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Kruento - Der Anführer

von Melissa David (Autor:in)
404 Seiten
Reihe: Kruento, Band 1

Zusammenfassung

Eine taffe Polizistin, zwei Männer und ein Kampf, den nur einer überleben kann.

Mord gehört zu Sams Alltag, denn die junge Frau ist Detective bei der Bostoner Polizei. Und so wickelt sie auch ihren neuesten Mordfall routiniert ab - bis sie herausfindet, dass ihr Ex Leyton die Finger im Spiel hat.
Während sie ihren Ex beschattet, trifft sie in einem Nachtclub auf den charismatischen Darius. Zu ihm fühlt sie sich auf mysteriöse Weise hingezogen, obwohl sie noch etwas für Leyton empfindet.
Als ihre beste Freundin verschwindet, muss Sam alle Hebel in Bewegung setzen, um sie zu finden. Abermals läuft ihr Darius über den Weg, doch nicht nur er hütet ein düsteres Geheimnis. Auch Leyton scheint ihr gegenüber nicht ganz ehrlich zu sein.

Jedes Buch ist in sich abgeschlossen.

Die Reihe im Überblick
Kruento - Heimatlos (Novelle)
Kruento - Der Anführer (Band 1)
Kruento - Der Diplomat (Band 2)
Kruento - Der Aufräumer (Band 3)
Kruento - Der Krieger (Band 4)
Kruento - Der Schleuser (Band 5)
Kruento - Der Informant (Band 6)

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Klappentext


Mord gehört zu Sams Alltag, denn die junge Frau ist Detective bei der Bostoner Polizei. Und so wickelt sie auch ihren neuesten Mordfall routiniert ab - bis sie herausfindet, dass ihr Ex Leyton die Finger im Spiel hat.

Während sie ihren Ex beschattet, trifft sie in einem Nachtclub auf den charismatischen Darius. Zu ihm fühlt sie sich auf mysteriöse Weise hingezogen, obwohl sie noch etwas für Leyton empfindet.

Als ihre beste Freundin verschwindet, muss Sam alle Hebel in Bewegung setzen, um sie zu finden. Abermals läuft ihr Darius über den Weg, doch nicht nur er hütet ein düsteres Geheimnis. Auch Leyton scheint ihr gegenüber nicht ganz ehrlich zu sein.


Jedes Buch ist in sich abgeschlossen. 


Die Reihe im Überblick: 

Kruento - Heimatlos (Novelle) 

Kruento - Der Anführer (Band 1)

Kruento - Der Diplomat (Band 2)

Kruento - Der Aufräumer (Band 3)

Kruento - Der Krieger (Band 4)

Kruento - Der Schleuser (Band 5)

Kruento - Der Informant (Band 6)

Impressum


E-Book

2. Auflage August 2016

201-346-01

Melissa David

Mühlweg 48a

90518 Altdorf

Blog: www.mel-david.de 

E-Mail: melissa@mel-david.de 




Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss

www.juliane-schneeweiss.de

Bildmaterial: © Depositphotos.com


Lektorat, Korrektorat:

Jana Oltersdorff




Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form bedürfen der Einwilligung der Autorin.

Personen und Handlungen sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Kruento




Der Anführer

Band 1


von

Melissa David

Vorwort

Lieber Leser,


dieses Buch enthält ein Glossar, das sich im Anschluss der Geschichte befindet. In diesem Glossar werden unbekannte Begriffe erklärt. Wenn du das Glossar vorab lesen möchtest, bitte hier klicken.

Im diesem Buch habe ich es so gehandhabt, dass ich Begriffe beim ersten Auftauchen ins Glossar verlinkt habe. In der Regel ist dieser unterstrichen. Beim Daraufklicken kommst du direkt zur Erklärung. Mit „zurück“ gelangst du dann wieder zur aktuellen Textstelle.

Ich hoffe, dir ist das Glossar eine Hilfe, um die Welt der Kruento besser zu verstehen. Solltest du technische Probleme haben, kannst du dich gerne unter melissa@mel-david.de an mich wenden.

Du möchtest noch tiefer in die Welt von Kruento eintauchen? Auf meinem Blog findest du spannende Artikel mit Hintergrundinformationen über die Kruento.


Nun wünsche ich dir viel Spaß beim Lesen. Mache dich bereit und tauche ein in die Welt der Kruento.


Deine Melissa David

Kapitel 1


Sam stieg aus ihrem Wagen und warf die Tür hinter sich zu. Die Gegend sah heruntergekommen aus. An den Häusern bröckelte die Fassade ab, einige Fenster waren mit Holzbrettern zugenagelt, und die windschiefe Laterne, die nur spärlich die Gegend beleuchtete, neigte sich bedrohlich dem Boden entgegen. Neben ihrem Dodge, in den typischen weißblauen Polizeifarben, hielt ein schwarzer Chevrolet, dessen Seiten das Emblem des Bostoner Police Department zierte. Ein hochgewachsener Mann stieg aus. Er trug ein marineblaues Shirt mit den gelben Lettern der Forensic Science Division. Sein spärliches Haar war unter einer Kappe versteckt, die die gleiche gelbe Aufschrift wie sein Shirt trug.

„Hi Jeff! Wie geht es deiner Frau?“ Sie mochte Jeff Howard von der Spurensicherung, der vor einigen Monaten das erste Mal Vater geworden war. Er ließ sich mit Einschätzungen gerne viel Zeit, aber das, was er sagte, hatte Hand und Fuß, und deswegen schätzte sie ihn.

„Danke, bestens."

„Kommt ihr jetzt erst?“

Ihr Kollege schüttelte den Kopf. „Andrew ist schon hier und macht Fotos.“

„Gut.“ Sie blickte stirnrunzelnd hinüber zu der Absperrung des Tatorts, wo sich bereits eine kleine Menschentraube Schaulustiger versammelt hatte und überlegte einen Moment, auf Jeff zu warten, der zu seinem Kofferraum gegangen war und diverse Utensilien aus seinem Auto holte. Sam entschied sich dagegen. Sie war müde und wollte ihren Job schnell erledigen. Eigentlich war sie schon auf dem Weg nach Hause gewesen, als man sie an diesen Tatort gerufen hatte. Wind frischte auf, wehte ein paar vertrocknete Blätter zu ihr hinüber und ließ sie frösteln. Ein Grund mehr, sich zu beeilen. Gleichzeitig ärgerte sie sich, dass sie nichts Wärmeres als ein T-Shirt und ihre Lederjacke trug. Blinkendes Blaulicht erhellte rhythmisch die Umgebung und tauchte die abgelegene Gasse in ein unheimliches Licht. Die Straße war noch feucht, aber zum Glück regnete es nicht mehr. Sam seufzte, hängte sich ihren Ausweis um den Hals und steuerte auf den Officer zu, der mit einem Klemmbrett vor der Absperrung wartete, die Schaulustigen auf Abstand haltend.

Sie nickte ihm flüchtig zu, ergriff den Stift und trug ihren Namen in das Protokoll ein. Dann schlüpfte sie unter der Absperrung hindurch. Vor den alten Mehrfamilienhäusern im Kolonialstil sah sie bereits Andrew, der fotografierte. Etwas abseits davon stand eine Gruppe von Cops zusammen, die aufgeregt miteinander diskutierten. Ein kleiner, untersetzter Mann in der dunkelblauen Polizistenuniform trat auf sie zu. An seiner Schulter hing das Funkgerät bedrohlich schief, und Sam befürchtete, es könnte jeden Moment hinunter fallen. Er schob seine Schirmmütze nach hinten, und sie konnte an seinen ergrauten Schläfen erkennen, dass er mit Abstand der Älteste der Truppe war. Die drei anderen Cops waren etwa in ihrem Alter, einer von ihnen sah sogar aus, als käme er frisch von der Akademie. Er war am nervösesten, trat unsicher von einem Fuß auf den anderen und wagte es nicht, sie anzublicken.

„Detective Forster?“, fragte der grauhaarige Polizist ungläubig, als hätte er jemand anderen erwartet.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und verzog spöttisch den Mund. Inzwischen war sie es gewohnt, erst einmal misstrauisch gemustert zu werden. Sie wusste genau, was er sah. Sam schämte sich nicht für ihr Aussehen, und es war ihr auch egal, dass sie mit ihren siebenundzwanzig Jahren noch recht jung für das Dezernat für Gewaltverbrechen war. Und noch weniger kümmerte es sie, dass sie eine Frau war. Sie war gut in ihrem Job. Darauf kam es an.

„Was gibt es?“ Ihr fragender Blick musterte die Umgebung.

Der Streifenpolizist zog wichtigtuerisch seinen Notizblock aus der zweiten Brusttasche und räusperte sich.

„Eine junge Frau. Anfang zwanzig vielleicht. Übel zugerichtet, richtig übel. Der Gerichtsmediziner meinte, jemand habe ihr die Kehle buchstäblich aufgerissen.“

„Welchen Pathologen haben sie geschickt?“, wollte Sam wissen, da sie niemanden von der Gerichtsmedizin sah. 

„Dr. Westwood. Er hat sich bereits die Leiche angesehen, musste allerdings schon weiter zu einem anderen Fall.“

Sam nickte. Nicht alle aus der Gerichtsmedizin machten ihren Job so gut wie Abraham Westwood. Sehr beruhigend zu wissen, dass er für diesen Fall zuständig war.

„Was haben Sie bisher gemacht?“ Ihr Blick schweifte kurz hinüber zu den Streifenpolizisten. Inzwischen standen sechs von ihnen herum.

„Wir haben den Tatort gesichert, die Personalien der Zeugen aufgenommen, den Krankenwagen und die Gerichtsmedizin sowie die Spurensicherung und das Dezernat für Gewaltverbrechen informiert.“

Während sie sich auf den neusten Stand bringen ließ, folgte sie dem Cop weiter in die dunkle Gasse. Eine Straßenlaterne, die vor dem ehemals weißen, jetzt ergrauten mehrstöckigen Haus stand, war vollkommen ausgefallen und die wenigen Scheinwerfer, die hergeschafft worden waren, sowie die Beleuchtung der Streifenwagen erhellten die Straße nur notdürftig. Ein weiteres Absperrband versperrte den Weg. Mit einer geschmeidigen Bewegung schlüpfte sie unter dem gelben Plastikband hindurch und nahm aus dem Augenwinkel wahr, wie der Cop vor der Absperrung stehen blieb.

„Die Spurensicherung hat bisher nur Fotos von der Leiche gemacht. Vielleicht sollten Sie warten, bis auch der Tatort fotografiert worden ist.“

„Ich weiß, wie man sich an einem Tatort verhält“, erklärte sie ärgerlich und wandte sich dann der Leiche zu.

Es handelte sich um eine junge Frau mit blonden Haaren und eingefallenen Wangen. Die weit aufgerissenen Augen starrten anklagend in den Himmel. Sam schluckte. Ein schwarzer Minirock war weit über die Hüften geschoben, und der weiße Tanga, den sie darunter trug, hing nur noch in Fetzen an ihr. Das knappe Oberteil war blutüberströmt, aber nicht verrutscht. Durch die blutigen Flecken glitzerte es silbern, wenn das Blaulicht darüber strich. Ihre Hände wiesen Kampfspuren auf. Einige der langen Nägel waren abgebrochen, ihre Handgelenke bläulich verfärbt, und die linke Hand sah unnatürlich verdreht aus. Vermutlich hatte sie sich gegen ihren Angreifer gewehrt. Leider vergebens, wie ihre zerfetzte Kehle bewies. Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend wandte Sam sich ab. Welche Qualen die Frau wohl in ihren letzten Minuten hatte erleben müssen? 

Betroffen blickte Sam zur Seite. Seit einem Jahr arbeitete sie für die Mordkommission, und hatte in dieser Zeit schon viel gesehen. An den Anblick der Leichen hatte sie sich jedoch noch immer nicht gewöhnt.

Angestrengt versuchte sie, etwas zu erkennen und ging ein paar Schritte weiter in die finstere Sackgasse hinein, peinlich darauf bedacht, keine Spuren zu verwischen. Sie spähte angestrengt in eine Ecke hinüber, erkannte aber nichts in der Dunkelheit.

Ihrem Instinkt folgend, ging sie näher, sah eine zerbrochene Holzpalette und einige herumliegende Kartons, sonst nichts. Gerade wollte sie sich wieder abwenden, als sie etwas innehalten ließ. Seitlich, halb versteckt hinter einem Karton, lag ein Gegenstand. Sam zog einen Einmalhandschuh aus ihrer Gesäßtasche und streifte ihn sich über. Zögernd, nicht scharf darauf, Bekanntschaft mit dem herumliegenden Unrat zu machen, griff sie nach dem Ding. Eine Jacke. Um genau zu sein, eine schwarze Damenjacke, für die Jahreszeit eigentlich viel zu dünn. Mit ein paar geübten Handgriffen durchsuchte sie das Beweisstück. Nichts. Weder Ausweis, noch Schlüssel oder sonst ein Hinweis auf die Identität der Besitzerin.

„So ein Mist“, murmelte Sam vor sich hin. „Das wäre auch zu schön gewesen.“

Sie winkte Jeff zu sich, der das Kleidungsstück eintütete.

„Detective Forster, einer der Zeugen lässt fragen, ob er seine Aussage jetzt gleich machen kann. Er hat wohl noch einen wichtigen Termin“, erklärte ihr der grauhaarige Gesetzeshüter, dessen Funkgerät inzwischen an seinem Gürtel, gleich neben der Waffe, hing.

Sam sah sich noch ein letztes Mal um, vergewisserte sich, dass sie nichts übersehen hatte, und ließ sich vom Polizisten zu den Zeugen führen, die außerhalb der Absperrung bei einem anderen Cop warteten.

Es waren genau drei Zeugen. Zwei junge Mädchen, die noch etwas blass um die Nase wirkten, und ein kleinerer Mann, der ihr den Rücken zuwandte.

„Mr. Hendersen hier hat noch einen Termin“, erklärte der Officer. Sam bedankte sich knapp und trat auf den Mann zu.

„Danke, dass Sie noch hier sind. Ich bin Detective …“ Die nächsten Worte blieben ihr im Hals stecken, als sie den stämmigen Mann erkannte. Ihr Mund war trocken, die Kehle wie zugeschnürt. „Leyton?“, presste sie angespannt heraus.

„Sam“, antwortete der Mann ruhig.

Ungläubig blinzelte sie, doch er verschwand nicht. Noch immer stand er vor ihr. Er hatte sich verändert. Insgesamt war er breiter geworden, nicht dick, eher muskulöser, als hätte er viel trainiert. Die Falten in seinem Gesicht waren etwas tiefer geworden, ebenso die Furchen auf der fliehenden Stirn. Hatte er früher mehr Haare gehabt? Die breite Nase und das markante Kinn erinnerten sie immer noch an einen Boxer. Ja, das war Leyton. Unverwechselbar stand er mit einer abgetragenen Lederjacke vor ihr. Und noch immer überragte sie ihn um einige Zentimeter. Jetzt lächelte er sie an und sein Lächeln war noch umwerfender, als sie es in Erinnerung hatte. Ein Kribbeln machte sich in ihrer Magengegend breit, ließ ihre Knie weich werden.

„Was machst du hier?“ Ungläubig starrte sie ihn an. Ihr erstes Zusammentreffen war eine Ewigkeit her. Sie war Leyton begegnet, als sie gerade mit der Ausbildung anfing und hatte sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Er war nicht nur nett, sondern half ihr auch, sich in den ersten Monaten auf der Polizeiakademie zurechtzufinden. Zu dieser Zeit stand er kurz vor seiner letzten Prüfung. Schon damals war Leyton anders als alle anderen Männer, die sie kannte. Er war weder übermäßig gutaussehend noch besonders intelligent und hatte trotzdem etwas Anziehendes an sich.

„Ich bin dein Zeuge“, half er ihr auf die Sprünge. Im Gegensatz zu ihr schien er nicht im Mindesten davon überrascht zu sein, sie hier anzutreffen. Sein scharfer Blick musterte sie von oben bis unten.

„Du siehst gut aus.“ Sam schluckte. Unwillkürlich erinnerte sie sich daran, wie es sich angefühlt hatte, ihren Körper an seinen zu pressen. Himmel, woran dachte sie? Beschämt über ihre Gedanken kaute sie auf ihrer Unterlippe.

„Danke“, brachte sie gepresst heraus.

Ja, es war wirklich lange her. Es erschien ihr wie eine Ewigkeit. Zuerst waren sie nur essen gegangen und dabei gute Freunde geworden. Doch dann hatten sich ihre Gefühle füreinander geändert, waren tiefer geworden. Bei Leyton hatte sie sich das erste Mal als richtige Frau gefühlt – begehrt und umworben. Es war ihre erste längere Beziehung, und der Sex mit ihm war, im Gegensatz zu den flüchtigen Teenager-Bekanntschaften, der Himmel auf Erden gewesen. Die Erinnerungen an damals ließen ihr Herz auch jetzt wieder schneller schlagen. Sie hatte immer geglaubt, er sei der Mann ihres Lebens. Aber eines Tages war er einfach nicht mehr bei ihr aufgetaucht. Seine Wohnung war leer und Leyton spurlos verschwunden gewesen. Erst hatte sie ihn in Schutz genommen und nach Entschuldigungen gesucht. Nachdem ihr diese ausgegangen waren, kam die unbändige Wut, gefolgt von Hilflosigkeit und Trauer. Und eines Tages hatte sie beschlossen, nicht mehr an ihn zu denken. Dieser Lebensabschnitt war vorbei. Jetzt, Jahre später, war sie lange über ihn hinweg, hatte sie bisher zumindest gedacht. So wie über alle anderen Männer, die es bisher in ihrem Leben nach Leyton gegeben hatte.

„Sie kennen sich?“, fragte der Polizeibeamte verdutzt. Augenblicklich kehrte Sam in die Realität zurück.

„Wir waren zusammen auf der Polizeiakademie.“ Sie blickte Leyton immer noch an, während sie den Officer aufklärte. „Bringen wir es hinter uns.“ Mit einem Kopfnicken deutete sie in Richtung ihres Dodges, der hinter der nächsten Ecke parkte. Sam brauchte einen klaren Kopf und hoffte, dass ihr ein paar Schritte helfen würden. Davon abgesehen wollte sie mit Leyton alleine reden, ohne dass ein Streifenpolizist danebenstand und seinen Senf dazugab.

Sie konnte spüren, wie Leyton ihr folgte, fühlte seine Anwesenheit bei jeder Bewegung. Im Scheinwerferlicht eines Polizeiwagens, einige Meter von ihrem eigenen Fahrzeug entfernt, blieb sie stehen und wandte sich zu Leyton um.

„Du hast es also geschafft“, kam er ihr zuvor, ehe sie die erste Frage stellen konnte.

Befangen drehte sie sich ein wenig von ihm weg, sah hinüber zu den Schaulustigen, die, angezogen von dem Spektakel, immer mehr wurden. Er hatte sie aus dem Gleichgewicht gebracht, und das gefiel ihr überhaupt nicht. „Ich würde gerne anfangen. Meine Zeit ist knapp“, versuchte sie auszuweichen. Aus ihrer Brusttasche holte sie den kleinen Notizblock und einen Stift.

„Bist du allein hier?“, hakte er nach.

Unvermittelt blickte sie ihn jetzt an, zog scharf die Luft ein. „Dir bin ich keine Rechenschaft schuldig.“ Inständig hoffte Sam, dass sie sich nicht so kläglich anhörte, wie sie sich fühlte. Er zog wortlos eine Augenbraue nach oben, blickte sie streng an.

„Es ist lange her, Leyton“, seufzte sie resigniert.

„Ja, ich weiß.“ Seine Stimme war nur noch ein leises Flüstern. „Es tut mir leid.“

Gerade noch rechtzeitig trat sie einen Schritt zurück, um seiner Hand auszuweichen und keuchte erschrocken. Er hatte kein Recht, sie anzufassen, sie auf diese vertraute Art zu berühren.

Leyton wirkte enttäuscht und zog sich fast unmerklich von ihr zurück. Seine Hände vergrub er in den Hosentaschen.

„Was hast du hier gemacht?“ Sie war froh, dass ihre Stimme jetzt fester klang. Ihr entging nicht, wie er zögerte, um zu überlegen, was er ihr antworten sollte.

„Nichts Wichtiges.“

Sam sah von ihrem Notizblock auf und suchte in seinen Augen nach Antworten. Er erwiderte ihren Blick. Innerlich wehrte sie sich dagegen und versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf den dunklen Asphalt zu ihren Füßen zu lenken. Sie sammelte sich und sah ihn abermals an, um ihre Frage zu wiederholen.

„Was hattest du hier zu suchen?“ Es schien, als ob er seine Hände noch tiefer in den Taschen vergrub.

„Ich arbeite jetzt als Privatdetektiv.“ Entgeistert starrte sie ihn an. Leyton ein Privatdetektiv? Das passte nicht. Unmöglich. Sie hatte schon öfter mit Menschen dieser Berufsgruppe zu tun gehabt und konnte sich Leyton in diesem Job einfach nicht vorstellen. Was war vorgefallen, dass er seine Karriere bei der Polizei aufgegeben hatte? Oder hatte er sie sogar aufgeben müssen?

„Ich war wegen eines Auftrags hier. Mehr kann ich dir nicht sagen.“ Er musste ihre Verblüffung gesehen haben, ging jedoch glücklicherweise nicht darauf ein. „Weil ich etwas hörte, ging ich in die Gasse, sah aber nur einen Schatten, der verschwand, als ich näher kam.“

Sie sah ihn skeptisch an.

„Etwas Schwarzes, vermutlich männlich, zwei Meter groß. Ich habe kein Gesicht gesehen.“

Sam glaubte ihm kein Wort, notierte sich trotzdem brav die Stichpunkte auf ihrem Block. Kein ausgebildeter Polizist – und das war Leyton, egal ob er jetzt als Privatdetektiv arbeitete oder nicht – würde eine so ungenaue Beschreibung abgeben. In ihrem Beruf war man geschult, auch auf die kleinsten Details achtzugeben, erschienen sie auch noch so unbedeutend.

„Geht es etwas genauer?“

„Nein, ich habe nicht mehr gesehen.“

„Das glaube ich dir nicht.“

„Verdammt, Sam, es ist stockdunkel, man sieht kaum seine Hand vor Augen. Was bitte soll ich hier gesehen haben?“ Er machte eine ausladende Handbewegung und zeigte auf die Umgebung um sie herum. Die Leichtigkeit, mit der er sich bewegte, verblüffte Sam noch immer. Trotz seines breiten Erscheinungsbildes waren seine Bewegungen geschmeidig.

„Es ist spät, ich bin müde.“ Er fuhr sich über das stoppelige Kinn. „Ich habe nicht mehr gesehen. Als ich ankam, war die Frau schon tot. Ich konnte ihr nicht mehr helfen. Es war zu spät.“ Bedauern schwang in seiner Stimme mit und etwas anderes, etwas Undefinierbares.

„Hast du sie angefasst? Den Puls gefühlt?“

Jetzt war es Leyton, der sie fassungslos anstarrte.

„Hast du die Leiche gesehen?“, wollte er irritiert wissen. „Ihre Kehle war zerfetzt. Warum hätte ich da ihren Puls fühlen sollen?“

Sam schloss für einen Moment die Augen. Ihre Professionalität löste sich schon wieder in Luft auf.

„Und nein, ich habe sie nicht angefasst. Auch wenn ich als Privatdetektiv arbeite, gewisse Dinge habe ich nicht vergessen.“

Langsam ließ sie die Hände sinken. Mit der Rechten umfasste sie den Stift so krampfhaft, dass es wehtat.

„So war das nicht gemeint.“

„Sie war schon tot. Ich hätte nichts mehr für sie tun können, selbst wenn sie noch gelebt hätte.“ Er beruhigte sich wieder.

„Ist das alles?“

Er nickte stumm.

„Okay, dann brauche ich noch deine persönlichen Angaben.“ Erneut hob sie den Block und fügte entschuldigend hinzu: „Für das Protokoll.“

„Warte, ich gebe dir eine Visitenkarte.“

Sam nickte und steckte ihr Schreibzeug ein. Leyton kramte in den Innentaschen seiner Lederjacke und zog schließlich ein kleines Kärtchen hervor. Zögernd nahm sie es entgegen, peinlich darauf bedacht, ihn nicht zu berühren. Einen hastigen Blick auf die Visitenkarte konnte sie sich nicht verkneifen. Da stand zweifelsfrei Leytons Name in Verbindung mit einer Privatdetektei hier in Boston.

„Sind wir fertig?“ Seine Stimme klang angespannt.

„Ja.“

„Gut, wenn du noch Fragen hast, weißt du ja nun, wo du mich finden kannst.“

„Hmm …“, murmelte sie eine undeutliche Antwort.

Hastig, fast so, als wollte er flüchten, eilte er davon. Nach ein paar Schritten drehte er sich dann noch einmal um und blickte sie direkt an.

„Schade, dass wir uns unter diesen Umständen wiedergetroffen haben. Ich wünschte, es wäre anders gekommen.“ Nachdenklich nickte sie, unfähig etwas dazu zu sagen. „Mach's gut“, verabschiedete er sich leise.

Er wartete noch einen Augenblick. Als sie jedoch weiterhin schwieg, verschwand er endgültig. Sam blickte ihm hinterher, selbst als er schon lange in der dunklen Nacht verschwunden war.

Kapitel 2


Das Opfer, Ashley Simons, wie Sam inzwischen wusste, war gesäubert worden und lag auf dem sterilen Obduktionstisch der Gerichtsmedizin. Dr. Westwood begann, die Leiche genauer zu untersuchen, während Sam ungeduldig danebenstand. Sie hatte den Gerichtsmediziner darum gebeten, sie zu informieren, wenn er mit der Autopsie begann. Da Ashley Simons nicht die einzige Leiche in Boston war, die auf eine Obduktion wartete, konnte es bis zu einer Woche dauern, bis der Pathologe ihr erste Ergebnisse lieferte. Sam war Dr. Westwood dennoch dankbar, dass er auf ihr Drängen hin noch an diesem Abend Zeit gefunden hatte, die Untersuchung durchzuführen. Schließlich lag Ashleys Tod inzwischen drei Tage zurück. Mit der äußeren Untersuchung war der Mediziner fast fertig. Peinlich genau hatte er Größe, Gewicht, Ernährungszustand und Hautkolorit sowie Lokalisation und Farbe der Totenflecke und den Ausprägungsgrad der Totenstarre dokumentiert. Dann hatte er nach Hautveränderungen wie Narben, Pigmentflecken und Tätowierungen gesucht, jedoch nichts Auffälliges gefunden. Schließlich wandte er sich der zerfetzten Kehle zu, die augenscheinlich die Todesursache war. 

„Sehen Sie das, Detective Forster?“

Sam beugte sich über die Leiche und starrte auf die Stelle, die ihr der Pathologe zeigte.

„Was meinen Sie, Doc?“ Sie schaute zu dem hochgewachsenen Mediziner, der wasserdichte Kleidung, Handschuhe sowie Kopfbedeckung und Mund-Nasen-Schutz trug. Die Schutzbrille lag neben seinen Werkzeugen, und Sam wusste, dass er sie aufsetzen würde, bevor er begann, den Leichnam zu öffnen.

„Die Halsschlagader ist verletzt. Regelrecht herausgerissen. Sehen Sie die ausgefransten Ränder? Das war kein Mensch. Das sieht mehr nach einem Tierangriff aus, von einem richtig großen Tier.“

„Vielleicht ein Wolf?“, überlegte Sam laut.

Dr. Westwood schaute nicht zu ihr auf, griff sich eine lange Pinzette und inspizierte die Wunde genauer.

„Ein Wolf in Boston, dazu noch frei herumlaufend? Was haben Ihre Zeugen berichtet?“

Sam zog ihren Notizblock aus der Tasche und blätterte darin. „Der Zeuge sagte, er hätte einen Schatten gesehen, etwa zwei Meter groß. Es war zu dunkel für eine nähere Beschreibung. Von der Größe her kann man wohl eher auf einen Mann schließen.“

„Aha …“, kommentierte der Mediziner ihre Worte. „Ich kann die Bissspuren noch nicht näher bestimmen, aber einen Menschen kann ich mit Sicherheit ausschließen.“

Nachdenklich starrte Sam auf die Tote. Etwas passte nicht – ganz und gar nicht. Leytons Aussage stimmte mit den Beweisen nicht überein.

„Haben Sie keine Zeugen, die Sie dazu befragen können?“, erkundigte Dr. Westwood sich, während er noch immer an der Leiche herumstocherte.

„Die Mädchen haben leider nichts gesehen. Sie haben nur die Schreie des Opfers gehört und gesehen, wie der Privatdetektiv in die Gasse lief. Daraufhin haben sie die Polizei gerufen.“

„Und der Privatdetektiv?“, erkundigte sich Dr. Westwood.

Sam blätterte erneut in ihrem Block und hielt schließlich Leytons Karte in der Hand. „Den werde ich jetzt aufsuchen.“ Sie lächelte den Gerichtsmediziner an. „Wann kann ich Ihren Bericht auf dem Schreibtisch haben?“

Nach kurzem Zögern meinte er: „Nun ja, ich denke, im Lauf des morgigen Tages.“

Das passte ihr gut. Morgen hätte sie zwar frei, würde aber am Nachmittag im Büro vorbeischauen, denn der kuriose Fall machte sie doch sehr neugierig.

Sie drehte sich um und blickte auf die Uhr. Es war schon ziemlich spät, trotzdem wollte sie Leyton noch aufsuchen. Er hatte ihr etwas verschwiegen, darauf würde sie jede Wette eingehen.

„Ich muss los“, verabschiedete sie sich hastig und machte sich auf den Weg.


* * *


Eine halbe Stunde später saß Sam in ihrem Wagen und wartete. Sie hatte etwas weiter unten an der Straße geparkt, von wo aus sie eine gute Sicht auf das vierstöckige graue Haus hatte, in dem Leytons Detektei lag, ohne selbst gesehen zu werden. Im zweiten Stock, dort wo an den Fensterscheiben groß Detektei Hendersen stand, hatte sie Licht gesehen und daraus geschlossen, dass er noch arbeitete. Erst hatte sie überlegt, direkt zu ihm zu gehen, sich dann aber doch dafür entschieden, hier unten zu warten. 

Es dauerte lange, bis das Licht ausging. Wenige Minuten später verließ Leyton das Gebäude. Sam hatte ihre Hand bereits am Türöffner, hielt aber kurz inne. Sie sah, wie Leyton sein Handy aus dem Mantel holte, kurz tippte und sich das Telefon ans Ohr hielt.

Anstatt auszusteigen, betätigte sie den Fensteröffner und ließ das Fenster halb herunterfahren. Als das elektrische Summen verstummte, schloss sie die Augen. Sie versuchte, sich in dem Wirrwarr von einzelnen Tönen, die an ihr Ohr drangen, auf Leytons Stimme zu konzentrieren. In letzter Zeit gelang es ihr immer besser, einzelne Geräusche auch über größere Entfernung herauszufiltern.

„Wo bist du, Younes?“, hörte sie ihn fragen. Einige Sekunden Stille. „Warte einfach, ich bin gleich bei dir. Mach bitte keine Dummheiten wie neulich Nacht. Die Polizei war verdammt schnell da. Ich will nicht, dass der Bastard uns noch mal entwischt. Diesmal müssen wir ihn kalt machen!“

Erschrocken riss Sam die Augen auf und starrte aus ihrem Versteck zu Leyton hinüber. Kannte er den Mörder nicht nur, sondern deckte er ihn auch noch? So hatte sie Leyton noch nie reden hören, und das machte ihr Angst. Was hatte er nur vor?

In aller Eile klappte er das Handy wieder zu, schaute sich vorsichtig um und stieg hastig in seinen alten VW, der direkt vor dem Haus parkte. Zum Glück schien er sie und das Polizeiauto nicht bemerkt zu haben, und so heftete sie sich in sicherer Entfernung an seine Fersen. Quer durch die Stadt ging die heimliche Verfolgungsjagd bis nach North End. Leyton bog in eine Seitenstraße, worauf sie den Abstand noch etwas größer werden ließ. Als sie sah, dass er seinen blauen VW abgestellt hatte und in einem Gebäude verschwand, parkte sie ebenfalls.

Aus sicherer Entfernung beobachtete sie das Haus, in dem Leyton verschwunden war. Der Putz bröckelte an einigen Stellen bereits ab, und die beige Farbe hatte auch schon bessere Tage gesehen. Lediglich das grelle Leuchtschild mit der Aufschrift Night Shark über dem Eingang ließ erkennen, dass in diesem schmucklosen Haus ein Nachtclub untergebracht war.

Sollte sie hier auf Leyton warten? Sam beschloss, ihm zu folgen. Sie sah an sich hinunter. Schwarzes Shirt, Bluejeans und dunkle Jeansjacke. Nicht gerade das perfekte Outfit, aber es musste reichen. Wenn nicht, würde ihre Dienstmarke als Eintrittskarte fungieren müssen. Mit einem unguten Gefühl stieg sie aus und ging auf den Club zu.

Eine enge, spärlich beleuchtete Treppe führte hinunter in einen großen Raum. Der Gestank von Schweiß und Alkohol schlug ihr entgegen. Alle, die aus anderen Clubs der Stadt hinausgeworfen oder überhaupt nicht eingelassen worden waren, schienen hier zusammengekommen zu sein. Sam sah einige ziemlich junge Mädchen mit zu viel Schminke und zu wenig Kleidung, die eigentlich um diese Uhrzeit längst in ihren Betten hätten liegen müssen. Viele Studenten waren hier, die ausgelassen feierten. Weiter hinten entdeckte sie einige in die Jahre gekommene Prostituierte, die ihr Glück bei den älteren Herren, mit spärlichem Haar und deutlichem Bauchansatz, versuchten.

In knallrot gepolsterten Kunstledersitzgruppen saßen Menschen beisammen, lachten und unterhielten sich. Auf der Tanzfläche vergnügten sich nur Wenige. Das Zentrum des Raumes bildete eine lange, gut besuchte Bar. Die davor aufgereihten Hocker waren fast alle besetzt. 

Sam sah sich suchend um, konnte Leyton aber nirgends ausmachen. Sie stand da und überlegte, ob sie nicht doch lieber umkehren sollte, als sie von hinten angerempelt wurde.

„Entschuldigung“, hörte sie eine tiefe männliche Stimme, die ihr ein Schaudern über den Körper jagte. Abrupt drehte sie sich um und starrte eine breite, männliche Brust an. Als sie daran hochblickte, sah sie in saphirblaue Augen. Die Welt schien für einen Moment stillzustehen, und Sam hatte das Gefühl, in diesem unglaublich leuchtenden Blau zu versinken. Sie musste sich förmlich zwingen, woanders hinzusehen. Unwillig gestand Sam sich ein, dass sie beim Anblick dieses Mannes weiche Knie bekam. Das war ihr ja noch nie passiert!

„Ich wollte dich nicht anrempeln“, entschuldigte er sich nochmals mit seiner samtweichen Stimme. Der Mann war so groß, dass sie ihren Kopf in den Nacken legen musste, um zu ihm aufzublicken. Die kinnlangen Haare umspielten das ebenmäßige, männliche Gesicht. Er hatte eine gerade Nase und schmale Lippen, die gerade zu einem unwiderstehlichen Lächeln geformt waren. Sam zitterte leicht, als sie mit aller Gewalt ihren Blick von dem Gesicht des Fremden löste und den Rest betrachtete. Er trug ein einfaches, schwarzes T-Shirt, das sich über seine breite Brust und die muskulösen Oberarme spannte. So wie er aussah, konnte er mit jedem Bodybuilder in Boston konkurrieren. Die festen Oberschenkel steckten in einer abgetragenen Jeans. Nur die teure Uhr und die dunkelbraunen Schuhe passten nicht so recht zu diesem legeren Outfit.

„Nichts passiert!“, murmelte sie irritiert und hoffte, dass sie ein Lächeln zustande brachte.

„Darf ich dich als Wiedergutmachung auf einen Drink einladen?“

„Gern“, hörte sie sich antworten, ehe sie darüber nachdenken konnte. Sie erschrak über sich selbst und spürte, wie ihr die Situation Stück für Stück entglitt.

„Ich bin Darius.“

Sam erschauderte leicht, als seine Finger sie berührten und er sie sanft Richtung Bar dirigierte. Jeder Gedanke, die leise warnende Stimme in ihrem Kopf, alles war wie weggeblasen.

„Sam. Ich bin Sam“, stammelte sie leise. Oh Gott, das war doch nicht sie. Mit ihren siebenundzwanzig Jahren hatte sie gedacht, endlich einigermaßen erwachsen zu sein und nicht beim Anblick eines gut aussehenden Mannes gleich in die Verhaltensweisen eines pubertierenden Teenagers zurückzufallen.

„Sam. Ein sehr schöner Name", raunte Darius in ihr Ohr. Beim Klang ihres Namens stellten sich ihre Nackenhaare auf. Er sprach ihn seltsam fremd aus, was ihr gut gefiel.

Sie waren an der Bar angekommen, und Darius bestellte für sie einen Cocktail. Es dauerte nicht lange, bis der Barkeeper fertig war. Sam war dankbar, sich am Glas festhalten zu können, und folgte Darius, der sie zu einer freien Sitzgruppe führte.

„Bist du mit jemandem verabredet?“, erkundigte er sich interessiert, während er sich neben sie setzte. Verwirrt blickte sie ihn an und sog am Strohhalm ihres Cocktails.

„Es sah so aus, als ob du jemanden suchen würdest“, erklärte er geduldig.

„Ja. Nein. Ich … Eigentlich wollte ich hier jemanden treffen. Aber … Sie sah verlegen auf ihre Armbanduhr und erschrak. Es war bereits halb elf. Die Zeit war einfach nur so dahin gerauscht, ohne dass sie es wahrgenommen hatte. „Ist nicht so wichtig“, beendete sie dann den Satz. Darius nickte und grinste sie an. Dieses Lächeln! Es war einfach unwiderstehlich. Sam überlegte, ob sie es sich nur einbildete oder ob er wirklich näher an sie herangerückt war. Ein angenehmes Kribbeln machte sich in ihr breit.

„Verdammt, Sam, was machst du hier?“ Grob wurde sie aus der Sitzecke gezogen und blickte verwirrt Leyton an, der sie geradezu panisch musterte.

„Hat der Kerl dir etwas getan?“, fragte er und betrachtete eingehend ihr Gesicht. Sie brauchte einige Sekunden, um zu realisieren, wer da vor ihr stand. Dann ärgerte sie sich, ihn zu sehen.

„Ich bin alt genug, um auf mich selbst aufzupassen.“ Entrüstet riss sie sich von ihm los und warf trotzig ihr Haar über die Schulter. „Zisch ab, Leyton, und lass mich in Ruhe!“

„Was hast du hier zu suchen?“, wiederholte er seine Frage.

„Ich amüsiere mich in meiner Freizeit", schleuderte sie ihm entgegen. Darius machte einen Schritt auf sie zu.

„Wenn du sie berührst, bring’ ich dich um, du Bastard.“ Wütend schaute Leyton ihn an, musste dabei weit nach oben schauen, da er Darius nur bis zur Brust ging. Abgrundtiefer Hass lag in seinem Blick. Das verwirrte sie. Hilfesuchend drehte sie sich zu Darius um und kam dabei gefährlich ins Wanken. Sie schloss die Augen und hob ihre Hand an die pochende Schläfe. Dankbar nahm sie wahr, wie Darius sie sanft in den Arm nahm und sich mit ihr setzte.

Vor ihren Augen drehte sich alles, als sie die Lider wieder öffnete, und in ihrem Kopf pochte es unaufhörlich. Lag das an der schlechten Luft hier drinnen, oder vertrug sie den Alkohol nicht? War vielleicht sogar etwas im Cocktail gewesen? Verdammt. Irgendwie war sie nicht Herrin ihrer Sinne.

„Ich habe ihr nichts getan.“ Ein herablassendes Lächeln umspielte Darius' wohlgeformte Lippen, als er sich mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung erhob und sich an Sam vorbei schob. „Und selbst wenn ich etwas getan hätte, würde dich das nichts angehen.“

Leyton zog hörbar die Luft durch seine breite Nase. Sein Oberkörper hob und senkte sich, die Hände waren neben seinem Körper zu Fäusten geballt, als ob es ihm schwerfiel, sich zu beherrschen.

Abwehrend hob Darius seine Hände.

„Ich habe nichts Verbotenes getan. Es ist nichts passiert. Aber wenn sie dir so wichtig ist, werde ich gehen. Ganz langsam und ruhig. Du willst bei so vielen Zuschauern doch kein Theater veranstalten.“

Darius musterte sein Gegenüber abschätzend. Leytons Lippen waren fest aufeinander gepresst und schienen vor Wut zu beben. Er schloss die Augen und rang offensichtlich um Fassung.

„Verschwinde! Komm ihr ja nicht mehr zu nahe. Sonst reiß’ ich dich in Stücke“, bedrohte er Darius.

Benommen saß Sam da und versuchte, dem Wortwechsel zu folgen. Ihr Kopf fühlte sich an, als würde er jeden Moment explodieren. Das war definitiv nicht mehr normal. Darius war gerade im Begriff, sich zu ihr zu beugen.

„Fass sie nicht an!“, brüllte Leyton seinen Widersacher an. Darius zuckte mit den Schultern.

„Wie du möchtest, Inimicus“, zischte er, drehte sich mit einer geschmeidigen Bewegung um und verschwand in der Menge.

Leyton ließ sich neben Sam nieder und legte ihr besorgt einen Arm um die Schultern. Seine Aufmerksamkeit war nun ganz auf sie gerichtet.

„Ist mit dir alles in Ordnung, Sam?“ fragte er ernsthaft besorgt.

„Außer, dass mir der Schädel dröhnt, geht es mir ausgezeichnet", wisperte sie. Sie hatte ihn gesucht, weil es einige Fragen gab, die sie Leyton stellen wollte, aber irgendwie war in ihrem Kopf nichts als Leere.

„Komm, ich bring dich nach Hause.“ Leyton half ihr auf. Dankbar lehnte sie sich gegen ihn. Den aufkeimenden Drang, sich von ihm loszumachen und selbstständig den Club zu verlassen, verwarf sie gleich wieder, als sie merkte, wie sie schwankte. Ergeben ließ sie sich von ihm durch die dichte Menschenmenge in Richtung Ausgang führen und war froh, dass sein kräftiger Körper sie vor den meisten Stößen schützte. Bei jeder Erschütterung hatte sie das Gefühl, ihr Gehirn würde in Einzelteile zerspringen. Was war nur mit ihr los?

Die Treppe aus dem Club schien nicht enden zu wollen. Dann endlich hatten sie die Straße erreicht. Sams Lungen füllten sich mit frischem Sauerstoff, und auch ihr Verstand wurde langsam etwas klarer. Leyton schwieg, als er mit ihr im Arm auf sein Auto zusteuerte.

„Ich habe mir Sorgen um dich gemacht“, begann er vorsichtig. Trotz ihrer Erschöpfung musste Sam ein wenig schmunzeln.

„Ich bin alt genug, um auf mich selbst aufzupassen“, wiederholte sie ihre Worte aus dem Club.

Stumm nickte er.

Es war deutlich kälter geworden, und Sam war froh, dass sie heute Morgen eine Jacke angezogen hatte. Ihr Blick glitt Richtung Himmel. Einige Sterne waren zu sehen, und die winzige Sichel des Mondes kündigte den baldigen Neumond an. Die Nacht mit ihren Gestirnen zeugte von wiederkehrender Beständigkeit und war genau das, was sie in ihrem Leben brauchte. Sobald es dunkel wurde, fühlte sie sich sicher und seltsam geborgen. Irrsinn und sinnloser Tod, die ihr fast täglich begegneten, schienen ihr dann nichts mehr anhaben zu können.

An seinem alten VW angekommen, öffnete Leyton die Zentralverriegelung und ließ Sam auf der Beifahrerseite einsteigen.

„Wir sind gleich bei dir zu Hause“, meinte er zu ihr, während er sich auf der Autotür abstützte und zu ihr herunterbeugte.

„Mir geht es schon viel besser. Ich kann auch allein nach Hause fahren“, warf sie ein. „Mein Auto steht gleich da drüben.“ Sie deutete auf die dunkle Gasse, wo sie ihren Dodge geparkt hatte.

Ihr Kopf war tatsächlich wieder erstaunlich klar, der pochende Schmerz verschwunden. Und wenn sie nun darüber nachdachte, war ihr die Vorstellung, sich von Leyton nach Hause fahren zu lassen, eher unangenehm. Sie wusste, dass er als Privatdetektiv keine Probleme haben würde, ihre Adresse herauszufinden, wenn er es nicht schon längst getan hatte. Trotzdem war es ihr peinlich, sich von ihm vor die Haustür kutschieren zu lassen wie ein unmündiges Kind.

Leyton schüttelte den Kopf: „Kein Problem, Sam.“

Er stieß die Wagentür zu und schlenderte gemütlich um den VW herum. Gerade, als Leyton sich in den weichen Autositz neben ihr fallen ließ, hörten sie einen Schrei.

„Warte hier und beweg’ dich nicht von der Stelle!“ Leyton warf ihr einen warnenden Blick zu und stieg rasch aus. Sam hörte die gedämpften Schritte, als Leyton in der Dunkelheit verschwand.

Erschrocken blieb sie sitzen. Sie brauchte mehrere Minuten, um die Situation zu durchdenken. So wach, wie sie gedacht hatte, war ihr Verstand nämlich noch nicht. Sie musste Leyton folgen! Sie tastete nach ihrer Waffe und war erleichtert, den Pistolengriff zu spüren – nur für alle Fälle. Jemand brauchte Hilfe, sonst hätte er nicht geschrien. Und sie war ein Cop. Es war ihr Job, Menschen in Not zu helfen. Entschlossen öffnete sie die Beifahrertür und stieg aus. Eilig folgte sie Leyton, der hinter dem Club verschwunden war. Ihr Gehör arbeitete auf Hochtouren. Sie lauschte den Stimmen und versuchte, die von Leyton herauszufiltern. Doch vergeblich, sie konnte ihn nicht hören. Dafür wurden ihre Schritte immer schneller. Hektisch blickte sie sich in einem leeren Hinterhof um. Hier gab es keine Straßenlaterne, die das Kopfsteinpflaster hätte erhellen können. Nur das spärliche Mondlicht ließ in der Finsternis einige Umrisse erahnen. Ihre Augen brauchten nicht lange, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Jetzt sah sie die überlaufenden Mülltonnen, die erbärmlich stanken, und einige alte Holzpaletten – sonst nichts.

Sie rannte weiter, hätte fast den schmalen Trampelpfad, der zwischen zwei riesigen Häusern vorbeiführte, übersehen und landete in einem weiteren Hinterhof, wo eine kleine, defekte Leuchtreklame unrhythmisch flackerte. Als sie Leyton erblickte, blieb sie abrupt stehen und war zuerst erleichtert. Doch etwas ließ sie inne halten. Langsam näherte sie sich. Leyton stand breitbeinig, in Kampfstellung da. In seiner rechten Hand hielt er etwas. Sam konnte nicht genau erkennen, was es war. Sie hatte allerdings auch keine Zeit, einen zweiten Blick darauf zu werfen. Die Gestalt, die Leyton gegenüberstand, zog ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich. Der Mann war bestimmt zwei Meter groß und ganz in schwarz gekleidet, sodass er sich von seiner düsteren Umgebung kaum abhob. Sein Körper war lauernd vorwärts gebeugt, als wollte er jeden Moment nach vorne schnellen und Leyton angreifen. Doch das, was Sam am meisten schockierte, war das Gesicht des Angreifers. Er hatte dunkle, kurz geschorene Haare. Seine Augenbrauen waren zusammengekniffen. Er fixierte Leyton. Die Augen leuchteten in einem seltsamen Grau – unmenschlich. Extrem lange Eckzähne blitzten aus seinem Mund. Sam konnte sich nicht von der Stelle rühren, starrte das bizarre Wesen mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen an. Ihr fielen keine Worte ein, um das zu beschreiben, was sie da sah. Es war ihr unmöglich, den Blick von diesen monströsen Zähnen abzuwenden. 

Vampir! Endlich hatte sie etwas gefunden, was das Ding vor ihr beschrieb. Der Angreifer war ein Vampir. Nein, das war unmöglich, schrie ihr der Verstand entgegen. Das waren Märchen, Mythen, alte Legenden und vor allem nicht real – bis jetzt. Doch das unmenschliche Glühen und die langen Eckzähne verschwanden nicht. Er würde Leyton umbringen. Ihr Kopf sagte ihr, sie müsse ihm helfen, doch es war ihr unmöglich, auch nur den kleinen Finger zu rühren.

Unfähig, sich zu bewegen, musste sie zusehen, wie das Wesen mit übernatürlicher Schnelligkeit auf Leyton zuschoss. Dieser wich aus und ließ seinen Gegner ins Leere laufen. Etwas in Leytons Hand blitzte auf. Sam wusste nun, was es war, hatte das kleine Messer in seiner Hand erkannt. Adrenalin durchströmte ihren Körper, und Panik machte sich breit. Sie musste Leyton helfen! Sie sollte ihre Waffe ziehen und den Angreifer daran hindern, erneut auf Leyton zuzustürmen. Denn genau das geschah in diesem Moment. Trotz der Dunkelheit konnte Sam sehen, wie das bizarre Wesen mit Leyton zu Boden fiel, ihn unter sich begrub. Sams Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei. Selbst ihre Stimme versagte den Dienst. Etwas knackte laut, vermutlich brechende Knochen. Leyton stöhnte, sein Gegner knurrte. Dann war es still. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis Leyton den schweren Körper, der regungslos auf ihm lag, neben sich wuchtete. Leblos fiel er auf den Rücken. Blut strömte aus einer Wunde in seiner Brust. Die Augen leuchteten nicht mehr. Er war tot.

Ein Zittern ging durch Sams Körper. Sie war Zeuge eines Mordes geworden. Sie musste Leyton verhaften. Nein, halt. Leyton hatte in Notwehr gehandelt, korrigierte sie sich. Einen Notarzt rufen, um den Tod des Wesens festzustellen. Nein halt! Wenn dieses Wesen kein Mensch war, hatte Leyton auch keinen Mord begangen. Ihr Kopf war voll mit wirren Gedankenfetzen, die sie nicht nur in ihren Bewegungen lähmten, sondern auch ihren klaren Menschenverstand trübten.

Kapitel 3


Orientierungslos sah sie sich um, erkannte den großen Kleiderschrank und das Poster an ihrer Zimmertür, das für die Polizeiakademie warb. Sie befand sich in ihrem Schlafzimmer, in ihrem Bett. Noch immer trug sie die Kleidung vom Vortag; lediglich Schuhe und Strümpfe hatte sie ausgezogen. Die Erlebnisse der letzten Nacht kamen ihr wie ein abwegiger Albtraum vor.

Glühende Augen. Fänge.

Sie lief zum Fenster.

Ein Messer. Kampfgeräusche. Brechende Knochen.

Die Vorhänge waren zugezogen, die Rollläden aber nicht heruntergelassen. Sam schob die Gardinen beiseite und musste unweigerlich blinzeln. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel und strahlte ihr direkt ins Gesicht. Ein Blick auf ihren Wecker verriet ihr, dass es längst Nachmittag war. Zum Glück hatte sie heute keinen Dienst. 

Wie ferngesteuert ging sie in die Küche, setzte Kaffee auf und betrat anschließend das Bad, wo sie sich ihrer verschwitzten Kleidung entledigte. Als sie im Spiegel die dunklen Augenringe begutachtete, blitzten erneut Bilder in ihrem Kopf auf.

Leere Augen, die sie anklagend anstarrten: Ashley Simons.

Sie zitterte, musste sich am Waschbecken abstützen und brauchte einen Moment, ehe sie sich erneut im Spiegel ansah. Sie hatte die schreckliche Erkenntnis noch nicht verarbeitet. War es wirklich möglich, dass es Vampire gab? Ein Tier, so groß wie ein Mensch? Hatte Leyton die Wahrheit gesagt? Stimmten seine Aussagen doch mit den Beweisen überein?

Ihre Hände legten sich schützend um ihren Hals. War sie auch von einem Vampir gebissen worden? Abermals starrte sie ihr Spiegelbild an. Langsam zog sie erst die eine, dann die andere Hand von ihrer Kehle fort. Keine Bissspuren, keine Kratzer – unversehrt.

„Ich werde paranoid“, flüsterte sie zu sich selbst, schüttelte den Kopf und wandte sich ab.

Die Schiebetür quietschte leicht, als Sam sie zuzog. Gleich darauf strömte das Wasser über ihren verspannten Körper.

Obwohl sie die Wärme genoss, blieb sie nicht lange unter der Dusche, sondern stand kurz darauf in ein flauschiges Handtuch gehüllt in ihrer kleinen Küche und goss sich eine Tasse Kaffee ein. Gerade, als sie den Raum verlassen wollte, ertönte die Melodie von Mission Impossible, der Klingelton ihres Handys. Es musste noch in der Jacke sein, die über der Stuhllehne hing. Während sie in der einen Hand die Kaffeetasse balancierte, fischte sie mit der anderen nach dem Telefon. Ein Blick auf das Display mit einer völlig unbekannten Nummer ließ sie kurz innehalten.

„Ja?“, meldete sie sich.

„Hi Sam, ich vermute, du bist inzwischen wach. Ich bin bei dir um die Ecke und dachte … wir sollten vielleicht miteinander reden.“

Leyton. Sam schwieg, dachte kurz nach.

„Sam? Bist du noch da? Geht es dir gut?“, hörte sie Leytons besorgte Stimme.

„Ja.“ Natürlich hatte sie Gesprächsbedarf.

„Kann ich vorbeikommen? Wir sollten wirklich reden“, wiederholte er seinen Vorschlag.

„Ja“, antwortete sie.

Erneut blitzten ungewollte Bilder in ihrem Kopf auf, die ihr die Kehle zuschnürten.

„Ich bin in zehn Minuten da. Mach bitte keine Dummheiten. Keine Panik, ich werde dir alles erklären, okay?“

„Okay, bis gleich.“ Sie beendete das Telefonat und legte das Telefon auf den Tisch. Es war gut, dass Leyton vorbei kam. Sie hatten eine ganze Menge zu besprechen. Wieder hatte sie das Bild des toten Wesens vor Augen. Die Verletzung auf der Brust, das viele Blut. Der Appetit auf Kaffee war ihr gründlich vergangen. Ihr Magen rebellierte und sie fühlte sich, als hätte ihr jemand mit voller Wucht in den Bauch geschlagen. Sam kämpfte die Übelkeit hinunter. Sie musste die Erinnerungen ausblenden. Sich auf das Wesentliche konzentrieren. Ein Blick an ihrem Körper hinab rief ihr in Erinnerung, dass sie nicht mehr als ein Handtuch trug. In wenigen Minuten wollte Leyton da sein. Sam eilte in ihr Schlafzimmer, zog ihre bequemste Jeans an und schlüpfte in einen roten Rollkragenpullover. Im Badezimmer hängte sie das nasse Handtuch auf, kämmte ihre Haare durch und band die braunen Locken mit einem Haargummi zu einem losen Knoten im Nacken. Leyton gegenüber wollte sie zumindest den Eindruck vermitteln, dass sie das Geschehene der vergangenen Nacht gut wegsteckte und alles unter Kontrolle hatte. Auch sich selbst redete sie unentwegt ein, mit allem klarzukommen. Es gab nichts, was sie erschüttern konnte. So war es schon immer gewesen. Sie hatte sich stets alleine durchgeschlagen, kam mit jeder Situation zurecht, also auch mit dieser. Ein letzter entschlossener Blick in den Spiegel bestätigte ihr, dass sie völlig normal aussah.

Keine Minute zu früh, denn da klingelte es bereits an der Tür. Sam schenkte Leyton ein verkrampftes Lächeln, als sie ihn eintreten ließ. Er sah verdammt gut aus. Keine tiefen Augenringe oder blasse Wangen. Stattdessen strotzte er nur so vor Kraft und Ausgeglichenheit.

Sam bot Leyton einen Sitzplatz an.

„Möchtest du Kaffee?“, fragte sie ihn.

Aus den Augenwinkeln nahm sie sein Kopfschütteln wahr. In ihrer kleinen Küche wirkte er fehl am Platz. Von der Küchenzeile bis zu ihrem winzigen Tisch mit zwei Stühlen, brauchte sie gerade mal zwei Schritte. Der Küchenstuhl ächzte bedenklich, als Leyton sich in eine bequemere Position brachte. Sam ging an ihm vorbei und setzte sich geräuschlos auf den zweiten Stuhl. Verkrampft verschränkte sie ihre Finger.

Beide schwiegen. Leyton musterte sie eindringlich. Erwartete er von ihr, dass sie anfing zu erzählen?

„Ich bin dir gestern gefolgt, weil ich …“ Sie brach ab, schluckte, wusste nicht so recht, wie sie fortfahren sollte.

Leyton reagierte nicht, wartete auf mehr.

„Ich dachte mir, ich sollte dir vielleicht helfen. Schließlich bin ich Detective und du nur … Privatdetektiv. Ich habe dich gesehen. Dich und den Anderen.“ Sie machte eine kurze Pause. „Das Andere.“ Unbeholfen strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht, als sich das Erlebte ein weiteres Mal vor ihrem inneren Auge abspielte. Fänge schossen aus einem Mund hervor, Augen begannen in der Dunkelheit gefährlich zu glühen.

„Ich habe in meinem Leben schon viel gesehen, Leyton. Verdammt viele verrückte Dinge. Aber das …“ Die Verzweiflung in ihrer Stimme konnte sie nun nicht mehr leugnen. „Was war das gestern?“ Fest presste sie die Lippen aufeinander, hatte Angst, dass diese unkontrolliert zitterten. Die Hände zu Fäusten geballt, starrte sie an dem Privatdetektiv vorbei.

„Ein Vampir!“, erklärte er ohne Umschweife.

„Nein!“, brach es aus ihr heraus. Heftig schüttelte sie den Kopf. Das konnte nicht wahr sein. Nein, das durfte nicht wahr sein! Diese Vorstellung war einfach zu unglaublich. Vielleicht hatte sie sich das alles nur eingebildet …

„Das war nur eine Täuschung, nicht real.“ Es musste so sein.

Leyton schüttelte den Kopf.

„Ein Verrückter, ein Groupie“, versuchte Sam das Unglaubliche zu erklären.

Abermals verneinte Leyton. Sie spürte seinen fordernden Blick auf sich. „Sieh mich an, Sam!“ Seine Stimme war leise und eindringlich. Sie konnte gar nicht anders, als ihm Folge zu leisten. „Es war ein Vampir. Ich bin mir ganz sicher.“

Sam wurde klar, dass Leyton sie nicht anlog. Die Welt, wie sie sie bisher gekannt hatte, gab es nicht mehr.

„Sam.“ Er berührte sie sanft am Arm, erdete sie damit und brachte sie in die Realität zurück. Seine Stimme klang fest; sie gab ihr Halt und neue Kraft.

„Ich kann dich gut verstehen. Ich war auch geschockt, als ich das erste Mal einen Vampir sah. Ich dachte, ich drehe durch. Um ehrlich zu sein, steckst du das Ganze äußerst vernünftig weg.“

Sie nickte langsam.

„Was wollte dieser …?“ Sie brachte das letzte Wort nicht heraus.

„Vampir? Blut. Es geht immer um Blut. Die Viecher brauchen es zum Leben. Sie ernähren sich von Menschenblut. Sie töten Menschen. Das sind Bestien.“ Er spuckte das letzte Wort angewidert aus.

„Ich dachte, es wäre ein Mythos. Nicht real. Die Legenden von Vampiren, Werwölfen, Feen, Elfen …“

„Stopp, stopp, stopp!“, unterbrach Leyton sie energisch. „Nun mach mal halblang. Ich habe noch nie Werwölfe oder Elfen gesehen, und ich kann mir nicht vorstellen, dass es so etwas gibt.“

Sam war nun vollkommen verwirrt. „Ich dachte, Vampire seien auch nicht real. Zumindest bis gestern Nacht.“ Ihr Lächeln misslang gründlich.

„So, wie du dir Vampire vorstellst, sind es auch nur Fantasiewesen. Knoblauch, Kreuze oder Weihwasser sind völlig wirkungslos. Es wäre schön, wenn es so einfach wäre. Diese Blutsauger sind viel gefährlicher, als du dir vorstellen kannst. Raubtiere sind das, die sich durchaus auch bei Tag bewegen können – zumindest die Stärkeren unter ihnen. Sie sehen wie ganz normale Menschen aus, und ehe du dich versiehst“, er schlug mit der Faust auf den Tisch, und Sam zuckte bei dem Geräusch zusammen, „fallen sie über dich her und saugen dir das Blut aus den Adern.“

Sam bohrte ihre Fingernägel in die Handinnenflächen, lauschte gebannt Leytons Ausführungen.

„Nein, sie sind nicht tot, wie der Volksglaube uns weismachen möchte. Ihr Herz schlägt, sie leben und können durchaus getötet werden. Das muss man auch tun, denn im Blutrausch werden diese Bestien unberechenbar.“

„Woher weißt du das alles?“

Leyton zuckte mit den Schultern. „Man muss seine Feinde kennen, ihre Schwachstellen.“

Das leuchtete ihr ein, war jedoch keine Antwort auf ihre Frage.

Unterdessen erzählte Leyton weiter: „Früher waren die Vampire unsterblich. Durch die Jahrhunderte hat sich ihr Blut immer mehr mit dem der Menschen vermischt. Das schwächt sie, und das ist auch der Grund, warum sie nicht mehr so lange leben. Sie können aber immer noch sehr alt werden. Einige von ihnen gehörten zu den ersten Siedlern und leben heute noch immer.“

„Dann sind sie über vierhundert Jahre alt?“ Sam war sichtlich bestürzt. Die Vorstellung, dass jemand so lange leben konnte, war einfach unglaublich. Wie viele Menschen wünschten sich ein so langes Leben? Nahezu unsterblich zu sein, war mit Geld nicht zu bezahlen. Wenn das bekannt würde … Sam führte den Gedanken nicht zu Ende und wollte stattdessen wissen: „Und wie wird man zu einem Vampir?“

„Überhaupt nicht.“ Er lächelte sie schief an. „Vampirblut im Körper eines Menschen ist absolut tödlich. Jeder Wahnsinnige, der das versucht, bezahlt mit seinem Leben. Vampire werden als solche geboren. Sie bekommen dieses Gen von einem Elternteil oder gar beiden Eltern vererbt. In den ersten Jahren sind sie menschlich, aber irgendwann mutiert etwas in ihnen, und sie verwandeln sich in Vampire.“

Augenblicklich hatte sie wieder glühende Augen vor sich und erschauderte. Aber noch etwas anderes machte sich in ihr breit, was sie weit mehr beunruhigte. Diese Vampire übten eine unglaubliche Faszination auf sie aus, begleitet von dem Wunsch, diese Wesen noch einmal zu sehen. Wie aus weiter Ferne hörte sie Leytons Stimme.

„Nur dann kann Vampirblut einen zu einem richtigen Vampir wandeln. Die jungen Vampire sind noch schwach und leicht zu vernichten.“ Leyton lehnte sich nach hinten. Der Stuhl ächzte unter ihm bedrohlich, hielt jedoch immer noch stand.

Sie würde einige Zeit brauchen, um über das Gehörte nachzudenken, um es wirklich zu begreifen. Es kam ihr vor wie ein Traum, verzerrt und nicht real. Doch sie wollte mehr erfahren über die Welt dieser unglaublichen Geschöpfe.

„Was hat das mit dir zu tun? Wie steckst du in der Sache mit drin?“

„Ich bin ein Vampirjäger“, gestand Leyton nach einigem Zögern. „Ich jage diese Ungeheuer und bringe sie um. Sie haben keine Moral, keinen Verstand, keine Seele. Sie sind nur Monster. Wenn sie erst einmal Blut geleckt haben, sind sie kaum noch aufzuhalten. Sie breiten sich aus wie Heuschrecken, die in ein Land einfallen, um alles zu vernichten. Auch hier in Boston werden sie immer zahlreicher. Es wird nicht mehr lange dauern, und uns wird es so gehen, wie den Europäern damals im Mittelalter. Aber sie haben es damals noch rechtzeitig erkannt.“

Sam kannte sich in der europäischen Geschichte nicht so gut aus, hatte aber sowohl etwas von der Hexenverbrennung als auch von der französischen Revolution gehört, bei der so viele – und wie sie bisher gedacht hatte – Unschuldige ihr Leben lassen mussten.

Leyton beugte sich vor, stützte sich am Tisch ab und blickte sie ernst an.

„Diese Monster sind gefährlich. Ich wünschte, du hättest nie von ihnen erfahren. Ich wollte dich nie diesem Wissen, dieser Gefahr aussetzen.“

„Aber du gehst dieses Risiko auch jedes Mal ein, wenn du sie jagst“, stellte Sam fest und ignorierte hartnäckig die Angst, die in ihr hochstieg. Sie waren zwar schon lange kein Paar mehr, aber sie mochte Leyton immer noch, und die Vorstellung, dass ihm etwas zustoßen könnte, gefiel ihr ganz und gar nicht.

Leyton machte eine abwertende Handbewegung. „Ich tue das, was zu tun ist. Mach dir keine Sorgen! Ich kann auf mich aufpassen.“ Sein Blick glitt über ihre Hände, die Brüste, den Hals hinauf zu ihren Augen und hinterließ dort, wo er sie betrachtete, ein seltsames Kribbeln. „Ich werde dich beschützen. Du brauchst keine Angst zu haben.“

Unwillkürlich musste sie lächeln. „Ich glaube kaum, dass ein Vampir Interesse an mir hätte. Und wenn, dann würde er Bekanntschaft mit meiner Pistole machen.“ Alleine die Vorstellung, dass sie die Aufmerksamkeit eines Vampirs auf sich ziehen könnte, war einfach abwegig. Würde sie vor Entsetzen wieder völlig bewegungsunfähig sein? Würde sie überhaupt mit einer Waffe auf das Wesen zielen können?

„Schon möglich“, murmelte Leyton seltsam abweisend. „Aber deine Glock vergiss mal schnell wieder. Schusswaffen sind völlig wirkungslos gegen die Viecher. Aber keine Angst, du kannst auf mich zählen. Das ist ein Versprechen, Sam.“ 

Er legte seine große Hand auf ihre. Sam war die Berührung unangenehm. Sie zog ihre Hand zurück und rieb mit der anderen ihr Handgelenk. Ihr Schädel begann zu schmerzen.

„Wie lebst du damit?“, fragte sie leise und massierte sich die pochenden Schläfen. „Ich meine, sie umzubringen.“

Leyton zuckte mit den Schultern. „Mit der Zeit wird es einfacher. Man lernt damit umzugehen, wie mit vielem anderen eben auch. Das sind keine Menschen, Sam. Das sind Monster. Das darfst du nie vergessen.“

„Ich weiß nicht, ob ich das für mich behalten kann“, gestand Sam. „Ich bin Detective.“

„Du wirst einen Weg finden. Du weißt, dass es das Richtige ist.“

Sam starrte nachdenklich vor sich hin. „Was ist in dieser Nacht passiert, als wir uns wieder trafen? Ist Ashley Simons einem Vampir zum Opfer gefallen?“ Sie musste diese Fragen stellen. Sie musste einfach eine Antwort darauf bekommen.

Unverwandt sah Leyton sie an.

„Ich habe den Vampir leider zu spät bemerkt. Er war bereits dabei, sie auszusaugen. Ich konnte ihr nicht mehr helfen. Es war ein Ephebe, ein junger Vampir, noch nicht ganz erwachsen. So einer, wie du ihn gestern gesehen hast.“ Kurz schwieg er. Er schien zu überlegen, ob er weiter erzählen sollte. „Ich habe ihm die Kehle durchgeschnitten.“

„Aber wir haben keine weitere Leiche gefunden.“ Sam machte große Augen.

„Ich habe ihn verbrannt. Ihr werdet nichts mehr von ihm finden. Ich arbeite sehr gründlich.“

Unzählige unaufgeklärte Morde unter mysteriösen Umständen erschienen in Sams Erinnerungen. Sollten das alles Vampiropfer sein? In einer Stadt wie Boston geschahen ungewöhnliche Morde tagtäglich. Sie waren eine Begleiterscheinung einer pulsierenden Metropole, ähnlich wie Vergewaltigungen und Bandenkriege.

„Ich werde dann mal wieder“, murmelte Leyton und stand auf.

„Warte.“

Leyton blickte sie an.

„Gestern. Erzähle mir von gestern“, bat sie eindringlich.

„Du hast ihn gesehen, diesen Epheben. Junge, schwache Vampire sind am gefährlichsten. Sie können ihren Blutdurst nicht kontrollieren. Ich musste ihn umbringen. Wer weiß, wie viele unschuldige Menschen er getötet hat.“

Widerstreitende Gefühle kämpften in ihr. Sie erinnerte sich nur allzu deutlich an die starren Augen, aus denen alles Leben gewichen war. Ein Schaudern breitete sich in ihrem Körper aus. Plötzlich war ihr eiskalt, als in ihrer Erinnerung die vergangene Nacht wieder wie ein Film ablief. Leyton war verschwunden, musste zum Auto gegangen sein. Wie versteinert hatte sie dagestanden, nach wie vor unfähig, sich zu bewegen. Als Leyton zurückkam, übergoss er den Toten mit Benzin. Der schneidende Geruch brannte in Sams Atemwegen. Sie hatte Leyton daran hindern, ihn irgendwie aufhalten wollen. Doch ehe sie es sich versah, stand der Leichnam in gelben Flammen, brannte, wie sie es noch nie gesehen hatte. Es dauerte nicht lange, und das Feuer zehrte den nichtmenschlichen Körper auf und erlosch schließlich. Innerhalb von Minuten war nur noch ein Aschehaufen übrig. Weder Knochen noch sonstige Überreste, die es eigentlich hätte geben müssen, waren zu sehen. Dieses Wesen, dieser Vampir, war mit Sicherheit kein Mensch. Hätte sie das Verbrechen trotzdem melden müssen? Der Zweifel nagte an ihr, zerfraß sie von innen.

War sie nun schuld daran, dass ein weiterer Mord in Boston ungesühnt blieb? Handelte es sich überhaupt um Mord?

„Du darfst dir keine Vorwürfe machen, Sam.“

Sam reagierte nicht, starrte weiter in Gedanken versunken vor sich hin. Sie hätte es melden müssen!

„Dieses Monster gestern war kein Sterblicher so wie du und ich. Er war niemand, der die Gerichtsbarkeit unseres Landes verdient hätte. Das sind Tiere, getrieben von ihren Instinkten. Nicht fähig, klar zu denken. Sie betrachten Menschen lediglich als Beute.“

Noch immer war sie nicht vollkommen überzeugt.

„Wenn es sich um ein Raubtier gehandelt hätte, einen Tiger zum Beispiel, würdest du dir dann auch solche Vorwürfe machen? Du musst aufhören, diesen Vampir als Mensch zu sehen, auch wenn er äußerlich so ausgesehen haben mag!“

Das saß! Sam konnte Leytons Worte nachvollziehen. Sie hatte keinen Fehler gemacht, hatte nicht ihre Pflichten als Detective verletzt. Das gestern war kein Mensch gewesen. Doch trotz dieser Erkenntnis war sie immer noch viel zu durcheinander. Sie brauchte Zeit und Ruhe, denn sie musste über die vielen neuen Informationen nachdenken.

Leytons Handy gab ein aufgeregtes Piepsen von sich. Er zog es aus der Jackentasche und warf einen Blick auf das Display.

„Ich werde gebraucht“, meinte er und erhob sich.

„Ich bringe dich noch zur Tür.“ Eilig stand Sam auf, ging mit ihm in den Flur und verabschiedete sich von ihm an der Wohnungstür. 

Er war bereits bei der ersten Treppenstufe, als er sich noch einmal zu ihr umdrehte. „Ich weiß, dass du das erst einmal verdauen musst, aber ich würde mich freuen, von dir zu hören. Meine Nummer hast du ja jetzt.“ Er grinste sie schief an. „Schau nicht so. Es ist mein Job, etwas über andere Menschen herauszufinden, und deine Adresse und deine Handynummer waren nur ein paar Fingerübungen zum Aufwärmen.“

Sie schluckte, lächelte verkrampft. Was hatte er noch alles über sie in Erfahrung gebracht? Nicht, dass sie etwas zu verbergen hatte, aber sie mochte es nicht, wenn jemand in ihrem Privatleben herumstocherte.

„Ach, und noch etwas. Was ich dir erzählt habe, musst du für dich behalten, Sam. Hörst du, es würde dir keiner glauben, und das weißt du. Behalte es einfach für dich.“

Dann verschwand er.

Sam ging zurück in die Küche, griff nach ihrem Handy und speicherte die unbekannte Nummer aus der Anrufliste unter Leyton Hendersen. Sie überlegte, was mit dem angebrochenen Tag noch anzufangen war. Irgendwie musste sie den Kopf frei bekommen. Laufen. Sie zog ein altes Shirt, ihre Laufhose sowie Turnschuhe an und machte sich auf den Weg. Als sie ausgepowert war, lief sie zurück, duschte sich und zog frische Kleidung an. Danach war sie bereit, über einige Dinge nachzudenken. Sie machte sich auf zu dem Ort, an dem sie die nötige Ruhe fand.


* * *


Sam öffnete das schmiedeeiserne Tor des Friedhofs und schlüpfte hindurch. Die Gräber lagen in geraden Reihen zwischen den alten Bäumen. Es war still. Selbst am Tag hörte man kaum Autos vorbeifahren. Jetzt, bei einsetzender Dämmerung, schien auch die Natur einzuschlafen. Die in den alten Bäumen wohnenden Vögel verstummten, zogen sich in ihre Nester zurück. Sam kannte den Weg gut. Sie hatte ihn in den letzten Jahren oft zurückgelegt. Jeder Baum, jedes Grab, das ihren Weg kreuzte, waren ihr vertraut.

Als sie vor ihrem Ziel stehen blieb, ging sie in die Hocke und berührte sanft den Granitstein. Er war nichts Besonderes, und viele Menschen übersahen ihn wegen seiner Schlichtheit. Doch Sam gefiel dieser rechteckige Stein, dessen obere Ecken abgerundet waren. Die Inschrift war schlicht:

Hier ruht in Frieden Elena Forster. 

Sam ließ sich auf die Steineinfassung des Grabes nieder und fuhr mit dem Finger den Schriftzug nach.

„Hallo Mom.“ Sie wartete, als ob sie ein Zeichen, eine Antwort erhalten würde.

„Ich bin etwas verwirrt, weißt du. Heute habe ich Dinge erfahren, die ich nie für möglich gehalten habe.“ Wieder schwieg sie einen Augenblick, ehe sie fortfuhr. „Ich habe Leyton wiedergetroffen“, flüsterte Sam. „Aber das weißt du sicherlich.“ 

Es half ihr, sich vorzustellen, dass ihre Mutter im Himmel zu ihr herab sah. 

„Es gibt Vampire. Keine Untoten wie in den Mythen, sondern sehr lebendige Kreaturen, die den Menschen das Blut aus den Adern saugen. Hast du das gewusst? Kannst du dir das da oben vorstellen?“

Sam schaute gedankenverloren in den Himmel, als ob sie eine Antwort in den Wolken finden würde. 

„Meine Welt verändert sich, Mom. Das macht mir Angst“, gestand sie. Es war nicht mehr so einfach, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden. Es gab mehr als schwarz und weiß. Was bedeutete das für sie als Polizistin, für ihr ganzes Leben?

„Weißt du, vor ein paar Tagen hätte ich jeden ausgelacht, der mir gesagt hätte, es würde Vampire geben, die gejagt und getötet werden müssen. Aber jetzt, nachdem ich einen gesehen habe und nach dem, was mir Leyton alles erzählt hat … Diese Augen …

Sam schloss die Lider, um die Erinnerungen, die sich in ihr Bewusstsein drängen wollten, wegzuschieben. Sie kämpfte gegen diese Ohnmacht an, rang das lähmende Gefühl in ihr nieder. Nein! Sie musste sich den Tatsachen stellen! Das Geschehene weiter zu verdrängen, würde all das nicht ungeschehen machen. Sie musste sich dem Unangenehmen stellen, wenn sie weiterleben wollte.

Vampire. Gut. Dann gab es also Vampire. Es war, als würde durch das Eingeständnis eine zentnerschwere Last von ihren Schultern fallen. Und dann durchlebte sie im Geist noch einmal die Begegnung mit dem Vampir. Diesmal ließ sie es zu, versteckte sich nicht vor den Bildern. Es wühlte sie auf, erschreckte sie. So langsam begann sie diese neue Wahrheit zu akzeptieren. Ihre Welt rückte sich von selbst wieder gerade. Es war nicht mehr wie vorher, es war anders, aber es war in Ordnung, im Gleichgewicht. Dadurch, dass sie das Unglaubliche akzeptierte, verschwand das Chaos in ihrem Kopf und sie hatte das Gefühl endlich wieder klar denken zu können. 

Die Nacht war hereingebrochen und breitete ihren schützenden Mantel über alles. Auch wenn gefährliche Wesen unterwegs waren, sie liebte die Dunkelheit dennoch, fühlte sich nach wie vor geborgen.

Abermals blickte sie hinauf in den Himmel.

„Ich weiß, dass du Angst um mich hast, Mom. Aber ich kann auf mich allein aufpassen. Du musst dir wirklich keine Sorgen machen. Ich werde sehr vorsichtig sein. Ich hoffe, du verstehst, dass ich das tun muss. Ich kann die Tatsache, dass es Vampire gibt, nicht einfach ignorieren. Ich habe einen Eid geschworen, dass ich die Menschen in dieser Stadt beschützen werde. Das werde ich tun! Ich kann nicht zulassen, dass diese Monster ahnungslose Menschen …“ Mitten im Satz erstarrte sie. Leyton hatte sich im Club aufgeführt wie ein Verrückter, als dieser verdammt gut aussehende Typ sie zu einem Drink eingeladen hatte.

Darius. Das war der Name des Mannes. War er ein … Nein! Ein kalter Schauer jagte ihren Rücken hinunter und ließ sie frösteln. Um die Gänsehaut zu vertreiben, schlang sie die Arme um sich, rieb sich instinktiv, um die Wärme in ihre Glieder zurückzubringen.

Hätte dieser Vampir sie umgebracht? Sie sah plötzlich alles sonnenklar. Dieser Irre hatte sie manipuliert. Er hatte sich in ihre Gedanken eingeschlichen. Deshalb hatte sie sich so seltsam benommen gefühlt. Deshalb hatte ihr Schädel so gepocht. Und deshalb hatte sie sich, wie es überhaupt nicht ihre Art war, von ihm auf einen Drink einladen lassen. Energisch schüttelte sie den Kopf und wollte es nicht wahrhaben. Vor wenigen Stunden hatte sie überlegt, ob sie schon einmal einem Vampir begegnet war, ohne dass sie ihn erkannt hatte. Jetzt wusste sie die Antwort. Bestimmt hatte sie es nur Leyton zu verdanken, dass sie noch am Leben war. Wäre er nicht eingeschritten, läge sie jetzt vielleicht blutleer in einer dunklen Gasse. Sam dachte an Ashley Simons, die nicht so viel Glück gehabt hatte wie sie. Die Vorstellung ließ sie erschaudern und rief das beklemmende Gefühl in ihrer Magengegend erneut hervor.

„Mom, ich gehe wieder.“

Sam erhob sich und richtete sich auf. Ihr Blick glitt hinauf zu der dünnen Sichel. Morgen würde diese ganz verschwunden sein.

Liebevoll strich sie zum Abschied über den kalten Stein.

„Ich komme bald wieder, aber jetzt muss ich unbedingt ins Büro.“


* * *


Darius stand im Domizil von Ruwen Wesley, in einem der unzähligen Salons am Fenster und spähte in die Dunkelheit hinaus. Er wartete auf seinen Vater. Seit er aus New York zurückgekommen war, durfte er für den Dominus, ihren Clanführer, den Laufburschen spielen. Rechte Hand, Stellvertreter. Humorlos lachte er auf. Vermutlich wollte Ruwen wissen, wie weit er mit dem Inimicus-Problem gekommen war. In letzter Zeit häuften sich die Angriffe auf die jungen Vampire. Bereits drei Opfer hatten sie allein im letzten Monat zu beklagen, und gestern war ein weiterer Mord dazugekommen. Sein Auftrag war, für den Schutz des Clans zu sorgen. Zu dumm nur, dass seine Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt waren und es ihm kaum gelang, sich auf das Wesentliche, seine Aufgaben, zu konzentrieren.

Er legte eine Hand an die kalte Fensterscheibe und schloss kurz die Augen.

Verdammt, da war sie schon wieder. Dieses hübsche Mädchen, das er sich in diesem heruntergekommenen Club, Night Shark, ausgesucht hatte, ging ihm nicht aus dem Kopf.

Sam.

Immer wieder tauchten ihre rehbraunen Augen, die vollen Lippen und der pochende Herzschlag an ihrem Hals in seinem Geist auf. Die hohen Wangenknochen, das braune, leicht gewellte Haar, das ihr bis über die Schultern reichte, der schmale Körperbau, der nicht im Widerspruch zu ihrem sicheren und bestimmten Auftreten stand.

Es war nicht leicht gewesen, sich in ihre Gedanken zu schleichen, unmöglich, die komplette Kontrolle über ihren Kopf zu bekommen. Das zeugte von einem willensstarken Charakter einer Frau, die wusste, was sie wollte – ganz nach seinem Geschmack. Abermals schloss er die Augen und schluckte, um das Brennen in seiner Kehle zu lindern. Ihr ungewöhnlicher Duft hing ihm noch immer in der Nase. Ausgerechnet, als er sie endlich soweit hatte, war dieser verdammte Inimicus aufgetaucht. Wenn er nicht gewesen wäre, hätte er sie einfach umarmt, sie sanft am Hals geküsst und dann zugebissen, von ihr getrunken, während sie geduldig in seinen Armen gelegen hätte. Er hätte sie nicht umgebracht. Mit seinen hundertfünfzig Jahren hatte er genug Erfahrung und Selbstbeherrschung, um zu wissen, wann er aufhören musste. Es wäre ihm schwergefallen, aber er hätte von ihr abgelassen und wäre mit seiner Zunge über die kleinen Löcher geglitten, um sie zu verschließen. Behutsam hätte er sie auf die Stirn geküsst und mit diesem Kuss all ihre Erinnerungen an ihn gelöscht. Er wäre aufgestanden und gegangen. Sie wäre zurückgeblieben in ihrer Welt, hätte sich an nichts erinnert und ihr Leben weitergelebt. So hätte es sein sollen. Doch er wusste genau, dass er sie nie so einfach hätte gehen lassen können.

Stattdessen hatte er zugelassen, dass sie mit diesem Inimicus fortging. Und das auch nur, weil eine Handvoll Epheben im Night Sharks waren und er sie nicht in Gefahr bringen wollte. Nur wegen ihnen hatte er sich eine andere Blutwirtin ausgesucht und war nicht der Frau und dem Inimicus gefolgt. Dabei war es nicht so einfach gewesen, Ersatz zu finden, der sein Blut nicht mit Krankheiten oder Drogen vergiftete. So immun seinesgleichen gegen Alkohol waren, so wenig vertrugen sie Rauschmittel.

Darius schüttelte den Kopf und versuchte, diese Gedanken an die Frau aus seinem Bewusstsein zu verdrängen. Dafür beschwor er das Bild der kleinen Dicken herauf, für die er sich in der letzten Nacht letztendlich entschieden hatte. Sie war nicht besonders intelligent, wodurch er sie leicht beeinflussen konnte. Viel Anstrengung hatte es ihn nicht gekostet, dazu war sie zu willig. Ihr Blut war sauber gewesen und hatte ihn gestärkt. Mehr hatte er nicht gebraucht.

Kein Vergleich zu dem süßlichen Duft, der immer noch in seiner Nase lag. Erneut tauchte die braunäugige Schönheit vor seinem inneren Auge auf. Verflucht! Nun stand er hier und wurde die Erinnerung an sie nicht mehr los. Seine Hand ballte sich zur Faust, und er schlug gegen die Scheibe. Mit einem Klirren gab sie nach und zerbrach in tausend Stücke. Darius starrte das Blut an seinem Finger an. Die Scherben hatten seine Haut leicht angeritzt. Er rührte sich nicht, sondern sah zu, wie die Wunde sich von selbst wieder schloss. Abermals ballte er die Hand zur Faust und unterdrückte ein Knurren. Er verlor die Fassung und das nur wegen einer Frau. War er dem Abgrund schon näher, als er gedacht hatte? Die zerbrochene Glasscheibe und das Blut am Boden sprachen für sich.

Darius war es egal, warum sein Dominus ihn herbestellt hatte. Er war es leid zu warten. Angespannt drehte er sich um und wollte gerade den Raum verlassen, als ihm sein Vater entgegentrat. Ruwen Wesley blieb in der Tür stehen. Vater und Sohn sahen sich an, bis der Dominus schließlich eine Augenbraue nach oben zog und das zerborstene Glas am Boden musterte.

„Ich gehe davon aus, dass du dich um die Reparatur kümmerst“, war Ruwens einziger Kommentar dazu.

Resigniert, aber erleichtert, keine Standpauke zu hören, nickte Darius.

„Was ist los mit dir? So unbeherrscht habe ich dich schon lange nicht mehr erlebt.“

Darius wandte seinen Blick ab. Er wollte nicht mit seinem Vater darüber reden. Es würde im Streit enden. Es endete immer im Streit.

„Vielleicht solltest du dir eine Amica gönnen“, schlug sein Vater ihm vor.

Darius schüttelte den Kopf. Ihm war nicht nach einem Freudenmädchen, und noch weniger verlangte sein Körper nach Sex. Er wollte etwas anderes. Er wollte eine bestimmte Frau. 

„Nein, danke“, antwortete er ausweichend. „Deswegen hast du mich vermutlich nicht herbestellt.“

Ruwen Wesley musterte ihn aufmerksam. „Ich mache mir Sorgen um unsere Epheben. Diese Inimicus werden zu einem immer größeren Problem. Wie weit bist du?“

„Ich arbeite daran“, erklärte Darius düster. „Es wäre jedoch eine Hilfe, wenn du die Empfehlung aussprechen würdest, dass die Jungen nur in unseren Clubs unterwegs sein sollten.“

„Du kennst meine Meinung dazu.“

Darius schwieg, wusste, dass jedes weitere Wort sinnlos war. Sein Dominus hatte sich entschieden und würde sich niemals umstimmen lassen, egal wie viele Leben es noch kosten würde.

„Ist noch etwas?“, fragte Darius schließlich.

Ruwen schüttelte den Kopf, und Darius war froh, dass diesmal keine lauten Worte gefallen waren. Er senkte den Kopf, wollte seinem Vater nicht in die Augen sehen und ging an ihm vorbei. Trotzdem spürte er den beunruhigten Blick, den sein Dominus ihm hinterher warf.


* * *


Sam war gerade dabei, den Fall Ashley Simons abzuschließen. Die meisten ihrer Kollegen hatten bereits Feierabend. So störte es niemand, dass Sam zum Sortieren der Unterlagen drei Schreibtische des Großraumbüros benutzte. Sie stapelte Beweise, Notizen, Berichte und sonstige Zettel und würde diese anschließend fein säuberlich in einen Karton schichten. Was noch fehlte, war ihre Unterschrift unter ihrem Abschlussbericht. Das Protokoll von Dr. Westwood gab mehr Rätsel auf, als es Antworten lieferte. Die Tatwaffe konnte nicht bestimmt werden, weil die Kehle zu zerfetzt gewesen war. Todesursache war ganz klar Verbluten, wobei nicht geklärt werden konnte, wie und wohin das Blut verschwunden war. Laut den Spuren an der Leiche war diese nach dem Tod nicht mehr bewegt worden. Also musste das Mordopfer dort umgebracht worden sein. Ein Tier hatte der Doc ausgeschlossen, was Sam äußerst seltsam fand, da es dem widersprach, was er ihr bei der Obduktion gesagt hatte. Noch merkwürdiger jedoch, war das Telefonat das sie mit ihm geführt hatte. Es schien fast so, als wären Agenten in schwarzen Anzügen und Sonnenbrillen bei ihm aufgetaucht und hätten ihn geblitzdingst und damit aller Erinnerungen beraubt. Es sah dem Gerichtsmediziner nicht ähnlich, nicht einmal den Versuch zu unternehmen zu bestimmen, welches Wesen die Kehle so zugerichtet haben könnte. Sie hatte keine Beweise, sondern nur ihr Bauchgefühl, das ihr sagte, dass Manipulation im Spiel war. Leider hatte sie keine Zeit gehabt, noch einmal in der Gerichtsmedizin vorbeizugehen, um persönlich mit Dr. Westwood zu sprechen. Als dann auch noch ihr Chef, Captain David Brolin, Druck gemacht hatte, den unbedeutenden Fall abzuschließen, blieb ihr dazu erst recht keine Zeit. So konnte Sam nichts weiter tun, als ihren Bericht zu schreiben und sämtliche Beweisstücke, die hier noch herumlagen, zu sammeln. Ebenso wie die Tatwaffe hatte sie auch den Mörder als unbekannt eingestuft.

Das beklemmende Gefühl, das Sam nicht mehr loswurde, hielt sie davon ab, ihre Unterschrift unter das Dokument zu setzen. Sie wusste, dass ein Vampir der Mörder gewesen war. Aber wie lächerlich hätte es ausgesehen, wenn in ihrem Bericht das Wort Vampir aufgetaucht wäre? Sie hätte ihren Job verloren oder wäre zumindest dazu verdonnert worden, einen Psychiater aufzusuchen. 

Der Fall würde zu den Akten in den Keller wandern und dort bis in alle Ewigkeit darauf warten, aufgeklärt zu werden.

Sam seufzte. Sie war froh, dass der Gerechtigkeit genüge getan und der Täter seiner gerechten Strafe zugeführt worden war, wenn auch nicht innerhalb des Gesetzes. Es befremdete sie, dass sie diese Selbstjustiz so uneingeschränkt befürworten konnte. Für gewöhnlich verabscheute sie so etwas zutiefst.

Der Kugelschreiber glitt über das Papier. Gerade als sie den Stift absetzte, klingelte ihr Handy. Robins Nummer. Ihre beste und einzige Freundin war also mal wieder in der Stadt.

„Hallo, Robin“, begrüßte sie ihre Freundin.

„Sam, wie geht es dir?“

Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie Robin auf dem Sofa lag. Vielleicht lackierte sie sich auch gerade die Nägel, während sie telefonierten. Robin war einen Kopf größer als Sam. Mit ihrer blonden Mähne verkörperte sie das, was Männer sich unter einer Traumfrau vorstellten: lange Beine, sexy Kurven, große Oberweite und ein voller Schmollmund, mit dem sie die Männerwelt ebenso verzaubern konnte wie mit ihren blauen Augen.

Sam kannte Robin bereits seit der Schulzeit. Trotz unterschiedlicher Werdegänge hatten sie es immer geschafft sich regelmäßig zu treffen. In letzter Zeit hatte Sam aber immer öfter das Gefühl, dass ihre Freundschaft nicht mehr lange andauern würde. Interessen und Prioritäten hatten sich in den letzten Jahren verändert, sowohl bei Robin als auch bei ihr. Robin arbeitete derzeit als Model und war viel unterwegs. Wenn Sams Freundin in der Stadt war, ging sie gerne auf Partys, traf sich mit den verschiedensten Leuten und unternahm mit ihnen verrückte Dinge. Sams Leben dagegen drehte sich in erster Linie um ihren Job.

„Gut. Du bist wieder in der Stadt?“

„Paris war so toll“, schwärmte sie. „Da musst du unbedingt mal hin.“ Dann begann Robin, alle Einzelheiten, die sie in den letzten zwei Monaten erlebt hatte, zu schildern. Zumindest kam es Sam so vor. Gelangweilt hörte sie der Freundin zu. Ab und an ein „Hmmm“ reichte Robin. So begnügte Sam sich damit, das Telefon ans Ohr zu halten und nebenher etwas am Computer zu arbeiten.

„Sam, hörst du mir zu?“ Ihre Stimme klang inzwischen schrill.

„Natürlich“, entgegnete sie.

„Wann hast du Zeit, wann können wir uns treffen?“

Sam blickte hilfesuchend zum Kalender an der Wand, auf dem ihre Schichten eingetragen waren. „Wie wäre es mit Samstag?“

„Ach, da wollte ich mal wieder richtig feiern gehen.“

Sam hörte ein Rascheln am anderen Ende.

„Geh doch einfach mit“, schlug Robin vor.

Sam schüttelte den Kopf. Eine blöde Angewohnheit von ihr. Sie vergaß immer, dass ihr Gesprächspartner sie nicht sehen konnte. 

„Wie wäre es die Woche darauf?“

„Sei doch kein Spielverderber, Sam.“ Theatralisch seufzte ihre Freundin. Sie ließ heute nicht so schnell locker. „Du solltest mehr unter Leute. Es gibt wichtigere Dinge als deinen Job.“

Sam verdrehte die Augen. Robin konnte manchmal schlimmer sein als jede Mutter. 

„Ich bin siebenundzwanzig. Ich glaube, ich weiß, was gut für mich ist.“

„Wann hast du dich das letzte Mal mit einem Typen amüsiert?“, wollte Robin schnippisch wissen.

Sofort sah Sam ungewöhnliche blaue Augen vor sich. Darius. Doch sie sagte nichts und blieb Robin eine Antwort schuldig.

„Siehst du, du solltest ganz dringend mal wieder in eine Disco gehen.“

„Ich war neulich in einem Club, aber es hat sich nichts ergeben.“ Sam verschwieg ihr Zusammentreffen mit Leyton. Robin hätte ihm den Kopf abgerissen. Sie hatte damals miterlebt, wie sehr Sam unter der Trennung von Leyton litt, und hatte alles versucht, sie aufzubauen. In dieser schwierigen Zeit war sie eine treue Freundin gewesen. Sie hätte kein Verständnis, wenn Sam je wieder ein Wort mit Leyton wechseln würde. Sam verschwieg auch, dass sie eigentlich aus beruflichen Gründen in diesen Club gegangen war, und erst recht musste Robin nichts von diesem rätselhaften Darius erfahren, der vermutlich ein Vampir war.

„Also kommst du am Samstag mit?“

„Nein!“, entschied Sam sich nun endgültig.

„Ich habe es gewusst.“ Robins Stimme klang enttäuscht. „Wie sieht es nächste Woche bei dir aus? Ich arbeite derzeit nicht, muss mir eine Pause gönnen. Unter der Woche habe ich auch Zeit. Vielleicht auf einen Kaffee?“

„Ich weiß noch nicht so recht“, zögerte Sam, da sie nicht wusste, wann ihr Job es ihr erlauben würde, sich mit einer Freundin zu treffen. „Ich schlage vor, ich melde mich dann bei dir, Robin.“

„Aber klar, Schatz. Schönen Tag dir noch, und mach ein bisschen mehr Dummheiten.“

Sam lachte leise vor sich hin und schob das Handy zurück in ihre Jackentasche. Ja, sie freute sich auf ein Pläuschchen mit ihrer besten Freundin. Gegenwärtig stand allerdings etwas anderes noch weiter oben auf ihrer Prioritätenliste. Sie wollte zu Leyton. Heute, nach der Arbeit. Hoffentlich freute er sich, sie zu sehen. Oder sollte sie besser anrufen? Während sie ihre Arbeit beendete, überlegte sie hin und her. Schließlich entschloss sie sich, direkt zu ihm zu fahren und darauf zu vertrauen, dass er sie sehen wollte.

Kapitel 4


„Ich wusste, du würdest kommen.“ Leytons breites Lächeln bestätigte ihre Entscheidung, als er ihr die Tür öffnete.

„Sag mal, wohnst du in deiner Detektei?“

„Manchmal habe ich tatsächlich das Gefühl.“ Er kratzte sich am Kopf. „Es ist schön, dich so gut gelaunt zu sehen. Ich glaube, ich habe dein Lächeln vermisst", meinte er, als er einen Schritt nach hinten machte und ihr mit einer einladenden Handbewegung den Weg wies.

„Danke dir“, murmelte Sam und berührte kurz seinen Unterarm.

Ein leichtes Kribbeln breitete sich von ihren Fingern aus. Schnell zog sie ihre Hand zurück und flüchtete in das Innere seiner Detektei.

Zum Glück war es in dem Flur ziemlich dunkel, sonst wären die schmutzigen Wände und die Kalkflecken noch mehr aufgefallen. An seinem Ende lag Leytons Büro. Es war ganz anders, als Sam es sich vorgestellt hatte. Über die gesamte Länge der Wand erstreckte sich ein klobiger Wandschrank aus dunklem Nussbaum, davor ein Zweisitzer, ein kleiner Tisch und gegenüber zwei Sessel. Sie sahen sehr bequem aus, und Sam konnte sich gut vorstellen, wie Leyton dort mit seinen Kunden saß. Die zwei großen Fenster auf der anderen Seite des Raumes zeigten in Richtung Straße. Ein wuchtiger Schreibtisch, der über und über mit Unterlagen bedeckt war, füllte die Seite des Raumes. Leyton auf diesem komfortablen, schwarzen Lederstuhl hinter einem Wust aus Akten war ein Gedanke, der Sam zum Schmunzeln brachte. Er hatte den Papierkram schon damals gehasst und ihn so lange aufgeschoben, bis ihm nichts anderes mehr übrig geblieben war.

„Das ist also mein kleines Reich.“

„Nett“, stellte Sam fest.

Plötzlich fühlte sie sich nicht mehr ganz so wohl in ihrer Haut. Leyton machte keine Anstalten, sie zum Sofa zu bitten, und sich einfach setzen wollte sie auch nicht. So stand sie unschlüssig da. Sollte sie wieder gehen? Sie spähte zu ihm hinüber. Er trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Seinem Blick nach zu urteilen, fand er die Situation wohl ebenso unangenehm wie sie. Keiner wusste, wie er die peinliche Stille durchbrechen sollte.

Sam nahm all ihren Mut zusammen und fragte: „Wollen wir etwas trinken gehen?“ 

„Gern. Aber ich darf dich einladen.“

Damit konnte Sam leben, also nickte sie. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie ihn fragte, ob er eine gute Kneipe hier in der Nähe kannte.


* * *


Kurze Zeit später betraten sie das Beantdown. Der Pub war gut besucht. Dennoch fanden sie gleich einen Tisch, unweit der kirschbaumroten Bar, direkt am Fenster. Sam setzte sich auf die gepolsterte Sitzbank, die mit ihrem rot marmorierten Bezug zu den grünen Tischen passen sollte. Leyton bestellte zwei Bier, als es am benachbarten Billardtisch so laut wurde, dass die Kellnerin genervt die Augen verdrehte, bevor sie den Rückzug hinter die Bar antrat.

Sam schlüpfte aus ihrer Jacke und machte es sich auf der Bank gemütlich. 

Erwartungsvoll blickte sie Leyton an, der keine Anstalten machte, das Gespräch zu eröffnen. Sie wollte mehr über Vampire erfahren, und noch etwas anderes brannte auf ihrer Seele.

„Erzähl mir, was du die letzten Jahre so gemacht hast“, bat sie ihn.

Geistesabwesend spielte Leytons linke Hand mit der Karte. Sam rechnete bereits damit, dass sie keine Antwort bekommen würde, als er anfing zu erzählen.

„Ich habe sehr schnell festgestellt, dass mir der Polizeidienst nicht liegt. Deswegen habe ich den Job an den Nagel gehängt.“

Sam blickte Leyton in die Augen. „Das kann ich nicht glauben. Dir hat der Job immer so viel bedeutet.“

Er wich ihrem Blick nicht aus. „Vampire jagen und Gesetzeshüter spielen verträgt sich nicht. Ich musste mich entscheiden.“

Sam sah den Schmerz in Leytons Augen. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass es ihm verdammt schwergefallen sein musste, diese Entscheidung zu treffen. Mitfühlend sah sie ihn an. Sie schwieg, da sie nicht wusste, wie sie ihr Bedauern ihm gegenüber ausdrücken sollte.

„Ist lange her. Vergessen. Mir geht es jetzt auch ganz gut. Ich bin mein eigener Boss und kann tun und lassen, was ich will.“ Seine Stimme klang wieder normal.

„Warum bist du damals abgehauen?“ Endlich, nach so langer Zeit, hatte sie die Chance, diese Frage zu stellen. Doch Leyton schwieg sich aus.

Die Kellnerin kam mit zwei Bierflaschen zurück und eilte zum nächsten Tisch, wo gerade neue Gäste angekommen waren.

„Du warst mir sehr wichtig“, startete Sam einen weiteren Versuch.

„Sam“, unterbrach er sie. „Es tut mir leid, dass ich damals so schnell weg musste, aber es ist geschehen und vorbei. Lass uns darüber nicht mehr reden, okay?“

„Männer!“, schnaubte Sam ärgerlich und nahm einen großen Schluck von ihrem Bier.

„Da du wahrscheinlich auch nicht über deine Arbeit reden möchtest“, warf sie ihm vor, „worüber möchtest du dich dann mit mir unterhalten?“

„Über alles, solange es nicht um meine Arbeit oder um die Vergangenheit geht.“

Sie schwieg einen Augenblick und starrte auf die Flasche in ihrer Hand. Es gab einen Grund, warum sie Leyton aufgesucht hatte. Ihr Zorn legte sich, und die Neugier gewann die Oberhand.

„Darf ich … Wie hast du …“

Leyton begriff sofort, was sie ihn fragen wollte. Es war so wie früher, als sie sich fast blind verstanden hatten.

„In etwa so wie du“, erzählte er. „Ich habe einen Vampirjäger kennengelernt. Besser gesagt, er hat mich gefunden. Ich hielt ihn zuerst für einen Idioten, bis ich einem dieser Blutsauger gegenüberstand. Er hat mich gerettet, sonst wäre ich heute nicht mehr am Leben.“

„So wie du mich gerettet hast?“ Sie hatte es bald ansprechen wollen, und jetzt bot sich ihr eine günstige Gelegenheit.

„Wie meinst du das?“, erkundigte er sich gelassen.

„Dieser Typ im Club, der mich auf einen Drink eingeladen hatte", half sie ihm auf die Sprünge.

Leyton war erst erstaunt, dann schmunzelte er. „Ich habe deinen messerscharfen Verstand wohl unterschätzt.“

Sam zog eine Augenbraue nach oben. „Das beantwortet meine Frage nicht. Dieser Typ ist ein Vampir, habe ich recht?“

Leyton beugte sich nach vorne, sodass er sich mit beiden Armen am Tisch abstützen konnte. Seine Fingerspitzen berührten sich. Trotz der gelassenen Haltung schien er äußerst angespannt zu sein. Mühsam beherrschte er seine Stimme.

„Ja, er ist ein Vampir. Ein verdammter Blutsauger.“ Er blickte nicht auf, sondern starrte weiterhin auf den Tisch. „Aber leider ist er nicht der Ephebe, den ich gesucht habe. Der Typ ist kein blutiger Anfänger, sondern ein Profi. Er verwischt seine Spuren außerordentlich gut. Es ist kaum möglich, an ihn heranzukommen.“

Sam runzelte die Stirn. „Warum hast du ihn gesucht?“

„Der Bastard hat dich gerochen. Er würde dich überall wiederfinden. Ich verspreche dir“, nun blickte er ihr direkt in die Augen, und Sam sah die Ernsthaftigkeit, mit der er seinen Schwur erneuerte, „ich werde ihn finden. Er wird dir kein Haar krümmen.“

Sam schauderte bei seinen emotionalen Worten. Sie war nie eine ängstliche Person gewesen, aber nun beschlich sie doch ein ungutes Gefühl. 

„Ist er wirklich so gefährlich?“, fragte sie vorsichtig.

„Sam, er ist ein Vampir“, meinte Leyton grimmig und nahm einen Schluck von seinem Bier. „Ein Wesen ohne Verstand, eine triebgesteuerte Bestie. Diese Kreaturen gieren nur nach Blut. Ihr einziger Lebensinhalt ist es, Leben zu zerstören. Verstehst du, das sind Raubtiere. Sie sind gefährlich.“

Eine Gänsehaut kroch über Sams Haut, ohne dass sie etwas dagegen hätte tun können. Nur zu gerne wollte sie einen Vampir vor sich haben, ihm unzählige Fragen stellen, wie es ihre Natur war. Doch die Angst vor diesen Wesen saß ihr noch immer tief in den Knochen. Vor Leyton wollte sie sich jedoch keine Blöße geben. Da sie nicht zu den Menschen gehörte, die sich zu Hause einigelten und warteten, bis die Gefahr vorbeiging, gab sie sich kämpferisch.

„Ich habe keine Angst“, log sie Leyton ins Gesicht. „Sag mir, wie ich mich verteidigen kann. Es kann doch nicht so schwer sein, einen Vampir umzubringen.“ Ihre Miene verfinsterte sich.

„Das ist nicht so einfach“, entgegnete Leyton. „Sie sind stark, viel stärker als ein Mensch. Sie sind schneller als der Wind, und sie verhandeln nicht. Sie haben keine Seele. Das darfst du nie vergessen.“

„Aber du stellst dich ihnen auch in den Weg, trittst ihnen entgegen.“

Nie würde sie es zulassen, sich selbst als Opfer zu betrachten. So groß ihre Angst auch sein mochte, sie würde kämpfen, bis der letzte Lebensfunke sie verließ. Sollte dieser Vampir doch kommen. Sie würde darauf vorbereitet sein.

„Das geht nicht, Sam.“ Leytons Stimme war laut und hart geworden. Mit finsterer Miene blickte er sie an.

„Du kannst das ja auch.“

Leyton blickte zur Seite. Er schien zu überlegen und sog die Luft geräuschvoll in seine breite Boxernase.

„Einem Vampir muss man den Kopf abschlagen. Erst dann kann er sich nicht mehr wehren. Oder man zündet ihn an. Er brennt wie Benzin. Es ist eine brutale Angelegenheit, Sam. Nichts für dich. Es ist schmutzig und widerwärtig. Ich habe gesagt, ich werde dich beschützen. Du brauchst dir keine Gedanken zu machen. Ich werde diesen Vampir aufspüren und unschädlich machen, und dann bist du wieder in Sicherheit.“

Sam biss sich auf die Lippen. Gerne hätte sie Leyton widersprochen. Sie musste etwas tun, damit sie nicht verrückt wurde. Ein Blick auf Leyton genügte jedoch, um es dabei zu belassen. Er würde nicht mit sich reden lassen. In manchen Dingen war er ebenso starrsinnig wie sie. Doch sie konnte hartnäckiger sein. Und sie war durchaus in der Lage, sich zu verteidigen. Um einem Angreifer den Kopf abzuschlagen, fiel ihr plötzlich ein, hätte sie sogar die richtige Waffe gehabt. Sie dachte an das japanische Schwert, das zu Hause lag. Im Kampf hatte sie es nie benutzt, aber das würde sie tun, wenn ein Vampir es wagte, sich ihr zu nähern. Nicht umsonst hatte sie jahrelang trainiert. Sie konnte damit umgehen. Schon als Teenager war es ihr wichtig gewesen, auf niemanden angewiesen zu sein und sich selbst verteidigen zu können. Vielleicht war das auch ein Grund gewesen, warum sie Polizistin geworden war und ihr Schwert gegen eine Dienstwaffe eingetauscht hatte. Doch darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken.

Mit einem weiteren großen Schluck von ihrem Bier sprach sie sich Mut zu. Dann blickte sie Leyton an. Früher war es zwischen ihnen oft so gewesen. Sie waren zusammen, und das Gefühl stimmte einfach. Die Stimmung zwischen ihnen hatte sich wieder verändert, war nun vertrauter, fast so wie einst.

„Darf ich dich noch etwas fragen?“

„Natürlich“, bekam sie als Antwort.

„Dieser Vampir, er war in meinem Kopf.“

Leyton ging nicht sofort darauf ein. „Ja“, meinte er nur gedehnt. Er schien wohl ebenso nach Worten zu suchen wie Sam. „Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll. Er hat deine Gedanken manipuliert. Dein Unterbewusstsein.“

„Kann man sich dagegen wehren?“ Sie war immer stark gewesen und hatte ungern andere über sich bestimmen lassen. Die Vorstellung, jemand könnte sie kontrollieren, ließ ihr Herz schneller schlagen. 

„Keine Ahnung, wie die Blutsauger das hinbekommen. Soweit ich weiß, gibt es kein Gegenmittel“, erklärte Leyton.

„Wie kommst du gegen sie an, wenn sie dich manipulieren, während ihr kämpft?“ 

„Ich bin immun. Mehr weiß ich nicht darüber. Ich habe es noch nie erlebt, dass ein Blutsauger in meinem Kopf war.“ Leytons Stimmung hatte sich wieder geändert, war aggressiver geworden.

Wenn sie gewusst hätte, wo sie einen Vampir finden würde, wäre sie zu ihm gegangen und hätte ihn ausgefragt. So musste sie sich auf das Urteil ihres Exfreundes verlassen. Sam seufzte und ließ es auf sich beruhen. 

Ihre nächsten Gesprächsthemen drehten sich um Football, Essen und einen neuen Kinofilm.

Es war bereits weit nach Mitternacht, als Leyton Sam nach Hause begleitete.

„Es war schön mit dir“, bedankte sie sich bei ihm.

„Mir hat der Abend mit dir auch gefallen“, flüsterte er und war plötzlich sehr nahe. Die Luft schien vor Elektrizität zu knistern. Leyton zögerte, als wollte er ihr Zeit geben, sich zu entscheiden. Sam wusste, dass er sie jetzt küssen wollte und ja, sie wollte es auch. 

Dann spürte sie seine warmen, festen Lippen auf ihren. Es war wundervoll. So wie damals, als sie noch zusammengehörten. Sie fühlte seine Hände auf ihrer Taille und drängte sich näher an ihn. Deutlich spürte sie seine harten Muskeln unter seinem Shirt. Seine festen Oberschenkel drückten sich gegen ihre, und Sam spürte seine Erektion. Es war ein angenehmes, vertrautes Gefühl. Doch etwas stimmte nicht. Etwas Unbestimmtes tief in ihr hielt sie davon ab, sich ihm ganz hinzugeben. Sie rang nach Atem, als Leyton einen Augenblick von ihrem Mund abließ. Schon wollte er seine Lippen wieder auf die ihren pressen, als sie sich leicht von ihm abwandte. Sie legte ihre Hände auf Leytons Brust.

„Es tut mir leid.“

Leyton trat sofort einen Schritt zurück und fuhr sich mit den Fingern fahrig durch die Haare.

„Das muss dir nicht leid tun.“ Er rang sichtlich nach Fassung.

„Es ist einfach noch zu früh … der falsche Zeitpunkt.“

„Ist okay“, meinte er schließlich. „Gute Nacht!“ Er schien noch einen Moment zu überlegen, drehte sich dann aber um.

„Leyton“, rief sie ihm hinterher. Er blickte sie an.

„Ich danke dir für den schönen Abend.“ Stumm bat sie um Entschuldigung.

Leytons Lippen verzogen sich schließlich zu einem unwiderstehlichen Lächeln.

„Mach dir keine Gedanken, Sam. Wir werden es ruhig angehen lassen.“

Sam atmete erleichtert auf. Er schien ihre Zurückweisung richtig verstanden zu haben. Erleichtert schloss sie die Wohnungstür auf und trat ein. Im Dunkeln tastete sie nach dem Lichtschalter, wartete, bis der Flur hell erleuchtet war, und zog die Jacke aus. Plötzlich hielt sie mitten in der Bewegung inne. Wachsam blickte sie sich um. Alles war so, wie sie es verlassen hatte, und doch schlug etwas in ihr Alarm. Vorsichtig schlich sie in die Küche. Auch hier war alles so wie immer. Vielleicht bildete sie es sich nur ein. Mit leicht zittrigen Fingern berührte sie ihre Stirn, die zu schmerzen begann. Sie ging weiter aufmerksam durch ihre Wohnung, musste sich vergewissern, dass alles in Ordnung war. Sonst würde sie keine Sekunde die Augen schließen können.

Das Gefühl verschwand nicht und ließ sich auch nicht abstellen. Schnell schlüpfte Sam in ihr Schlafzimmer und riss den Kleiderschrank auf. Von ganz unten holte sie einen langen Gegenstand heraus. Er war in Zeitungspapier eingewickelt. Ihr Schwert. Bedächtig packte sie die kostbare Waffe aus. Lange hatte Sam sie nicht mehr angeschaut. Seit sie in die Mordabteilung versetzt worden war, hatte sie nicht mehr die Zeit gefunden, regelmäßig zum Unterricht zu gehen. Also hatte sie es schließlich aufgegeben und das Schwert weggepackt. Ein Schwert war kein Gegenstand, den man ausstellte, es war eine Waffe. Und Waffen hängte man nicht dekorativ an die Wand, dazu waren sie zu gefährlich.

Andächtig zog Sam die lange Klinge aus der Scheide, stand auf und vollzog ein paar Lufthiebe. Es lag immer noch gut in ihrer Hand. Fast liebevoll strich sie über den blank polierten Stahl. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Jetzt fühlte sie sich besser. Sie schob das Schwert zurück in die Scheide, räumte das Zeitungspapier weg und verließ bewaffnet das Schlafzimmer.

Vor dem Schlafengehen wollte sie es sich noch ein wenig im Wohnzimmer gemütlich machen. Nach dem vollgepackten Tag brauchte sie noch einige Minuten, um alles zu verarbeiten und über den Abend mit Leyton nachzudenken. 

Wenig Licht drang vom Flur in ihr Wohnzimmer, als Sam erschrocken innehielt. Hatte sie etwas gehört? Nein, sicher hatte sie sich getäuscht. Mit einem immer noch unbehaglichen Gefühl trat sie ein. Ihre Hand schloss sich fester um den Schaft des Schwertes, während die andere nach dem Lichtschalter suchte. Ihr Blick glitt hinüber zu ihrem Sofa, dem Tisch davor und dem Fernseher. Auch hier schien sich nichts verändert zu haben, es gab nichts Ungewöhnliches. Doch was war das? Das Fenster. Sam stockte der Atem. Es war geöffnet, nicht gekippt, sondern sperrangelweit offen. Fieberhaft dachte sie nach. Sie hatte heute Morgen die Fenster aufgerissen, um zu lüften, aber sie hätte schwören können, alle danach geschlossen zu haben.

Beunruhigt ging sie hinüber und spähte hinaus. Nichts als Dunkelheit. Sie musste sich wohl geirrt haben. Schnell machte sie das Fenster zu und drehte sich um.

Vor Schreck riss Sam die Augen auf, öffnete den Mund und war doch unfähig, einen Ton hervorzubringen. Ihre Hand umklammerte den Schwertgriff. Als sie zurückwich, spürte sie den Fenstersims, der sich unsanft in ihren Rücken drückte.

Dort, am anderen Ende des Raumes, stand ein Vampir.


* * *


Saphirblaue Augen sahen sie an. Überall hätte sie diese wieder erkannt. Darius, der Vampir aus dem Night Shark. Er hatte sie also gefunden.

Sie wusste nicht, ob sie Stunden, Minuten oder lediglich Sekunden so stehenblieb. Sie konnte ihn nur fasziniert anstarren. Er blickte zurück. Kalte Augen, die sie in ihren Bann zogen und sie alles andere vergessen ließen. Verteidigen, schoss es ihr durch den Kopf, sie musste sich verteidigen. Endlich gehorchte ihre Hand der Aufforderung und zog das Schwert aus der Scheide. Schützend hielt sie es vor sich.

„Komm mir nicht zu nahe“, drohte sie ihm.

Lächelte er ein wenig, oder bildete sie sich das nur ein? Unbeweglich stand er immer noch auf derselben Stelle und hatte sich keinen Zentimeter gerührt.

„Ich weiß, dass du ein Vampir bist, und ich weiß auch, wie man euch tötet. Ich werde keinen Moment zögern, wenn du mir zu nahe kommst …“ Ihr Herz raste, in den Schläfen pochte ihr Blut. Doch sie zitterte nicht. Sie hatte ihre Stimme und ihren Körper völlig unter Kontrolle. Das machte sie ruhiger, und die Anspannung wich ein wenig aus ihren verkrampften Händen.

Sam ließ den Vampir nicht aus den Augen, bereit sich zu verteidigen, sollte er sie angreifen. Doch er stand weiterhin reglos da. Ein makellos schönes Gesicht, starke Muskeln, die sich unter seiner Kleidung abzeichneten – alles zeugte von einem überlegenen Wesen. Ein Raubtier, dachte Sam, wunderschön und gefährlich zugleich.

„Mein Freund hat mir alles über euch erzählt“, versuchte sie ihn aus der Reserve zu locken. Verdammt, der Kerl musste doch endlich etwas sagen.

„Der Inimicus?“, fragte der Vampir erstaunt. Seine Stimme klang sanft, fast beruhigend.

„Ja.“

Er erwiderte nichts.

Nur nicht hysterisch werden, ermahnte Sam sich selbst.

Er lächelte, nein, er strahlte sie regelrecht an, und sie merkte, wie ihr Widerstand schmolz. Ihre Knie wurden weich, und ihre Hände begannen zu zittern. Er war in ihrem Kopf.

Hab keine Angst!, hörte sie eine verführerische Stimme direkt in ihren Gedanken. 

Mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, wandte sie den Blick von ihm ab und schloss die Augen. Versuchte so, ihn aus ihrem Verstand auszusperren.

„Du hast in meinem Kopf nichts zu suchen“, keuchte Sam angestrengt.

Ein wundervolles, männliches Lachen erklang in der Stille.

So plötzlich, wie die Stimme in ihrem Kopf gewesen war, spürte sie, dass der Vampir sich aus ihren Gedanken zurückgezogen hatte. Einen Moment brauchte sie, dann blickte sie vorsichtig wieder auf. 

„Was willst du hier?“, stieß Sam hervor.

„Wo ist dein Inimicus?“, wollte er stattdessen wissen. Ein spöttisches Lächeln umspielte dabei seine Lippen.

„Ich brauche keinen Babysitter. Ich kann gut auf mich selbst aufpassen. Mit dir werde ich auf jeden Fall allein fertig.“ Das Schwert immer noch schützend vor sich haltend, beobachtete sie den Eindringling.

Er gab kein Geräusch von sich, blickte sie nur durchdringend an. Vollkommene Stille umgab sie.

Ehe Sam überhaupt begreifen konnte, was geschehen war, stand der Vampir wie aus dem Nichts direkt vor ihr. Seine Hand drückte ihre, die das Schwert immer noch fest umklammerte, sanft nach unten. Fast berührten sich ihre Gesichter, und sie spürte, wie sein Atem liebkosend über ihre Wangen strich.

„Du fühlst es auch, nicht?“, flüsterte er ihr rau ins Ohr. „Du kannst mir nicht widerstehen.“

Sam fühlte ihren Herzschlag, ihre beschleunigte Atmung. Sie war ihm ausgeliefert. Benommen legte sie ihren Kopf in den Nacken, um ihn noch besser ansehen zu können.

„Ich werde dir nichts tun“, hauchte er. „Jedenfalls nichts, was du nicht auch möchtest. Ich habe es nicht eilig, ich kann warten, bis du bereit bist, mir alles zu geben.“

Sam konnte ihren Blick nicht abwenden, auch dann nicht, als seine Augen noch eine Spur dunkler wurden.

„Nein“, murmelte sie, versuchte verzweifelt, gegen diese Anziehung, gegen die Manipulation anzukämpfen.

Der Vampir lächelte, und Sam konnte zum ersten Mal einen Blick auf seine perfekten Zähne werfen. Die Eckzähne waren ein klein wenig länger als der Rest. Mehr wies nicht darauf hin, dass der gut aussehende Typ vor ihr ein Vampir war.

Langsam kam sein Gesicht noch näher. Sam wollte ihm ausweichen, konnte sich jedoch nicht bewegen. Gefangen in seinem Bann, ließ sie zu, dass sich seine kühlen Lippen sanft auf die ihren legten. Wie von einer unsichtbaren Macht gezwungen, schloss sie ihre Lider, während eine nie gekannte Sehnsucht in ihr aufstieg. Sie lebte nur in diesem Augenblick, merkte, wie sich die Eckzähne in seinem Mund verlängerten. Alle Angst war wie weggeblasen. Eine Erregung, heftig wie ein Erdbeben, riss jede Mauer, die sich um ihren Geist herum aufgebaut hatte, nieder. Als er mit seiner Zunge zart über ihre Lippen strich und Einlass forderte, leistete sie keinen Widerstand, hieß ihn in ihrem Mund willkommen. Neugierig glitt sie mit ihrer Zunge über seine Fänge. Es fühlte sich fremdartig an, aber gut und aufregend. Er knabberte zärtlich an ihrer Lippe. Sam glaubte, vergehen zu müssen. Es bereitete ihr fast körperliche Schmerzen, als Darius den Kuss beendete.

„Siehst du, nichts, was du nicht auch möchtest.“

Sam drängte sich an ihn, wollte wieder seinen Geschmack auf ihren Lippen spüren. Als er sich über ihren Nacken beugte und die Stelle küsste, an der ihr Puls schlug, war sie bereit für ihn. Sein Atem strich über ihre empfindsame Haut und bescherte ihr eine Gänsehaut. Genießerisch schloss sie die Augen, bereit, ihm alles zu geben: ihr Blut, ihr Leben, ihre Seele. Enttäuscht bemerkte sie, dass er sich aufrichtete. Sie wollte schon protestieren, als seine Hand zärtlich über ihre Wange glitt.

„Ich werde dich jetzt verlassen, meine Schöne.“ Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn. So schnell, wie er vor ihr gestanden hatte, war er auch wieder verschwunden und mit ihm der Zauber, der sie gefangen gehalten hatte.

Ihr Körper begann zu zittern. Sie schloss die Augen nur, um sie gleich wieder aufzureißen. Das Schwert, das sie immer noch in der Hand hielt, fiel klirrend zu Boden. Erschrocken über das Geräusch schlang sie die Arme um sich und ließ sich mit dem Rücken an der Wand zu Boden gleiten. 

Sie hatte sich von einem Vampir küssen lassen. Kein bisschen hatte sie sich gewehrt, und diesmal konnte sie sich nicht damit herausreden, dass er sie manipuliert hatte. Sie hatte sehr deutlich gespürt, dass er sich aus ihren Gedanken zurückgezogen hatte. Aber diese seltsame Anziehungskraft hatte sie dazu veranlasst, sich ihm freiwillig an den Hals zu werfen. Wenn er nicht gegangen wäre … sie hatte so viel mehr gewollt …

Sie vergrub ihr Gesicht in beide Hände, während sich eine unendliche Leere in ihrem Innern ausbreitete. Etwas war mit ihr geschehen, etwas, das sie nicht erklären konnte.

Die Stunden gingen vorüber. Sam saß immer noch auf dem Boden und zitterte am ganzen Körper. Sie hasste sich dafür, dass sie so schwach war. Sie brauchte jetzt jemanden, mit dem sie reden konnte. Nur ein einziger Mensch fiel ihr ein, dem sie alles anvertrauen konnte. Sie wählte die Nummer und ließ es läuten.

Einmal.

Zweimal.

Dreimal.

Dann meldete sich eine künstliche Frauenstimme, die ihr erklärte, dass Leyton Hendersen den Anruf gerade nicht entgegennehmen konnte.

Sam brach die Verbindung ab. Kraftlos ließ sie die Hand zu Boden fallen. Leyton hatte Recht behalten. Sie hatte kläglich versagt. Sie war zu schwach, nicht in der Lage, sich selbst zu schützen. Nun saß sie einfach nur da und starrte vor sich hin, ohne etwas wahrzunehmen, bis die Müdigkeit sie überfiel und sie auf dem Boden ihres Wohnzimmers in einen unruhigen Schlaf fiel.

Kapitel 5


Wütend rannte Darius durch die Nacht. Kilometer um Kilometer ließ er hinter sich. Am liebsten hätte er alles, was sich ihm in den Weg stellte, kurz und klein geschlagen.

Ganz ruhig, ermahnte er sich selbst. Jahrelanger Selbstbeherrschung verdankte er es, dass er keine Spur der Zerstörung hinterließ.

Zuerst war er enttäuscht gewesen, sie nicht anzutreffen. Dann hatte er sich in ihrer kleinen Wohnung umgesehen. Nirgends hingen Bilder von Familienangehörigen an den Wänden. Das war ungewöhnlich. Menschen hatten gern Fotografien von lebenden oder toten Verwandten um sich. Doch Sam war anders als die wenigen Menschen, die er näher kannte. Das hatte sich an diesem Abend noch einmal bestätigt.

Dann hatte er sie gerochen. Sie und den Inimicus aus dem Club, der zum Glück nicht mit hineingekommen war, was dem Kerl vermutlich das Leben gerettet hatte. Diesmal hätten sie, abgesehen von Sam, keine Zeugen gehabt. Es wäre ein blutiger und langer Kampf geworden, dessen Ausgang ungewiss gewesen wäre.

Unwillkürlich musste er schmunzeln, als er daran zurück dachte, was geschehen war. Als Sam die Wohnung betreten hatte, hatte sie ihn sofort gespürt. Es kam selten vor, dass Menschen so feinfühlig waren. Er hatte ihr etwas Zeit geben wollen, hatte gedacht, sie würde sich beruhigen, wenn sie erst einmal die Wohnung abgesucht und festgestellt hätte, dass niemand da war. Doch sie war in ihr Schlafzimmer geschlichen und hatte ihr Schwert hervorgeholt. Sie hatte tatsächlich geglaubt, ihn mit so einer Waffe in Schach halten zu können. Diese Vorstellung war so abwegig und amüsierte ihn so ungemein, dass er trotz miserabler Stimmung seine Lippen zu einem Lächeln verziehen musste.

Als er an ihre großen braunen Augen dachte, die ihn so ungläubig anstarrten, als er vor ihr stand, gewann die Wut über sich selbst wieder die Oberhand, und er schüttelte energisch den Kopf.

Warum fühlte er sich nur so zu ihr hingezogen? Er war mit dem festen Vorsatz bei ihr aufgetaucht, sie zu beißen und sich das, was er wollte, zu holen: ihr Blut. Doch dann war alles anders gekommen. Das Bedürfnis, sie in die Arme zu nehmen und zu küssen, war viel stärker, als seine Zähne in ihren Hals zu schlagen. Noch immer wollte er ihr Blut, mehr als je zuvor, aber er wollte es sich nicht einfach nehmen. Er wollte, dass sie es ihm freiwillig gab. Ja sogar, dass sie ihn anbettelte, von ihr zu trinken.

Er wurde langsamer und hielt schließlich an. Bäume standen um ihn herum. Er befand sich in einem Wald. Wütend schlug er gegen den mächtigen Stamm einer alten Eiche, die sofort nachgab und wie ein Streichholz umknickte. Das Vibrieren des Bodens bemerkte er kaum, als der Baum auf der Erde aufschlug. Sein Blick richtete sich auf den Horizont. Boston. Selbst er, mit seinen Vampiraugen, konnte die Stadt nicht ausmachen, dazu war er zu weit von ihr entfernt.

Von dem Drang beherrscht, den Wind wieder im Gesicht zu spüren, rannte er los, in die Richtung, aus der er eben gekommen war.

Seine Miene verfinsterte sich noch mehr, als er an seinen Vater dachte. Er würde ihn auslachen, wenn er wüsste, dass er diese Frau geküsst hatte, obwohl auf ihren Lippen immer noch der Speichel des Inimicus klebte. Es hatte ihn nicht gestört. Verdammt noch mal! Er hatte es genossen, von ihrem Mund Besitz zu ergreifen. Es hatte ihn erregt, wie sie vorsichtig seine Fänge befühlte. Allein bei dem Gedanken wurde er schon wieder hart. Verflucht, was stellte diese Frau mit ihm an? Es fielen ihm noch dutzende Flüche und Schimpfwörter ein, die nicht annähernd das ausdrücken konnten, was er fühlte.

Er musste seine Aggressivität loswerden und wieder einen klaren Kopf bekommen. Er wollte töten. Beherrscht von diesem Gedanken ließ er sich von seinen Instinkten treiben. Das Tier in ihm enttäuschte ihn nicht. Bald schon hatte er die Fährte eines süßen Duftes aufgenommen. Ein junges Mädchen. Der Wind trieb ihm ihren lieblichen Geruch unaufhaltsam entgegen. Noch ein paar Sekunden, dann würde er sie erreichen. Schon von weitem sah er, wie sie und ein weiteres Mädchen die einsame Straße entlang spazierten. Er würde sie mitnehmen, einfach forttragen. Ihre Freundin würde feststellen, dass sie verschwunden war, und vermutlich die Polizei rufen.

Für einen Vampir seines Alters und mit seiner Erfahrung war es eine billige Art, sich so seine Beute zu schnappen. Doch das war ihm gerade reichlich egal. Er griff nach seinem Opfer und bahnte sich weiter seinen Weg durch die nächtlichen Straßen. Das Mädchen war so überrascht, dass sie nicht einmal aufschrie, als er sie in einer abgelegenen Seitengasse absetzte. Rasch hatte er sich umgesehen. Ein paar Hintertüren von den umliegenden Gebäuden, eine rostige Fluchttreppe und drei Mülltonnen, die verlassen herumstanden. Die Fenster der angrenzenden Häuser waren alle dunkel. Hier würde ihn keiner überraschen, niemand stören. Es war ein perfekter Ort.

Mit einem zufriedenen Lächeln blickte er in die angsterfüllten Augen des jungen Dings. Er hatte keine Lust, sich mit ihr zu unterhalten. Er wollte nur ihr Blut. Seine Fangzähne waren bereits weit ausgefahren. Jetzt spiegelte sich das Erkennen in den Augen seines Opfers. Er sah blankes Entsetzen und roch das Adrenalin, das in ihren Körper strömte und ihr Blut noch mehr versüßte, als ihr bewusst wurde, was für ein Wesen vor ihr stand. Blitzschnell versenkte er seine Fänge in ihrem Hals.

Das Blut war rein und klar, doch in seiner Gier schmeckte er das kaum. Das Einzige, worum es ging, war, das Brennen seiner Kehle zu lindern. Langsam merkte er, wie ihr junger Körper schwächer wurde und benommen gegen ihn sank. Noch war es nicht zu spät, um aufzuhören. Doch heute wollte er töten, wollte sich beweisen, dass er ein verfluchter Vampir war. Eine Bestie, die Leben aussaugte und Verderben brachte. Gierig trank er weiter. Mehr und immer mehr nahm er von ihr, bis sie sich nicht mehr rührte. Als der Glanz aus ihren Augen verschwunden war, zog er seine Zähne aus ihrem Hals und verschloss die Wunden mit seinem Speichel. Sein Opfer starrte ihn an, als würde sie stumm schreien: Warum hast du mir meine Zukunft genommen?

Vielleicht ist Gott deiner Seele gnädig, wenn es ihn wirklich gibt, antwortete er, gleichfalls stumm. Und womöglich wäre Gott ihm eines Tages ebenso gnädig.

Achtlos schmiss er den leblosen Körper zwischen die Müllcontainer, wie einen leeren Kaffeebecher von Starbucks. Etwas anderes war sie für ihn schließlich nicht.

In ein paar Tagen würde man sie finden, dann, wenn ihr Gestank den Menschen nicht mehr verborgen blieb. Aber das konnte ihm egal sein.

Sein Hunger war zwar für den Moment gestillt, doch seine Laune war um keinen Deut besser, als er erneut in die dunkle Nacht aufbrach.


* * *


Drei volle Tage waren seit der Begegnung mit dem Vampir vergangen. Bisher war er nicht wieder aufgetaucht – zumindest nicht körperlich. In ihren Träumen verfolgte er sie jede Nacht. Hätte sie gewusst, wo sie ihn finden würde, wäre sie auf der Stelle zu ihm gegangen. Selbst im Night Shark hatte sie zwei Nächte vergeblich auf ihn gewartet. Er blieb wie vom Erdboden verschluckt. Einerseits war sie froh darum, ihm nicht mehr begegnet zu sein. Die Gefahr, die von ihm ausging, hatte sie deutlich gespürt. Andererseits sehnte sich jede Faser ihres Körpers nach ihm, und das erschreckte sie noch mehr.

Gerade war Sam von einem anstrengenden Arbeitstag zurückgekommen und starrte auf ihr Mobiltelefon. Sie machte sich Sorgen um Robin. Seit geraumer Zeit versuchte sie immer wieder, die Freundin anzurufen. Mehr als die Mailbox erreichte sie nicht. Dutzende Male hatte sie bereits auf das Band gesprochen, aber immer noch keine Antwort bekommen. Das war überhaupt nicht Robins Art. Als sie wieder ihr Handy ans Ohr hielt und dem Wählgeräusch lauschte, rechnete sie schon mit der bereits vertrauten Bandansage.

„Ja?“, ertönte eine verschlafene Stimme.

„Robin. Gott sei Dank. Ich war schon krank vor Sorge um dich.“

„Sam?“

Robins Stimme hörte sich nicht verschlafen, sondern seltsam fremd an, wie Sam in diesem Augenblick klar wurde. „Wo steckst du?“

„Keine Ahnung, aber hier ist es toll.“

Sam wusste, dass etwas nicht stimmte. „Du weißt nicht, wo du bist? Robin, was soll das heißen?“ Es knisterte etwas in der Leitung, und Sam befürchtete schon, die Verbindung sei abgerissen.

„Ich habe einen Typ kennengelernt. Ein Traum von einem Mann!“

Sie hörte Robins bizarres Gekicher. Aber da war noch mehr im Hintergrund. Sam wollte sich gerade auf die Geräusche konzentrieren, als am anderen Ende Tumult entstand. Sie hörte, wie sich etwas auf die Sprechmuschel legte, und konnte nichts mehr verstehen.

„Robin?“ Ihre Stimme wurde lauter „Robin?“

„Ruwen meint, du sollst vorbeikommen“, vernahm sie plötzlich wieder Robins Stimme.

„Wer ist Ruwen?“, wollte sie wissen.

„Na der Typ, bei dem ich gerade bin. Komm schon. Es wird dir hier gefallen. Ich verspreche es dir. Es ist total geil.“

Sam dachte fieberhaft nach. Robin war da in etwas hineingeraten. Sie musste ihr unbedingt helfen. Hoffentlich waren nicht wieder Drogen im Spiel. Sam erinnerte sich noch allzu gut an die Zeit, bevor Robin sich dazu entschlossen hatte, eine Entziehungskur zu machen. Es war die Hölle gewesen. Nie wieder, hatte sie sich geschworen.

„Okay, hör zu. Ich komme vorbei und hole dich ab. Sag mir, wo du bist.“

Sie hatte schon nach ihrer Jacke gegriffen und die Schlüssel eingesteckt. Klickend fiel hinter ihr die Wohnungstür ins Schloss, während sie noch immer mit ihrer Freundin telefonierte.

Mit Leuten, die im Drogenmilieu verkehrten, war nicht zu spaßen. Sie ignorierte die warnende Stimme in ihrem Hinterkopf, die ihr einreden wollte, dass sie sich gerade in Gefahr brachte. 

„Ich brauche eine Anschrift.“

Robin nannte ihr eine Adresse in einer der besseren Gegenden von Boston. Bei wem auch immer Robin war: Wenn er sich in Beacon Hill ein Haus leisten konnte, musste er eine Menge Geld besitzen. Und Drogen waren bekanntlich eine gute Einnahmequelle.


* * *


Dass Robins sogenannte Freunde reich waren, bestätigte sich, als die Villen, an denen Sam vorbeifuhr, immer größer wurden. Ganz am Ende der Straße hielt Sam an und erblickte ein altes, viktorianisches Haus. Das rote Backsteingebäude war riesig. Dutzende weiß gestrichene Fensterrahmen mit dunkelbraunen Holzläden vermittelten ihr den Eindruck, gegen dieses alte Gebäude unbedeutend zu sein. Der Sockel des Hauses sowie die Stufen zu der hölzernen, mahagonifarbenen Tür bestanden aus Marmor, ebenso wie die zwei Säulen, die den Eingang säumten.

Sam parkte an der gegenüberliegenden Straßenseite und stieg aus. Nur ganz kurz zögerte sie, dann schritt sie die Stufen hinauf. Eine Klingel fand sie, einen Namen nicht. Ruwen besitzt also keinen Nachnamen, dachte Sam düster. Das gefiel ihr nicht. Ganz und gar nicht. Mit einem unguten Gefühl klingelte sie und wartete.

Es dauerte nur einen kurzen Moment, und die riesige Tür wurde weit aufgerissen. Eine große Frau mit blonden, ganz kurz geschnittenen Haaren blickte sie unter langen Wimpern hindurch an. Ihr blutrot geschminkter Mund verzog sich zu einem Lächeln. Lässig lehnte sie an der geöffneten Tür.

„Ich suche meine Freundin, Robin Donald. Sie hat mir diese Adresse genannt.“

Das Lächeln der Blondine wurde breiter.

„Robins Freunde sind auch unsere Freunde. Hereinspaziert.“ Die Stimme der Frau war angenehm, fast betörend, sie trat einladend zur Seite.

Erstaunt über die Pracht, die sie nun erblickte, blieb Sam stehen. Allein die Eingangshalle war größer als ihre gesamte Wohnung.

Die Halle war mehrere Meter hoch. Sam kam sich winzig vor, wie sie dort unten stand und in den ersten Stock blickte. Rechts und links von ihr führten zwei breite Treppen hinauf in die obere Etage. Jede einzelne Stufe war mit blauem Stoff bezogen. Die hölzernen Geländer mit ihren handgeschnitzten Formen zeugten vom Glanz und Reichtum ihres Besitzers. Das wenige Licht, das die Halle erhellte, kam durch das große, runde Fenster über der Eingangstür. An der hohen Wand gegenüber hing ein überdimensionales Gemälde, auf dem eine Familie abgebildet war.

In der Mitte des Bildes saß eine Frau auf einem Stuhl. Sie trug ein zartblaues schulterfreies Kleid mit kurzen Ärmeln, die über und über mit kleinen Rüschen und Schleifen verziert waren, und zwei bodenlangen Röcken, der obere etwas kürzer und mit noch mehr Zierde versehen. Ihr kunstvoll hochgestecktes Haar wurde von einem weißen Hut geschmückt. Das zarte Lächeln der Frau ließ seinen Betrachter einen Augenblick auf ihrem schönen Gesicht innehalten. 

Auf ihrer Schulter lag die Hand eines Mannes, der hinter ihr stand. Er trug ein zweireihiges Sakko in Dunkelbraun sowie eine Weste und eine schlichte, an den Beinen eng anliegende Hose aus dem gleichen Stoff. Die dunklen Haare waren ungewöhnlich kurz geschnitten. Doch am meisten hielten die unnatürlich blauen Augen Sam gefangen. Sie erschienen ihr seltsam vertraut und doch, das wusste sie genau, war sie diesem Mann noch nie begegnet.

Der halbwüchsige Junge auf der anderen Seite des Bildes war das Abbild seines Vaters. Sein Anzug war nur eine Spur dunkler. Sam erschrak, als sie das Kind anblickte und glaubte, es zu erkennen. Solche Augen hatte sie erst kürzlich gesehen. Nie würde sie dieses Saphirblau vergessen und den dazugehörigen Vampir. 

Ihre Gedanken überschlugen sich. Wie alt mochte dieses Bild sein? Hundert Jahre? Hundertfünfzig? Waren das seine Verwandten, seine Vorfahren? Oder war es gar möglich, dass der Junge noch heute lebte, dass sie ihm begegnet war? Was war das für ein Ort? Wo war ihre Freundin hier gelandet?

„Komm mit, ich zeig dir den Weg“, säuselte die blonde Frau, die ihr die Tür geöffnet hatte, zuckersüß und stolzierte einen Gang entlang, tiefer ins Innere des Hauses. Sam schaute ungläubig auf die teuren Bilder, als sie ihr folgte. Nur die schweren Holztüren dazwischen erinnerten sie daran, dass sie sich nicht in einer Galerie befand. Sie war so abgelenkt, dass es ihr schwerfiel, schrittzuhalten. Schon öffnete die Blondine eine der schweren Eichentüren und verschwand dahinter. Sam beeilte sich und trat ebenfalls ein.

Der Raum, mit der weißen, mit vielen Ornamenten verzierten Stuckdecke, war mindestens drei Meter hoch. Die Sockelleiste und die dezent apricotfarbene Wand verstärkten den Eindruck noch. Über ihr thronte ein imposanter Kristallleuchter, und in einem großen Spiegel an der Wand sah sie sich selbst. In der Mitte des Raumes stand ein zierliches Sofa, handgeschnitzt und vergoldet. Zaghaft strich sie über die Lehne und musterte den dazugehörigen kleinen Tisch und zwei Stühle, die mit dem gleichen blumigen Stoff bezogen waren.

„Warte hier kurz. Ich hole Robin.“ 

Sam nickte und drehte sich um, als sie feststellen musste, dass sie bereits alleine war. Sie hatte noch nie gesehen, dass sich ein Mensch so schnell bewegen konnte. Hoffentlich gab es hier nicht noch mehr Vampire. Na toll, und sie, Samantha Forster, hatte es mal wieder geschafft, genau in die Höhle des Löwen zu geraten. Ob Darius auch hier war? Sam drehte sich um und ging ein paar Schritte zum Fenster hinüber. Die dunklen Vorhänge ließen nur wenig Licht in den Raum. Es kostete sie erstaunlich viel Kraft, den schweren Stoff nur ein klein wenig zur Seite zu schieben. Sie gab ihr Vorhaben wieder auf und setzte sich stattdessen auf das kleine Sofa. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als zu warten.

Nach einiger Zeit öffnete sich die schwere Eichentür wieder, und Robin trat ein. Besser gesagt das, was von Robin übrig geblieben war. Die einst so schöne Frau trug ein marineblaues Spaghettiträgerkleid, das an den Knien endete und aus dem ihre langen Arme und Beine seltsam dürr und blass hervorstachen. Das Gesicht der Freundin erschreckte sie noch mehr. Die einstmals rosigen Wangen waren bleich und eingefallen. Selbst die Schminke konnte die tiefen Schatten um ihre Augen nicht verdecken. Sam hatte den Eindruck, dass ihre Freundin sie gar nicht wahrnahm, sondern nur ins Leere starrte. Um ihren Hals hatte Robin einen langen Chiffonschal gebunden, wie Sam nun auffiel. Vermutlich, um die Bissspuren zu verdecken.

Sam schluckte schwer. Also keine Drogen, sondern Vampire. In diesem Augenblick wäre es ihr tatsächlich lieber gewesen, es mit einer Horde von Drogendealern aufzunehmen als mit Vampiren.

Robin blieb vor ihr stehen. Der schmale Sonnenstrahl, der sich seinen Weg durch den Vorhang bahnte, fiel nun direkt auf die bleiche Frau. Im Sonnenlicht wirkte sie noch blasser, fast durchscheinend.

Sam schlang die Arme um ihre Freundin und hielt sie fest an sich gedrückt, erschrocken darüber, wie knochig sie sich anfühlte.

„Ich bin so froh, dich zu sehen“, flüsterte sie.

Robin machte sich ein wenig von ihr los und blickte sie lächelnd an.

„Komm mit, ich will dir jemanden vorstellen.“ Wie ein kleines Kind nahm sie Sam an der Hand und führte sie hinaus. 

Es würde ein schweres Stück Arbeit werden, Robin davon zu überzeugen, mit ihr zu kommen.

„Ich freue mich, dass du gekommen bist. Es wird dir hier gefallen“, plauderte Robin drauf los.

„Ich bin eigentlich nur da, um …“ Weiter kam sie nicht. Robin stieß eine Tür auf, und Sam schlug ein metallischer Geruch entgegen. Als sie eintrat, versteifte sie sich, ungläubig über das, was sie sah. 

Nur wenige Schritte von ihr entfernt stand ein Vampir über eine Frau gebeugt, die breitbeinig und entblößt auf einem Billardtisch vor ihm saß. Sie wimmerte leise, während er immer wieder brutal in sie eindrang. Die öffentliche Zurschaustellung des Sexualakts widerte sie an. Sam schmeckte den bitteren Geschmack von Galle im Mund und wollte sich angeekelt abwenden. Das Stöhnen der Frau ließ sie jedoch innehalten. Da vernahm sie ein unmenschliches Knurren, tief aus der Brust des Mannes. Seine Vampirzähne waren weit ausgefahren. Ein weiteres Brüllen, dann vergrub er seine Zähne in der Halsbeuge der Frau. Diese schrie auf in einer Mischung aus Schmerz und völliger Ekstase.

„Siehst du, es ist wundervoll“, seufzte Robin neben ihr. Ihr entrückter Blick ließ Sam zu dem Entschluss kommen, dass sie in Gedanken meilenweit fort war. Kurz darauf wurden die Augen ihrer Freundin wieder klarer. 

„Komm mit!“ Robin zog sanft an Sams Arm und führte sie an dem Paar vorbei. Erst jetzt merkte sie, dass sich noch weitere Personen im Raum befanden. Die blonde Schönheit, die ihr die Tür geöffnet hatte, räkelte sich auf dem Schoß eines finster blickenden Mannes. Etwa acht in dunklen Anzügen gekleidete Männer saßen gemütlich beisammen und schienen sich zu unterhalten. Zwischen ihnen oder auf ihren Schößen tummelten sich junge, leicht bekleidete Frauen. Manche von ihnen eindeutig menschlich und ebenso mitgenommen wie Robin. Sam atmete innerlich erleichtert auf. Darius war nicht unter ihnen. Was dies bedeutete, war ihr allerdings noch nicht klar.

Robin führte sie vor einen Mann, den sie sofort erkannte. Es war der Mann, der auf dem Bild in der Eingangshalle so eindrucksvoll abgebildet war. 

„Das ist Ruwen.“

Mit seinen saphirblauen Augen musterte er sie von oben bis unten. Sam fühlte sich unwohl unter seinen Blicken, noch mehr, da er kein Wort sagte. 

Robin setzte sich auf seinen Schoß und schmiegte sich an ihn. 

„Das ist meine Freundin Sam.“

Der Angesprochene schwieg weiter. Er saß so regungslos da, wie es kein Mensch vermochte. Gespannt blickten ihn die anderen Personen im Raum an. Sie schienen auf etwas zu warten.

„Setz dich doch zu uns“, lud er Sam schließlich ein und deutete auf einen freien Platz neben sich. Die Atmosphäre entspannte sich, als die anderen Anwesenden sich wieder bewegten. Sie hatten auf sein Urteil gewartet. War er ihr Anführer? Gab es bei ihnen so etwas überhaupt? Ihr wurde klar, dass sie noch immer viel zu wenig über ihr Gegenüber wusste.

„Deshalb bin ich nicht hier.“ Sam hoffte, entschlossen genug zu klingen.

Ein wissendes Lächeln umspielte die klaren Gesichtszüge des Vampirs, als er Sam noch eingehender musterte. 

„Du kannst gerne noch stehenbleiben“, entschied der Vampir. Dieser Akzent, dieser Tonfall erinnerte sie so an Darius, dass sich etwas in ihr schmerzhaft zusammenzog. Seine Stimme hatte sich genauso angehört, als …

„Wollen wir deiner kleinen Freundin zeigen, was ihr entgeht, Amica?“, fragte er Robin, die sich in seinem Arm räkelte.

Gehorsam richtete Robin sich leicht auf und nahm den Schal ab. Sam konnte die deutlichen Bissspuren sehen. Es waren kleine, rote Punkte, unzählige, die sich über ihren Hals erstreckten. Der Vampir ließ Sam nicht aus den Augen, während ein grausames Lächeln auf seine Lippen trat. So gut sie konnte, versuchte sie dem herausfordernden Blick standzuhalten. Sie konnte jedoch nicht verhindern, dass sie ihre Augen weit aufriss, als sie erkannte, was der Vampir vorhatte. Seine Reißfänge waren weit ausgefahren, als er sich auf Robin stürzte und blitzschnell zubiss. Übelkeit ergriff Sam und unbändige Wut. Sie versuchte, das Beben zu unterdrücken, das sich ihres Körpers bemächtigte.

Robin gab keinen Laut von sich. Mit geschlossenen Augen saß sie da und ließ alles über sich ergehen, ohne sich zu rühren.

„Ihr verdammten Blutsauger“, stieß Sam hinter zusammengebissenen Zähnen hervor.

Einige Vampire lachten amüsiert auf. Sam rechnete damit, dass sich einer von ihnen auf sie stürzen würde, und wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Doch nichts geschah. Alle warteten auf ihren Anführer oder was auch immer er war.

Schließlich ließ der Vampir von seinem Opfer ab. Sam sah, wie er mit der Zunge über die Wunden strich, die sich wie von selbst schlossen. Nur vier weitere, kleine rötliche Flecken waren zu sehen und zeugten von dem Verbrechen, das an ihrer Freundin verübt worden war. Er blickte ihr herausfordernd in die Augen. Sam erwiderte den Blick. Sie ballte die Hand zur Faust. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und die Wut brodelte in ihrem Bauch. Bebend presste sie ihre Lippen aufeinander, bemüht, keine Worte von sich zu geben, die sie später bitter bereuen würde.

Der Vampir, der sich noch vor wenigen Minuten am Tisch mit der Frau vergnügt hatte, ließ sich geräuschvoll auf einen freien Platz fallen. Seinen Arm legte er gelassen um eine dunkle Schönheit, zog diese an sich und küsste sie ungestüm auf den Mund. Als er von ihr abließ, lachte sie ihn an und stieß ihm mit dem Ellenbogen spielerisch in die Rippen. Sie flüsterte ihm etwas zu und ließ ihre Hände aufreizend über seinen makellosen Anzug gleiten, der perfekt saß, als hätte er ihn nicht erst gerade eben wieder angelegt. Wo war die andere Frau geblieben? Suchend drehte Sam sich um und entdeckte die zierliche Gestalt, die benommen vor dem Billardtisch lag.

„Mein Gott“, schrie Sam entsetzt auf und rannte zu ihr. Die Frau lag halb bewusstlos auf dem Boden. Sam ließ sich neben ihr nieder, versuchte, die Verletzte ein wenig aufzurichten und zumindest ihre Blöße mit den Überresten der zerfetzten Kleidung zu bedecken, die verstreut um sie herum lagen.

Kraftlos wehrte sie sich dagegen. „Schon okay“, wisperte sie kaum hörbar.

Wie konnte die junge Frau so etwas zulassen? Wie konnte sie zulassen, dass ekelhafte Vampire sie aussaugten und fast töteten? Zorn wallte in ihr auf, so stark und ungestüm, wie sie es noch nie erlebt hatte. Gerüche, die sie davor nicht wahrgenommen hatte, strömten in ihre Nase und wollten sie schier überwältigen. Sam erkannte den metallischen Geruch von Blut. Aber da war noch mehr. Ein noch viel stärkerer Duft, süßlich und schwer, der die Frau dicht umhüllte. Etwas Fremdes, Gefährliches, tief in Sam verborgen, begann sich zu regen. Der Anblick der blutenden, geschundenen Frau weckte Gier in ihr, den plötzlichen Wunsch, sich auf das wehrlose Opfer zu stürzen. Sam begann am ganzen Körper zu zittern, so mächtig war das Verlangen. Sie ballte die Hände zu Fäusten, versuchte ihre Empfindungen zu unterdrücken. Der Geruch brachte sie fast um den Verstand. Ohne etwas dagegen tun zu können, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Dann verselbstständigten sich ihre Beine, und sie machte einen Schritt auf die am Boden Liegende zu. Erschrocken über sich selbst wich Sam zurück. Angst erfüllte sie, nackte Panik. Sie musste hier weg, ehe sie der anderen etwas antat. Ihr wurde klar, dass sie allein dieser Frau nicht helfen konnte. Schnell rappelte sie sich auf und floh zurück zu den Vampiren. Wie war es möglich, von diesen Monstern so leicht manipuliert zu werden? Das, was sie eben empfunden hatte, konnten unmöglich ihre eigenen Gefühle sein. Diese Männer mussten die Gedanken in sie eingepflanzt haben. Ein Grund mehr, möglichst schnell hier wegzukommen.

Sie wollte Robin holen und mit ihr aus diesem Rattenloch verschwinden. Die Frau brauchte Hilfe. Sie musste Verstärkung holen. Keine Sekunde länger wollte sie bei diesen schrecklichen Kreaturen bleiben.

Robin saß immer noch auf den Schoß des Vampirs und kicherte über das, was er gerade gesagt hatte. Sie schien Sams Aufregung nicht wahrzunehmen. Ebenso, wie die übrigen Personen, die so mit sich selbst beschäftigt waren, dass sie Sams Anwesenheit völlig vergessen hatten.

„Komm mit, Robin, wir verschwinden.“

Sam wollte Robin am Handgelenk packen und mit sich ziehen. Sie begegnete dem verwirrten Blick der Freundin.

„Ich komme nicht mit, Sam.“ Robin schien erstaunt, dass Sam ein Weggehen überhaupt in Erwägung zog.

In diesem Augenblick begriff Sam, dass sie keine Chance hatte, ihre Freundin lebend aus diesem Haus zu bekommen. Sie würde nicht freiwillig mit ihr gehen. Zu sehr hatten die Vampire ihre Gedanken bereits vergiftet. Mit Tränen in den Augen blickte sie Robin an.

„Bitte …“

Entschieden schüttelte die den Kopf. „Aber ich werde dich hinausbegleiten.“ Um Erlaubnis bittend, blickte sie den Vampir unter sich an, der ihr stumm zunickte. Gutgelaunt erhob sie sich und führte Sam hinaus.

„Sie wird bald zurückkommen“, hörte sie einen Vampir hinter sich zu den anderen sagen. „Sie kommen alle wieder.“

„Ich gebe der Kleinen eine Woche.“

„Eine Woche?“, meinte ein anderer erstaunt. „Vier Tage. Dann kommt sie bettelnd zurück mit dem Wunsch, in das große Geheimnis eingeweiht zu werden. Bereit, dafür jeden Preis zu zahlen.“ Zustimmendes Gemurmel, dann schlug die schwere Tür hinter ihnen zu und erstickte jeden weiteren Laut. Sam wollte über die Unterhaltung der Vampire lieber nicht nachdenken. Schweigend folgte sie ihrer Freundin, die sie durch die langen Gänge führte. Für die Gemälde an den Wänden hatte sie diesmal keinen Blick übrig. Starr studierte sie das Muster der dunklen Holzdielen zu ihren Füßen.

„Bitte, komm mit mir“, bat sie noch ein letztes Mal eindringlich.

„Aber ich will hier nicht weg.“

„Robin, das sind Vampire.“ Sie berührte ihre Freundin sanft am Ellenbogen. Diese entzog sich ihr sofort wieder und drehte sich zu ihr um.

„Ich weiß.“ Verlegen blickte sie zur Seite. „Aber es macht mir nichts aus, Sam. Es ist unglaublich. Ich hatte noch nie so guten Sex. Das ist besser als alles, was ich je ausprobiert habe.“

„Robin!“ Sam war entsetzt. „Was redest du da?“

„Du verstehst es erst, wenn du es selbst versucht hast. Ich werde hier nicht weggehen, Sam. Ich kann nicht. Ruwen braucht mich. Er sagt, er kann ohne mich nicht leben. Er will, dass ich bei ihm bleibe, und das ist auch alles, was ich will.“

„Verdammt! Robin, er beißt dich und trinkt dein Blut.“

Der Blick, der jetzt in Robins verschleierte Augen trat, ängstigte Sam noch mehr.

„Es ist wundervoll, wenn er von mir trinkt.“ Sie war wieder wie in Trance. Ihre Stimme hörte sich entrückt an, wie aus einer anderen Welt. „Wenn du es nur ausprobieren würdest …“

„Hör auf!“ Sams Stimme wurde schrill. „Ich will das nicht hören.“

Robin zuckte bei ihrem Ausbruch zusammen. Vehement schüttelte sie den Kopf. „Es ist ein Privileg, eine Amica zu sein. Nicht viele Menschen kommen in den Genuss.“

„Du bist nichts weiter als eine Hure“, beschimpfte Sam ihre Freundin.

„Ich bin eine Amica, keine Hure. Ich bin da, um ihm Freude zu machen. Das ist eine große Ehre.“

Sam stöhnte. Ihre Freundin war wie von Sinnen. Sie konnte es einfach nicht glauben. Robin war schon immer etwas naiv gewesen, aber das hier war bodenloser Irrsinn.

„Sam, du bist meine Freundin, meine beste Freundin. Ich würde mir so sehr wünschen, dass du hier bleibst. Wenn du das nicht willst, dann geh – aber ohne mich.“

Mitleidig blickte Sam ihre Freundin an. Eine einzelne Träne stahl sich aus ihren Augen. Sie wischte sie nicht weg.

Zaghaft legte Robin beide Hände auf die Schultern der Freundin und blickte sie an. 

„Mach dir keine Sorgen um mich. Ich bin hier sehr glücklich. Ich habe alles, was ich brauche und noch mehr. Ich kann hier nicht weg. Ich könnte nicht einfach weiterleben. Was ich hier erlebt habe …“

Ihre Augen leuchteten auf und verdunkelten sich wieder.

„Ich liebe dich.“ Robin küsste ihre Freundin auf die Stirn. „Komm!“ Sie nahm Sams Hand und zog sie weiter Richtung Ausgang.

Das war es also gewesen. Sie konnte Robin nicht retten. Sie hatte den Kampf verloren. Es gelang ihr nicht einmal, den bitteren, widerlichen Geschmack in ihrem Mund hinunterzuschlucken.

Sie erreichten schließlich die Eingangshalle. Sam vermied es, das große Gemälde noch einmal anzublicken. Stattdessen schwor sie sich innerlich, mit Unterstützung zurückzukommen, um Robin vor sich selbst zu retten.

„Du kannst mich jederzeit besuchen“, schlug Robin gut gelaunt vor.

„Was ist mit deiner Wohnung?“

Robin winkte ab. „Ruwen hat sich bereits um alles gekümmert.“

In diesem Moment flog mit einem ohrenbetäubenden Knall die große Eingangstür auf. Schneller als Sam es sehen und begreifen konnte, stürmte jemand herein.

„Was hast du hier zu suchen?“, wurde sie angebrüllt. „Ich dachte, ich hätte mich geirrt … dich zu riechen … hier …“

Sam war zu verdutzt, um überhaupt zu reagieren. Mit offenem Mund stand sie da und starrte den unerwarteten Besucher verständnislos an.

„Darius!“ Es war Robin, die sprach.

Kapitel 6


„Was hast du hier zu suchen, Sam? Das ist kein Ort für dich.“ Langsam wurde seine Stimme ruhiger, aber seine Laune schien sich noch zu verdüstern. In seinen Augen glomm etwas Wildes, gar Animalisches.

„Ich wollte gerade gehen.“

Ihre Gedanken überschlugen sich. Warum war er hier? Warum war er so wütend? Außerdem: Was interessierte es ihn, was sie hier tat?

„Was sucht sie hier?“, fragte er lauernd an Robin gewandt, während seine zusammengekniffenen Augen sie zu durchbohren schienen. Drohend trat er langsam einen Schritt auf sie zu.

„Sie hat mich besucht“, antwortete Robin ihm schnippisch und drehte sich bereits zum Gehen um.

Darius war schneller als sie und schnitt ihr den Weg ab. Grob packte er Robin am Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. Sam sah die vor Schreck weit geöffneten Augen ihrer Freundin.

„Du bist nur ein Spielzeug meines Vaters. Ich hoffe, du weißt, wo dein Platz ist, Amica.“

Robin zappelte und zitterte am ganzen Körper. Die Augen des Vampirs verengten sich noch mehr und begannen, unheimlich zu leuchten. Innerhalb von kürzester Zeit waren seine Fänge weit ausgefahren und ein bedrohliches Knurren kam aus seiner Kehle.

„Wie kommst du dazu, Sam herzulocken?“, knurrte Darius. „Weißt du, welcher Gefahr du sie damit aussetzt?“

Sams Mund war vollkommen ausgetrocknet. Zum ersten Mal erkannte sie das Raubtier, das in dem Vampir schlummerte, und es jagte ihr eine unbeschreibliche Angst ein. Dennoch wich sie nicht zurück – im Gegenteil: Sie fand ihn noch schöner und faszinierender als je zuvor. Dann wurde ihr bewusst, wen er bedrohte, und ihre Bewunderung schlug in Wut um. 

„Lass sie los!“ Sam stemmte die Hände in die Hüften. Ihr Kopf riet ihr zur Flucht, doch ihre Beine gehorchten nicht. Eine unsichtbare Kraft schien sie gefangenzuhalten, sie daran zu hindern davonzulaufen. Sam und Darius sahen sich an. Trotz der lähmenden Angst, die noch immer in ihr tobte, wagte sie es nicht, den Blickkontakt zu unterbrechen. Schließlich entließ der Vampir Robin aus seinem Klammergriff. Sie fiel zu Boden und krabbelte schutzsuchend in eine Nische, wo sie zitternd auf dem kalten Stein kauerte.

Das Glühen in Darius‘ Augen erlosch, und die Fänge verschwanden, während er auf Sam zukam. Noch immer unfähig, sich zu bewegen und nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen, stand sie einfach da und wartete ab.

„Ich werde dich hinausbegleiten“, sagte er bestimmt. 

Endlich fand sie ihre Stimme wieder. „Nein, warte …

Er ignorierte ihren Protest, hakte sich bei ihr ein und führte sie hinaus.

In diesem Moment war er menschlicher und realer als jemals zuvor. Vor dem Haus hielt er an, brach den Körperkontakt zu ihr jedoch nicht ab. Sanft berührte er ihr Gesicht, blickte in ihre noch immer zornig funkelnden Augen, während die Sonne ihre letzten warmen Strahlen auf sie warf. Ihr Blick blieb einen Moment auf Darius' Hand ruhen. Kein Brutzeln, kein Zischen. Musste er sich nicht augenblicklich in Staub auflösen?

„Geht es dir gut?“, wollte er wissen, suchte die Antwort in ihrem Gesicht.

Die Situation war so surreal, dass sie einen Moment brauchte, um sich zu besinnen.

„Mir geht es gut, danke. Aber du musst Robin holen“, brachte Sam schließlich heraus und zerrte aufgeregt an Darius‘ Arm.

„Ich denke, es wird dir gut tun, wenn wir ein paar Schritte gehen.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, ging er los.

„Das geht nicht. Wenn du Robin nicht hilfst, muss ich Hilfe holen.“ Der innere Kampf zwischen dem Wunsch, Darius nie wieder von der Seite zu weichen, und dem Bedürfnis, ihrer Freundin zu helfen, zerriss sie förmlich.

„Du kannst nicht zurück. Ein weiteres Mal wirst du dieses Haus nicht lebend verlassen. Glaub mir.“

Verzweiflung tobte in Sam. Sie konnte das nicht so einfach hinnehmen. „Dann muss ich Hilfe holen“, wiederholte sie.

„Ach ja und wen? Rufst du deine Kollegen an und bittest sie herzukommen? Erzählst du ihnen, dass das Haus voller Vampire ist?“

Sam wusste selbst, wie lächerlich dieses Unterfangen war. Ihre Hoffnungslosigkeit wuchs.

„Jetzt werden wir einen kleinen Spaziergang machen!“ Seine Worte waren ein Befehl, der keinen Widerspruch duldete. Für gewöhnlich hätte sie solche Worte mit einer zynischen Bemerkung abgeschmettert. Doch sie musste Darius überzeugen, ihr zu helfen, Robin aus den Fängen der Vampire zu holen. Sie wusste nur noch nicht, wie sie ihn dazu bringen konnte. So ging sie in gemächlichem Tempo neben ihm her. Vergeblich wartete sie darauf, dass Darius das Wort ergriff. Mit einer lässigen Bewegung griff er in seine Jackeninnentasche und holte eine Sonnenbrille heraus, die er sich aufsetzte.

Sam war noch immer sauer. Sie biss sich auf die Lippen, um ihn nicht augenblicklich anzuschreien. Ihre Freundin Robin war in Gefahr, und Darius hatte nichts Besseres zu tun, als sie anzuschweigen.

„Ich muss Robin helfen“, sagte Sam, als sie die Stille nicht länger ertragen konnte.

Darius hielt an, wandte sich ihr zu.

„Vergiss sie!“, meinte er schließlich und setzte seinen Weg fort, ließ sie einfach stehen.

Sam beschleunigte ihre Schritte, um ihn einzuholen. Dann legte sie ihre Hand auf seinen Arm, zwang ihn so abermals anzuhalten und ihr zuzuhören.

„Sie ist meine Freundin. Ich kann sie nicht einfach zurücklassen. Das könnte ich mir nie verzeihen.“

„Ich kann sie nicht dazu überreden, das Haus zu verlassen. Das kann niemand.“ Er ging weiter.

„Aber jemand muss ihr helfen. Wer weiß, was diese …“ Sie brach ab, als ihr bewusst wurde, dass auch Darius zu diesen Wesen gehörte, die sie beinahe als Monster betitelt hätte.

„Sie ist freiwillig dort.“

Sam ballte die Hände zu Fäusten. Am liebsten hätte sie Darius angeschrien. Das wusste sie doch selbst. Nur allzu deutlich hatte Robin ihr klargemacht, dass sie gerne dort war. Genau das war auch der Grund, warum sie unbedingt Hilfe brauchte. Sie benahm sich wie eine Süchtige. Selbst wenn sie Robin mit aufs Department nehmen würden, würde sie doch anschließend wieder hierher zurückkehren, ebenso wie die anderen Frauen. Sie grübelte, spielte im Kopf diverse Szenarien durch und verwarf sie alle wieder. Sam war so beschäftigt, dass sie überhaupt nicht merkte, dass sie längst zurückgekehrt waren. Jetzt standen sie wieder vor dem majestätischen, viktorianischen Haus. 

„Ich kann dir nicht helfen. Es tut mir leid.“

Sam schnaubte, aber sie sah ein, dass Darius seinen Leuten nicht in den Rücken fallen konnte. Sie wusste bereits, an wen sie sich wenden würde.

„Ich werde dich nun nach Hause fahren, damit ich sicher sein kann, dass du keinen Unsinn anstellst.“

Sam ahnte, dass es sinnlos war, sich dagegen aufzulehnen. Sie musste mit ihren Kräften haushalten, denn diese würde sie brauchen, wenn sie Robin befreien wollte.

Darius steuerte auf eine silbergraue Corvette ZR 1 zu und entriegelte das extravagante Auto. Sam ließ sich brav auf dem Beifahrersitz nieder.

Keinen Wimpernschlag später saß Darius auch schon neben ihr und startete den Motor. Sie hatte gerade noch genug Zeit, sich anzuschnallen, als sie in das weiche Lederpolster gedrückt wurde und das Auto losbrauste.

Viel zu schnell zog die Bostoner Innenstadt an ihr vorbei. Verkrampft hielt sie sich mit einer Hand an der Tür fest, während ihre andere Hand sich neben ihrem Bein in den Sitz krallte. Bei dieser Geschwindigkeit war es wirklich ein Wunder, dass sie noch keinen Unfall gebaut hatten. Als Darius wieder viel zu rasant die Fahrspur wechselte, schrie Sam auf. Sie war vieles gewohnt, aber das wurde ihr zu viel.

„Kannst du nicht etwas langsamer fahren!?“

Sein wohlklingendes Lachen hallte in ihren Ohren wieder.

„Selbst wenn wir einen Unfall hätten, ich hätte dich drei Mal aus dem Auto geholt, ehe du den Aufprall spürst.“

Sam presste die Lippen fest aufeinander. Sie fühlte sich wie ein kleines, bevormundetes Kind. Das war albern, aber dennoch atmete sie erleichtert auf, als er langsamer fuhr.

Sie saßen noch einige Zeit schweigend nebeneinander, ehe Sam begann, weitere Fragen zu stellen.

„Wohnst du auch dort?“, wollte sie wissen.

„Nein. Und es wäre mir lieber, wenn du nicht weiterfragen würdest. Aber da du es nicht sein lassen kannst, werde ich versuchen, dir ein paar Antworten zu geben.“

Ihr lag schon eine passende, aufmüpfige Erwiderung auf der Zunge. Gerade noch rechtzeitig besann sie sich. Darius war bereit, ihr ein paar Zusammenhänge zu erklären. Das wollte sie sich nicht vermasseln.

„Nichts ist schlimmer als die Neugier, denn genau diese wird dich in dieses Haus zurücktreiben.“ Er schloss kurz die Augen, um sich zu sammeln, ehe er fortfuhr. „Je weniger du weißt, umso besser für dich. Aber was ich dir jetzt erzähle, wird dich davon abhalten, zu meinem Vater zurückzukehren.“

„Deinem Vater?“

„Meinem Vater“, bekräftigte er, und seine Miene verfinsterte sich, „und seine Handlanger oder seine Leibwache, wie du möchtest.“

„Wofür braucht ein Vampir Bewacher?“ Sie konnte sich das nicht vorstellen, nicht, nachdem sie Darius als Vampir erlebt hatte. Ganz deutlich hatte sie die unbändige Macht wahrgenommen, die er zurückgehalten hatte.

„Wir Vampire leben in Clans zusammen.“

Der abendliche Berufsverkehr wurde immer dichter. Gerade erreichten sie eine Brücke und fuhren in Schrittgeschwindigkeit weiter. Das schien Darius nicht aus der Ruhe zu bringen.

„Hier in Boston gibt es einen Clan, und mein Vater ist unser Oberhaupt, der Dominus. Sein Wort ist Gesetz. Jeder von uns hat seinen Platz in dieser Gesellschaft. Manche sind dazu da, Befehle zu geben, andere führen diese aus.“

Sie fuhren zügiger, nach Sams Geschmack schon wieder zu schnell.

„Und wo stehst du in dieser Hierarchie?“, fragte sie neugierig.

„Hinter meinem Vater.“

Was bedeutete das? War er nur ein Handlanger, oder besaß auch er einen gewissen Einfluss innerhalb dieses Clans?

„Es gibt andere Clans in der Nähe, die zu einer Gefahr für meinen Vater werden könnten. Deswegen hat er eine Leibgarde.“

Bevor sie weiter fragen konnte, hielt Darius an, denn sie waren schon vor dem mehrstöckigen Haus angekommen, in dem Sams Apartment lag. Die Adresse zählte zu den besseren Gegenden. Das Gebäude war vor ein paar Jahren renoviert worden. Etwas Grün zierte den Vorgarten, und die wenigen, teilweise mannshohen Ahornbäume spendeten im Sommer etwas Schatten. Schwungvoll parkte Darius ein und schaltete den Motor aus. So langsam entspannten sich Sams verkrampfte Hände wieder. Sie war heil angekommen. Erleichtert seufzte sie und schnallte sich ab.

Bevor sie die Tür öffnen konnte, war ihr Begleiter bereits ausgestiegen und hielt sie ihr auf. Er reichte ihr wie ein Gentleman aus früheren Zeiten die Hand, sodass sie bequemer aus dem tiefliegenden Sitz aussteigen konnte. Als dies ein alltäglicher Brauch gewesen war, hatte Darius bestimmt schon gelebt, schoss es ihr durch den Kopf.

„Wie alt bist du?“, fragte sie, als sie ihm ihre Hand reichte.

Er runzelte die Stirn, ehe er ihr mit Bedacht antwortete: „Körperlich bin ich sechsundzwanzig, laut meinem Ausweis bin ich derzeit neunundzwanzig, und wenn du wissen willst, wann ich geboren bin, dann muss ich dich leider enttäuschen.“

Um seine Mundwinkel zuckte es verräterisch, und Sam bildete sich ein, ein Lächeln auf seinen Lippen gesehen zu haben.

Er wirkte wieder so menschlich, ihr näher als je zuvor. Wie sie ihn jetzt erlebte, war er ein Mann, von dem sie sich vorstellen konnte, ihr Leben mit ihm zu verbringen. Was waren das für törichte Gedanken? Sie kannte ihn kaum. Außerdem war er ein Vampir. Davon abgesehen, dass ihr Job ihr wenig Zeit für eine feste Beziehung ließ, wollte sie das überhaupt nicht. Es führte nur dazu, verletzt zu werden, so wie damals mit Leyton. Das wollte sie nicht noch einmal durchmachen. Außerdem passte ein Mann wirklich nicht in ihre Lebensplanung. Dazu hatte es sie zu viel Mühe und Anstrengung gekostet, unabhängig zu werden, als das alles für eine Beziehung wieder aufzugeben. Sie brauchte niemanden an ihrer Seite, sie kam ganz gut allein zurecht.

„Was bist du?“, fragte Sam.

Lässig lehnte Darius sich gegen sein Auto und verschränkte die Arme.

„Ich weiß nicht, ob du das so genau wissen willst“, meinte er schließlich.

„Versuch es mir zu erklären.“ Auch sie verschränkte die Arme vor ihrer Brust und blickte ihn herausfordernd an. Jetzt in diesem Augenblick hatte sie die Chance, die andere Seite zu befragen, für sich zu überprüfen, ob Leyton die Wahrheit gesprochen hatte. „Ich vertrage viel, sonst wäre ich beim Morddezernat falsch. Bitte!“, schob sie noch hinterher.

Sein Blick schweifte hinüber zu einem ockergelben Haus, aus dem zwei Kinder stürmten, auf ihre Fahrräder sprangen und davon fuhren.

„Was möchtest du wissen?“

„Die Wahrheit.“

Darius sah sie unmittelbar an, und sie hatte abermals das Gefühl, er blicke direkt in ihre Seele.

„Ich bin ein Kruento, ein Vampir. Ich gehe in der Sonne spazieren, besuche hin und wieder die Kirche und mag keinen Knoblauch, aber umbringen kann er mich auch nicht. Holzpflöcke sind schmerzhaft, aber in der Regel nicht tödlich. Wir sind eine Spezies, die gelernt hat, neben den Menschen zu existieren. Ich bin kein Untoter oder Verfluchter vor Gott. Ob es Gott gibt, weiß ich ebenso wenig wie die meisten Menschen. Aber wenn es tatsächlich einen Schöpfer gibt, dann hat er nicht nur die Menschen, sondern auch uns, die Kruento, erschaffen. Wir atmen und leben wie du, wir werden nur um einiges älter. Und ja, wir ernähren uns von Blut – Menschenblut. Wir brauchen es zum Überleben, so wie du ohne Nahrung nicht leben kannst.“

„Es stimmt also doch. Du tötest Menschen.“ Sie hatte es gewusst, und doch wünschte sie sich verzweifelt, er würde sie auslachen, ihr wenigstens widersprechen. Er verteidigte sich nicht. Etwas Schweres, eine nicht greifbare Spannung lag in der Luft.

„Manchmal.“ Er wich ihrem Blick bewusst aus.

Sam schluckte. Sie hätte nicht fragen sollen und ärgerte sich über ihre eigene Dummheit.

„Wir müssen nicht töten, um zu überleben. Wir nehmen uns meist nur wenig Blut und lassen die Opfer vergessen.“

„Hast du das auch mit mir vorgehabt?“ Bilder aus der Nacht im Night Sharks tauchten vor ihren Augen auf. Ein anderer, noch schrecklicherer Gedanke drängte sich in ihr Bewusstsein. „Hast du von mir getrunken?“

Ihr Herz schien eine Sekunde stillzustehen, nur um anschließend noch schneller zu schlagen.

Er schüttelte nach kurzem Zögern den Kopf. Im ersten Augenblick war Sam erleichtert, dann kehrte das beklemmende Gefühl zurück – noch stärker als zuvor.

„Aber du hattest es vor“, stellte sie fest.

Darius antwortete nicht. Wieder hatte die Stimmung umgeschlagen. Eine bedrückende Stille legte sich über sie. Sam steckte beide Hände in die Jacke und befühlte ihren Schlüsselbund.

„Kein Wort mehr! Ich will mit dir darüber nicht reden.“

„Und worüber möchtest du dann reden?“ Ihre Stimme klang noch immer atemlos.

„Über deine Freundin.“

Ungläubig blickte Sam ihn an, neugierig, was er zu sagen hatte. Hartnäckig weigerte er sich, ihr zu helfen, und nun wollte er über sie reden? Hatte er seine Meinung geändert?

„Du hättest sie so nicht sehen sollen. Du hättest überhaupt nicht da sein sollen“, begann er.

„Robin ist meine Freundin, und sie hat mich angerufen. Wenn du nicht gekommen wärst, wäre sie mit mir gegangen“, log sie ihm wütend ins Gesicht. Noch während sie es aussprach, war ihr bewusst, dass Darius ihr nicht glaubte.

„Sie ist eine Amica. Ein Schatten ihrer selbst, abhängig und getrieben auf der Suche nach immer mehr. Sie wird sich einem nach dem anderen an den Hals werfen, wie eine billige Hure, bis ihr eines Tages zu viel Blut genommen wird. Erst dann wird sie Frieden finden.“

„Das kann nicht sein“, erklärte Sam mit erstickter Stimme.

„Doch. Und keiner wird sie umstimmen können. Weder du noch ich noch sonst irgendjemand. Sie ist süchtig.“

Mit Robins Suchtproblemen hatte sie schon einmal zu tun gehabt, und sie würde es auch ein zweites Mal schaffen, dass ihre Freundin davon loskam.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739444000
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (März)
Schlagworte
Gefährte Urban-Fantasy Clan Fantasy Romance Seelenverbindung Singh Liebe Vampire Urban Fantasy

Autor

  • Melissa David (Autor:in)

Ich schreibe Bücher, die dein Herz berühren und dich in fantastische Welten abtauchen lassen.
Melissa David wurde 1984 in einem historischen Städtchen in Bayern geboren. Lange bevor sie schrieb, hatte sie den Kopf schon voller Geschichten. Seit 2015 ist sie als Selfpublisherin unterwegs.
Der enge Kontakt zu ihren Lesern ist ihr eine Herzensangelegenheit, die sie über Facebook, ihren Blog und den zweiwöchentlichen Newsletter pflegt.
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Titel: Kruento - Der Anführer