht weniger. Sie war froh, wenn sie niemanden sehen musste. Lediglich über Itans Gesellschaft hätte sie sich gefreut. Doch ihr Sohn war ihr in den letzten Jahren immer mehr entglitten. Seit einem halben Jahr lebte er in Fredrikstad, in der Nähe von Vetusta Haldor. Sie hatte nicht gewagt, sich dazu zu äußern, aber dennoch missfiel ihr das Tauschgeschäft, das Sebum mit dem Sjütischen Blutfürsten geschlossen hatte. Als Pfand der eigene Sohn. Etina hoffte, dass es Itan gut ging und er bald wieder nach Hause kommen durfte.

Das Auto wurde langsamer, als sie durch das steinerne Tor in den Innenhof des Château fuhren und schließlich vor dem Haupthaus hielten. Etina blieb sitzen. So absurd der Gedanke auch war, hoffte sie inständig, dass der Fahrer es sich anders überlegen und sie zurück nach Reims bringen würde.

Die Tür neben ihr wurde geöffnet. Der Fahrer streckte ihr die Hand entgegen. Etina ignorierte sein Angebot und ließ sich Zeit, während sie die weißen Handschuhe über die Hände zog. Dann stieg sie aus. Sie hasste es, von Fremden angefasst zu werden, und dieser Mann gehörte dazu.

Sie strich den dunkelgrünen Bleistiftrock glatt und zupfte an dem gleichfarbigen Blazer herum. Da sie wusste, dass Sebum Wert auf ein gepflegtes Äußeres legte, hoffte sie, dass ihre roten Haare im streng zurückgebundenen Dutt noch vorzeigbar waren. Während sie sich an ihre kleine Handtasche klammerte, sah sie sich suchend um. Die Gebäude um sie herum sahen heruntergewirtschaftet und unbewohnt aus. Es schien, als hätte der Alte sämtliche anstehenden Reparaturen geflissentlich ignoriert.

„Bitte, hier entlang, Mi.“ Der Fahrer deutete auf einen Eingang direkt vor ihr. Die Holztür hing etwas schief in den Angeln. Der dahinter liegende Gang war dunkel und wenig einladend. Etina schluckte ihre Verzweiflung hinunter, streckte den Rücken durch und betrat das Gebäude. Sie spürte, wie ihr der Fahrer folgte. Sie kannte nicht einmal seinen Namen. Er war hochgewachsen, trug eine enge Lederhose zu einem weißen Hemd. Unter seinem weiten Mantel mussten Waffen verborgen sein. Hin und wieder hatte sie es blitzen sehen. Nähere Bekanntschaft musste sie mit diesen Utensilien hoffentlich nicht machen.

Ihre Augen hatten sich schnell an die dunkle Umgebung gewöhnt. Dank ihrer ausgeprägten Sinne sah sie auch bei dem spärlichen Mondlicht, das durch die Schießscharten fiel, ausgezeichnet.

Der Gang, der sie immer weiter in das verfallene Gebäude führte, schien nicht enden zu wollen. Drei Mal passierten sie eine Abzweigung, aber ihr Begleiter wies sie jedes Mal an weiterzugehen. Schließlich erreichten sie einen größeren Raum. An den steinernen Wänden hingen vergilbte Teppiche. Ein verblassender Geruch hing in dem alten Gemäuer. Sie kannte den Duft des Clans nur zu gut. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf die riesige zweiflügelige Holztür, an der sich ihr Chauffeur zu schaffen machte.

Sie wusste, was dahinter lag. Die große Halle war das Herzstück des Château, der Lieblingsaufenthalt des Vetusta. Auch ohne sie zu sehen, spürte Etina die geballte Präsenz etlicher männlicher Vampire.

„Bitte!“, forderte der Fahrer sie auf und wartete darauf, dass sie eintrat.

Etina zögerte. Sie war nervös. Ihren ganzen Mut zusammenfassend betrat sie die Halle.

Das Erste, was sie sah, war der leere, steinerne Thron am anderen Ende des Raumes. Wo war der Vetusta? Nicht, dass sie sich um ihren Schwiegervater sorgte. Der Alte war ein Scheusal, dem es nur um Macht und seinen eigenen Vorteil ging.

Langsam ging Etina auf den Thron zu. Links davon standen einige Vampire zusammen und unterhielten sich angeregt. In ihrer Mitte auf einem kleinen Tisch waren einige Karten ausgebreitet. Einer der Männer löste sich aus der Gruppe und kam auf sie zu. Es war Dan Sebum, ihr Homen.

„Da bist du ja endlich!“

Etina senkte den Kopf. Er hatte keine Frage gestellt, also musste sie keine Antwort geben.

Mit schnellen Schritten kam er auf sie zu, riss sie unsanft an sich und raubte ihr einen Kuss. Von seinen feuchten Lippen wurde ihr übel. Sie unterdrückte den Brechreiz und brachte ein gezwungenes Lächeln zustande.

Seinen Arm fest um ihre Mitte geschlungen, führte er sie zu den anderen Männern.

„Meine Samera ist eingetroffen“, verkündete er stolz und fuhr ihr besitzergreifend mit der Hand über den entblößten Nacken.

Diese eindeutigen Besitzbekundungen seinerseits waren ihr unangenehm. Betreten sah sie zu Boden, inspizierte interessiert die Stiefel der anwesenden Vampire. Sie wagte es nicht, sie anzusehen, wollte nicht von ihnen gesehen werden. Was wollte Sebum von ihr? Warum hatte er sie herbringen lassen?

„Gut siehst du aus“, stellte er zufrieden fest. Seine Hand wanderte weiter, ihr Dekolletee hinab. Sie schluckte, als Panik sie ergriff. Es kostete sie ihre gesamte Willenskraft, um nicht aufzuschreien. Sie waren in diesem Raum nicht allein. Es war schon schlimm genug, wenn sie seine Nähe ertragen musste, solange sie sich hinter verschlossenen Türen aufhielten. Die meisten der Vampire hatten sich gelangweilt wieder den Karten zugewandt. Nur einer, ein schmaler Vampir mit wilder Mähne und einem blonden Vollbart, warf ihr anzügliche Blicke zu und besaß sogar die Frechheit, sich dabei ungeniert in den Schritt zu langen.

Sebums Hand hatte ihre Brust erreicht und knetete diese. Reglos ließ Etina seine Aufdringlichkeiten über sich ergehen. Er war schließlich ihr Homen, und sie war dazu erzogen worden, seinen Wünschen zu entsprechen.

Seine Lippen näherten sich ihrem Hals, schnupperten an ihr, ehe er sich ihrem Ohr zuwandte.

„In den nächsten Tagen werden wir sicher die Zeit finden, dass du mir einen weiteren Sohn schenken kannst.“ Seine widerliche Zunge glitt in ihr Ohr, und Etina schloss angeekelt die Augen. Sie zählte die Sekunden und bei zweiunddreißig ließ er endlich vor ihr ab.

„Du bist sicher müde“, sagte er nachsichtig und blickte sich um. Wie aus dem Nichts stand ihr vampirischer Fahrer neben Etina.

„Decker wird dir dein Zimmer zeigen. Ruh dich aus, ich muss hier noch einige Dinge erledigen, dann werden wir unser Wiedersehen gebührend feiern.“ Mit einem anzüglichen Grinsen auf dem Gesicht drehte er sich zu seinen Männern. „Also, machen wir weiter.“

Decker, immerhin wusste sie nun, wie er hieß, wartete, bis sie sich ihm zuwandte.

„Ich bringe dich in dein Zimmer, Mi“, erklärte er ruhig und wartete, bis sich Etina mit einem letzten Blick auf die Vampire umdrehte. Diesmal ging er voran, führte sie durch den Gang zurück, bog dann aber ab. Über eine schmale Treppe gelangten sie ins obere Stockwerk. Hier war es ein wenig heller, was wohl daran lag, dass es hier Fenster gab. Sie waren ohne Scheiben, und Etina fragte sich unwillkürlich, wie diese bei Tageslicht abgedunkelt werden konnten. Zu ihrer Linken befanden sich etliche Türen. Decker öffnete eine von ihnen und ließ sie eintreten. Er folgte ihr nicht, sondern blieb am Türrahmen stehen. Ihr sollte es recht sein. Sie war froh, wenn kein männlicher Vertreter ihrer Rasse ihr Zimmer betrat.

„Ich bin vor der Tür, falls etwas sein sollte“, erklärte er steif und schloss die Holztür hinter ihr.

Unschlüssig stand sie noch immer an derselben Stelle und betrachtete die wenigen Habseligkeiten, die dem Raum kaum Gemütlichkeit verleihen konnten.

Den Mittelpunkt des Zimmers bildete ein kleines, schmales Bett, dessen Matratze auf Brusthöhe lag. Wie sollte sie dort nur hinaufkommen? Das massive Holzgestell hatte eindeutig schon bessere Tage erlebt, ebenso wie der löchrige Baldachin darüber. Eine Kommode, ein leerer Schminktisch mit blindem Spiegel und einem zierlichen Schemel davor vervollständigten die karge Möblierung. Das konnte nicht Sebums Ernst sein. Er hatte sie nicht wirklich auf dieses verfluchte Château geschleift, um in diesem Loch zu hausen. Ruckartig drehte Etina sich um und riss die Tür auf.

Decker, der mit dem Rücken zu ihr stand, drehte sich überrascht um. Einen Moment begegneten sich ihre Blicke, dann senkte Etina den Kopf.

„Besteht die Möglichkeit, den Dan zu sprechen?“ Ihre Stimme zitterte leicht, und sie hasste sich dafür, dass der Vampir ihre Unsicherheit sehen konnte.

„Der zukünftige Vetusta ist ziemlich beschäftigt. Er muss etliche Dinge in die Wege leiten.“

Etina erstarrte.

„Der Vetusta ist tot?“, flüsterte sie erschrocken, und plötzlich ergab alles Sinn. Der alte Vetusta lebte nicht mehr. Sebum war hier, um seinen Platz einzunehmen. Etina zog hörbar die Luft ein. Es lief ihr eiskalt den Rücken hinunter, als sie daran dachte, wie Sebum diesen steinernen Thron zukünftig für sich beanspruchen würde. Mit allen Privilegien und Rechten, die es beinhaltete. Die Übelkeit schien bei ihr zu einem ständigen Begleiter zu werden. Eilig trat sie den Rücktritt an, verriegelte die Tür hinter sich, ehe sie am Boden zusammensank. Tränen hatte sie keine mehr – schon seit Jahren nicht mehr. Sie hatte gewusst, dass dieser Tag kommen würde, und hatte sich doch sehnlichst gewünscht, ihn nicht zu erleben. Sebum war ein Tyrann. Als Dan und Stellvertreter des Blutfürsten hatte er in den letzten Jahren bereits zu viel Macht besessen. Viele hatten darunter leiden müssen. Wenn er nun den Thron bestieg, lag das Schicksal der fränkischen Vampire allein in seinen Händen.

Eine furchtbare Vorstellung.

Kapitel 2


Etina war froh, dass Sebum sie an diesem Tag nicht mehr aufsuchte. Als sie sich schließlich gefasst hatte, zog sie sich um, kroch in das viel zu hohe Bett und fiel in einen unruhigen Schlaf. Immer wieder schreckte sie hoch, träumte, dass ihr Homen das Zimmer betrat oder sie von der Matratze fiel. Als die Sonne schließlich unterging, hielt sie es nicht mehr aus. Sie machte sich fertig und hatte sich gerade angezogen, als es an der Tür klopfte. Auf ihr „Herein!“ betrat eine blonde Vampirin das Zimmer.

Überrascht, aber auch erfreut über Gesellschaft, lächelte sie die Fremde an.

„Ich soll dir das bringen, Mi.“ Ohne eine Gefühlsregung zu zeigen, legte sie den roten Stoff, den sie über dem Arm getragen hatte, aufs Bett. Dann sah sie prüfend auf ihre Armbanduhr. „In zwei Stunden wirst du in der Halle zur Zeremonie erwartet.“

Etina war enttäuscht, so wenig Freundlichkeit von der anderen Vampirin zu erfahren. Sie vermisste ihre Vertrauten in Reims schon jetzt. Wenigstens eine Verbündete an diesem düsteren Ort wäre gut gewesen. Doch die Frau machte keine Anstalten.

„Danke“, murmelte Etina leise.

Die Vampirin nickte ihr noch einmal zu, dann verschwand sie wieder. Etina blieb allein zurück. Unschlüssig starrte sie den dunkelroten Stoff an, der auf dem Bett lag. Sie wollte nicht das Weiblein des großartigen Blutfürsten spielen. Sie wollte überhaupt nichts mit der Sache zu tun haben. Wenn es nach ihr ginge, würde sie einfach zurück nach Reims fahren und sich dort für den Rest ihres Lebens verkriechen. Vielleicht … wenn sie Decker fragte … Etina wusste, dass dieses Unterfangen aussichtslos bleiben würde. Seufzend griff sie nach dem Kleid und sah es sich näher an. Der Stoff fühlte sich wunderbar weich an. Andächtig hielt sie die Robe vor sich und strich vorsichtig über den Rock. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. In diesem Kleid würde sie atemberaubend aussehen. Hatte Sebum es für sie ausgesucht? Wie sie ihn kannte, überließ er nichts dem Zufall und was seinen Geschmack für Kleidung anging, musste sie gestehen, dass er die letzten hundert Jahre stets ein gutes Gespür für Mode gehabt hatte.

Nun hatte Etina es eilig, ihre Kleidung abzulegen und in die edle Robe zu steigen. Der leichte Stoff schmiegte sich wie eine zweite Haut an ihren Körper. Der raffinierte Carmen-Ausschnitt betonte ihre zierlichen Schultern, während er ihre Brüste züchtig bedeckte. Das Kleid war ein Traum. Sie schlüpfte in ihre roten Pumps und nahm auf dem Schemel vor dem Spiegel Platz. Ihr Schminkköfferchen stand vor ihr. Etina trug nur selten Rouge auf, und auch diesmal legte sie Wert darauf, dass es dezent blieb. Tusche und etwas Lipgloss folgten. Zwischen all den unzähligen schwarzen Flecken im Spiegel war es nicht so einfach, eine Stelle zu finden, die nicht zu Silbersulfid geworden war. Schließlich war Etina mit dem Ergebnis zufrieden. Sie erhob sich, sah sich noch einmal im Zimmer um, ob sie auch nichts vergessen hatte. Dann ging sie mit klopfendem Herzen zur Tür.

Dort wartete Decker bereits auf sie. Er hatte sich ebenfalls in Schale geworfen und seine Lederhose gegen einen piekfeinen Anzug getauscht. Auch wenn Etina absolut kein Interesse an Männern hatte, musste sie doch zugeben, dass ihr Bodyguard herausgeputzt durchaus etwas hermachte.

Decker musterte sie. Für eine Sekunde glomm in seinen Augen so etwas wie Begehren auf, und Etina versteifte sich augenblicklich. Wie sehr sie doch Männer verabscheute. Alle sahen in ihr nur ein Objekt der Begierde. Aber sie musste dem Vampir zugutehalten, dass er sich schnell wieder fing. Seine Miene wurde ausdruckslos, undurchdringlich.

„Mi“, krächzte er mit belegter Stimme. „Du siehst großartig aus. Dein Homen wird sich glücklich schätzen, dich heute Abend an seiner Seite zu haben.“

Etina wollte das nicht hören. „Führe mich in die Halle, bitte.“ Sie wollte es hinter sich bringen. Je schneller sie dort wäre, umso eher konnte sie sich wieder verabschieden.

Decker folgte dicht hinter ihr. Als sie den Weg vom Vortag einschlug, hielt Decker sie auf, indem er ihren Arm packte. Sie spürte seine Finger auf ihrer nackten Haut. Entsetzt starrte sie auf seine Hand und zog scharf die Luft ein.

Decker ließ sie los, versperrte ihr nun aber mit seinem Körper den Weg. „Wir müssen den anderen Eingang nehmen“, erklärte er. „Im Vorraum warten bereits die Soyas mit ihren Familien.“

Etina hatte sich soweit wieder gefasst. Sie nickte und ließ Decker vorgehen. Zügig führte er sie durch den Wirrwarr aus Treppen und engen Gängen. Schließlich öffnete er eine unscheinbare Tür. Vor ihnen lag die Halle. Mit großen Augen betrat Etina den Raum und blickte sich erstaunt um. Seit gestern hatte sich hier einiges verändert. Die schwarzen Vorhänge waren ein für alle Mal verschwunden, der staubige Steinboden war nicht nur gekehrt, sondern auch geschrubbt worden. Die Säulen waren mit rotem Tüll verhängt, was dem Raum eine ungewöhnliche Eleganz verlieh. Staunend sah Etina hinauf zu den Kronleuchtern, die nicht nur blank poliert waren, sondern an denen auch jede einzelne Kerze brannte und die Halle in ein warmes, heimeliges Licht tauchte. Ihr Blick fiel auf einige Vampirinnen, die zusammenstanden und sich aufgeregt unterhielten. Erst auf den zweiten Blick registrierte Etina um sie herum und zwischen ihnen die Krieger. Nachdenklich runzelte sie die Stirn. Auch wenn sie mit niemandem befreundet war, erkannte sie doch Gaetane Renoir, die Gefährtin des Soyas Dioméde, sowie ihre Tochter Delphine. Auch Adéle Klein, die mit dem Soya Fredolin liiert war, befand sich unter den weiblichen Gästen.

Sebum erhob sich grinsend von seinem Thron und kam auf sie zu. „Wie es sich für eine Königin gehört“, stellte er zufrieden fest und streckte die Hand nach ihr aus.

Etina rang sich ein Lächeln ab und ließ sich von ihrem Homen zu seinem steinernen Thron führen.

Ein Blick in die gesenkten und betretenen Gesichter der Vampirinnen verriet ihr, dass sie nicht so freiwillig hier waren, wie man glauben sollte. Nun, von Freiwilligkeit konnte auch bei Etina keine Rede sein.

„Diese Nacht wird großartig werden“, schwärmte ihr Homen, während er sie mit einem Fingerzeig anwies, auf der rechten Seite neben dem Thron stehen zu bleiben.

„Sie wird in die Geschichte eingehen“, bestätigte Etina ihrem Homen. Sie senkte den Blick, ertrug es nicht länger, ihn anzusehen. Wenn heute Nacht alle Soyas ihm den Blutschwur ablegten, war seine Herrschaft besiegelt. Keiner würde sich mehr gegen ihn stellen können, keiner würde sie vor ihm beschützen. Solange sie ihm egal gewesen war, war sie in Sicherheit gewesen. Doch nun hatte er sich darauf besonnen, dass sie seine Samera war.

„Dies hier“, er wies mit einer ausladenden Handbewegung in den Raum, „wird unser neues Zuhause werden. Natürlich werden wir ein paar Renovierungen und Neuanschaffungen machen müssen, aber ich habe mich entschlossen, unseren Hauptwohnsitz auf das Château zu verlegen.“

Etina nickte unbeteiligt. Sie konnte keine Freude vortäuschen. Dafür fühlte sie sich viel zu elend. Sie hasste diese Mauern. Es waren zu viele Menschen hier, und vor allem war Sebum hier. Warum hatte er sie nicht einfach in Reims vergessen können?

Ein Vampir trat zu ihnen. Er nickte Etina kurz zu, dann wandte er sich an Sebum. Seine Renovation mochte Anfang zwanzig geschehen sein, denn er wirkte deutlich jünger als die Vampire, die Etina so kannte. In ihrer Welt ließ das Aussehen jedoch nicht auf das Alter schließen, und ein hübsches Äußeres spiegelte selten den Charakter wieder. Als hübsch konnte man den Vampir allerdings auch nicht bezeichnen. Seine Augen waren unterschiedlich hoch, was seinem Gesicht ein seltsames Aussehen verlieh.

„Wir wären soweit.“

„Danke, Hip“, erwiderte Sebum, zupfte an seinem Hemdkragen und lehnte sich huldvoll in seinem Steinthron zurück. „Lasst uns beginnen!“, verkündete er laut.

Hip trat eilig zurück und verschwand zwischen den Säulen.

Etinas Herz schlug schneller. Waren alle Soyas gekommen, um ihrem zukünftigen Vetusta den Blutschwur abzulegen? Würde einer der Soyas ihn herausfordern und um den Thron kämpfen? Oder würde ein Soya den Blutschwur verweigern? Hatte sogar einer von ihnen bereits die Flucht ergriffen?

Die großen Flügeltüren öffneten sich, und die mächtigen Soyas, die Stützen des Clans, traten ein, gefolgt von etlichen Moris. Es waren keine Vampirinnen und Blutkinder bei ihnen, nur die Familienoberhäupter. Die Soyas waren vollzählig erschienen.

Sebum wartete, bis alle Platz gefunden hatten, dann stand er auf, streckte seine Hand aus. Jemand kam herbeigeeilt und reichte ihm einen mit kostbaren Edelsteinen verzierten Dolch.

„Dioméde Renoir“, rief Sebum den ersten Vampir auf.

Der Angesprochene trat einen Schritt vor, warf einen prüfenden Blick zu seiner Familie, bevor er nach dem Dolch griff, den Sebum ihm reichte.

Der Vampir kniete nieder. Etina hielt den Atem an, als er den Dolch über seinen Unterarm zog. Es war nur ein leichter Schnitt, der in wenigen Minuten heilen würde, dennoch reichte es, dass ein paar Tropfen zu Boden fielen.

El me lu sangius al to, Dioméde Renoir, misu ab“, erklärte der Soya langsam und besonnen in der alten Vampirsprache.

No Mimare“, verkündete Sebum und trat auf den am Boden Knieenden zu. Dieser hatte den Blick gesenkt, sah nun aber Sebum direkt an.

Etina wusste, dass das, was nun auf geistiger Ebene geschah, nicht umzukehren war. Sebum bekam Einlass in den Kopf des Vampirs, verankerte dort eine Verbindung, die nur er wieder aufheben konnte. Der Vampir würde ihm auf ewig die Treue halten müssen.

Riu ab summo di Soya“, erklärte Dioméde etwas außer Atem.

Sebum lächelte gönnerhaft auf ihn hinab. „No Mimare.“

Lita.“

Damit war der Soya entlassen. Er erhob sich und ging hinüber zu seiner Familie. Gaetane umarmte ihn, als hätte sie sich um ihn gesorgt. Etina beschlich der Verdacht, dass ihr Homen sich die Bereitschaft der Soyas damit gesichert hatte, dass er sie von den Frauen getrennt hatte. Der nächste, Jourdain Chevalier, trat vor. Danach folgten fünf weitere Soyas. Als Letzter legte Aneng Eldseaux den Blutschwur ab und durfte anschließend zu seiner Familie gehen.

Etina wurde unruhig. Die Zeremonie dauerte schon über eine Stunde, und in den hohen Schuhen taten ihr vom reglosen Herumstehen die Füße weh. Auch der Hunger machte sich zunehmend bemerkbar. Sie musste sich in absehbarer Zeit nach einem Blutwirt umsehen. Vielleicht konnte sie in einer ruhigen Minute Decker fragen. An Sebum wollte sie sich mit diesem Problem nicht wenden.

Zu ihrer und zur Überraschung der versammelten Menge trat Hip vor und kniete sich vor Sebum nieder. Hatte der untergebene Vampir bisher keinen Blutschwur abgeleistet?

„Riu ab summo di Soya“, bat Hip.

Getuschel wurde laut. Die Vampire wunderten sich über das ungewöhnliche Verhalten. In den Rang eines Soyas aufzusteigen, war eine unvergleichliche Ehre und wurde in der Regel nur den Nachfolgern eines verstorbenen Soyas zuteil. Etina konnte sich nicht erinnern, dass jemals ein weiterer Vampir als Soya berufen worden war.

„No Mimare“, verkündete Sebum in diesem Moment.

„Lita“, bedankte sich Hip und erhob sich.

Das Gemurmel unter den Vampiren wurde lauter. Angespannt wartete sie auf eine Erklärung. Doch der neue Vetusta machte keine Anstalten. Den Akt mit dem Dolch ließ der Blutfürst aus, da Hip dem Vetusta früher bereits einen Blutschwur geleistet hatte.

Sebum breitete die Arme aus und rief: „Lasst uns feiern. Ich lade euch alle ein, meine Gäste zu sein. Und sollte es einer wagen, diese Einladung auszuschlagen, sehe ich dies als persönlichen Affront an.“

Die Türen der Halle öffneten sich, und etliche Menschen wurden hereingeführt. Sie waren sauber und trugen zwar wenig, aber intakte Kleidung. Die meisten von ihnen waren Frauen, aber auch der eine oder andere Mann, der die Frauen etwas überragte, war zu sehen.

„Mein Geschenk an euch.“ Der offizielle Teil war vorbei. Sebum drehte sich mit einem zufriedenen Lächeln zu Etina um. „Meine Samera.“ Er kam zu ihr und packte sie im Nacken, um sie an sich zu ziehen. Wie eine Puppe ließ Etina die Behandlung über sich ergehen. „Ich habe noch ein paar wichtige Sachen zu erledigen, aber ich lasse dich später holen.“

Seine Zunge strich über ihren entblößten Nacken und hinterließ eine feuchte Spur. Seine Fänge drängten hervor und kratzten über ihre Haut. Es fühlte sich an wie Stunden, ehe Sebum von ihr abließ. Seine Augen glühten, erloschen aber kurz darauf, als ihr Homen sich wieder unter Kontrolle hatte. „Bis später“, krächzte er, zog ihre Hand an seine Lippen und hauchte ihr einen Kuss darauf.

Etinas Herz schlug unregelmäßig, als sie allein zurückblieb. Ihr graute vor dem Abend und dem, was noch kommen würde.

„Mi.“ Decker tauchte so plötzlich neben ihr auf, dass Etina erschrocken zusammenzuckte. „Ich habe einen der Nebenräume für dich reservieren lassen, falls du ungestört trinken möchtest.“

Überrascht ob seiner Fürsorge ließ Etina es sogar zu, dass er sie aus der Halle führte.


* * *


Hunger. Unerträglicher Hunger. Wenn es etwas genutzt hätte, hätte er sich selbst ins Handgelenk gebissen und sein eigenes Blut getrunken. Sogar vor Ungeziefer hätte er in diesem Zustand keinen Halt gemacht. Aber selbst die Ratten hatten Reißaus genommen, als er hier eingezogen war.

Stöhnend drehte sich Rastus auf die andere Seite. Er fühlte sich zu erschöpft, um die Augen zu öffnen. Aber außer Dunkelheit und kahlen Steinwänden gab es ohnehin nichts zu sehen.

Seine Zunge klebte unangenehm am Gaumen und wenn er schluckte, fühlte es sich an, als hätte er Sandpapier im Hals.

Stimmen waren zu hören. Schon die ganze Zeit. Es hörte sich an, als ob Massen sich auf dem Château einfanden. Er versuchte zu lauschen, doch sie waren zu weit weg, und es strengte ihn furchtbar an, so dass er es sein ließ.

Die Tür zum Kerker wurde aufgeschlossen, kratzte über den steinernen Fußboden. Lachen war zu hören. Er zwang sich, die Lider zu öffnen und blickte an die Decke seiner Zelle. Fußgetrampel näherte sich. Das waren mehr als zwei Männer. Er konnte nicht genau bestimmen, wie viele es waren, dazu war er zu unkonzentriert. Der Preis des Nahrungsentzugs.

Rastus hob den Kopf, was ihn so unsagbar anstrengte, dass er ihn wieder zurücksinken ließ. Er war sicher, dass sie ohnehin nicht zu ihm wollten.

Das Gepolter wurde lauter. Sie waren nun direkt vor seiner Tür.

„Wo ist er?“, krächzte eine heisere Stimme, die Rastus vage bekannt vorkam.

Sämtliche Vampire redeten gleichzeitig durcheinander. Sie überschlugen sich mit Antworten, doch in dem Stimmengewirr verstand er kein Wort.

„Er ist hier!“, übertönte nun einer der Männer alle anderen und schlug gegen Rastus’ Tür.

Mühsam drehte Rastus den Kopf. Vor seinem Gefängnis waren die Stimmen verstummt. Ächzend setzte er sich auf. Er wollte ihnen nicht zeigen, wie geschwächt er war. Kamen sie, um ihn zu befreien?

Geräuschvoll öffnete sich die Holztür zu seinem Gefängnis. Ein schwacher Lichtschein von den Fackeln an den Wänden drang herein. Dann wurde die Tür ganz aufgestoßen. Ein Vampir stand im Türrahmen. Von der ungewohnten Helligkeit geblendet, legte Rastus schützend einen Arm über die Augen.

„Nicht totzukriegen, wie ich sehe“, stellte der Fremde fest und verschränkte die Arme vor der Brust.

Rastus’ Augen gewöhnten sich langsam an die Lichtverhältnisse. Der Mann vor ihm hatte kaum Haare. Er maß um die zwei Meter und blickte mit grünen Augen triumphierend auf ihn herab. Rastus kannte die Augen, hatten den Vampir schon einmal gesehen. Und dann wusste er, wen er vor sich hatte. Sebum Potestas, der Sohn des Blutfürsten, der alles daran gesetzt hatte, um ihre Flucht in die Staaten zu vereiteln. Der Vampir, dessen Männer ihn besiegt, gefangengenommen und schließlich hergebracht hatten.

„Holt ihn heraus!“

Zwei Vampire traten vor und packten ihn jeweils an den Armen. Rastus fühlte sich nicht dazu in der Lage, aufzubegehren. An Flucht war in seinem entkräfteten Zustand nicht zu denken. Hatten sie ihn absichtlich so lange hungern lassen?

„Als Blutfürst der Franken sehe ich es als meine Aufgabe herauszufinden, wer euch zur Flucht verholfen hat. Es wird Zeit, das Leck zu stopfen.“

Hätte sich Rastus besser gefühlt, wäre er sicher besorgt gewesen. So rang er sich lediglich ein müdes Lächeln ab. Sebum als neuer Blutfürst, das hätte er sich denken können. Das erklärte den ungewohnten Geruch, der bei den anderen Vampiren noch nicht gefestigt war. Lange konnte er diese Position noch nicht innehaben. Der neue Vetusta musste es ziemlich eilig gehabt haben, ihn aufzusuchen. Rastus war zäh. Er würde nicht reden. Sollte Sebum ihn doch verhören und ihn aushungern lassen. Er würde Ducin nicht verraten. Ungeahnte Kräfte in ihm mobilisierten sich. Entschlossen hob er den Kopf und sah den Vetusta an.

„Versuch es doch!“, zischte er. Hätte er noch genug Speichel im Mund gehabt, hätte er den Blutfürsten angespuckt. So musste der Widerstand, der in seinem Blick zu lesen war, reichen.

„Wir werden sehen.“ Ein fieses Grinsen lag auf dem Gesicht des Anführers, als er seine Männer anwies, Rastus hinauszubringen.

Die Männer, die ihn an den Armen gepackt hatten, gingen so abrupt los, dass Rastus schwindelte. Alles um ihn herum drehte sich, und er sank zwischen den beiden Vampiren zu Boden, die ihn, ohne auf seinen Zusammenbruch zu reagieren, hinausschleiften. Seine nackten Füße schrammten über den Untergrund. Der Weg war nicht weit und führte vorbei an ein paar Dutzend Vampiren in eine Zelle nebenan. Diese hatte jedoch keine Tür, sondern nur ein Eisengitter, das die Zelle von dem restlichen Gewölbe abschottete. Ein seltsames hölzernes Ungetüm befand sich darin. Die eine Seite war am Boden verankert, die andere Seite an der Wand. Rastus blinzelte, aber das Ungetüm vor seinen Augen verschwand nicht. Noch nie hatte er vor so einem Ding gestanden, hatte nur davon gehört. Seit er lebte, praktizierte man damit schon nicht mehr. Doch der neue Blutfürst schien ein Fan der alten Zeiten zu sein. Rastus wurde mit dem Rücken an das Holz gedrückt, bis er sich in einer halb liegenden Position befand. Die Arme wurden nach oben gerissen und an das Holzgestänge gebunden. Dann waren seine Beine an der Reihe. Eisenbeschlagene Schellen wurden um seine Fußknöchel gelegt. Da hing er nun, halb liegend, unfähig, sich zu bewegen.

„Bevor wir anfangen, möchte ich dir die Chance geben, deine Verbündeten zu verraten. Ich biete dir einen schnellen Tod an.“

Rastus wandte den Kopf ab. Zu mehr war er nicht mehr in der Lage. Sollten sie ihn doch köpfen, er würde kein Wort verraten. Ducin war nicht nur für sie wichtig gewesen. Er bildete für viele Vampire den einzigen Fluchtweg in die neue Welt. Er würde den Teufel tun und ihn verraten.

„Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt“, donnerte der Vetusta.

Einer der Vampire betätigte die Seilwinde. Rastus’ Arme wurden langsam nach oben gezogen. Da seine Füße gefesselt waren, konnte sein Körper der Bewegung nicht folgen und wurde gestreckt. Rastus stöhnte, als die Kräfte, die auf seine Schultern einwirkten, unerträglich wurden. Er presste die Lippen fest zusammen, wollte seinen Peinigern die Genugtuung, dass er schrie, nicht gönnen. Sterne tanzten vor seinen Augen. Er spürte genau, wie seine Sinne schwanden. Mit aller Kraft kämpfte er dagegen an. Er durfte die Besinnung nicht verlieren. In seiner rechten Schulter knackte es, und ein unerträglicher Schmerz schoss durch seinen Körper.

Rastus schrie. So sehr er es auch zu unterdrücken versuchte, brauchte sein Körper ein Ventil, um diese Hölle zu ertragen.

„Nenn mir ein paar Namen, und ich lasse dich in Ruhe.“ Der Vetusta war näher an ihn herangetreten.

Rastus wandte den Kopf und sah ihm direkt in die Augen. Diesem Monster würde er nichts verraten.

Der Vetusta hob die Hand, und der Druck auf seinen Körper nahm ab. Erschöpft sackte sein Kopf auf die Brust.

„Ich bin ein gnädiger Mann und gebe dir noch einmal eine letzte Chance.“

Rastus hatte die Augen geschlossen, konzentrierte sich auf seine Atmung. Er würde nicht aufgeben, würde den Namen nicht preisgeben. Sollten sie ihn doch weiter foltern, sollten sie ihn doch umbringen. Es war ihm egal.

„Macht weiter“, gab der Blutfürst erneut Befehl.

Rastus spürte, wie seine Arme ruckartig nach oben gerissen wurden. Seine linke Schulter knackte, er spürte, wie das Gelenk ausgekugelt wurde. Wie flüssiges Feuer brandete der Schmerz durch seine Venen, schien alles zu verzehren. Die hellen Lichtblitze, die vor seinen Augen tanzten, nahmen zu. Der Zug auf seinen Schulterbereich wurde stärker. Vor Schmerz vollkommen benebelt, nahm er kaum noch wahr, wie die Knochen seiner linken Schulter brachen. Rettende Bewusstlosigkeit hüllte ihn ein.


* * * 


Lächelnd stand Hip hinter Sebum und verfolgte zufrieden, wie Murai die Seilwinde ankurbelte. Er sonnte sich in seiner Position. Sebum dazu zu bringen, ihm den Rang eines Soyas zuzusprechen, war eine großartige Idee gewesen. Um das zu erreichen, hatte er seine Spione ausgeschickt und sich selbst diskret umgehört. So konnte er dem zukünftigen Blutfürsten die Nachricht bringen, dass sowohl der Soya Dioméde als auch der Soya Fredolin darüber nachdachten, ihm die Gefolgschaft zu verweigern. Er war es gewesen, der vorgeschlagen hatte, die weiblichen Vampire der Familie vorläufig auf dem Château de Potestas unterzubringen, um sicherzustellen, dass die Soyas den Treueschwur leisteten.

Der Gefangene schrie auf, als die Knochen in seiner Schulter brachen. Reglos betrachtete Hip das Geschehen. Der Krieger war ihm egal, wenn es nach ihm ginge, konnte er auch sterben. Aber er wusste, wie wichtig er dem Blutfürsten war. Mit ihm wollte der neue Vetusta sich vor seinem Clan und den anderen Blutfürsten profilieren. Wenn es ihm gelänge, die Abwanderer aufzuhalten, den Verräter, der immer wieder Vampire außer Landes brachte, zu stoppen, würde er an Ansehen gewinnen und ernstgenommen werden.

Die Augen des Neuweltlers leuchteten auf. Er zappelte, kämpfte gegen das Strecken seines Körpers an. Hip wusste, dass er schwach war. Schon länger hatte er keine Nahrung mehr bekommen. Vermutlich würde es nicht mehr lange dauern, bis er aufgab.

Mit seinen Gedanken schweifte Hip wieder ab. Er dachte an das Versprechen, das er Sebum abgenommen hatte. Bisher hatte er nur einen Titel erhalten, aber die Familien der nächsten zehn Familienoberhäupter, die verstarben, würden ihm zugesprochen werden. Natürlich würde das den betreffenden Soyas missfallen, aber keiner würde sich gegen die Anweisung ihres Vetusta stellen.

Der Gefangene brüllte abermals auf. Wenn sein Körper nicht vollkommen gestreckt gewesen wäre, hätte er sich sicher unter Schmerzen gekrümmt. Die glühenden Augen des Vampirs begannen zu flackern, dann klappten seine Augenlider zu, und sein Körper erschlaffte. Der verdammte Mistkerl hatte einfach das Bewusstsein verloren.

Der Vetusta fluchte, stieß Flavien an, der zwischen Hip und dem Blutfürsten stand und schnauzte ihn an: „Schau, dass du ihn wieder wach bekommst!“

Ein Hauch von Unsicherheit wehte ihm entgegen, als Flavien zu dem Bewusstlosen trat und versuchte, ihn durch Schütteln aufzuwecken.

Hip verdrehte genervt die Augen. So würde er ihn nie wecken. Kurz zögerte er und überlegte, welche Vorteile er daraus zöge, wenn er jetzt handelte. Er könnte sich wieder einmal in positives Licht rücken, sich seinem Herrn unentbehrlich machen, bis der Tag käme, an dem er ihn nicht mehr brauchte.

Hip drängte sich vor, schob Flavien zur Seite und schlug dem Gefangenen mit der Faust ins Gesicht. Der Kopf flog zur Seite, und er spürte, wie die Wangenknochen nachgaben. Dennoch blieben die Augen geschlossen.

„Der wird ohne Blut das Bewusstsein nicht mehr erlangen“, stellte er fest und drehte sich zu seinem Vetusta um.

Vollia“, fluchte dieser.

Der Blutfürst kam zu ihm, sah auf den leblosen Körper des Gefangenen hinab. Die Lippen waren fest zusammengepresst, als müsse er sich beherrschen, nicht weitere wüste Beschimpfungen von sich zu geben.

„Wenn wir ihm zu trinken geben, heilen seine Wunden“, ärgerte sich der Vetusta.

„Es hat ja keiner gesagt, dass er einen ganzen Menschen bekommen soll“, konterte Hip. Manchmal war der Blutfürst nicht besonders schnell im Kopf. Der Vetusta schien konzentriert darüber nachzudenken, dann leuchteten seine Augen auf. „Ein wenig Blut, dass er zu Bewusstsein kommt, aber nicht so viel, dass seine Wunden heilen.“ Sebum grinste breit.

„Eine hervorragende Idee“, bestätigte Hip. Absichtlich wies er ihn nicht darauf hin, dass die Idee von ihm stammte.

„Wer holt mir einen Ambakt?“, fragte der Vetusta in die Runde.

Betreten sahen die Krieger zu Boden. Hip verdrehte die Augen. Was waren das für Weicheier? Einer stellte sich dümmer an als der andere. Es konnte doch nicht so schwer sein, nach oben zu gehen, wo sich etliche Ambakten aufhielten, und einen von ihnen in den Kerker zu bringen. Gerade wollte er sich für diese Aufgabe bereit erklären, als Soya Jourdain sich meldete.

„Ich gehe.“

Der Blutfürst nickte dem Soya anerkennend zu.

Ärgerlich sah Hip dem Vampir hinterher. Hätte er geahnt, dass sich ausgerechnet der Soya, der in der Gunst des Blutfürsten weit oben stand, zur Verfügung stellen würde, hätte er die Aufgabe sofort an sich gerissen. Nun blieb ihm nichts anderes übrig, als neben seinem Vetusta stehen zu bleiben und auf die Rückkehr des Soyas zu warten.

Er sah zu dem Gefangenen hinüber, der noch immer reglos auf der Streckbank hing. Würde er nicht vor Dreck kleben, wäre er wohl durchaus ein gut aussehender Vampir – zumindest attraktiver als Sebum Potestas. Er hatte in die smaragdgrünen Augen geblickt, den unbeugsamen Willen gesehen. Im Gegenzug zu dem Blutfürsten glaubte er nicht, dass der Gefangene so leicht die Hintermänner preisgeben würde. Er selbst stellte sich auf eine längere Prozedur ein. Zehn Jahre, zwanzig Jahre konnte es schon dauern, bis der Wille des Vampirs endlich gebrochen war. Ein grimmiges Lächeln umspielte seine Lippen. Er liebte diese Machtspiele und würde zusehen, dass er bei jeder Runde dabei sein konnte, um die Niederlage des mächtigen Vampirs mitzuerleben. Aus der Entfernung hatte er beobachtete, wie der unbeugsame Krieger es mit einem Dutzend Vampiren allein aufgenommen hatte. Dabei hatte er sich wirklich wacker geschlagen. Gegen die Übermacht war er natürlich nicht angekommen. Schon damals hatte er im Stillen den Vampir bewundert, der entwaffnet auf dem Boden gelegen hatte, ein Schwert, das jederzeit zum tödlichen Schlag ausholen konnte, über ihn erhoben. Er hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt, sondern entschlossen seinen Bezwinger angesehen. Sebum hatte Gnade walten lassen und ihn lebend zu seinem Vater gebracht. Hip hätte anders gehandelt. Er hätte ihn schon damals umgebracht. Der Vampir war zu gefährlich.

Wartend wippte er mit dem rechten Fuß. Eine dumme Angewohnheit. Als ihm dies bewusst wurde, hörte er damit auf. Wie lange konnte es dauern, einen Ambakten aufzutreiben und herzubringen? Er hätte doch selbst gehen sollen.

Gerade, als er den Mund aufmachte und dem Vetusta anbieten wollte, nach Soya Jourdain zu sehen, öffnete sich die Kerkertür, und der Soya kam mit einem Ambakten herein.


* * *


Decker führte Etina in einen der Nebenräume, die hinter der großen Halle lagen. Zu ihrer Überraschung war das Zimmer – im Gegensatz zu ihrem Domizil – wohnlich eingerichtet. Farbige Teppiche schmückten die steinernen Wände, und mehrere Sitzgelegenheiten luden zum Verweilen ein. Decker war an der Tür stehen geblieben, während Etina eintrat. Eine Bewegung in der Ecke ließ sie zusammenzucken. Sie wollte schon die Flucht antreten, als sie feststellte, dass es sich um einen Menschen handelte, der in der Ecke am Boden kauerte. Es handelte sich um einen Mann. Als er sie erblickte, breitete sich ein strahlendes Lächeln auf seinem Gesicht aus. Eilig erhob er sich. Er mochte vielleicht Anfang dreißig sein, war ziemlich abgemagert und trug zu einer wilden ungepflegten Mähne Vollbart. Trotz des Lächelns wirkten seine Augen im Kerzenschein gräulich und leblos.

Er stand auf, schwankte auf seinen dünnen Beinchen und machte einen Schritt auf sie zu. „Ich will dir zu Diensten sein.“

„Bleib stehen!“, wies sie ihn eilig an.

„Ist etwas nicht in Ordnung?“, erkundigte Decker sich, der noch immer in der Tür stand.

Angewidert sah Etina auf den nackten Mann. Nicht nur sein ungepflegtes Äußeres stieß sie ab, auch sein erigiertes Glied. Sie wollte keinen nackten Mann sehen, wollte ihm keine Lust bescheren, nur damit sie in Ruhe von ihm trinken konnte.

„Ich will ihn nicht“, stieß Etina keuchend hervor. Sie konnte nicht verhindern, dass sich ihre Eckzähne aus dem Kiefer schoben und ihre Worte Lügen straften. Auch wenn sein Äußeres nicht unbedingt vorzeigbar war, so war er doch sauber, und sein Blut roch köstlich. Sie hatte wahnsinnig Hunger und konnte das kaum noch verbergen. Schwer schluckte sie. Nein, sie würde definitiv nicht von diesem Kerl trinken, und sie würde auch nicht mit ihm allein in einem Raum bleiben. Auch diesem Ambakt würde sie nicht das Recht einräumen, sie anzufassen.

Mi …“ Decker sah zwischen dem Mann und Etina hin und her. „Der Vetusta hat die Menschen für heute Abend extra willig machen lassen.“

Das Wort willig bescherte Etina einen eiskalten Schauer, der ihr die Wirbelsäule hinablief. Sie hasste es ohnehin, von einem Menschen trinken zu müssen. Ihre bevorzugte Beute waren Frauen. Bewusstlos. In Reims hatten ihr die untergebenen Vampire immer bewusstlose Frauen gebracht. Im stillen Kämmerchen hatte sie ihren Hunger gestillt. Sie nahm stets nur so viel Blut, wie sie benötigte. Sobald sie fertig getrunken hatte, wurde die Blutwirtin fortgebracht.

Der Gedanke, einem Ambakten in Austausch gegen Blut Sex zu geben, widerte sie einfach nur an. Der Beischlaf gehörte zu den abscheulichsten Momenten ihres Lebens, und sie würde sich hüten, sich freiwillig einem Ambakten hinzugeben.

Einen Moment lang überlegte Etina, Decker zu bitten hierzubleiben und den Mensch festzuhalten, während sie ihren Hunger stillte. Doch auch das ließ ihr die Nackenhaare aufstellen. Die Nahrungsaufnahme war eine sehr intime Angelegenheit. Es gehörte sich nicht für eine folgsame Mi, in Gesellschaft anderer zu speisen.

„Ich will niemanden, der willig ist.“

Unsicher blickte Decker wieder zu dem Ambakten, der immer noch auf derselben Stelle stand und auf weitere Befehle wartete.

„Die Menschen im Zwinger sind dreckig und stinken“, gab er zu bedenken.

Das musste Decker ihr nicht extra sagen, das wusste sie selbst.

„Ich bin dir gerne zu Diensten.“ Der Ambakt verzog sein Gesicht. Es sollte vermutlich ein Lächeln werden, doch es glich eher einer Fratze. „Du bist wunderschön. Es wäre mir eine Ehre …“

„Schweig!“ Etina konnte diesen Menschen keinen Augenblick länger ertragen.

Immerhin verstummte er sofort.

Jeder Muskel war angespannt. Ein bedrohliches Knurren entwich ihrer Kehle, was den Mann dazu veranlasste, entsetzt zurückzuweichen.

„Bring ihn weg!“ Etina war es egal, dass ihre Stimme schrill klang. Sie wollte nur, dass Decker diesen Menschen aus ihren Augen schaffte. Sie wich ins hinterste Eck des Zimmers zurück, damit der Ambakt ja nicht in ihre Nähe kam.

Decker ging zu ihm, ergriff ihn am Arm und zog ihn unsanft mit sich. Im Türrahmen verharrte er, drehte sich noch einmal zu Etina um und fragte: „Soll ich dir jemand aus dem Zwinger bringen lassen?“

Entschieden schüttelte Etina den Kopf. Einen stinkenden Menschen wollte sie ebenso wenig.

„Vielleicht eine Frau?“

Wieder verneinte Etina wortlos. Eine Frau machte es auch nicht besser.

„Okay.“ Decker zögerte. So unsicher hatte sie den großen Vampir noch nie gesehen. Er schien sich ernsthafte Gedanken um sie zu machen.

Etina wusste, sie musste ihn beruhigen, sonst würde er sie bei Sebum anschwärzen, und das war das Letzte, was sie brauchen konnte.

„Brauchst du den Ambakt noch?“, fragte eine Männerstimme.

Panisch, es könnte ihr Homen sein, spähte sie an Deckers breitem Rücken vorbei. Erleichtert sah sie Soya Jourdain.

Decker warf Etina noch einen kurzen Blick zu. Nachdem sie jedoch keine Anstalten machte, Einspruch zu erheben, erklärte er dem Soya: „Nein, du kannst ihn haben.“

Der Ambakt wurde von Vampir zu Vampir gereicht. Jetzt hielt ihn der Soya am Oberarm fest, obwohl man ihn wohl nicht einmal festhalten musste. Mit der Aussicht auf Vampirsex würde er jedem wie ein Hündchen hinterherlaufen.

„Na, los!“ Der Soya stieß den Ambakt vor sich her. „Ich hoffe, du bist schmackhaft. Der Bewusstlose …“

Mehr konnte Etina nicht mehr hören, denn eine lachende Gruppe von Vampiren marschierte direkt an ihrem Zimmer vorbei und verschluckte den restlichen Satz des Soyas.

Etina hatte dennoch genug gehört. Ein Bewusstloser. Sie glaubte zu träumen. Das war ihre Rettung.

„Bring mir einen Menschen aus dem Zwinger!“, befahl sie Decker. Plötzlich hatte sie es sehr eilig.

„Besondere Vorlieben wegen der Haarfarbe?“, erkundigte sich der Vampir verwirrt.

„Einen Menschen!“ Die Ungeduld in ihrer Stimme war nun deutlich zu hören. „Los!“ Sie war lauter geworden als beabsichtigt. Aber zumindest drehte Decker sich augenblicklich um und verschwand.

Etina zwang sich noch einen Moment zu warten, dann eilte sie aus dem Zimmer, in die Richtung, in die der Soya verschwunden war. Wo konnte er nur hin sein? Sie konnte sich an den Duft des Soyas nicht mehr genau erinnern. Ihre Sinne waren wegen der vielen Blutschwüre, die geleistet worden waren und die den Geruch der Vampire veränderten, ziemlich überreizt.

Sie hastete den nun leeren Flur entlang. Schon von weitem hörte sie Geräusche hinter der nächsten Tür. Ungeduldig stieß sie diese auf, verharrte reglos auf der Schwelle. Ihre Augen weiteten sich entsetzt, und sie spürte die eisige Hand, die ihren Magen fest im Griff hatte. Etliche männliche Vampire befanden sich in dem Zimmer. Einer von ihnen saß in einem der Sessel, hatte sich seiner Hose entledigt und genoss die orale Behandlung durch eine Amica an seinem besten Stück, während er eine zweite Blutsklavin auf dem Schoß hielt und von ihr trank. Drei weitere männliche Vampire vergnügten sich ebenfalls mit einer oder mehreren Amicas. Glücklicherweise waren alle so beschäftigt, dass sie Etinas Eintreten nicht bemerkten. Eilig zog sie die Tür wieder zu und suchte weiter nach dem Soya und ihrem Ambakten, die sie zu einem Bewusstlosen führen würden.

An der Wand hing ein Spiegel, und im Vorbeigehen erhaschte sie einen kurzen Blick auf sich. Die grünen Augen leuchteten von innen, wie es ihrer Rasse eigen war, wenn tiefe Gefühle sie bewegten oder sie schlicht und ergreifend hungrig waren. Sie brauchte noch in dieser Nacht Nahrung, sonst lief sie Gefahr durchzudrehen.

Sie näherte sich einer weiteren Tür, hinter der Stimmen zu hören waren. Diesmal öffnete Etina die Tür vorsichtiger, spähte zuerst durch einen kleinen Schlitz hinein. Es waren ein paar Vampire, die zusammensaßen, sich unterhielten und die Gesellschaft von Ambakten und Amicas genossen. Konzentriert ließ sie ihren Blick über die anwesenden Vampire gleiten. Nachdem sie ausschließen konnte, dass Soya Jourdain unter ihnen war, schloss sie die Tür und setzte ihren Weg fort.

Immer weiter ging sie den Flur entlang. Schließlich kam sie zu einer Gabelung. Sie wusste nicht mehr weiter. Schon wollte sie frustriert aufgeben, als ihr ein vertrauter Geruch in die Nase stieg. Ihn würde sie immer und überall erkennen. Es war der unverwechselbare Geruch ihres Homen. Etina war nur unschlüssig, ob sie es gut finden sollte, Sebum in der Nähe zu wissen. Sie musste vorsichtig sein, damit er ihren Duft nicht bemerkte. Aber sie hatte erst kürzlich geduscht, und der Geruch der Vampirinnen verflog ohnehin viel schneller als der der männlichen Vertreter ihrer Rasse. Sie musste definitiv auf der Hut sein. Wenn aber Soya Jourdain den Ambakt zu Sebum brachte und bei ihm auch der Bewusstlose war, hätte sie zumindest eine Chance, ihre bevorzugte Nahrungsquelle auszumachen. Diese Gelegenheit durfte sie einfach nicht verpassen.

Etina entschied sich für den Korridor zu ihrer Linken. Nach etwa zwanzig Metern bog sie scharf nach rechts ab und stand vor einer offenstehenden Holztür. Stufen führten hinab in die Tiefe. Fackeln beleuchteten zwar den Weg, aber die Treppe ging um die Kurve, und so konnte sie nicht sehr weit sehen.

Angestrengt lauschte Etina. Das Summen in ihren Ohren, ausgelöst durch den Blutmangel, war so laut, dass sie kaum etwas verstehen konnte. Es waren zu viele Männerstimmen, die durcheinander redeten. Der Hunger bewegte Etina dazu, sich einen Ruck zu geben, und so stieg sie die Stufen hinab.

Je weiter sie ging, umso mehr konnte sie die einzelnen Stimmen unterscheiden. Sebum gab ein paar abgehackte kurze Befehle. Ein anderer Vampir klang nahezu ängstlich.

Endlich erreichte Etina den Absatz der Treppe und konnte um die Ecke spähen. Was um Himmels Willen war denn das? Manche Räume in diesem Gebäude wirkten echt gruselig, aber das hier glich einen Kerker, wie sie es nur aus grauer Vorzeit und auch da nur vom Hörensagen kannte. Etliche Vampire, natürlich war Sebum einer von ihnen, standen um eine Streckbank. Auf ihr lag ein Mann, der sich nicht regte.

„Nun mach schon!“, drängelte Sebum ungeduldig.

Einer der Vampire trat vor, im Schlepptau den Ambakten. Etina war sich ganz sicher, dass es der Mann war, den der Soya mitgenommen hatte. Jetzt sah sie auch Soya Jourdain. Er stand etwas abseits, halb im Schatten, und beobachtete die Szene.

„Wann bekomme ich meine Belohnung?“, wollte der Mensch wissen, als er Richtung Streckbank geschubst wurde.

„Stopft ihm doch endlich das Maul“, schnauzte Sebum.

Eilig zog einer der Vampire ein Stofftaschentuch hervor und schob es dem Ambakten in den Mund. Ein zweiter Vampir, die blonden Haare einem Engel gleich, zog einen Dolch und ritzte dem Menschen das Handgelenk auf. Blut tropfte zu Boden.

Ein unglaublich herrlicher Duft wehte zu Etina herüber.

„Hebt ihn hoch!“, donnerte Sebum.

Etina versuchte, dagegen anzukämpfen, aber ihre Eckzähne drängten in die Freiheit. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Mit aller Macht zwang sie sich dazu, auf ihrem Beobachtungsposten zu bleiben und sich nicht auf den wehrlosen Ambakten zu stürzen. Dieser wurde nun von drei Vampiren gepackt. Sie hoben ihn hoch und positionierten ihn über dem Gefangenen auf der Streckbank, dass der tropfende Arm direkt über dessen Mund hing.

Noch immer erfüllte der wunderbare, metallische Geruch von frischem Blut die unterirdischen Gemäuer. Doch Etina hatte sich glücklicherweise im Griff. Mit ihren über zweihundert Jahren war sie kein instinktgetriebener Ephebe mehr. Ohne ihre eiserne Selbstbeherrschung hätte sie die letzten hundertzwanzig Jahre nicht an der Seite eines so brutalen Vampirs wie Sebum überlebt.

Enttäuschung ergriff Etina. Der Gefangene, auch wenn er bewusstlos war, war wohl kaum ein Mensch, wenn sie ihm Blut einflößten. Eigentlich hätte sie nun den Rückweg antreten können. Ihre Chance auf eine bewusstlose Mahlzeit hatte sich in Luft aufgelöst. Doch der Fremde auf der Streckbank zog sie in ihren Bann. Was hatte er verbrochen, dass er so eine Folter ertragen musste? Welches Verbrechen hatte er begangen, um Sebums Ärger zu schüren?

Die Lippen des Gefangenen zuckten. Einmal. Zweimal. Dreimal. Dann öffnete er den Mund, und das Blut floss ungehindert hinein.

„Passt auf, dass er nicht zu viel bekommt“, ermahnte Hip die Vampire, die den Menschen hielten.

Etina traute Hip nicht. Ihr Homen hatte ihn zwar vor wenigen Stunden zum Soya ernannt, aber er hatte etwas Verschlagenes an sich und wirkte auf sie unecht. Sebum schien jedoch große Stücke auf ihn zu halten. Jedes Mal, wenn sie Sebum sah, war dieser Kerl nicht weit.

Etina sah zu, wie die Zähne des Vampirs ausfuhren. Er öffnete die Augen und begann, sich gegen seine Fesseln zu wehren. Dabei schaffte er es immerhin, den Kopf zu heben und seine Zähne in den Arm des Ambakts zu versenken.

Der Mensch wehrte sich, zappelte und schlug um sich. Die Vampire hielten ihn zwar fest, dennoch hatten sie Mühe, ihn nicht fallen zu lassen.

„Weg mit dem Menschen!“, rief Hip und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Zwischen den größeren vor ihm stehenden Vampiren konnte der etwas kleinere Soya wohl nicht so gut das Geschehen verfolgen.

„Ihr nichtsnutzigen, kopflosen Vampire!“, schimpfte Sebum.

Der Gefangene hatte sich fest im Unterarm des Ambakts verbissen und trank gierig. Es dauerte, bis die Vampire es schafften, den Blutwirt aus den Klauen des Vampirs zu reißen. Eine große Wunde klaffte an seinem Arm. Vampire waren keine Fleischfresser, und so verwunderte es Etina nicht, als der Gefangene das herausgerissene Stück Fleisch auf den Boden spie.

„Zieht das Seil an“, wies Sebum einen Vampir an, der wie angewurzelt neben der Seilwinde stand.

Eilig kurbelte er, und die Arme des Vampirs zogen sich in die Länge. Er knurrte und warf schmerzerfüllt seinen Kopf hin und her.

Etinas Herz raste, als läge sie selbst auf der Streckbank und wäre der schrecklichen Pein ausgeliefert. Sie musste hier weg. Abrupt drehte sie sich um und hastete zurück nach oben.

Hoffentlich suchte Decker sie nicht schon. Sie musste sich dringend etwas überlegen. Mit Sicherheit würde er ihr eine stinkende Menschenfrau mitbringen. Während Etina zurückrannte, dachte sie fieberhaft nach. Da kam ihr eine Idee. Nicht wirklich brillant, aber ein Hoffnungsfunke. Vielleicht konnte sie Decker davon überzeugen, dass sie sich in der Zwischenzeit genährt hatte. Sie musste es nur schaffen, ihre Augen und ihre Zähne unter Kontrolle zu halten, und die unnahbare Samera des Blutfürsten spielen. Gerade Letzteres sollte ihr nicht schwerfallen.

Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Der Plan war gut, wenn er funktionierte. Er musste einfach funktionieren.

Wenn dann Decker mit der Menschenfrau abzog und die Vampire im Kerker ihre Arbeit vollbracht hatten, würde sie wieder hinunterschleichen. Mit etwas Glück lag der Ambakt noch immer dort unten. Mit der blutenden Armwunde würde er bestimmt immer noch bewusstlos sein. Bestimmt wäre noch genug Blut in ihm, dass sie sich von ihm nähren konnte.

Kapitel 3


Etina lag in ihrem Bett und starrte die Decke an. An Schlaf war nicht zu denken. Sie wartete darauf, dass im Château endlich Ruhe einkehrte. Decker hatte ihr glücklicherweise geglaubt, dass sie zwischenzeitlich Blut getrunken hatte und anstandslos das stinkende Etwas zurück in den Zwinger gebracht.

Die Zeit wollte einfach nicht vergehen. Immer wieder hörte sie Türen knallen, leise Stimmen, und schließlich fielen ihr die Augen zu.

Etina schreckte aus einem traumlosen Schlaf, als die Tür aufgerissen wurde. Schlaftrunken setzte sie sich im Bett auf und blinzelte den unerwünschten Eindringling an. Als sie Sebum erkannte, rutschte ihr das Herz in die Kniekehlen. Es war kein gutes Zeichen, dass er mitten am Tag in ihr Zimmer stapfte.

„Sebum? Kann ich dir helfen?“, fragte sie und konnte das Zittern in ihrer Stimme nicht verbergen.

Mit einem Stiefel stieß er die Tür hinter sich zu, dass das Holz in den Angeln bebte.

Ein Blick in sein Gesicht verriet Etina, dass seine Laune ziemlich schlecht war.

„Na los, Weib!“, donnerte er und zog Etina die Decke weg. Ihre Füße waren nackt, sie trug nur ein dünnes, weißes Nachthemd.

„Was ist passiert?“ Sie wagte nicht, sich zu rühren.

„Nichts, was meine Samera interessieren könnte. Komm endlich her.“ Er zog sie am Arm zu sich. Etina wusste, dass es zwecklos war, Widerstand zu leisten.

Eilig öffnete Sebum seine Hose, und sein erigierter Penis sprang Etina entgegen. Bevor sie noch einmal Luft holen konnte, hatte er sie an den Haaren gepackt und zu sich gezogen. Sein Glied stieß rücksichtslos in ihren Mund. Gut, dass sie kein Blut getrunken hatte, denn sonst hätte sie ihren Mageninhalt von sich gegeben. Brutal stieß er in sie, brachte sie immer wieder zum Würgen. Etina traten Tränen in die Augen. Sie wollte dem Mistkerl, der über ihr aufragte und jeden Stoß genoss, nicht dabei zusehen, wie er sich an ihrem erbärmlichen Zustand ergötzte. Fest presste sie die Lider zusammen und betete, dass es bald vorbei sein möge und dass es ihn heute nicht nach körperlicher Vereinigung gelüstete.

Mit einem Ruck wurde ihr Kopf nach hinten gerissen. Sein Glied glitt aus ihrem Mund. Etina riss erschrocken die Augen auf. Sebums Zähne waren weit ausgefahren, seine Augen leuchteten vor Erregung. Er fuhr sich über den kahl rasierten Schädel und grinste sie überlegen an.

„Dreh dich um, ich will dich von hinten nehmen!“

Es war keine Bitte, sondern ein harscher Befehl. Etina wusste, dass sie es bereuen würde, wenn sie seiner Forderung nicht schnell genug nachkam. Hastig krabbelte sie aufs Bett und reckte ihren Po nach hinten. Ungewöhnlich sanft strich Sebum über ihren Hintern, dann packte er zu. Seine Fingernägel bohrten sich trotz des Stoffes tief in ihre Haut. Vor Schmerz hätte sie am liebsten laut aufgeschrien, aber sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Wenn sie schrie, würde er weitermachen, und das wollte sie auf keinen Fall. Langsam ebbte der Schmerz ab. Mit einem festen Ruck zerriss Sebum ihr Nachthemd und strich über ihren nackten Rücken.

Etina schluckte. Hoffentlich wollte er nur Sex. Ob sie in dieser Nacht mehr verkraften würde, bezweifelte sie.

Sebum gab ihr einen Schubs, und sie landete mit dem Gesicht in den Kissen. Reglos blieb sie liegen. Ihr Homen nahm sich nicht einmal die Zeit, den Slip herunterzuziehen, sondern riss an dem Stück Stoff, bis es nachgab. Tränen brannten Etina in den Augen, sie hoffte inständig, dass Sebum schnell fertig sein würde.

Grunzend schob er sich hinter sie. Sie spürte sein Glied, das gegen ihre Scham stieß. Er machte sich nicht die Mühe nachzusehen, ob sie feucht war oder sie vorzudehnen. Grob drang er in sie ein und versenkte sich bis zum Anschlag in ihr. Er knurrte, während er sich immer wieder zurückzog, um erneut in sie zu stoßen. Sein Keuchen wurde abgehackter. Es konnte nicht mehr lange dauern.

Dann wurde ihr schlimmster Albtraum wahr. Er war in ihrem Kopf. Ihre geistigen Schilde stellten für ihn als ihren Rinoka kein Hindernis dar. Panik überkam Etina, drohte sie zu ersticken. Ihre Furcht vor Sebum wuchs ins Unermessliche, denn seine Präsenz in ihrem Innersten machte sie noch verletzlicher. Eilig zog sich Etina tief in sich selbst zurück, schloss ihre persönlichsten Gedanken, die er nie erfahren durfte, fort. Sie hatte Jahre damit zugebracht, dies zu perfektionieren, und so merkte Sebum auch diesmal nicht, dass nur ein Abbild ihrer selbst zurückgeblieben war. Sie ließ ihn ihre Angst spüren. Das erregte ihn und trieb ihn noch mehr an.

Jämmerliches Weibsbild, flüsterte er in ihrem Kopf. Nicht einmal zum Ficken taugst du. Jede Hure stellt sich besser an als du.

Etina schwieg zu den Beleidigungen.

Du bist eine Versagerin, eine Beleidigung für die Frauenwelt. Nicht einmal deinen Homen kannst du zufriedenstellen.

Wie eine Krake breiteten seine Worte sich in ihrem Inneren aus, vergifteten jeden Funken Hoffnung. Er machte sich breit in ihr, überzog alles mit seiner schmierigen Anwesenheit.

Seine Hand in ihrem Nacken holte Etina in die Realität zurück. Grob riss er an ihr, und sie ließ zu, dass er sich über sie beugte, ihren Oberkörper leicht anhob und seine Zähne in ihrer Schulter versenkte.

Ein Gefühl der Erregung schoss durch Etinas Glieder, und sie schämte sich für die Reaktion ihres verräterischen Körpers.

Du kleine Heuchlerin. Ich weiß doch, wie sehr du es magst.

Seine Bewegungen wurden schneller, das Schmatzen an ihrer Schulter gieriger.

Deine einzige Berechtigung, am Leben zu sein, bin ich.

Dann biss er noch fester zu, so dass es schmerzte, und ergoss sich in ihr. Sekunden fühlten sich an wie Stunden, in denen Etina reglos unter ihm kauerte, seine Zuckungen spürte.

Nutzloses Weib, flüsterte er immer wieder in ihrem Kopf. Du bist nichts wert.

Seine Zähne lösten sich aus ihrem Fleisch. Sebum verzichtete darauf, die Wunde mit seinem Speichel zu benetzen. Eilig streifte Etina ihr Nachthemd darüber oder vielmehr das, was noch davon übrig war. Dass der Stoff von Blut durchtränkt wurde, war egal, das Hemd würde ohnehin in wenigen Augenblicken im Müll landen. Wenn er sah, wie lange die Verletzung brauchte, um zu heilen, wüsste er, dass sie viel zu lange nicht getrunken hatte. Sie wollte ihn nicht noch wütender machen.

Als Sebum sich aus ihr zurückzog, hatte er auch ihren Kopf verlassen. Zurück blieben nur eine dumpfe Leere und das Gefühl, schmutzig zu sein.

Die Matratze bewegte sich unter ihr, als Sebum aufstand und seine Hose richtete. Etina hatte ihm den Rücken zugedreht und rollte sich auf ihrem Bett ein.

„Wollen wir hoffen, dass du fruchtbar bist. Wenn nicht, werden wir es noch einmal versuchen und wenn du dich weigerst, mir noch einmal einen Sohn zu gebären, dann werde ich mich nach einer anderen Samera umsehen müssen.“

Sie hörte seine Schritte, die sich der Tür näherten.

„Ich erwarte dich morgen nach Sonnenuntergang in der großen Halle.“ Damit ging er und ließ sie allein zurück.

Etina konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten und schluchzte laut in ihr Kissen. Sie hatte die unmissverständliche Drohung durchaus gehört und wusste, dass er es bitterernst meinte. Dass ihrer Rasse nur alle paar Jahrhunderte Nachwuchs vergönnt war und Etina bereits einen Sohn geboren hatte, schien Sebum egal zu sein.

Etina schloss die Augen. Sie fühlte sich so unendlich hilflos, so erschöpft. Am liebsten hätte sie sich zur Ruhe gebettet und wäre nie wieder aufgewacht. Es würde Wochen dauern, bis sie sich in ihrem Kopf wieder sicher fühlen konnte. Ihren Körper zu benutzen, war eine Sache, ihre Seele zu malträtieren, setzte ihr viel mehr zu. Sie wusste nicht, wie lange sie es noch aushielt, ehe sie einfach zerbrechen würde.


* * *


Etina konnte den Geruch ihres Homens auf ihrer Haut nicht ertragen. Sie verbrachte eine Stunde unter der Dusche und scheuerte ihren Körper wund, bis Sebums Geruch endlich verschwunden war. Die schmierige Präsenz, die in ihrem Kopf nachhallte, war nicht abwaschbar.

Etina schwindelte und musste sich am Waschbecken festhalten. Sterne tanzten vor ihren Augen, die Fänge schossen hervor und zogen sich unkontrolliert wieder ein.

Es war höchste Zeit: Sie musste trinken, sonst würde sie blind über die nächste Blutquelle herfallen, die ihr über den Weg lief.

Sorgfältig kleidete sie sich an, eine weite Baumwollbluse mit Puffärmeln und ein ausgestellter Rock. Die Haare steckte sie hoch. Sie hoffte, niemandem zu begegnen, wollte aber dennoch sicher gehen, ordentlich gekleidet zu sein.

Sie hatte keine Ahnung, wie sie an Decker vorbeikommen sollte. Das Problem erledigte sich jedoch von selbst, als sie auf den Flur hinausspähte. Von dem Vampir, der sie seit ihrer Ankunft stets bewachte, war weit und breit keine Spur. Hatte Sebum ihn weggeschickt, als er zu ihr gekommen war? Vielleicht hatte ihr Homen auch beschlossen, dass sie hier auf dem Château sicher war und nicht ständig einen Schatten brauchte.

Auf leisen Sohlen schlich Etina den Flur entlang. Sie hatte sich den Weg eingeprägt und fand die eisenbeschlagene Tür, hinter der es hinab in das Gewölbe ging, auf Anhieb. Ein großer rostiger Schlüssel steckte. Etina versuchte, die Tür zu öffnen, aber sie war abgeschlossen. Vorsichtig drehte sie den Schlüssel, der trotz ihrer Bemühungen ein quietschendes Geräusch von sich gab. Erschrocken hielt sie die Luft an und lauschte. Niemand schien es gehört zu haben. Erleichtert atmete Etina durch und schob die massive Tür auf. Sie musste kräftig drücken, so schwer war sie – oder sie einfach nur zu geschwächt. Hastig trat sie ein. Diesmal brannten keine Fackeln an den Wänden. Es war stockdunkel. Selbst ihre Vampiraugen konnten in der Finsternis keine Umrisse ausmachen. Tastend bewegte sie sich vorwärts. Um ein Haar wäre sie zweimal gestolpert, konnte sich aber rechtzeitig an einem Geländer festhalten.

Dann erreichte sie das Gewölbe. Durch einen kleinen Ritz in der Außenmauer schien das Sonnenlicht herein. Es reichte, damit Etina ihre Umgebung sehen konnte. Ihr Blick folgte dem Lichtstrahl, und dann wurde ihr klar, dass dieses Loch durchaus gewollt war. Er zielte direkt auf den Gefangenen, der noch immer auf der Folterbank lag. Trotz der Sonne waren seine Augen geschlossen, und es sah so aus, als schliefe er friedlich. Fasziniert trat Etina näher an den Vampir heran. Die Haare standen verfilzt von seinem Kopf ab, sein viel zu langer Bart sah nicht besser aus. Dennoch musste er einst ein gutaussehender Vampir gewesen sein. Die gerade Nase und die hohen Wangenknochen ließen sein attraktives Aussehen erahnen. Er stank erbärmlich nach alten Blut, Dreck und einer Mischung aus Patschuli und Sandelholz.

Etinas Magen knurrte und erinnerte sie daran, weshalb sie hergekommen war. Suchend sah sie sich um. Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus, als sie den Ambakten in einer Ecke liegen sah. Die getrocknete Blutlache um ihn herum war ziemlich groß. Etina passte auf, dass sie nicht in das Blut stieg, und kniete sich nieder. Vorsichtig, um ihm nicht aus Versehen das Genick zu brechen, zog sie den Mann zu sich. Mit zwei Fingern tastete sie nach seinem Puls. Schwach, aber regelmäßig spürte sie das Klopfen unter ihren Fingerspitzen. Etinas Zähne schossen hervor, ihr lief bereits das Wasser im Mund zusammen. Mit glasigem Blick sah sie auf den Menschen hinunter, dessen Kopf sie auf ihren Schoß gebettet hatte. Vorsichtig beugte sie sich über ihn und suchte die richtige Stelle am Hals. Dann biss sie zu. Sofort wurde ihr Mund mit Blut gefüllt. Der Geschmack von Metall und Zucker explodierte auf ihrer Zunge. Gierig schloss sie die Augen und trank. Viel zu lange hatte sie sich den lebensspendenden Saft versagt. Es war eine Wohltat, dem drängenden Hunger endlich nachgeben zu dürfen.

Mit jedem Schluck wurde Etina ruhiger. Das Gehör schärfte sich, und auch der Geruchssinn erwachte wieder zum Leben. Nun nahm sie den wabernden Duft der männlichen Vampire wahr, die sich bis vor wenigen Stunden hier unten aufgehalten hatten. Ein unbekannter Geruch lag in der Luft, kaum wahrnehmbar, aber doch so süß, dass er ihre Nase kitzelte. Etina tippte auf den schwachen Geruch des Clans, dem der Gefangene angehörte.

Sie ließ von ihrem Opfer ab, leckte über die Wunde und sah zu, wie sich die vier Löcher gleichmäßig schlossen, bis nur noch winzige Punkte zu sehen waren, die man nur bei näherem Hinsehen bemerken würde.

„Gib mir …“

Etinas Kopf schnellte bei der krächzenden Stimme in die Höhe. Alarmiert sah sie sich um. Sie hatte doch niemanden herunterkommen hören. Nein, sie war eindeutig allein, wenn man von dem Ambakten und dem … Sie starrte den Gefangenen an.

Seine Zunge glitt über die aufgeplatzte Lippe. „Gib … mir … Blut.“ Die Worte kamen abgehackt, waren kaum verständlich.

Etina war zu überrascht, um sich zu bewegen. Reglos starrte sie den Vampir an. Er lag mit geschlossenen Augen da. Nur weil sie gesehen hatte, wie seine Lippen sich bewegten, war sie sicher, dass es der Gefangene war, der sprach.

„Durst“, krächzte er noch einmal.

Etinas Herz raste, einerseits vor Aufregung, andererseits von der ungewohnten Blutmenge, die nun durch ihren Körper gepumpt wurde.

„Bitte!“ Mühsam drehte der Vampir den Kopf. Er verzog den Mund, als hätte er fürchterliche Schmerzen. Dann öffneten sich seine Lider. Smaragdgrüne Edelsteine, unendlich tief und doch klar, sahen sie flehend an. Was auch immer die Männer mit ihm angestellt hatten, es war ihnen nicht gelungen, diesen Mann zu brechen. Das konnte sie klar und deutlich in seinen Augen ablesen.

Abwechselnd liefen heiße und kalte Schauer Etina über den Rücken. Wie gebannt starrte sie in diese unglaublichen Augen. Es war, als ob die Zeit stehen bliebe. Der Gefangene stöhnte und drehte mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf zurück.

„Durst“, murmelte er kraftlos.

Etina wusste nicht, was sie tun sollte. Sie kannte diesen Vampir nicht, hatte keine Ahnung, was er verbrochen hatte. Sie konnte doch einem Gefangenen nicht einfach etwas zu trinken geben. Wenn Sebum das erführe, würde er sie gleich mit dem Fremden zusammen köpfen lassen. Panik stieg in ihr auf. Sie blickte in ihren Schoß, wo noch immer der Kopf des bewusstlosen Ambakten lag.

Vor ihrem inneren Auge tauchte das Gesicht des Gefangenen auf, und sie sah nur seine wunderschönen Augen. Unvorstellbar, dass dieser Vampir bösartig sein sollte.

Etina musste sich selbst zur Vernunft zwingen. Sie wusste nichts über diesen Vampir. Aber sie wusste selbst, wie nagend der Hunger war, wie sehr sie nach Blut gelechzt hatte. Wie konnte sie dem Gefangenen das nur verweigern?

Vorsichtig legte sie den Kopf des Mannes auf dem Boden ab, stand auf und strich über ihren Rock. Ihr Blick glitt zwischen dem Vampir und dem Ambakten hin und her. Der Vampir lag reglos auf der Streckbank, als hätte er nicht mit ihr gesprochen, ja sie nicht einmal angeblickt. Was sollte sie nur tun?

„Warum bist du hier?“, fragte Etina vorsichtig. Sie wagte nicht näherzukommen.

Der Mund des Vampirs bewegte sich. „Frag deinen Vetusta!“

Wusste er, wer sie war? Wusste er, dass sie die Samera des Vetusta war?

Etina blickte hinab, auf den Menschen zu ihren Füßen. Viel Blut konnte nicht mehr in seinem Körper sein. Aber es würde reichen, um den schlimmsten Durst des Vampirs zu stillen und die größten Wunden zu schließen. Sie wusste nicht, was sie antrieb, als sie den Leib hochhob und bäuchlings auf den Gefangenen warf. Da seine Hände gefesselt waren, hatte er keine Chance, an ihn heranzukommen.

Er riss die Augen auf. Glühende Smaragde, die den ungezähmten Überlebenswillen des Vampirs widerspiegelten. Seine Fänge waren weit ausgefahren, er stieß ein bedrohliches Knurren hervor. Er rüttelte an seinen Fesseln und war doch viel zu schwach, um sich losreißen.

Sie konnte sich umdrehen und gehen und den Gefangenen seinem Schicksal überlassen. Es sollte ihr egal sein, ob er zu trinken bekam oder nicht.

Flehend blickte er sie an, bat sie stumm um Hilfe. Magisch von ihm angezogen, kam Etina näher. Sie griff nach der unversehrten Hand des Leblosen und hielt sie an den Mund des Vampirs. In unglaublicher Schnelligkeit schnappte er nach dem Handgelenk, vergrub seine Zähne fest in das Fleisch. Dabei riss er ihr den Arm regelrecht aus der Hand.

Etina hörte sein Schmatzen, sah, wie sein Adamsapfel bei jedem Schluck auf und ab hüpfte. Er störte sich nicht daran, dass sie ihm mit großen Augen zusah. Ein seltsames Gefühl stieg in Etina auf. Einem anderen Vampir beim Trinken zuzusehen, war etwas sehr Intimes, und dieses Erlebnis teilte sie gerade mit einem fremden Vampir, ja, einem Gefangenen. Ihre Augen weiteten sich noch mehr, als ihr bewusst wurde, dass sie ebenfalls in seiner Gegenwart getrunken hatte. Beschämt wandte sie den Blick ab. Sie wusste nicht, wohin sie schauen sollte, starrte wie gebannt auf ihre Finger, die sich in ihrem Rock verkrampften.

Das Schmatzen hörte auf. Vorsichtig sah Etina zu dem Vampir, der, noch immer verbissen in das Handgelenk des Ambakten, schluckte. Doch es war kein Blut mehr in ihm. Der Ambakt war nur noch eine leblose Hülle.

Etina kam näher und zog behutsam an der Hand des Toten. Der Vampir ließ ihn frei und leckte über seine Lippen, um auch ja keinen kostbaren Tropfen zu verschwenden. Etina zog den Leichnam von ihm herab und ließ ihn an der Wand zu Boden gleiten.

„Mehr!“, keuchte der Gefangene außer Atem. Seine Stimme klang jetzt nicht mehr so rau. „Ich brauche mehr Blut!“ Eindringlich sah er sie an. Etina musste sich an der Steinwand abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ängstlich wanderten ihre Augen im Raum umher, kehrten immer wieder zu dem Gefangenen zurück. Sie hatte kein Blut. Nur das in ihrem Körper, und das würde sie ihm nicht geben.

„Bind mich los!“ Seine Worte waren nun viel sanfter, schmeichelnder.

Sekundenlang starrte sie ihn an. „Das kann ich nicht.“

„Es wird keiner mitbekommen“, versuchte er sie zu überreden.

Etina wollte ihm glauben, wusste aber, sie wäre verloren, wenn Sebum das nächste Mal in ihren Kopf kam. Sie hatte gelernt, gewisse Dinge vor ihm zu verbergen. Bei einer so großen und bedeutenden Sache wie der Freilassung eines Gefangenen würde ihr dies jedoch nicht gelingen.

„Ich kann nicht“, stammelte Etina und wich vorsichtshalber weiter von ihm zurück.

„Eine Hand.“ Seine smaragdgrünen Augen blickten sie flehentlich an, und sie hatte das Gefühl, dass er tief in ihre Seele blickte.

Eine leise Stimme trieb Etina an, seiner Bitte nachzukommen. Was konnte er mit einer Hand schon ausrichten? Sie schluckte.

„Bitte!“

Ein Knarzen war zu hören. Nicht in ihrer unmittelbaren Umgebung, sondern etwas weiter entfernt. Panisch drehte Etina sich um und floh. Niemand durfte sie hier unten finden, niemand durfte wissen, dass sie hier gewesen war. Wenn Sebum erfuhr, dass sie einem Gefangenen zu trinken gegeben hatte, wäre ihr Leben verwirkt.

Dank des stärkenden Blutes hatte sie ihre Schnelligkeit zurückbekommen. Es dauerte nur einen Wimpernschlag, dann erreichte sie die Tür, schob sie zu und drehte eilig den Schlüssel um. Erst dann verharrte sie reglos und lauschte. Nichts war zu hören.

Leise schlich Etina zurück auf ihr Zimmer, um in den letzten paar Nachmittagsstunden noch etwas Schlaf zu bekommen.


 * * *


Rastus lag auf der Streckbank und starrte an die Decke. Das nächtliche Mahl hatte ihn gestärkt und den schlimmsten Hunger genommen, auch wenn es bei weitem nicht gereicht hatte, um seine Kraft und Stärke zurückzugewinnen und sich selbst aus seinen Fesseln zu befreien. Zumindest die kleineren Schrammen waren abgeheilt, und die größeren Wunden hatten sich geschlossen. Seine Schulter war wieder eingerenkt und schmerzte kaum noch. Nur die Hände waren immer noch taub, was allerdings an seiner Position auf der Streckbank lag.

Seine Gedanken schweiften zu der Vampirin zurück. Was hatte sie hier unten zu suchen gehabt? Sie war keine Kriegerin wie Sam, keine Kämpferin wie Arnika. Schüchtern und angepasst, bis ihre Fassade im Angesicht des Hungers gebröckelt war. Er hatte ihre Schwäche erkannt, ihr weiches Herz gesehen. Leider war es ihm nicht gelungen, sie dazu zu bringen, ihn loszubinden, aber immerhin hatte sie ihm Blut gegeben. Rastus presste die Lippen fest zusammen, als er an die großen, angstvollen Augen dachte, die ihm entsetzt zugesehen hatten, wie er sich nährte, fast so, als hätte sie noch nie einem Vampir beim Trinken zugesehen. Er war mit den Gepflogenheiten der Alten Welt nicht sonderlich vertraut. Schließlich hatte er die meiste Zeit in diesem Loch verbracht. Aber ihr Verhalten hatte ihm doch zu denken gegeben. Waren ihre Lebensweisen wirklich so unterschiedlich? Auch in seiner Welt waren die Vampirinnen ihrem Rinoka untergeordnet, dennoch hatten sie gewisse Freiheiten. Sam war eine enorme Stütze für seinen Clan geworden. Sie brachte einen völlig anderen Blickwinkel mit und bereicherte dabei die Entscheidungsfindung der Ekklesia.

Er mochte starke Frauen, die wussten, was sie wollten und für ihre Ideale einstanden. Die kleine Vampirin verkörperte all das, was er an Frauen seiner Rasse verabscheute.

Rastus hörte ein Quietschen. Die schwere Tür, die sein Gefängnis von dem restlichen Schloss trennte, wurde aufgeschoben. Es war kurz nach Dämmerungseinbruch. Das wusste er, weil die Sonne nicht mehr auf sein Gesicht brannte. Die siedend heißen Strahlen hatten ihm ganz schön zugesetzt, zumindest bis er Blut bekommen hatte. Es war auch danach noch schmerzhaft gewesen, aber erträglich. Auf seiner Wange prangte noch immer verbrannte Haut, die erst heilen würde, wenn er genügend Blut in sich hatte.

Schritte kamen näher. Rastus schnupperte. Seit der Nahrungsaufnahme war seine Nase wieder empfindsamer. Es war eindeutig ein Vampir, der zu ihm kam. Der Geruch des Clans umwehte ihn und zog sich wie eine dichte Wolke über ihm zusammen. Derjenige musste nah beim Vetusta gewesen sein. Rastus überlegte einen Moment, ob es wieder die Vampirin sein mochte, verwarf den Gedanken jedoch schnell wieder. Sie würde sicher nicht in der Nähe des kompromisslosen Vetusta anzutreffen sein. Außerdem roch der Duft zu herb, zu sehr nach Moschus, als dass es der Duft einer Frau sein könnte.

Als der Vampir die Treppe beinahe herabgestiegen war, drehte Rastus den Kopf. Er wollte sehen, wer es war. Ein hochgewachsener Vampir, einer der Krieger des Blutfürsten, war zu sehen. Rastus’ und der Blick des Kriegers kreuzten sich. Abrupt blieb der Besucher stehen und zog die Stirn in Falten. Er schien zu ahnen, dass etwas nicht stimmte.

Rastus überlegte einen Moment, ob es unklug gewesen war, die Fänge einzufahren. Durch die Nahrungsaufnahme hatte er sich wieder besser unter Kontrolle. Es wäre kein Problem, der Wut nachzugeben, die in ihm brannte, seit er hier gefangen war. Doch auch mit langen Eckzähnen und glühenden Augen hätte der Krieger festgestellt, dass sich hier unten etwas verändert hatte. Den süßlichen Duft von Verwesung, den der Ambakt verströmte, konnte er nicht beeinflussen.

Der Krieger ließ die Treppe hinter sich und trat vorsichtig näher, die Hand auf seinem Schwertgriff. Aufmerksam sah er sich um, schnupperte immer wieder. Als er den in der Ecke zusammengesunkenen Ambakten sah, blieb er stehen. Seine Augen weiteten sich.

Rastus verkniff sich ein Lächeln.

„Testa“, fluchte der Krieger leise vor sich hin und beeilte sich fortzukommen.

Rastus’ Mundwinkel zuckte. Es würde nicht lange dauern, bis der Krieger zurückkehrte und die anderen Vampire mitbrachte. Langsam zählte er. Es konnte nicht schaden zu wissen, wie schnell er bei einer Flucht auf Vampire treffen würde. Als er bei siebenundachtzig ankam, waren Gepolter und aufgeregte Stimmen zu hören. Unzählige Stiefel trampelten über die Steinstufen.

„Ihr Unfähigen“, schimpfte der Vetusta, der als Erster in Rastus’ Sichtfeld trat.

Er konnte nicht verhindern, dass seine Fänge beim Anblick des Vetusta hervorschossen. Hätte er doch etwas mehr Kraft, um die elenden Fesseln abzustreifen. Er wäre dem Blutfürsten so gerne an die Gurgel gesprungen, auch wenn er diesen Angriff mit dem Leben bezahlt hätte. Was war sein Dasein überhaupt noch wert? Er saß hier seine Zeit ab, wartete … ja, worauf wartete er eigentlich? Hatte er noch Hoffnung, aus diesem Loch zu entkommen?

„So eine Schlamperei!“, donnerte der Vetusta.

Die Vampire, die ihn begleiteten, zogen die Köpfe ein. Nur einer, ein kleiner Vampir, reckte den Kopf. Er war Rastus schon bei ihrem letzten Besuch aufgefallen. Auch wenn der Kerl klein und schmächtig war, so hatte er doch etwas an sich, das ihn gefährlicher machte als die anderen Vampire. Er war unberechenbar.

Der Vetusta war stehen geblieben, begutachtete den blutleeren Ambakten. „Wer hat ihn hier liegen lassen?“

Keiner meldete sich zu Wort. Alle schwiegen betreten.

„Unfähiges Pack.“ Der Blutfürst fuhr herum, packte einen seiner Krieger und warf ihn gegen die Wand. „Ich will wissen, was hier passiert ist.“

Einer der Krieger wich zurück, stolperte dabei über seine eigenen Füße und knallte mit dem Rücken gegen die Bank, auf der Rastus lag. Eilig rappelte der Vampir sich hoch und warf einen panischen Blick auf ihn. Rastus sah die Angst des Vampirs in dessen Augen. Angst vor seinem Blutfürsten.

Es war der kleine Vampir, der die Situation rettete. Dieser trat zu dem Ambakten hin, zog einen Dolch hervor und schnitt ihm die Kehle durch.

Eine angespannte Stille folgte. Keiner wagte etwas zu sagen. Einer der Krieger zog geräuschvoll die Luft durch die Nase.

Rastus reckte den Kopf, wollte gerne sehen, was sich abspielte. Aber die Fesseln ließen ihm nicht genug Bewegungsfreiheit. Auch ohne hinzusehen, wusste er, warum es so still im Raum war. Der Mensch hatte kein Blut verloren. Wie auch, schließlich hatte er ihn völlig leergesaugt. Das war auch den hier Anwesenden bewusst.

Der Vetusta schritt im Verlies auf und ab und trat dann auf Rastus zu. Der Blick aus seinen wässrigen grünen Augen bohrte sich in Rastus’, der diesem unverwandt standhielt. Er konnte in seiner Position ohnehin nicht viel ausrichten, aber zumindest konnte er ihm so klarmachen, dass er nicht klein beigeben würde. Der Vetusta wandte seinen Blick ab und funkelte stattdessen seine Krieger an.

„Ich möchte wissen, wer das zu verantworten hat.“ Seine Stimme klang mühsam beherrscht. „Es kann doch nicht sein, dass hier ein blutleerer Kadaver herumliegt“, seine Faust krachte gegen die Steinwand und hinterließ eine Vertiefung, „und mir keiner sagen kann, was passiert ist!“

Verlegen blickten die meisten Angesprochenen zur Seite.

Die Stiefel des Vetusta scharrten über den Steinfußboden. „Unfähiges Pack!“, schimpfte er vor sich hin. Dann stand er direkt neben Rastus. Der sah die Hand kommen, die sich um seinen Hals legte, konnte jedoch nicht verhindern, dass der Vetusta zudrückte. Vampire konnten zwar nicht an Sauerstoffmangel sterben, dennoch war es ein schreckliches Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

„Wer hat dir zu trinken gegeben?“ Der Druck an einem Hals ließ nach.

Er würde die kleine Vampirin nicht verraten. Nicht, weil er sie beschützen wollte, sondern lediglich, um den Vetusta zu ärgern.

„Verfluchter Hurensohn“, schimpfte der Blutfürst und verstärkte den Griff um seinen Hals wieder.

Rastus röchelte, trotzdem verzog er seinen Mund zu einem spöttischen Lächeln.

Der Vetusta ließ von ihm ab, als hätte er sich verbrannt. Befreit atmete Rastus durch.

Nun fuhr der Blutfürst zu seinen Kriegern herum, streckte herausfordernd die Hand aus und verlangte von dem kleinen Vampir: „Deinen Dolch!“

Wortlos, aber sichtlich widerwillig zog der Angesprochene die Waffe und reichte sie dem Vetusta.

„Murai, das Drehkreuz!“, befahl er einem seiner Krieger.

Ein blonder Vampir schickte sich an, dem Wunsch des Vetusta nachzukommen, und begann zu kurbeln.

Rastus spürte den Zug nach oben, das Überdehnen der Schultermuskulatur. Er biss die Zähne aufeinander und unterdrückte einen Schmerzensschrei.

Der Vetusta trat an die Streckbank, den Dolch erhoben. „Es ist mir egal, ob du schreist.“ Seine verwaschenen grünen Augen leuchteten auf. Dann ließ er die spitze Klinge über Rastus’ nackte Brust gleiten. Er schnitt nicht tief, ritzte die Haut nur. Ein schmales Rinnsal Blut floss an Rastus’ Seite entlang und tropfte zu Boden. Er war genug gestärkt, sodass die Verletzungen schnell heilen würden, jedoch so schnell, dass es auch dem Vetusta auffiel. Er schnaubte und zog erneut den Dolch über Rastus’ Oberkörper. Ein langer Schnitt von seinem Bauchnabel bis hinauf zum Schlüsselbein. Noch ehe die Wunde sich schließen konnte, setzte der Blutfürst die Klinge erneut an. Und noch einmal und noch einmal.

Rastus keuchte. Die Verletzungen mochten nicht tief sein, aber er war noch immer geschwächt. Er spürte, wie das Blut aus den Wunden austrat und ihm seine Selbstheilungskräfte raubte. Es dauerte immer länger, bis sich die Schnitte schlossen.

Der Vetusta hörte nicht auf, Rastus’ Körper mit dem Dolch zu malträtieren. Rastus wusste nicht, wie lange die Folter andauerte. Er konzentrierte sich vollkommen darauf, den unerträglichen Schmerz aus seinem Bewusstsein zu verdrängen und ruhig weiterzuatmen.

Schließlich hörte der Vetusta auf und trat einen Schritt zurück, um sein Werk zu betrachten. Rastus hob mühsam den Kopf. Seine Brust war übersät mit unzähligen Schnitten, die sich nicht mehr von selbst schlossen. Überall klebte Blut, teilweise angetrocknet, teilweise noch flüssig. Erschöpft ließ er den Hinterkopf auf die Holzbank sinken und schloss die Augen.

„Murai!“, hörte Rastus durch einen dichten Schleier die Anweisung des Vetusta.

Ein Ruck ging durch seinen Körper. Das Rattern des Drehkreuzes hallte in seinen Ohren wieder, als sein Leib weiter auseinandergezogen wurde. Die Füße angekettet, die Hände über den Kopf nach oben gebunden, war es unmöglich, dagegen anzukämpfen. Seine Muskeln waren müde, sein Körper von den Strapazen erschöpft. Die rechte Schulter schmerzte höllisch. Lange würde er den Druck nicht mehr aushalten. Noch immer war er nicht bereit aufzugeben. Verzweifelt kämpfte er gegen den Zug und die Schmerzen an. Er spürte, wie die Dehnung zunahm und sich sein Knochen mit einem lauten Knacken aus der Gelenkpfanne löste. Sein Arm wurde ruckartig nach oben gerissen.

Wie ein Tsunami rollte eine Welle aus Schmerzen durch seinen Körper, benebelte seinen Verstand. Unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, hörte er einen gellenden Schrei, der an den steinernen Wänden seines Gefängnisses widerhallte – seinen Schrei. Er hatte sich lange dagegen gewehrt, aber nun konnte er nicht mehr anders. Nicht in der Lage sich zu bewegen, war Schreien seine einzige Möglichkeit, die Spannung in seinem Körper abzubauen. Sonst würde er verrückt werden.

Langsam ließ die Dehnung nach, und die höllischen Schmerzen ebbten ab.

„Willst du mir nun sagen, wer dir geholfen hat?“ Der Vetusta hatte sich leicht über ihn gebeugt. Ein verräterisches Funkeln glitzerte in den wässrig grünen Augen. Er genoss es, ihn leiden zu sehen und weidete sich an den Qualen seines Gefangenen.

Rastus atmete schneller, als müssten seine Lungen Sauerstoff für die nächsten Stunden sammeln. Er wusste, er würde einen langen Atem brauchen, um die Folter zu überstehen. Aber was auch immer geschah, er würde kein Wort sagen. Weder, wer ihnen geholfen hatte, aus dem Land der Sjüten zu fliehen, noch wer ihm zu trinken gegeben hatte.

Der Blutfürst stieß eine wüste Verwünschung aus, fuhr zu seinen Männern herum und brüllte knappe Befehle.

Das Drehkreuz ratterte und ächzte. Rastus holte noch einmal tief Luft und schloss die Augen, um sich gegen die Hölle zu wappnen, die jeden Moment auf seine Sinne einstürmen würde.


* * *


Etina schlief für ihre Verhältnisse viel zu lang. Für gewöhnlich stand sie pünktlich bei Sonnenuntergang auf. Doch heute, da sie durch den Besuch ihres Homens und den nächtlichen Ausflug kaum geschlafen hatte, kam sie einfach nicht aus dem Bett. Nur die Angst, dass ihre Abwesenheit negativ auffallen würde, gab ihr die Kraft aufzustehen. Eilig trat sie unter die Dusche, um jeden verräterischen Geruch an ihrem Körper fortzuspülen. Dann frisierte sie sorgfältig ihre Haare, kleidete sich an und verließ das Zimmer.

Zu ihrer Überraschung stand Decker direkt vor der Tür. Sofort senkte sie den Blick und eilte wortlos an ihm vorbei. Wie ein Schatten hängte er sich an sie und verfolgte sie durch die Gänge. Im Gegensatz zum vergangenen Tag begegnete sie hin und wieder einem Vampir. Alle grüßten sie respektvoll, blieben aber auf Abstand. Immerhin war sie die Samera ihres Blutfürsten, und niemand wollte den Zorn des Vetusta auf sich ziehen. Die weiblichen Vampire schienen aus der Burg verschwunden zu sein, zumindest hatte sie seit der Krönungszeremonie keine mehr gesehen. Hatten sie sich alle in ihre Zimmer zurückgezogen, oder waren sie tatsächlich abgereist? Weder das eine noch das andere konnte sie ihnen verübeln – sie hätte es ebenso getan, wenn ihr Homen das zugelassen hätte.

Als Etina sich der Halle näherte, nahm die Anzahl der Vampire zu. Wie aufgescheuchte Hühner liefen sie herum und verbreiteten eine ungeheure Unruhe, die sich auch auf Etina übertrug. Ein beklemmendes Gefühl machte sich in ihrer Magengegend bereit. Was würde sie im Thronsaal erwarten?

Sie erkundigte sich bei Decker in der Hoffnung, dass er ihre Fragen beantworten würde.

Decker zögerte einen Moment, ehe er mit dem Kopf schüttelte. „Das steht mir nicht zu, dir das zu erzählen, Mi.“

Äußerlich blieb Etina ruhig, innerlich tobte in ihr der Frust. Warum wurde sie immer übergangen? Warum hielt es niemand für nötig, sie zu informieren? Es musste eine große Sache sein, dessen war sie sich inzwischen sicher.

Etina hatte den Vorraum zur Halle beinahe erreicht, als Decker ihren Arm ergriff. Sie fuhr zusammen und wirbelte zu ihm herum. Aufgebracht funkelte sie ihn an. Sie legte keinen Wert darauf, dass er sie berührte. Niemand hatte das Recht dazu, niemand außer ihrem Homen, dem sie ihren Körper nicht verwehren konnte. Erschrocken über ihre Aufgebrachtheit ließ Decker sie los und nahm gebührenden Abstand zu ihr ein.

Mit einer Verbeugung bat er um Entschuldigung. „Es wird nicht wieder vorkommen“, versprach er ihr. „Du solltest die Halle durch den Nebeneingang betreten.“

Etina kämpfte gegen die Wut an, die sich in ihren Augen widerspiegeln würde. Decker war in ihre Privatsphäre eingedrungen und ihr zu nahe gekommen. Das hatte sie noch immer nicht überwunden. Dennoch wusste sie, dass sie sich konzentrieren musste. Sie durfte sich die Schwäche nicht anmerken lassen. Eines Tages würde er sie ausnutzen, und das durfte niemals geschehen.

„Darf ich dich zum Seiteneingang begleiten?“

Erst jetzt drangen seine Worte in ihren Verstand. Er hatte natürlich recht. Als die Samera des Blutfürsten musste sie nicht um Einlass bitten wie die einfachen Vampire. Sie nickte knapp und ging weiter den schmalen Flur entlang, der um die Halle herum zu einem Nebeneingang führte.

Die Räume hier hinten waren leer. Decker hielt ihr die Tür auf und ließ sie in die große Halle eintreten.

Neugierig blickte Etina sich um. Sie befand sich in der Nähe des Throns. Für einen Moment zögerte sie, spielte mit dem Gedanken, die Flucht in ihre Gemächer zu ergreifen. Doch ihr Homen, der auf dem steinernen Thron saß, hatte sie bereits entdeckt. Etina gab sich einen Ruck und ging auf ihn zu. Decker folgte ihr nicht. Er blieb seitlich in den dunklen Schatten stehen.

Sebums Miene war kalt und abweisend. Er hatte ein Bein über das andere gelegt, einen Arm auf der Lehne abgestützt und sah gelangweilt aus. Vor ihm standen zwei Vampire niederen Ranges, die eine Bitte vortrugen.

Wie es Etinas Stand gebührte, schritt sie auf den Vetusta zu und nahm ihren Platz auf der rechten Seite seines Thrones ein.

Du hast dir viel Zeit gelassen!, wies er sie zurecht.

Es tut mir leid, ich wollte dich nicht warten lassen. Etinas Blick war auf die Vampire vor sich gerichtet. Für einen Unbeteiligten musste es so aussehen, als würde sie konzentriert den Bittstellern zuhören.

Ich nehme deine Entschuldigung an. Seine gnädigen Worte standen im Widerspruch zu dem vorwurfsvollen Unterton, der mitschwang.

Die Vampire sind unruhig. Etina konnte ihre Neugier nicht bremsen, ihn direkt zu fragen, traute sie sich jedoch nicht.

Sie warten auf seine Ankunft.

Wessen Ankunft?, fragte sie bemüht beiläufig klingend.

Sie spürte sein Lächeln vielmehr, als dass sie es sah. Nun, lass dich überraschen.

Etina wusste, weiteres Nachfragen würde erfolglos bleiben, deswegen schwieg sie. Auch wenn sie nun erst recht neugierig geworden war und unbedingt wissen wollte, wer in Kürze auf dem Schloss eintreffen würde.

Sebum widmete sich indessen seinen Untergebenen. Die Vampire kauerten nun auf dem Boden und warteten auf sein Urteil.

Etina hatte absolut keine Ahnung, worum es bei ihrer Bitte gegangen war. Die Unterhaltung mit Sebum hatte sie völlig in Beschlag genommen. Sie hoffte für die Vampire, dass der Vetusta ihnen gewissenhafter zugehört hatte.

„Abgelehnt!“ Gelangweilt lehnte der Vetusta sich in seinem Thron zurück und machte eine wedelnde Handbewegung in Richtung der Vampire.

Diese kauerten noch immer am Boden und wagten kaum zu atmen.

„Bitte!“, jammerte einer von ihnen kleinlaut.

„Bringt sie weg!“ Der Blutfürst wurde ungeduldig.

Eilig traten vier der Krieger vor, packten die am Boden liegenden Vampire jeweils an den Armen und trugen sie hinaus. Sie wagten es nicht noch einmal, um Gnade zu flehen, aber das Entsetzen war deutlich in ihren Gesichtern abzulesen.

Etina schloss die Augen. Sie konnte den Anblick des Leids nicht länger ertragen. Es lag nicht in ihrer Macht, ihnen zu helfen. Sie war nicht in der Position, um für sie zu sprechen, auch wenn sie die Samera des Vetusta war. Die Frage war ohnehin, wie lange noch.

Wunderschöne grüne Augen schoben sich in ihren Geist. Smaragdgrün und unendlich strahlend, nicht so wässrig und milchig wie die ihres Homen. Erschrocken riss Etina die Augen auf. Sie durfte nicht an ihn denken, ihn nicht in ihre Gedanken lassen. Wenn Sebum ahnte, dass sie etwas vor ihm verbarg, würde er in ihren Geist eindringen und so lange danach suchen, bis er ihr Versteck fand. Und dann würde er sie zerstören. Nie durfte er von ihrem nächtlichen Ausflug erfahren, nie wissen, was sie getan hatte. Überhaupt musste sie vor ihm verbergen, dass sie dem Gefangenen begegnet war.

Die hölzerne Flügeltür krachte hinter den hinausgeführten Vampiren ins Schloss. Für einen Moment war es still im Saal. Die anwesenden Vampire sahen sich neugierig um. Als sie feststellten, dass nichts Aufregendes passiert war, widmeten sie sich wieder ihren Gesprächen oder der Arbeit, der einige von ihnen emsig nachgingen.

Stumm stand Etina an ihrem Platz, wagte nicht, den Vetusta anzusprechen, und war eigentlich auch ganz froh, dass er nicht das Gespräch mit ihr suchte. Schließlich winkte er einen seiner Krieger zu sich, mit dem er sich leise besprach.

Aufgeregte Stimmen vor der Halle wurden laut. Die Unruhe, die dort herrschte, übertrug sich auf die Vampire in der Halle.

„Er ist da!“, hörte sie einen Vampir ehrfurchtsvoll wispern.

Etina streckte den Rücken durch. Wer war er? Ihr fiel niemand ein, über dessen Erscheinen sie sich freuen würde. Ihre eigene Familie war seit Jahrhunderten tot, und Freunde besaß sie nicht. Nur … Etinas Brust krampfte sich schmerzhaft zusammen. Konnte es wahr sein? Sollte er zurückgekehrt sein?

Die großen Flügeltüren der Halle wurden aufgeschoben, und ein Vampir schritt hocherhobenen Hauptes herein. Ein Lächeln breitete sich auf Etinas Gesicht aus, als sie den jungen Mann erkannte. Die rötlichen Haare, die er von ihr geerbt hatte, trug er nun etwas länger, sodass sie sich um sein Gesicht leicht lockten. Während die Seiten halbwegs kurzgehalten waren, hatte er die Haare hinten zu einem dünnen Zopf geflochten, der nun auf seiner Schulter ruhte. Er trug eine schwarze Lederhose, Stiefel und über dem weißen Hemd mit Schnürung eine Lederweste. Gut sah er aus. Er war erwachsen geworden. Etina musste an sich halten, um ihm nicht entgegenzueilen und ihren Sohn in die Arme zu schließen. Es war viel zu lange her, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte.

Sein Blick streifte den ihren, und Etina erschrak, als sie in die wässrigen grünen Augen blickte, die ein Abbild der ihres Homens waren. Die Güte und Aufrichtigkeit, die sie stets in seinem Blick gesehen hatte, waren Härte und Entschlossenheit gewichen. Was war in den letzten Monaten mit ihrem Sohn geschehen?

Der junge Mann trat vor den Thron, ließ sich auf ein Knie nieder und beugte den Kopf.

„Ich bin zurückgekehrt, Vetusta.“

Etina schluckte. Es sagte viel über das Verhältnis ihres Sohnes zu seinem Vater aus, dass er ihn mit Titel ansprach.

Sebum blickte hinab auf seinen knienden Sohn, ehe er sich würdevoll erhob.

„Willkommen zurück!“ Langsam schritt er die Stufen hinab, blieb auf der vorletzten stehen und streckte Itan die Hand entgegen. Der junge Vampir schlug ein und erhob sich. „Ich hoffe, du konntest deinen Auftrag zu meiner Zufriedenheit erfüllen.“

Ein Lächeln umspielte die Lippen des Epheben. Etina erschrak. Diesen grimmigen, verkniffenen Zug kannte sie von ihrem Sohn nicht. Ihr Magen rebellierte, als sie schmerzerfüllt feststellen musste, dass ihr geliebtes Kind seinem abscheulichen Vater immer ähnlicher wurde. Nein!, schrie alles in ihr. Das hatte sie nicht gewollt. So sollte er nie werden. Sie hatte alles getan, um ihm eine gute Mutter zu sein, hatte ihm Liebe und Respekt beigebracht. Seit seiner Renovation hatte er sich aber immer weiter von ihr entfernt, hatte die Nähe seines Vaters gesucht.

Die beiden Vampire tauschten einen wissenden Blick, und Etina ahnte, dass sie auf geistiger Ebene kommunizierten.

Was war Itans Auftrag gewesen? Warum hatte Sebum ihn als Pfand ins feindliche Blutfürstentum ziehen lassen? Welcher perfide Plan steckte dahinter? Sebum hatte schon immer seine machthungrigen Vorhaben verfolgt, ohne Rücksicht auf Verluste. Und Etina hoffte inständig, dass Itan nie zu den Verlusten zählen würde. Er war ihr Ein und Alles, der einzige Grund, warum sie an Sebums Seite weiter ausharrte. Seine Existenz gab ihr Kraft weiterzuleben, die Bürde, die ihr das Leben auferlegt hatte, zu tragen. Zumindest konnte sie so hin und wieder in seiner Nähe sein. Traurigkeit ergriff sie und breitete sich in ihr aus.

Sebums rechte Hand ruhte auf Itans Schulter, während er die andere ausbreitete. „Itan ist zurückgekehrt. Das muss gefeiert werden.“

Das Gegröle der Männer erhob sich in die Stille hinein mit einer Mischung aus „Ja“ und „Oui“.

Ein breites Grinsen legte sich auf das Gesicht ihres Sohnes, erreichte diesmal auch seine Augen, als er sich an seinen Vater wandte und sagte: „Ich hoffe, du hast ein paar heiße Mädchen. Das hat mir am meisten gefehlt.“

Sebum klopfte seinem Sohn auf die Schulter. „Das gefällt mir!“ Und etwas leiser, so dass es für die Umstehenden nicht mehr zu hören war und dass auch Etina, die am nächsten bei ihnen stand, ihre Ohren spitzen musste, fügte er hinzu: „Mein Sohn.“

Allgemeine Hektik brach in der Halle aus. Vampire eilten geschäftig davon, um die Blutsklaven zu holen.

Etina wandte sich ab. Sie wollte bei dem Gelage der Männer nicht dabei sein. Sie fand es abstoßend, wie sie sich in aller Öffentlichkeit labten und ihrem Sexualtrieb freien Lauf ließen. Neben der Seitentür stand noch immer Decker. Als sie auf ihn zueilte, zog er fragend eine Augenbraue nach oben.

„Ich möchte gehen“, erklärte sie ihm.

Decker blickte auf etwas hinter ihr und räusperte sich. Etina drehte sich um.

„Du wirst uns doch jetzt nicht verlassen?“, fragte Sebum mit einem diabolischen Grinsen.

Am liebsten hätte Etina ihm ins Gesicht gesagt, dass sie genau das vorhatte. „Nein, natürlich nicht.“ Sie senkte den Kopf und ließ zu, dass er nahe an sie heran trat. Seine Hand strich zärtlich über ihre Wange, ihren Hals hinab. Dann packte er sie grob im Nacken.

Etina keuchte auf. Der Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen.

Sebums Gesicht war ganz nah. Sein übel riechender Atem strich über ihre Wange.

„Feier mit uns die Rückkehr unseres Sohnes!“ Es war keine Bitte, vielmehr ein Befehl.

Etina nickte.

Der Schmerz in ihrem Nacken verschwand, als er sie losließ. Ohne ein weiteres Wort ging er davon.

In diesem Moment wurden die großen Flügeltüren erneut geöffnet, und unzählige Amicas und Ambakten traten ein. Sie waren größtenteils nackt und sahen sich verwundert in der großen Halle um. Sebums Krieger trieben sie in die Mitte des Raumes. Hungrig nach Vampirsex gafften die Blutsklaven die Vampire an.

Der Vetusta war stehen geblieben und winkte Itan zu sich. „Such dir jemanden aus“, forderte er seinen Sohn auf.

Lächelnd trat Itan neben seinen Vater und ließ sich Zeit mit seiner Auswahl. Er schritt an den Blutsklaven vorbei und nahm das großzügige Angebot in Augenschein.

„Ich hätte gerne die Rothaarige“, erklärte er und deutete auf eine zierliche Frau, die in zweiter Reihe stand. Sie strahlte über das ganze Gesicht, als sie merkte, dass sie die Auserwählte war, drängte sich an ihren Artgenossen vorbei und trat aus dem Kreis der Blutsklaven heraus.

Galant reichte Itan ihr die Hand. Stolz legte die Amica ihre Hand in seine und wurde mit einer blitzschnellen Bewegung zu Itan gezogen, der seine Fänge in ihrem Hals vergrub. Verzückt seufzte die Blutsklavin und räkelte sich in seinen Armen.

Gefangen in einer Mischung aus Abscheu und Faszination, gelang es Etina nicht fortzusehen. Gebannt sah sie Itan zu, wie er von der Blutsklavin trank, die sich verlangend an ihm rieb.

„Bedient euch, meine Freunde!“, rief Sebum seinen Männern zu und machte eine einladende Handbewegung.

Die Vampire jubelten und mischten sich unter die Blutsklaven.

Nur Etina stand noch immer am Rand, sah mit wachsendem Entsetzen dem frevelhaften Treiben zu. Sie wollte nicht hierbleiben, sich das nicht länger ansehen. Würde es jemand mitbekommen, wenn sie sich heimlich hinausschlich? Ein Blick auf Decker, der noch immer neben der Tür stand, machte ihre Hoffnung zunichte. Auch wenn er immer wieder gierig zu den Blutsklaven hinübersah, so behielt er sie dennoch im Auge. An ein Entkommen war nicht zu denken. Resigniert ergab sich Etina ihrem Schicksal und setzte sich auf einen gepolsterten Stuhl, der in einem dunklen Eck, weit hinter dem Thron, stand und wo sie hoffentlich in Ruhe gelassen wurde, bis ihr Homen ihr erlaubte, das Fest zu verlassen.

Kapitel 4


Etina musste mit ansehen, wie die Vampire sich an den Blutsklaven vergingen. Zuerst tranken sie nur von ihnen, dann kamen immer mehr sexuelle Handlungen hinzu und ließen das Ganze zu einem perversen Gelage ausufern.

Angeekelt saß sie da, versuchte sich nichts anmerken zu lassen, wenn wieder ein Mensch blutleer in sich zusammensackte und nicht mehr aufstand. Etliche Amicas und Ambakten würden die Nacht nicht überleben, andere wären nur noch ein Schatten ihrer Selbst und würden dem Schicksal ihrer Artgenossen innerhalb weniger Tage folgen. Ein paar der niederen Krieger waren damit beschäftigt, die Toten wegzuräumen und die entkräfteten Blutsklaven gegen neue aus dem Zwinger auszutauschen. Der Vorrat an Menschen im Zwinger schien unerschöpflich zu sein.

Die schlimmste Erkenntnis dieser Nacht war für Etina jedoch, dass sie ihren Sohn verloren hatte. Sebum hatte es geschafft, ihn zu verderben. Ihr Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen, und es tat so unglaublich weh, sich diesen Verlust einzugestehen. Sie wartete darauf, dass er zu ihr kam, ihr sagte, wie sehr er sich freute, sie zu sehen. Doch nichts dergleichen geschah. Er hatte sie gesehen, dessen war sie sich sicher. Immerhin hatten sich ein paar Mal ihre Blicke gekreuzt. Aber anstatt, dass er ihr Gesellschaft leistete oder wenigstens auf ein paar Worte vorbeikam, feierte er eine Blutorgie. Und als er sich letztendlich den Hosenlatz aufknöpfte, um mit einer beliebigen Menschenfrau belanglosen Sex zu haben, wagte Etina nicht mehr, ihn in der Menge zu suchen. Das musste sie sich nicht antun. Sie konnte nicht länger zusehen, und so saß sie mit gesenkten Kopf da.

Nachdem sie Itan verloren hatte – was für einen Sinn hatte ihr Leben überhaupt noch? Alles, wofür es sich zu leben lohnte, war Itan gewesen. Es war ihr immer wichtig gewesen, für ihn da zu sein, sich in seiner Nähe aufzuhalten und ihn vor Gefahren zu bewahren. Doch er war erwachsen geworden und hatte sich für Sebums Seite entschieden. Sebum hatte es geschafft, die Seele des Jungen zu vergiften, ihn zu Seinesgleichen zu machen.

Etina hatte keine Kraft mehr, gegen Sebums Grausamkeiten anzukämpfen, wollte nicht sehen, in welch abscheuliches Monster sich ihr Sohn verwandelte. Sie haderte mit ihrem Schicksal, haderte mit der Welt, als Sebum endlich Erbarmen zeigte und ihr durch einen Boten ausrichten ließ, dass sie sich nun zurückziehen durfte.

Hastig stand sie auf, vermied den Blick auf die Vampire und ihr grässliches Treiben und eilte zu Decker, der noch immer auf sie wartete. Mit einem Nicken öffnete er ihr die Tür und folgte ihr wortlos zu ihren Gemächern.

Etina war froh, als die Tür sich hinter ihr schloss und sie endlich allein sein konnte. Der Tag brach gerade an, und so entschied sie sich, ins Bett zu gehen.

Schlaflos wälzte sie sich hin und her, fand einfach keine Ruhe. Immer wieder kreisten ihre Gedanken um die Hoffnungslosigkeit ihres Lebens. Nichts hatte noch Sinn. Die unendliche Leere in ihr fraß sie auf. Sie wollte nicht mehr weiterleben. Gab es überhaupt noch etwas, für das es sich zu leben lohnte? Würde jemand sie vermissen, ihr auch nur noch eine Träne nachweinen, wenn sie nicht mehr da wäre?

Sie war bereit, einen Schlussstrich zu ziehen, wollte nicht mehr weitermachen. Doch wie sollte sie nur ihr Leben beenden? Ihre Rasse war robust, nicht so leicht umzubringen. Aushungern würde ihr nicht gelingen, solange sie sich auf dem Château befand, in dessen unmittelbarer Nähe es einen Zwinger mit Hunderten von Menschen gab. Sich mit Benzin zu überschütten, dazu fehlte ihr der Mut. Außerdem wusste sie nicht, wie sie an Benzin herankommen sollte. Blieb noch, sich die Kehle aufzuschlitzen. Sie selbst konnte das nicht tun, und sie kannte auch niemanden, der ihr diesen Gefallen tun würde. Immerhin war sie die Samera des Vetusta und auch, wenn ihr Homen von vielen gehasst wurde, würde es doch niemand wagen, Hand an sie zu legen. Etina hielt inne. Es sei denn, es war jemand, der dem Vetusta nicht unterstellt war und der ihn ebenso sehr hasste wie sie. Smaragdgrüne Augen, in denen sich ein unbändiger Überlebenswille spiegelte, tauchten in ihren Gedanken auf. Mit einem Ruck setzte Etina sich auf.

Der Gefangene.

Wenn sie ihm zur Flucht verhalf, könnte sie mit ihrer letzten Tat den Vetusta erzürnen. Ihr Tod wäre ihm sicherlich völlig egal, aber der Verlust seines Gefangenen würde ihn schwer treffen. Sie dagegen war ersetzbar. Er würde einfach eine andere Vampirin zu seiner Samera machen. Diese Frau tat ihr zwar jetzt schon leid, aber sie konnte sich nicht immer nur um das Wohl anderer kümmern. Einmal in ihrem Leben musste sie egoistisch sein und an sich denken.

All ihren Mut zusammennehmend stand Etina auf. Sie blickte in den beinahe blinden Spiegel und betrachtete sich selbst. Die roten Haare fielen ihr offen über die Schultern. Sie trug nichts als ein langes, dünnes Nachthemd. Sollte sie sich ankleiden, oder wollte sie so sterben? Sie war eine Königin, auch wenn Sebum das nicht wahrhaben wollte; aber indem er den Thron bestiegen hatte, hatte er sie dazu gemacht. Und als solche wollte sie auch in den Tod gehen.

Das Eindrehen ihrer Haare zelebrierte sie, schließlich war es das letzte Mal. Es dauerte beinahe doppelt so lange wie sonst. Aber sie hatte Zeit. Niemand drängte sie, niemand wartete darauf, dass sie fertig wurde. Dann steckte sie die Haare hoch und entschied sich, ihr Lieblingskleid anzuziehen. Es war ihr egal, dass es nicht angemessen war, sie liebte es dennoch. Der Rock ging ihr bis zu den Knöcheln, der Halsausschnitt war züchtig, und gerade, weil es weit geschnitten war und ihre weiblichen Attribute kaschierte, war es unheimlich bequem. Das einzige, womit das Kleid punkten konnte, war der robuste, dunkelgrüne Stoff, der ihre Augen betonte. Auf den protzigen Goldschmuck, den sie von Sebum geschenkt bekommen hatte, verzichtete sie bewusst. Sie wollte nichts tragen, was sie von ihm erhalten hatte, und so legte sie nur das Medaillon an, das sie vor langer Zeit von ihren Eltern geschenkt bekommen hatte. Zum Schluss schlüpfte sie in flache, einfache Schuhe, die schon etwas abgetragen waren, in denen sie dafür bequem laufen konnte. Etina warf noch einen prüfenden Blick in den Spiegel und griff nach dem Dolch. Er sollte das Einzige sein, was sie von Sebum mitnahm. Die Waffe hatte er ihr zur Geburt von Itan geschenkt. Der Griff war vergoldet und der Knauf mit roten Saphiren geschmückt. Sie drückte den Dolch an ihre Brust. Dies war der Tag, an dem sie sterben würde. Sie hatte ihren Frieden gefunden und sah erleichtert in die Zukunft. Sie hatte keine Angst zu sterben, das Leben war viel qualvoller, und der Tod würde eine Erlösung sein.

Noch einmal atmete Etina tief durch, horchte in sich hinein. Da war nichts, kein Bedauern, keine Angst. Nur die Gewissheit, dass sie das Richtige tat.


* * *


Ihre Schritte hallten in dem Kellergewölbe wider, als Etina die Treppen hinunterschlich. Der Kerker lag verlassen vor ihr, lediglich der Gefangene hing auf der Streckbank. Er regte sich nicht, und Etina glaubte für einen Augenblick, er wäre tot. Als sie näher kam, sah sie, wie übel die Vampire ihn zugerichtet hatten. Seine Brust war blutüberströmt und von langen offenen Wunden überzogen. Was hatten sie ihm angetan? Sie konnte die Anzahl der Schnitte nicht zählen, so viele waren es. Auch sein Gesicht hatten sie nicht verschont. Sein linkes Auge war zugeschwollen, die Lippe aufgeplatzt. Zumindest hörte sie sein Herz langsam, aber regelmäßig schlagen. Da sich seine Wunden nicht schlossen, musste er am Ende seiner Kräfte sein.

„Was willst du?“

Etina zuckte zusammen, als sie seine krächzende Stimme vernahm. War das wirklich eine gute Idee? Der Gefangene war zu erschöpft, um den Kopf zu drehen. Würde ihm die Flucht überhaupt gelingen? Sie hatte lange Zeit in ihrem Zimmer verbracht, hatte beinahe den ganzen Tag vertrödelt. Mehr als ein oder zwei Stunden, bis die Vampire wach wurden und feststellen würden, dass er nicht mehr hier war, würden ihm nicht bleiben. Reichte die Zeit, um vor ihnen zu fliehen?

Warum machte sie sich überhaupt Sorgen um den Fremden? Es konnte ihr egal sein, was mit ihm geschah, solange er nur die Abmachung erfüllte. Sie würde ihm die Freiheit schenken, aber nur zu ihren Bedingungen.

„Ich werde dich freilassen“, verkündete Etina.

Sein unverletztes Auge öffnete sich, und endlich drehte er den Kopf, um sie anzublicken. „Warum solltest du das tun?“

Etina ärgerte sich, dass er ihr ganz offensichtlich nicht glaubte.

Abwartend blickte er sie an. In seinen Augen loderte noch immer die wilde Ungezähmtheit, die sie so faszinierte. Auch wenn er furchtbar entstellt war, seine Augen vor Hunger ununterbrochen glühten und er jegliche Kontrolle über seine Fänge verloren hatte, war sein Überlebenswille dennoch ungebrochen. 

„Ich will sterben.“

Der Gefangene verzog das Gesicht. „Und du glaubst, wenn du mich freilässt, wird der Vetusta dich umbringen?“, fragte er skeptisch.

„Nein“, entgegnete Etina ruhig. So naiv war sie nicht. Wäre das ihr Plan gewesen, wäre sie nicht hergekommen. „Du wirst mich umbringen, bevor du fliehst.“

Der Gefangene begann zu lachen, was in einem Hustenanfall endete.

Etina ärgerte sich über ihn. Sie hatte sachlich darüber gesprochen. Was veranlasste ihn anzunehmen, sie treibe Scherze? Um ihren Entschluss zu bekräftigen, zog sie den Dolch hervor.

Er kniff sein unverletztes Auge zusammen und betrachtete sie nachdenklich. „Du meinst es wirklich ernst“, murmelte er.

„Ich werde dich losschneiden, wenn du mir versprichst, mich mit dem Dolch umzubringen.“

Der Gefangene schwieg.

„Ich bin hungrig“, sagte er mit belegter Stimme, das Sprechen fiel ihm schwer. „Ich brauche Blut.“

Eiseskälte erfasste Etina. Daran hatte sie nicht gedacht. Vor dem Château im Zwinger befanden sich genug Menschen, aber hier war niemand außer ihr und ihm. Es war noch nicht lange her, dass sie sich genährt hatte, und sie wusste auch, dass es theoretisch möglich war, dass sich Vampire von Vampiren ernährten. Die Vorstellung, den Gefangenen an ihre Vene zu lassen, verursachte ihr jedoch eine Gänsehaut.

„Du kannst mein Blut haben“, bot sie ihm tonlos an, auch wenn sie schon allein der Gedanke abstieß. Dass dieser dreckige Kerl sie anfasste, seine aufgeplatzte, blutende Lippe auf ihre Haut legte und von ihr trank, verursachte ihr Übelkeit, und sie war nahe daran, umzudrehen und den Kerker zu verlassen. Aber dann würde sie weiterleben müssen, und das wollte sie nicht.

Sein raues, gurgelndes Lachen war erneut zu hören.

Etina richtete sich auf. Sie war nicht bereit aufzugeben, nicht nachdem dieser Gefangene ihre einzige Chance auf einen schnellen, unkomplizierten Tod war. Sie hatte sich oft genug von männlichen Vampiren demütigen lassen müssen, dieser hier wäre nur ein weiterer.

„Ich werde dich losschneiden, und du kannst von mir trinken, das ist mir egal. Aber bevor du gehst, wirst du mich töten. Das ist meine Bedingung“, fasste sie ihr Angebot noch einmal zusammen.

Der Gefangene schwieg. Viel zu lange. Er musste hungrig sein, halb wahnsinnig vor Schmerzen und dennoch zögerte er, auf ihren Vorschlag einzugehen.

„Was hast du davon?“, wollte er wissen.

Etina blickte auf, wagte es, ihm direkt in die Augen zu sehen. „Einen schnellen und endgültigen Tod“, wisperte sie.

„Gut“, stimmte der Gefangene ihr zu. „Schneide meine Fesseln durch.“

Mit klopfendem Herzen trat Etina näher an ihn heran. Der Vampir war wirklich übel zugerichtet und stank dazu unerträglich nach Schmutz und Dreck. Der Geruch seines Clans hatte sich verflüchtigt, und auch sein eigener Duft nach Patschuli und Sandelholz war kaum noch wahrnehmbar.

Etinas Finger zitterten, als sie den Dolch hob und an den Stricken ansetzte, die seine Handgelenke an die Streckbank fesselten. Ihr Blick fiel auf die Fußfesseln, und sie hielt inne. Panik überkam sie. Dazu hatte sie keinen Schlüssel. Wie sollte er fliehen, wenn seine Beine weiter in den Eisenschellen steckten?

„Du musst nur die Fesseln durchschneiden, dann komme ich schon klar“, raunte er dicht an ihrem Ohr.

Das Zittern nahm zu. Er war ihr zu nah, viel zu nah. Sie ertrug seine Nähe schon jetzt nicht, wie sollte das erst werden, wenn er von ihr trank? Der Blutaustausch unter Vampiren war etwas sehr Intimes, das offiziell nur Verbundenen gestattet wurde oder nahen Familienangehörigen bei der Renovation. Lediglich Sebum hatte sein Recht genutzt, sich bei der Vereinigung an ihr zu laben. Auch wenn sie es hasste, so hatte sie doch jedes Mal Erregung verspürt, wenn er von ihr trank. Jetzt würde es ein völlig Fremder tun, ein Clanloser. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu.

„Worauf wartest du?“, drängte der Gefangene ungeduldig und holte Etina in die Wirklichkeit zurück.

Was war ihr wichtiger? Ihre moralischen Grundsätze oder ein schneller Tod?

Doch was war, wenn ihr Plan schiefging? Wenn der Gefangene sie nicht tötete? Wenn er sie nur blutleer zurückließ? Wer sagte ihr, dass sie ihm vertrauen konnte, einem Wildfremden? Sie wusste weder, was er getan hatte, noch wo er herkam, sie wusste nicht einmal seinen Namen.

„Ich …“ Sie ließ die Hand mit dem Dolch sinken und trat eilig einen Schritt zurück. „Ich kann das nicht …“, stammelte sie.

Der Gefangene legte erschöpft seinen Kopf ab und schloss die Augen. „Dann sei wenigstens mir gnädig und schneide mir die Kehle durch“, bat er.

Wie gebannt starrte Etina auf seinen Hals. Sie fühlte den Dolch in ihrer Hand. Noch nie hatte sie getötet. Wie sehr sie auch den Wunsch des Gefangenen verstand, der ihrer tiefsten Sehnsucht so ähnlich war, würde sie seiner Bitte nicht nachkommen können. Sie würde es nicht schaffen, ihm den Kopf abzuschneiden, ihm auch nur den Hals aufzuschlitzen

Klirrend fiel der Dolch zu Boden, als Etina ihre Hände vor den Mund schlug. Was um Himmels Willen tat sie hier? Sie sackte in sich zusammen, robbte am Boden auf den Dolch zu und presste mit tränenüberströmten Gesicht die Waffe an sich, als ob davon ihr Leben abhing.

„Angst kann dich nur dann lähmen, wenn du sie zulässt“, krächzte der Gefangene.

Seine Worte trafen sie mitten ins Herz. Sie hatte sich alles sorgfältig überlegt, alles zurechtgelegt und nun ließ sie zu, dass die Angst ihr Leben weiter kontrollierte. Ein Leben, das sie beenden wollte. Ihre Hand schloss sich um den Griff des Dolches. Mit dem Ärmel wischte sie über ihr tränennasses Gesicht. Entschlossen stand sie auf und ging auf den Gefangenen zu. Die Stimme, die ihr zuflüsterte, dass sie ihm nicht vertrauen durfte, ignorierte sie.

Er sah sie mit seinem gesunden Auge an, abwartend, herausfordernd.

Etina setzte den Dolch an und schnitt mit einer einzigen Bewegung die Handfesseln durch. Er war frei, und damit lag ihr Schicksal in seinen Händen.

Blitzschnell hob er den Oberkörper, sein Atem strich für den Bruchteil einer Sekunde über ihr Ohr, dann biss er zu. Sie zuckte zusammen, machte aber keine Anstalten, sich zu wehren. Dem Schicksal ergeben schloss sie die Augen, wartete darauf, dass es vorbei war.

Sie spürt das Saugen an ihrem Hals, die überwältigende Nähe eines dominanten Vampirs und merkte, wie mit jedem Schluck Blut ihre Kräfte schwanden. Sie konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten, sank auf seinen Oberkörper. Zuerst versuchte sie, sich auf ihm abzustützen, dann gab sie nach. Seine Arme umfingen sie, hielten sie fest.

Ihre Sinne begannen zu schwinden. Das Rauschen in ihren Ohren nahm zu, übertönte selbst die Schluckgeräusche des Vampirs. Sie war nicht mehr dazu in der Lage, die Augen zu öffnen. Immer mehr entglitt sie der Welt, bis sie schließlich in ein schwarzes, tiefes Loch gezogen wurde.


* * *


Seine Arme fielen nach unten, als gehörten sie nicht zu seinem Körper. Er war frei. Blitzartig richtete Rastus sich mit dem Oberkörper auf und biss in die Kehle der Vampirin, die sich noch über ihn streckte. Seine Hände waren noch taub und zu nichts zu gebrauchen, die eine Schulter immer noch ausgekugelt. Aber das stellte kein großes Hindernis dar. Die Vampirin wehrte sich nicht. Während ihr wunderbarer Duft nach Magnolie und Maiglöckchen ihn umhüllte und er ihr köstliches Blut trank, heilte sein Körper. Mit jedem Schluck spürte er die Kraft zurückkehren. Kraft, die sie verlor. Zuerst stand sie stumm da, dann stützte sie sich mit dem Arm auf seinem Brustkorb ab und brach schließlich auf ihm zusammen. Langsam kehrte das Gefühl in seine Finger zurück, und er fing sie auf, um sich weiter an ihr laben zu können. Der Dolch, mit dem sie ihn befreit hatte, fiel scheppernd zu Boden. Es war ihm egal. Seine Kehle war trocken, er war durstig. Gierig trank er, immer mehr, immer schneller. Er konnte nicht genug von ihrem süßen Blut bekommen. Es war das Köstlichste, was er je in seinem Leben getrunken hatte. Er wollte mehr, und er wusste, er konnte mehr haben. Er konnte sich von ihr alles nehmen, was er wollte. Ungeniert trank er und sah dabei zu, wie das Leben aus ihrem Körper entwich. Er spürte, wie seine Wunden sich schlossen, die Schwellung an seinem Auge zurückging, so dass er wieder normal sehen konnte. Seine Schulter zog sich zusammen, knackte, bis alles wieder an Ort und Stelle war. Die Position, in der er sich befand, war nach wie vor unbequem. Es war ein Leichtes, die Eisenringe, die seine Fußgelenke gefangen hielten, aufzubrechen. Ohne das Trinken zu unterbrechen, stieg er von der Folterbank.

Das Blut rauschte durch seinen Körper, seine Sinne schärften sich. Noch deutlicher nahm er den betörenden Geruch der Magnolien wahr. Die zartrosa Blüten hatten ihn schon fasziniert, als er in Kanada gelebt hatte. Der Duft dieser wunderbaren Pflanze war für ihn immer eine Wohltat gewesen, er verband ihn mit lauen Frühlingsnächten, wenn die Tage länger wurden. Jetzt hielt er in seinen Armen eine zierliche Vampirin, die nach seiner Zeit in Kanada roch, ihn in eine Welt zurückversetzte, die er längst hinter sich gelassen hatte. Er spürte, wie seine Muskeln sich anspannten. Langsam löste sich sein Kiefer, und die Vampirin wäre zu Boden gefallen, wenn er sie nicht festgehalten hätte. Schon längst hatte sie das Bewusstsein verloren. Vorsichtig ließ er sie zu Boden gleiten, lehnte sie an die Streckbank. Einen Meter von ihm entfernt lag der Dolch. Er griff danach und prüfte das kostbare Stück auf seine Schärfe. Es war verdammt scharf. Die Waffe lag gut in der Hand, ein wahres Schmuckstück. Die würde er auf jeden Fall mitnehmen.

Sein Blick glitt hinüber zur zusammengesunkenen Vampirin. Er hatte ihre Frisur vollkommen durcheinandergebracht. Die sorgfältig eingedrehten und aufgesteckten Locken hatten sich gelöst und hingen ihr nun wirr ins Gesicht. Der kleine Rotschopf war wirklich hübsch. Wenn sie nur nicht so angepasst, so darauf bedacht wäre, nicht aufzufallen. Aber vielleicht tat er ihr damit auch Unrecht, schließlich kannte er sie kaum. Er spürte den Dolch in der Hand, erinnerte sich an das Versprechen, das er ihr gegeben hatte. Sie hatte sich einen schnellen Tod gewünscht. Es war nicht das erste Mal, dass er einen anderen Vampir umbringen würde. Er hatte mehr als einmal getötet, und nie war es ihm schwergefallen. Ob mit dem Schwert oder mit einem Dolch, war unterm Strich vollkommen egal. Es würde nicht einmal ein großes Blutbad werden, immerhin hatte er ihr den Großteil davon geraubt. Grob packte er sie am Haar und zog sie nach oben, so dass ihr Hals gestreckt war. Den Dolch setzte er an ihrer Kehle an. Ein einziger sauberer Schnitt, und er würde auf Anhieb die Luftröhre durchtrennen. Dann ein zweiter Schnitt, mit dem er den Kopf völlig vom Rumpf abschlug.

Rastus zögerte. Die Vampirin hatte ihn befreit, ihn gerettet. Es war das Mindeste, dass er ihr ihren Wunsch, zu sterben, erfüllte. Das war er ihr schuldig.

„Testa“, fluchte er und nahm den Dolch von ihrer Kehle. Er konnte es nicht tun, konnte sie nicht einfach umbringen. Sie hatte zu viel für ihn getan, als dass er einfach ihr Leben beenden konnte. Er hielt noch immer ihre Haare umklammert, ließ sie nun aber los, als stünde ihr rotes Haar in Flammen. Hierlassen konnte er sie nicht. Wenn der Vetusta herausfand, was sie getan hatte, wäre ihr sein Platz in diesem Kerker sicher. Ein solches Schicksal wünschte er niemandem, weder seinem ärgsten Feind und noch viel weniger der kleinen Vampirin, der er immerhin seine Freiheit verdankte. Eine Freiheit, die er erst noch verteidigen musste, denn noch war er seinem Gefängnis nicht entkommen. Aber er hatte zumindest eine Waffe und würde sich, wenn es sein musste, den Weg in die Freiheit erkämpfen.

Frustriert blickte er auf den schlaffen Körper. Sie hatte sich ihm anvertraut, darauf gebaut, dass er sein Wort hielt. Mit einem weiteren Fluch auf den Lippen warf er sich die zierliche Frau über die Schultern. Ohne sie wäre er zwar schneller, aber er konnte sie definitiv nicht zurücklassen. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, beeilte er sich, das Gewölbe zu verlassen. Er würde es sicher nicht vermissen. Er hatte keine Ahnung, wohin er gehen sollte, aber zuerst einmal musste er diesen verfluchten Ort verlassen.

Rastus irrte durch die Gänge. Dieses verdammte Schloss oder Burg oder was immer es war, schien ein einziger Irrgarten zu sein. Rastus verlief sich dreimal, hatte aber das Glück, niemandem zu begegnen. Es war kurz vor Sonnenuntergang, und auch jene Vampire, die bis spät in den Tag gefeiert hatten, schienen endlich zu schlafen. Dann hatte er es endlich geschafft. Er trat hinaus ins Sonnenlicht und blinzelte. So sehr auch die Helligkeit in seinen Augen brannte, genoss er doch den Geruch nach Freiheit. Tief atmete er ein und füllte seine Lungen nach einer Ewigkeit mit frischem Sauerstoff. Das Licht fühlte sich ein wenig unangenehm auf seiner Haut an, aber es war auszuhalten. Er sah an sich hinab. Ein Hemd besaß er schon lange nicht mehr, und die Hose glich eher einem Fetzen, als dass sie noch als Hose zu identifizieren war. Zum Glück war es eine robuste Lederhose gewesen. Nicht auszudenken, wie eine einfache Jeans seine Gefangenschaft überstanden hätte. Rastus warf noch einen prüfenden Blick auf die Vampirin, die über seiner Schulter hing. Ihrem bewusstlosen und geschwächten Körper setzte die Sonne etwas mehr zu. Er sah bereits eine leichte Rötung auf ihrem Handrücken. Er musste sich beeilen, und lange würde es nicht dauern, ehe die Sonne vollkommen untergegangen war. Schon zeichneten sich die ersten rötlichen Streifen am Horizont ab. Die Rötung würde schnell wieder verschwinden, sobald sie Blut bekam. Aber es verriet auch etwas über seine kleine Vampirin. Sie musste schon etwas älter sein, denn wäre sie ein Ephebe gewesen, hätte ihre Haut jetzt schon Blasen geworfen. Ein guter Stammbaum und ein gewisses Alter waren, was die Sonne betraf, durchaus von Vorteil.

Rastus rannte los. Er hätte auch ein Auto nehmen können, aber er wollte das Risiko, dass das Motorengeräusch ihn verraten könnte, nicht eingehen. Zu Fuß konnte er lautlos verschwinden, war nicht an Straßen gebunden, sondern konnte querfeldein rennen. Hinter den Mauern des Châteaus lag ein Wald, der ihm Deckung und einen gewissen Schutz vor der Sonne bot. Er hielt sich nahe der Bäume im Schatten und entfernte sich zügig von seinem Gefängnis, bis seine Nase etwas roch. Menschen, die schnell näher kamen. Hastig sah er sich um und bemerkte zu spät die hohen Zäune.

„Vollia“, fluchte er und sah sich stirnrunzelnd um. Zwischen den Bäumen sah er die ersten Menschen auf ihn zueilen. Dreckige, stinkende Menschen, denen der Wahnsinn nach Vampirsex ins Gesicht geschrieben stand. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Mit der Vampirin auf dem Arm würde es sicher nicht angenehm werden, sich mit dem Dolch durch die Reihen der Blutsklaven zu schlagen. Blieb nur die Flucht. Er rannte auf den Zaun zu, der mehrere Meter vor ihm aufragte, machte einen großen Satz und hielt sich an den Eisenstäben fest. Es war nicht so leicht, mit der Vampirin über der Schulter zu klettern, aber es gelang ihm, sich mit der freien Hand hochzuziehen. Dann sprang er auf der anderen Seite des Zaunes hinab. Die Menschen hatten ihn erreicht und streckten ihm ihre abgemagerten Hände entgegen. Ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, rannte Rastus weiter. Er musste die Gegend verlassen, durfte keine Zeit verlieren. Die Menschen waren ohnehin verloren, unfähig, je wieder ein normales Leben zu führen, egal, ob er sie befreite oder nicht. Blieb nur zu hoffen, dass die Blutsklaven ruhig blieben und keine Vampire aufscheuchten, die nach dem Rechten sahen. Jede Minute, die verstrich, war gut. Jede halbe Stunde sicherte ihm das Überleben mehr.

Rastus hielt sich nun an die Straße. Die Schatten wurden länger und als er das erste Dorf erreichte, war die Nacht hereingebrochen. Er hielt nicht an, dazu war er noch zu nahe an dem Château, zu nahe an den Vampiren. Deswegen lief er weiter und immer weiter, verzichtete darauf zu verschnaufen oder gar eine Rast einzulegen. Er musste noch einen ordentlichen Weg zurücklegen, bis er sich erlauben würde anzuhalten. Ein genaues Ziel hatte er nicht, nur eine Richtung, weit weg von dem Ort, an dem die Vampire hausten.

Kapitel 5


Die halbe Nacht war Rastus gerannt, hatte sich keine Atempause gegönnt. Schließlich konnte er die Erschöpfung nicht mehr ignorieren. Sein Tempo wurde langsamer, und die Bewegungen fielen ihm schwerer. Das Blut der Vampirin hatte ihn gestärkt, war aber kein unversiegbarer Brunnen. Wenn er weiterhin zu Fuß unterwegs sein wollte, musste er sich nähren. Auch die Vampirin brauchte Nahrung und er etwas Vernünftiges zum Anziehen.

Nachdenklich sah er sich um, suchte nach einem geeigneten Rastplatz. Hier in der Gegend gab es nur kleinere Dörfer, ein paar Häuseransammlungen, doch Rastus wollte gerne etwas eher Abgeschiedenes.

Dann entdeckte er einen abgelegenen, von Feldern umgebenen Bauernhof und wusste, dass dieser perfekt war. Lediglich eine Straße führte dorthin. Er näherte sich dem Hof, roch schon von weitem den Dung der Kühe im Stall neben dem Haupthaus. Wo Kühe lebten, gab es auch Stroh. Rastus dachte nach, ob es sinnvoll war, ihr Lager auf dem Heuboden aufzuschlagen. Die Menschen, die hier lebten, mussten von ihrer Anwesenheit nichts mitbekommen. Er entschied sich dagegen. Er brauchte eine Dusche, ein Messer zum Rasieren und anständige Kleidung. Ohne zu zögern, trat er die Terrassentür ein und verschaffte sich Zugang zum Haus. Schnell sah er sich um, schätzte seine Umgebung ein. Er befand sich in einer rustikal eingerichteten Stube. Ein stattliches Sofa war genau die richtige Stätte, um seine Last abzulegen. Vorsichtig bettete er die Vampirin auf die Kissen, als er Geräusche auf der Treppe vernahm. Er drückte sich gegen die Wand, machte sich so unsichtbar wie möglich. Es war nicht so, dass er sich vor den Menschen fürchtete, und auch ihre Schrotflinten konnten ihm nicht wirklich etwas abhaben. Aber er wollte gerne sehen, wer angeschlichen kam, musste wissen, wie viele Menschen hier zu Hause waren.

Ein Mann, die Schläfen ergraut, in einem blaukarierten Schlafanzug und Filzpantoffeln, schlich die Treppe herunter. In seinen Händen trug er eine Schrotflinte.

„Ist da jemand?“, rief er laut und schob seine Brille auf der Nase zurecht.

Rastus antwortete nicht. Er wartete ab, dass der Mann noch ein wenig näher kam.

„Hallo? Ich rufe die Polizei“, drohte der Hausbesitzer.

Langsam mit erhobenen Händen kam Rastus aus seinem Versteck hervor.

„Das wird nicht nötig sein. Ich will Ihnen nichts tun“, erklärte er und trat auf den Mann zu.

Dieser fuchtelte mit seiner Flinte herum und hielt den Lauf zitternd Rastus entgegen.

Du brauchst keine Angst zu haben. Lass die Waffe sinken.

Es war nicht besonders schwer, die geistige Barriere des Mannes zu überwinden und in seinen Kopf einzudringen. Gehorsam ließ er die Schrotflinte sinken.

Bist du allein?

Der Mann schüttelte den Kopf.

Wer lebt noch hier?

„Meine Frau“, antwortete der Mann und starrte wie in Trance vor sich hin.

Rastus ging auf ihn zu und nahm die Waffe an sich. Er ging zwar nicht davon aus, dass der Mann damit schoss, aber er wollte auf Nummer sicher gehen. Mit ein paar geübten Handgriffen sicherte er die Flinte und stellte sie in gebührendem Abstand zu dem Hausbesitzer an die Wand.

Geh zu deiner Frau und sag ihr, dass alles in Ordnung ist!, befahl er dem Mann. Er wollte nicht riskieren, dass die Frau den Notruf wählte. Er hatte keine Lust, sich mit einer Horde Polizisten anzulegen. Lange plante er ohnehin nicht zu bleiben. Ein oder zwei Stunden. Vor Sonnenaufgang wollte er längst über alle Berge sein.

Rastus ließ dem Mann einen Vorsprung, sah sich währenddessen im Erdgeschoss um. Außer dem Wohnzimmer befanden sich auf dieser Ebene eine kleine Küche, ein Hauswirtschaftsraum, eine Gästetoilette und ein vollgestopftes Büro. Nachdem er alles inspiziert hatte, in Gedanken alle möglichen Fluchtwege durchgegangen war, ging er hinauf in den ersten Stock. Der Hausherr hatte genug Zeit gehabt, seine Frau zu beruhigen.

„Harry!“, hörte er die besorgte Stimme besagter Hausherrin. „Bist du sicher, dass da nichts war? Ich habe etwas gehört.“

Noch ehe der Mann antworten konnte, stand Rastus in der Tür. Die Frau quietschte und zog panisch die Decke über sich. Er lächelte, als ob das helfen würde.

„Harry, tu etwas!“, verlangte sie von ihrem Mann. Doch Harry reagierte nicht. Er stand bereits unter vampirischem Einfluss und würde nur das tun, was Rastus ihm befahl.

Bei der Frau dauerte es etwas länger, bis Rastus ihre natürlichen Schutzschilde überwunden hatte und ihre Gedanken offen vor ihm lagen.

Es ist alles in Ordnung.

Die Panik in ihren Augen verschwand.

Leg dich hin und schlafe, bis ich dich rufe.

Gehorsam legte die Frau sich zurück in die Kissen und schloss die Augen.

Du auch!, fuhr er den Mann an, der sich beeilte, es seiner Frau gleich zu tun.

Während das Ehepaar schlafend im Bett lag, öffnete Rastus den Kleiderschrank. Die Kleidung des Mannes war für ihn viel zu klein. Seine Hosen würde er mit Glück bis zu den Kniekehlen hochziehen können. Er brauchte dringend Kleidung. Wenn er hier nichts fand, müsste er ins nächste Dorf gehen. Ein Zimmer nach dem anderen nahm er sich vor und wurde fündig. Eines der Zimmer musste das ehemalige Kinderzimmer des Sohnes sein. Eine dicke Staubschicht lag auf den Regalen, aber der Kleiderschrank war gut gefüllt. Rastus zog eine Jeans hervor, die durchaus passen konnte. Dazu wählte er ein schwarzes T-Shirt und freute sich über passende Boxershorts. Lediglich Schuhe fand er keine. Es gab Schlimmeres, als barfuß durch die Gegend zu marschieren, dennoch hätte er gegen ordentliches Schuhwerk nichts einzuwenden. Bevor er sich jedoch darum kümmerte, wollte er erst einmal duschen.

Freudig gestimmt, endlich den ganzen Dreck loszuwerden, betrat er das Bad. Die Tür ließ er offen. Die Vampirin lag bewusstlos im Erdgeschoss und wenn sich dort unten etwas rührte, wollte er es mitbekommen. Das Ehepaar lag ohnehin in seinem Bett und würde erst aufstehen, wenn er es ihnen erlaubte. Er würde sich nachher auch ein paar Tropfen Blut genehmigen. Nicht zu viel, aber ein wenig. Schließlich konnte er nicht wissen, wofür er seine Kräfte noch benötigen würde.

Rastus stieg aus seinen dreckigen Klamotten und warf im Vorbeigehen einen Blick in den Spiegel. Seine Haare waren viel zu lang und verfilzt, der Bart ebenso. Er sah ungepflegt, mitgenommen aus. Es wurde Zeit, ein wenig Körperpflege zu betreiben. Auf seiner Brust waren die Wunden zwar längst wieder verheilt, dennoch klebte dort noch das getrocknete Blut. Er stellte die Dusche an und trat unter den angenehm temperierten Strahl. Wasser. Wie lange hatte er davon geträumt. Er hob den Kopf, genoss das Nass, das über seine Haut rann.

Freiheit. Auch wenn er noch nicht ganz in Sicherheit war, er hatte es geschafft zu entkommen, hatte die dunklen Gewölbe seines Gefängnisses hinter sich gelassen. Er hatte es tatsächlich geschafft, er war entkommen. Er wüsste gerne, ob der Vetusta sich die Mühe machen und ihn verfolgen würde. Es war ganz gleich. Rastus hatte nicht vor, sich schnappen zu lassen. Er würde es nach Boston schaffen, in seine Heimat. Nie hätte er gedacht, dass es ihm so fehlen würde. Es hatte eine Zeit gegeben, da war er froh gewesen, Boston und seinen Clan verlassen zu können. Er hatte sich in Kanada versteckt. Die Rückkehr nach dem Tod seines Vaters hatte ihn Überwindung gekostet, vor allem war es ihm schwergefallen, seinem jüngeren Bruder, dem dominanteren von ihnen, den Vortritt zu lassen.

Rastus griff nach der Seife und begann, den ganzen Schmutz und die Erinnerungen fortzuwaschen. Schon immer hatte er positiv gedacht und auch diesmal würde er nicht mit Bedauern zurückschauen, sondern seinen Blick hoffnungsvoll Richtung Zukunft wenden.

Er griff nach einem Handtuch, trocknete sich ab und schlang es um seine Hüfte. Vor dem Badspiegel betrachtete er sich selbst. Er sah aus wie ein Wilder. Kein Wunder, dass die Vampirin ihn so erschrocken angesehen hatte. Er musste gegen sein Aussehen dringend etwas unternehmen. Im Spiegelschrank entdeckte er einen elektrischen Rasierer. Er suchte weiter und fand die passenden Aufsätze. Fünf Millimeter. War das kurz genug? Er fand, dass die Länge in Ordnung war und setzte den Rasierer an seiner Stirn an. Weit kam er nicht, dann stockte der Rasierer, und er musste ihn erneut ansetzen. Stück für Stück fiel die verfilzte Haarpracht ab. Für den Bart wählte er einen kürzeren Aufsatz und begann, sein Gesicht von dem Gestrüpp zu befreien.

Zufrieden betrachtete er sein Werk im Spiegel. Jetzt sah er wieder wie ein vernünftiger Mann aus. Fehlte nur noch Kleidung. Die Jeans war ein wenig kurz, passte aber ansonsten recht gut. Das T-Shirt war zu eng und spannte sich um seine breite Brust. Aber er hatte etwas halbwegs Vernünftiges zum Anziehen, und besser als die zerschlissene Lederhose war es auf jeden Fall.

Kurz überlegte er, ob er zuerst die Vampirin wecken oder sich nähren sollte. Wer konnte schon sagen, wie sie auf ihre Befreiung reagieren würde? Außerdem musste sie alle Verbindungen zu ihrem Clan abbrechen. Ihr Rinoka, wer auch immer das sein mochte, würde ihre Spur mit Leichtigkeit aufnehmen können, sobald sie wieder bei Bewusstsein war. Das Risiko, dass der Vetusta sie aufspürte, war hoch. Sie mussten schnell weiter reisen.

Er betrat das Schlafzimmer, drang abermals in die Privatsphäre des Ehepaares ein, als ob es das Natürlichste der Welt wäre. Sie lagen noch immer in ihren Betten und schliefen. Rastus trat an die Frau heran und sah auf sie hinab. Ob er von einem Mann oder einer Frau trank, war ihm in der Regel egal. Der Vampirin unten im Wohnzimmer wäre eine Frau vermutlich lieber. Also umrundete er das Ehebett und setzte sich an die Seite des Mannes.

Lass mich von dir trinken!, schickte er einen mentalen Befehl an ihn.

Ohne die Augen zu öffnen, neigte der Mann den Kopf zur Seite, entblößte seinen ungeschützten Hals. Rastus’ Fänge schossen hervor. Der Speichel lief ihm im Mund zusammen. Blitzschnell beugte er sich vor und vergrub seine spitzen Eckzähne in der Halsbeuge des Mannes. Augenblicklich quoll Blut aus der Wunde hervor, und Rastus trank zügig. Er spürte die belebende Wirkung des köstlichen Elixiers, genoss den metallischen Geschmack auf seiner Zunge.

Als er genug hatte, verschloss er die Wunden mit seinem Speichel und erhob sich.

Komm mit!, befahl er der Frau, die die Augen öffnete, stumm aus ihrem Bett krabbelte und bereit war, ihm zu folgen, ganz egal, wo er hingehen würde.

Doch Rastus wollte lediglich hinunter ins Erdgeschoss. Es war Zeit, die Vampirin zu wecken und herauszufinden, wer sie war.


* * * 


Etina spürte, wie ihr etwas Warmes, Köstliches die Kehle hinabrann. Ihre Fänge verlängerten sich automatisch, und auch der Schluckreflex setzte ohne ihr Zutun ein. Während ihr Körper sich noch immer in Starre befand, trank sie gierig. Woher das Blut kam, wusste sie nicht. Aber es war gut, stärkte sie.

„Genug“, hörte sie eine Männerstimme sagen.

Nein, es ist nicht genug!, wollte sie schreien, aber ihre Stimmbänder gehorchten ihr nicht. Es kostete sie einige Anstrengung, auch nur zu blinzeln. Es war hell um sie herum, aber kein stechendes Sonnenlicht, es musste künstliches Licht sein.

Wo war sie? War das das Leben nach dem Tod? Es roch herrlich sauber, nach Patschuli und Sandelholz. Irgendetwas sagte ihr, sie müsse sich an den Geruch erinnern, aber ihr Erinnerungsvermögen funktionierte noch nicht wieder.

„Wach auf!“ Da war wieder diese Männerstimme. Bestimmt, aber nicht unfreundlich.

Sie überlegte, wer es sein konnte. Diese wohlklingende sonore Stimme, die ihr ein Gefühl der Geborgenheit vermittelte, gehörte zu keinem ihrer Untergebenen, die ihr in Reims dienten.

Das Château! Mit einem Mal war sie hellwach, zwang sich, die Augen aufzureißen. Sie war noch am Leben. Diese Erkenntnis traf sie ziemlich unvermittelt. Alles war wieder da. Sebum und wie er sie behandelte, ihr Sohn Itan, der sich ihr entfremdet hatte, und der Gefangene, der ihr versprochen hatte, ihr einen schnellen Tod zu bescheren. Er hatte sein Versprechen nicht gehalten. Wie war es sonst möglich, dass sie noch lebte? Wut überkam sie. Sie atmete tief ein, und ihre Lungen füllten sich mit reichlich Sauerstoff. Gerade als sie sich aufrichten wollte, wurde sie von einer Hand zurück in die Kissen gedrückt.

„Langsam“, mahnte die verführerische Stimme sie.

Etina drehte den Kopf und starrte ihn an. Er war es, ganz sicher. Auch wenn er sich verändert hatte. Die wilden Zotteln waren einer Kurzhaarfrisur und einen sorgfältig gestutzten Bart gewichen. Nichts erinnerte mehr an die aufgeplatzte Lippe oder das zugeschwollene Auge. Er hatte sich komplett erholt und sah unglaublich gut aus. Die Tatsache, dass sie einen Mann attraktiv fand, war neu und befremdlich, daher verdrängte sie die unwillkommenen Gedanken schnell wieder. Er sah sie forschend an, mit seinen smaragdgrünen, wunderschönen Augen. Aber in ihnen lag auch eine gewisse Zurückhaltung.

„Was hast du getan?“, keuchte sie und stieß seine Hand fort, um sich aufzurichten.

Wo war sie? Angst packte sie. Panisch blickte sie sich um. Sie konnte nicht mehr auf dem Château sein, dafür war der Raum, in dem sie sich befand, viel zu gemütlich eingerichtet. Das Sofa, auf dem sie saß, war äußerst bequem. Auf einem Schemel für die Füße lag eine Wolldecke, um sich am Abend einkuscheln zu können. Im Kamin gegenüber dem Sofa brannte ein Feuer, und daneben an den Wänden hingen Familienfotos.

Wo hatte der Vampir sie hingebracht? War sie nun seine Gefangene?

„Ich habe dich mitgenommen“, erklärte er ruhig. Er stand noch immer dicht neben ihr und betrachtete sie nachdenklich.

Etina stellte ihre Füße auf den Boden und wollte gerade aufstehen, als ein heftiger Stoß in ihrem Kopf sie zusammenzucken ließ.

Sebum rief mit aller Vehemenz, die ihre Verbindung mit sich brachte, nach ihr. Sie mochte zu weit entfernt sein, sodass seine Stimme sie nicht erreichte, dennoch schwappte eine Welle an Gefühlen über sie herein. Er war zornig, regelrecht wütend. Er würde ihre Flucht nicht ungestraft lassen, war bereits dabei, sie zu verfolgen.

Mein!, hallte es wortlos in ihrem Kopf wieder. Solange sie an ihn gebunden war, konnte er sie überall finden.

„Das war ein Fehler.“ Sie sprang auf. „Du musst mich umbringen. Sofort.“ Hastig sah sie sich nach einer Waffe um.

Der Vampir rührte sich nicht, blickte sie nur stumm an.

Eine Frau kam zur Türe herein, und Etina wich zurück, bis sie feststellte, dass sie ein einfacher Mensch war. Sie trug ein langes, weißes Nachthemd und schien in Trance zu sein. Auf dem Arm trug sie ein schwarzes Bündel. Ohne Notiz von ihr oder dem Vampir zu nehmen, ging sie zum Feuer und warf das Bündel hinein.

Mit großen Augen sah Etina den Vampir an. „Er wird kommen und mich holen.“ Sie musste ihm begreiflich machen, dass sie sich in großer Gefahr befand. Und wenn er sie fand und in die Finger bekam, würde sie eine unentrinnbare Hölle erwarten. Schon allein aus Prinzip würde er nicht ruhen, bis er sie gefunden hatte.

„Hast du Familie, wo du unterschlüpfen kannst?“, fragte der Vampir.

Etina schüttelte den Kopf. Sie hatte niemanden. Ihre Eltern waren schon vor Jahrzehnten gestorben. Es wäre ohnehin sinnlos, denn Sebum würde sie überall aufspüren. Sie kannte niemanden, der es wagen würde, sich ihm in den Weg zu stellen. Egal wohin sie auch floh, er würde sie finden und sie zurückholen.

„Du musst dich von deinem Clan lösen“, sagte der Vampir ungerührt.

Etina schluckte und schüttelte panisch den Kopf. So sehr sie Sebum auch hasste, so brauchte sie ihn auch. Er war ihr Rinoka, der dafür sorgte, dass sie nicht durchdrehte, und er war ihre Verbindung zum Clan, ohne den ein Vampir nicht lange existieren konnte. Clanlose Vampire wurden gejagt und getötet. Wenn sie die Verbindung löste, wäre sie nicht nur eine Verstoßene ihres Clans, sondern auch nicht mehr überlebensfähig. Wohin sie auch ging, jeder männliche Vampir würde sie umbringen, weil sie eine Gefahr für andere Vampirinnen darstellte.

Lieber wollte sie jetzt sterben, als einem qualvollen Tod entgegenzusehen. „Bitte!“, flüsterte sie und kämpfte gegen die Tränen an. „Bitte, bring mich um.“

Der Vampir trat näher an sie heran, streckte seine Hand aus und drehte ihr Kinn so, dass sie ihn ansehen musste.

„Warum hast du mich nicht getötet?“, fragte sie mit tränenerstickter Stimme.

„Weil du mir das Leben gerettet hast“, sagte er. „Deshalb werde auch ich dir das Leben retten. Damit sind wir quitt. Trenne die Verbindung zu deinem Rinoka, bevor er die anderen Vampire herführt.“

Etina schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht!“, wisperte sie. Er verstand nicht. Er verstand es einfach nicht.

„Besitzt du zu deinem Rinoka eine Seelenverbindung?“, wollte er wissen.

Seine Frage verwunderte Etina. Seelenverbindungen gab es nicht, hatte es vielleicht nie wirklich gegeben. Sie entsprangen einer Wunschvorstellung ihrer Rasse nach ewiger Bindung.

„Nein!“, sagte sie verwirrt.

„Dann kannst du die Verbindung trennen.“

Theoretisch konnte Etina das, aber sie war nicht an einen beliebigen Vampir gebunden, sie war an Sebum Potestas, den Blutfürsten der Franken, gebunden, der bereits die Verfolgung aufgenommen hatte. Bedauernd sah sie ihren Retter an. Indem er sie mitgenommen hatte, hatte er sein Todesurteil unterzeichnet. Der Vetusta würde weder rasten noch ruhen, würde sie bis ans Ende der Welt verfolgen.

Vielleicht hätte Sebum den flüchtigen Gefangenen laufen lassen, weil er die Mühe, ihn zu verfolgen, nicht wert gewesen wäre. So aber hatte er sich einen erbitterten Todfeind geschaffen.

„Trenne die Verbindung!“ Ihr Retter wurde lauter, ungeduldiger.

Ängstlich zog Etina sich auf die geistige Ebene zurück. Tief in ihr verankert glitzerte die Verbindung zu ihrem Rinoka. Wenn sie das Band durchschnitt, war da nichts mehr. Sie wäre allein, hilflos, schutzlos.

„Du musst es tun“, beschwor der Vampir sie erneut.

Sebums Gefühle durchfluteten ihren Geist. Sie nahm unbändige Wut wahr, regelrechten Hass und das Versprechen, sie langsam und ausdauernd zu quälen. Sebum nutzte das Band, um sie einzuschüchtern. Sie wollte ihn nicht mehr spüren, wollte ihn nicht mehr in ihrem Kopf haben. Es musste sein, die Verbindung musste getrennt werden, auch wenn es schmerzhaft sein würde, sie ertrug seine Anwesenheit in ihr nicht länger. Sie versuchte, das Band zu durchtrennen, zog mit aller Kraft daran. Mit einem Mal löste es sich, und sie fiel. Es fühlte sich an, als hätte sie sich selbst einen Arm herausgerissen, sich selbst verstümmelt. Es gab kein Sicherheitsnetz, das sie auffing, nichts war da, das sie hielt. Etina befand sich in einem erdrückenden Vakuum. Sie schwankte, tastete nach etwas, an dem sie sich festhalten konnte.

Starke Arme umfingen sie, hielten sie fest. Sie spürte die Anwesenheit des Vampirs, wie er versuchte, in ihren Geist einzudringen. Wenn sie sich ihm öffnete, war sie ihm völlig ausgeliefert. Was wusste sie schon über ihn? Welche Verbrechen hatte er begangen? Wer garantierte ihr, dass er nicht ein ebenso abscheuliches Monster wie Sebum war? Nein. Sie hatte in seine Augen geblickt. Da war keine Arglist zu sehen. Er mochte ihr nicht alles erzählen, sein Leben nicht wie ein offenes Buch vor sich hertragen, aber er war aufrichtig zu ihr gewesen. Bis auf das Versprechen, das sie ihm abgenommen und das er nicht gehalten hatte. Aber er hätte sie ebenso gut zurücklassen können, und das hatte er nicht getan.

Etina öffnete sich und ließ zu, dass er in ihren Geist eindrang. Er breitete sich aus, erfüllte sie mit seiner Anwesenheit und Präsenz. Das schreckliche Gefühl der Einsamkeit verschwand. Sie klammerte sich an ihn. Er zog sie fest an sich, barg ihren Kopf an seiner Brust und gab ihr Sicherheit und Zuversicht. Sanft strich er über ihre geschundene Seele. Etina kannte es nicht anders und floh, verschanzte sich in ihrer Kammer und hoffte, dass das Abbild ihrer Selbst ihn täuschen würde. Doch das tat es nicht. Er wirbelte durch ihren Geist, riss alle Mauern nieder, bis er sie fand, in ihrem vermeintlich sicheren Versteck, wo sie sich stets vor Sebum verborgen gehalten hatte. Seine Anwesenheit war überall, umgab sie von allen Seiten. Dann holte er aus und verankerte sich in ihrer Seele. Schmerzerfüllt schrie Etina auf, als er ein neues Band knüpfte und es tief mit ihrem Sein verband.

Stille und Friede umgab sie plötzlich. Eine Ruhe, wie Etina sie nie zuvor erlebt hatte. Sie konnte nicht anders, als mit ihm zu verschmelzen. Er nahm Besitz von ihr und begann augenblicklich, sie zu erforschen. Alles lag offen vor ihm. Er kannte nun ihre größten Geheimnisse, blickte in die Abgründe ihrer Seele. Und sie konnte nichts anderes tun, als ihm zu vertrauen. Denn nun hatte er die Macht, sie zu zerstören.


* * *


„Schneller!“, bellte Sebum und scheuchte die Krieger durch die Nacht. Es hatte begonnen zu regnen, aber das war ihm egal. Bevor die Sonne unterging, wollte er die Flüchtigen stellen.

Er konnte es noch immer nicht glauben. Seine angepasste, ängstliche Frau hatte nicht nur gewagt, sich aus dem Staub zu machen, sondern auch seinem Gefangenen, dem Bostoner Vampir, zur Flucht verholfen. Er schäumte vor Wut.

Sebum fühlte sie, die Verbindung zu ihr. Wo auch immer sie hinlief, er würde sie finden und zurückbringen. Wie konnte sie es wagen, ihn, den Vetusta der Franken, zu verlassen? Niemand verließ ihn ungestraft, schon gar nicht seine Samera. Dieses nutzlose Frauenzimmer, das unter ihm lag wie eine Gummipuppe. Er würde sie ihrer Position entheben, würde aus ihr eine Ancilla machen und dabei zusehen, wie jeder seiner Krieger sich beliebig oft an ihr bediente. Er würde aus ihr eine Hure machen. Wenn er mit ihr fertig war, würde sie sich sehnlich den Tod herbeiwünschen. Bei dem Gedanken, wie entsetzt sie darüber sein würde, musste er schmunzeln. Das würde seine Rache für seine Samera sein. Den Gefangenen würde er erneut in Ketten legen und seine Wut an ihm auslassen. Er würde darum betteln, seine Kontakte zu verraten, und wenn er dann endlich sein Geheimnis preisgab, würde er ihm den Kopf abschlagen und ihn als Warnung für alle Verräter vor die Tore seiner Burg hängen.

Sie hatten gerade ein weiteres Dorf hinter sich gelassen, während der Regen ließ langsam nach. Jetzt konnte er nicht nur dem Band folgen, sondern hatte auch ihren Duft in der Nase. Und den des stinkenden Gefangenen. Er hatte keine Ahnung, wie groß ihr Vorsprung war, wusste nur, dass er sie finden würde.

Vier Männer hatte er mitgenommen. Hip, Clarentin, Toam und Decker. Letzterer war für Etina zuständig gewesen. Ein fähiger Vampir, dessen Fertigkeiten er sehr schätzte. Dass Etina entkommen konnte, war nicht seine Schuld gewesen. Hätte er vor der Tür gestanden, hätte sie nie fliehen können. Dummerweise hatte er ihm aufgetragen, Etina in ihr Zimmer zu geleiten und sich dann den Feierlichkeiten anzuschließen. Wenn er gewusst hätte, was seine Samera plante, wäre er gewiss nicht so leichtsinnig gewesen.

Wieder schickte er eine Welle an Emotionen durch das Band. Sie sollte ruhig wissen, dass er wütend war, sehr wütend. Sie sollte zittern vor Angst. Sie sollte sich des Ausmaßes ihrer Tat bewusst sein. Sebum spürte, wie sie die Verbindung berührte, lachte höhnisch auf bei ihrem zaghaften Versuch, seine Gefühle abzublocken. Seine Begleiter blickten ihn verwundert von der Seite an, wussten nicht, worüber er sich amüsierte. Aber allesamt kannten sie ihn lange genug, dass sie wussten, es war besser zu schweigen. Er würde sich nämlich von niemandem komisch anreden lassen, schließlich war er ihr Vetusta.

Ein Ruck ging ohne Vorwarnung durch seinen Körper, er strauchelte und hatte alle Mühe, auf den Beinen zu bleiben. Der mentale Schlag hatte ihn ordentlich aus dem Gleichgewicht gebracht. Die Männer blieben stehen, umrundeten ihn. Er sank schmerzgepeinigt auf die Knie, stützte sich auf seinem Schwert ab und begab sich eilig auf die geistige Ebene. Sie würde doch nicht … sie würde doch nicht wagen … Sie hatte es getan. Seine Samera hatte die Verbindung durchtrennt, hatte sich ihm entzogen. Eine große Leere zierte den Platz, an dem sie verwurzelt gewesen war. Er schäumte. Niemand entledigte sich seiner so einfach, niemand hatte das Recht, sich einfach aus dem Staub zu machen. Am allerwenigsten Etina. Sie war seine Gefährtin, seine Samera, ohne seine Erlaubnis durfte sie nicht einmal atmen.

Einen Moment hielt er inne. War sie tot? War das Band getrennt worden, weil sie getötet worden war? Oder hatte sie das Band aus freien Stücken gelöst? Vielleicht hatte der Bostoner Vampir herausgefunden, mit wem er flüchtete, Angst bekommen und sich ihrer entledigt.

Es war müßig, Spekulationen anzustellen. Er musste sie finden, musste herausfinden, was geschehen war.

„Ist alles in Ordnung?“, erkundigte sich Hip vorsichtig.

Sebum richtete sich eilig auf. „Ja!“, grummelte er.

Er musste sicher gehen, dass sie nicht mehr lebte, musste ihren Leichnam sehen. Wenn der Vampir es wirklich gewagt hatte, Hand an seine Samera zu legen und ihn um seine Rache gebracht hatte, dann würde er sich wünschen, nie geboren worden zu sein. Das Band war nicht die einzige Möglichkeit, die Flüchtigen zu finden. Jeder Vampir hinterließ eine feine Duftnote, und den Geruch seiner Samera, eine zarte Mischung aus Magnolie und Maiglöckchen, kannte er nur allzu gut. Es würde etwas länger dauern, würde anstrengender werden, aber er würde sie finden.

„Wir müssen weiter“, informierte er seine Männer und streckte die Nase in den Wind. Die grobe Richtung kannte er, und der Rest würde sich finden, wenn es soweit war.

Ein gemächlicheres Tempo anschlagend, damit er sich auf ihren Geruch konzentrieren konnte, ging er seinen Männern voran. Das Schwert fest in der Hand, bereit, es jederzeit einzusetzen.

Sie hatten keine Chance zu entkommen, ob beide oder nur ihn, er würde sie finden.

Kapitel 6


Das Band war geknüpft. Er hatte etwas getan, wovon er nie geglaubt hätte, es jemals tun zu müssen. Er hatte sich an eine Vampirin gebunden. Er, für den die eigene Freiheit stets über allem stand. Sich selbst damit zu beschwichtigen, dass es keine feste Verbindung war, dass er nur vorübergehend ihr Rinoka war, gelang ihm nicht.

Kopfschüttelnd stand er da und begriff einfach nicht, welche Dämonen ihn geritten hatten. Nie hätte er sich träumen lassen, dass er eines Tages einer Vampirin seinen Schutz anbieten würde. In seiner Familie war Darius derjenige mit dem großen Herzen, der die Verlorenen einsammelte. Sein Bruder hatte sich inzwischen sogar gebunden und in Sam seine Seelenverwandte gefunden. Diese Art der Seelenverbindung hatte er immer mit dem allergrößten Respekt betrachtet, ja, die beiden dafür sogar beneidet. Doch jetzt, wo er die Verantwortung für die Vampirin übernommen hatte, wurde ihm zum ersten Mal bewusst, welch ungeheures Ausmaß eine Seelenverbindung mit sich brachte. Zu der Vampirin hatte er lediglich ein Rinoka-Band geknüpft, und schon das gab ihm ungeheure Macht über sie. Er konnte in ihren Gedanken ein- und ausgehen, in ihr lesen wie in einem Buch. Er sah alles, ihre Erinnerungen, die schönen Momente ihres Lebens und die Furcht. Etina. Das war ihr Name. Er schloss die Augen und atmete tief durch. Hätte er gewusst, wer sie war, wäre er sicher nicht auf die Idee gekommen, sie mitzunehmen. Nein, er hätte sich nie dazu hinreißen lassen, sie überhaupt anzurühren. Der Blutfürst war ohnehin nicht gut auf ihn zu sprechen, aber jetzt, nachdem er ihm seine Samera genommen hatte, würde er ihn mit noch mehr Hochdruck verfolgen. Die Chance, dass er zu unwichtig war, um eine großangelegte Suchaktion nach ihm zu starten, war dahin. Und was noch schlimmer war: Nicht nur sein Leben hing davon ab, den Franken zu entkommen, sondern auch Etinas.

Sie konnten hier nicht länger bleiben, mussten schleunigst weiter. Doch zwei Dinge mussten davor noch getan werden. Sie mussten sich allerdings beeilen und hatten schon genug Zeit verloren.

„Zieh dich aus und wirf deine Kleidung ins Feuer“, herrschte er Etina an, die ihn entsetzt mit großen Augen ansah und sich nicht rührte.

„Du musst deinen Geruch abwaschen.“

Er schickte der Hausherrin einen mentalen Befehl, die hastig herbeigeeilt kam.

„Such für sie Kleidung heraus“, wies er die Frau an, die sich anschickte, seinem Wunsch nachzukommen.

„Schau, dass du hinaufkommst, sonst schleppe ich dich höchstpersönlich unter die Dusche“, drohte er Etina.

Eingeschüchtert blickte sie ihn an. Die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben.

Sie musste sich endlich bewegen. Am liebsten wäre er zu ihr gegangen und hätte sie geschüttelt, doch er befürchtete, ihre Erstarrung dadurch noch schlimmer zu machen. Frustriert fuhr Rastus sich mit der Hand über seine Stoppeln am Kopf. Ein völlig neuartiges Gefühl.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739450605
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (April)
Schlagworte
Gefährte Urban-Fantasy Clan Fantasy Romance Seelenverbindung Liebe Vampir Seelengefährte Urban Fantasy

Autor

  • Melissa David (Autor:in)

Ich schreibe Bücher, die dein Herz berühren und dich in fantastische Welten abtauchen lassen.
Melissa David wurde 1984 in einem historischen Städtchen in Bayern geboren. Lange bevor sie schrieb, hatte sie den Kopf schon voller Geschichten. Seit 2015 ist sie als Selfpublisherin unterwegs.
Der enge Kontakt zu ihren Lesern ist ihr eine Herzensangelegenheit, die sie über Facebook, ihren Blog und den zweiwöchentlichen Newsletter pflegt.
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Titel: Kruento - Der Krieger