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Die geplante Ermordung des Walther Green und dessen seltsame Bemühungen, diese zu verhindern - Eine Groteske mit viel zu langem Titel

von Torben Stamm (Autor:in)
323 Seiten
Reihe: Walther Greens Notizen, Band 1

Zusammenfassung

"Tragisch und wunderbar komisch zugleich!" (tolino media-Blog) Dr. Walther Green führt ein ruhiges, aber langweiliges Leben in der irischen Stadt Galway. Dabei ordnet er sich ganz seiner Frau Evelyn unter, einer erfolgreichen Anwältin, die genaue Vorstellungen davon hat, wie die Dinge (und Walther) zu laufen haben. Walthers Routine wird in dem Moment zerstört, als er herausfindet, dass seine Frau ihn umbringen will – genau dann, wenn das Haus abbezahlt ist. Überfordert mit dem Leben wendet er sich an seine Freunde und muss erkennen, dass nicht nur seine Frau eine düstere Seite hat.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum

Copyright © by Torben Stamm

Im Sundern 47

48431 Rheine

torben.stamm@posteo.de

Covergestaltung: Tim Rybus

Alle Rechte vorbehalten.

Prolog

Ich gebe zu, ich kann Computer nicht leiden.

Es sind kalte, widerliche und abstoßende Kisten, die zwar inzwischen sprechen und definitiv mehr denken können als so mancher Mitmensch, aber trotzdem…

Unterm Strich ist ein Laptop ein Haufen Mathematik und wer mag schon Mathe?

Die Tatsache, dass meine Frau ihre Pläne mit Hilfe einer solchen Maschine plante, könnte eine metaphorische Ebene enthalten, deren Bedeutung ich nicht durchdringe. Dafür bin ich nicht schlau genug.

Ich bin nur clever.

Deswegen bin ich Dozent an der Uni und sage anderen, wie es geht, ohne es selbst umsetzen zu müssen. Das hat gewisse Vorzüge, aber ehrlich gesagt habe ich in all den Jahren am „Lehrstuhl für Agrarwissenschaften“ absolut nichts herausgefunden, was auch nur ansatzweise interessant gewesen wäre. Nicht einmal meine Kollegen finden meine Arbeit interessant und Sie sollten denen mal zuhören, wenn es um den Einfluss der Regenwurm-Population auf die Kartoffelernte geht…

Aber ich schweife ab… Das passiert mir öfters. Sie werden damit leben müssen oder Sie hören auf zu lesen. Vielleicht haben Sie ja Glück und nur eine Leseprobe gekauft.

Ihre Entscheidung.

Wo war ich stehengeblieben? – Computer!

Ich konnte Computer noch nie leiden und ich muss sagen, inzwischen habe ich einen handfesten Hass auf die Dinger entwickelt. Mit handfest meine ich nicht, dass ich auf den nächstbesten Laptop einschlagen muss, der mir unter die Augen kommt. Aber ich würde gerne jedes dieser verdammten Plastikdinger mit Metalladern gegen eine Betonwand werfen, zusehen, wie das Gehäuse wegplatzt und…

Ich mag sie halt nicht.

Eigentlich bin ich ein echt friedlicher Mensch.

Das mag nach den letzten 276 Worten nicht zwangsläufig so erscheinen, aber glauben Sie mir bitte: Ich - bin - total - friedlich. Und wenn Sie meine Abschweifungen in Kauf und sich die Zeit nehmen, mir zuzuhören, werden Sie verstehen, dass ich allen Grund habe, mich aufzuregen.

Aber bevor ich anfange, muss ich mir eben das Blut von den Händen waschen.

1

Alles beginnt damit, dass ich meine Arbeit an der Uni früher beende, um dem Wunsch meiner Frau Rechnung zu tragen, mich mehr in unsere Beziehung einzubringen.

Evelyn hat sich zuletzt immer beschwert, ich würde zu viel Zeit mit meinen Kartoffeln verbringen und zu wenig mit ihr. Ich habe sie darauf hingewiesen, dass das so nicht stimmen würde, weil ich mich gar nicht mit Kartoffeln beschäftige, aber das Argument hat nicht zu einer Deeskalation der Situation beigetragen, im Gegenteil. Ich habe das mit meinem Freund Rob besprochen, einem Fachverkäufer für Instrumentenbedarf: „Ich finde, Eve sieht wirklich aus wie so ne olle Knolle“, hatte er gebrummt. Er kann Evelyn nicht leiden, weswegen er sie immer Eve nennt, was sie wiederum nicht leiden kann. Für mich ist das ätzend, wie Sie sich vorstellen können, denn ich mag / liebe beide. Wenn auch auf anderen Ebenen. Sie fragen sich, wen mehr? Ich würde mich da ungern festlegen.

Rob ist mein ältester Freund. Wir kennen uns seit der Schulzeit, wobei diese eher ein dunkles Kapitel unserer Beziehung darstellt, weil er zu den coolen Jungs gehörte und ich nicht. Wenn man ganz genau ist, hat er die coolen Jungs angeführt, für die ich nur ein Opfer war, das sie mobben konnte.

Und zwar so richtig.

Das Ganze hörte erst auf, als Rob mich nachts betrunken mit dem Auto anfuhr und ich ihn nicht anzeigte. Er war dermaßen erstaunt darüber, dass ich nicht zur Polizei ging, dass er anfing, mich in einem neuen Licht zu sehen.

Entschuldigt hat er sich für die ganzen Gemeinheiten, die er mir angetan hat, allerdings nie. Er meinte, wenn man wie ein Opfer rumlaufen würde, dürfe man sich auch nicht wundern, wenn man eins auf die Fresse kriegt. Ich glaube nicht, dass er damit Recht hat, aber ich steige an dieser Stelle des Gesprächs lieber aus. Ich will auch gar nicht wissen, was es über mich aussagt, dass mein bester Freund in Männertagen der schlimmste Peiniger meiner Jugendzeit war.

Falls das hier ein Psychologe liest, können Sie gerne eine Diagnose stellen und sie mir mitteilen. Ich werde Sie dafür nicht bezahlen, aber zur Kenntnis würde ich sie nehmen.

Na ja.

Ich mache an diesem Schicksalstag früher Feierabend, um mich aktiv mit den Bedürfnissen meiner Frau auseinanderzusetzen, was nicht jeder Mann von sich behaupten kann, ohne direkt an Sex zu denken, wobei Sex auch mal wieder nicht schlecht wäre. Sexentzug ist Evelyns bevorzugte Strafe. Ich sitze sozusagen seit sechs Monaten im Knast oder wie Rob es gerne ausdrückt: „Deine Eier müssen doch mal platzen, Mann.“ Auch wenn ich Computer nicht mag, möchte ich an dieser Stelle kurz erwähnen, dass das Internet eine super Erfindung ist.

Aber ich schweife ab.

Ich mache also früher Feierabend, was ungefähr 14 Uhr bedeutet, und fahre nach Hause.

Ich habe noch nicht erwähnt, dass wir in Irland leben, was vielleicht auch der Grund ist, dass das Thema Kartoffeln unser Gemüt derart erhitzt. Ich glaube, nur Deutsche können diese emotionale Verbundenheit zum Knollengewächs nachvollziehen…

Meine Universität befindet sich wie auch unser Haus in der pulsierenden Studentenmetropole Galway und ich möchte an dieser Stelle nicht sarkastisch klingen. Nebenbei bemerkt (und das nicht um abzuschweifen, sondern um Irritationen zu vermeiden): Ich bin ein relativ sarkastischer Mensch, was manchmal dazu führt, dass die Leute nicht merken, wenn ich wirklich etwas nett meine. Das ist sehr ärgerlich und hat dazu geführt, dass mein Freundeskreis sehr eingeschränkt ist…

Also…

Galway…

Tolle Stadt…

Pulsierendes Leben…

Haus…

Teuer…

Tatsächlich würde ich lieber außerhalb dieser wunderbaren Stadt mit all dem pulsierenden Leben leben, weil das pulsierende Leben teuer ist und ich, wie bereits am Rande erwähnt, nicht im klassischen Sinne erfolgreich oder innovativ bin.

Evelyn arbeitet als Rechtsanwältin und ich glaube, sie ist ganz gut. In ihrer Gegenwart würde ich natürlich sagen, dass ich weiß, dass sie absolut fantastisch ist, aber wir sind unter uns und Sie können mir den Sex nicht vorenthalten, wie meine Frau es dauernd tut.

Nein, Evelyn ist bestimmt super und sie verdient gut und der Tag, an dem wir schuldenfrei sein werden, ist in greifbarer Nähe. Was sich noch als Problem herausstellen sollte, aber das entzieht sich meiner Kenntnisse, als ich an unserem Haus vorbeifahre und nach einem Parkplatz Ausschau halte, weil Evelyn den Platz in der Garage für sich beansprucht.

„Du bist ein blöder Pisser“, beschimpft Rob mich bei dem Thema immer. „Warum musst eigentlich immer du deine Karre am Arsch der Welt parken? Und warum hat die so eine geile Karre und du diesen Schrotthaufen?“

Ich rege mich da weniger auf.

Klar, am Anfang war es etwas gewöhnungsbedürftig, den Wagen jeden Abend ungefähr zehn Minuten vom Haus entfernt abstellen zu müssen, aber inzwischen genieße ich die Spaziergänge. Und was die Qualität des Wagens anbelangt: Wenn Evelyn ihren kleinen Sportwagen in der Nebenstraße abstellen müsste, würde den früher oder später jemand stehlen oder zumindest zur Entleerung seines Magens nutzen - ist halt so in einer Studentenstadt mit pulsierendem Leben: Das geht meistens mit Randale und Erbrochenem einher. Mein in die Jahre gekommenes Gefährt, bei dem man zwischen der roten Farbe und dem Rost stellenweise nur schwer unterscheiden kann, lockt deutlich weniger kapitalkritische Studenten an. Es schreit eher „Verschrotte mich!“ als „Klau mich!“ – und ich bin ihm dafür dankbar.

Während meines Spazierganges vom Auto nach Hause mache ich oft in einer kleinen Bäckerei Halt und hier befindet sich eine weitere Person, die ich zu meinem Freundeskreis zählen würde: Dylan ist jemand, der meinem eigenen Gemüt ziemlich nahe kommt, weswegen wir nicht viele Worte brauchen, um tiefgründige Gespräche zu führen. Teilweise reicht „Scheiße!“ - „Scheiße!“, begleitet von ernstem Kopfnicken, schon aus, um mehr auszudrücken, als die ganze Cloud von Evelyns eBook-Reader. Allerdings liest sie nur Liebesgeschichten und die haben meiner Meinung nach ohnehin wenig handfesten Inhalt. Die sollten eher reglementiert werden, weil sie gespickt sind mit Schleichwerbung für Eis aus großen Kübeln, das man im Schlafanzug essen muss, während die weibliche Protagonistin weint.

Meine Beziehung zu Dylan ist nicht nur rein freundschaftlich. Vielmehr pflegen wir eine intensive Geschäftsbeziehung: Evelyn hat strenge Ansichten, was den Konsum von Koffein, Schokolade und Laktose betrifft. Deswegen sind all diese Dinge aus unserem Haus verbannt worden und ich bekomme zuhause morgens nur Tee – und zwar Früchtetee oder Roibuschtee…

Ich habe das Problem mit Dylan erörtert (er nickte mitfühlend) und handelte ein Kaffee- und Schokocroissant-Abo heraus. Wir profitieren beide von diesem Arrangement. Jeden Ersten des Monats bezahle ich die veranschlagte Summe (natürlich bar) und erhalte dafür morgens auf dem Weg zu meinem Wagen einen schwarzen Kaffee und ein Schokocroissant und für den Rückweg nach Hause einen Cappuccino.

Rob habe ich davon nichts erzählt. Ich kenne seine Reaktion, aber er als Junggeselle versteht die Welt der Beziehungen eben nicht, wo jeder Kompromisse macht und sich um den anderen kümmert. Evelyn macht sich ja nur Sorgen um meine Gesundheit, also bin ich ihr dankbar – und belüge sie irgendwie, aber das ist jetzt nicht wichtig.

Ich schweife ab!

Nachdem ich meinen Cappuccino to go im umweltfreundlichen Wegwerf-Plastikbecher abgeholt habe, gehe ich langsam nach Hause. Es regnet nicht, ich bin früh dran und so genieße ich die relative Ruhe der pulsierenden Studentenstadt.

Unser Haus ist ein kleines, freistehendes Gebäude in einer ruhigen Straße. Alle Nachbarn haben Kinder und wenn mir dies bewusst wird, versetzt es mir jedes Mal einen kleinen Stich, um ehrlich zu sein.

Nein… Wenn ich ehrlich bin, ist der Stich schon größer.

Es ist wie eine Panzerfaust, die mein Herz zerfetzt.

Das ist jetzt wirklich persönlich und wenn es Ihnen unangenehm ist, etwas über körperliche Intimität zu lesen, sollten Sie die nächsten Absätze überspringen…

Es ist nämlich so, dass ich leider impotent bin. Also nicht in der Art, dass ich meinen Mann nicht ins Gefecht schicken kann, es ist vielmehr so, dass er nur mit Platzpatronen schießt. Das macht zwar Eindruck, erzielt aber nicht die evolutionär-gewünschte Wirkung. Wir haben damals versucht, ein Kind zu bekommen, und nachdem es nicht geklappt hat, ist Evelyn zum Arzt gegangen und hat sich testen lassen. Bei ihr ist alles in Ordnung, also war klar, dass ich das Problem bin. Evelyn hat viel geweint. Wir haben sogar überlegt, ob wir nicht was mit künstlicher Befruchtung oder Adoption machen sollten, aber das will sie nicht.

Also haben wir beschlossen, den Raum im Haus, in dem einmal ein Kinderbett hätte stehen sollen, in einen Fitnessraum zu verwandeln, den keiner von uns benutzt.

Ich, weil ich Sport nicht mal halb so gut finde wie Croissants, und Evelyn, weil ihr immer das Kinderbett vor dem inneren Auge erscheint und ihre realen Augen sich dann mit Wasser füllen.

Ich war damals ziemlich fertig und habe etwas getan, was ich normalerweise nicht mache: Betrunken mit Rob über meine Gefühle reden.

Das war ein Fehler.

„Ist doch super!“, hat er gerufen und mir auf den Rücken gehauen. „Auch mit Platzpatronen kann man es ordentlich knallen lassen! Und wenn du ihr kein Kind machst, musst du weniger Kohle zahlen, wenn du die Alte mal loswirst.“

Ich habe ihm daraufhin ins Gesicht geschlagen, auch etwas, was sonst nicht meine Art ist. Sie erinnern sich vielleicht: Ich bin ein total friedlicher Typ.

Wahrscheinlich wollte ich ihn gar nicht verletzen und das war der Grund, warum ich das Gleichgewicht verloren habe und vom Hocker gekippt bin.

Er hat mich ausgelacht, noch ein Bier bestellt und mich liegengelassen, natürlich! Warum sollte man seinem besten Freund helfen?

Vielleicht eine alte Angewohnheit aus Mobber-Zeiten, ich weiß es nicht.

Ich schweife ab.

Bevor ich ins Haus gehe, stecke ich mir einen Kaugummi in den Mund, um den Kaffee-Geruch zu neutralisieren.

Als ich das Haus betrete, weiß ich sofort, dass ich alleine bin. Evelyn erträgt Ruhe nicht und deswegen ist in der Regel immer ein Radio, ein Fernseher oder sonst was eingeschaltet.

Ich ziehe den Mantel aus, hänge ihn ordentlich an der Garderobe auf und tausche die Straßen- gegen die Hausschuhe.

Dann öffne ich meine Arbeitstasche und hole den Umschlag mit der Überraschung heraus, die ich mir für meine Frau habe einfallen lassen und die, wenn alles gut läuft, dazu führt, dass sie ihr Sex-Embargo aufgibt und der eiserne Vorhang fällt.

Evelyn liebt das Theater und betont immer, wie gerne sie noch mal dorthin gehen würde. Ich persönliche finde, Theaterstücke sind vollkommen überbewertet und nicht mehr zeitgemäß. Jeder Low-Budget-Film hat mehr Möglichkeiten als ein Theater, warum sich also mit so was Zweitklassigem zufriedengeben?

Evelyn war in ihrer Argumentation gewohnt bissig, aber ich habe es trotzdem geschafft, mich so häufig vor den Besuchen dieser „Kulturstätten“ zu drücken, dass sie es irgendwann aufgegeben hat, weitere Versuche zu unternehmen.

In einer Ehe muss man halt Kompromisse machen!

Ich bin mir deswegen sicher, sie wird die Geste zu schätzen wissen, dass ich für den heutigen Abend Logenkarten für das Stück von einem Typen besorgt habe, der seit Ewigkeiten tot ist und dessen Sprache zur Aktualität des Formats passt.

Ich habe mir auch bereits überlegt, wie ich ihr die Karten überreichen könnte: Wenn Evelyn nach der Arbeit nach Hause kommt, kümmert sie sich in der Regel immer erst mal um unsere Post und die Rechnungen und so. Kontoverwaltung, Rechnungen, Versicherungen und all das macht bei uns nicht der Mann des Hauses, sondern die Dame! Rob bezeichnet das immer als „Kastration“, aber er wirft mir so oft den Verlust meiner Männlichkeit vor, dass das aus rein mathematisch-biologischen Gründen schon nicht mehr funktionieren kann, sondern eher so ein Steckenpferd von ihm ist.

Für ihre Haus-Verwaltung benutzt Evelyn immer den alten Laptop, der in ihrem Arbeitszimmer steht. Mein Plan ist es, die Theaterkarten auf die Tastatur zu legen und wenn sie dann den Bildschirm hochklappt – sieht sie sie!

Sie wird überrascht sein, sich freuen und mich umarmen.

Wir küssen uns.

Eins führt zum anderen.

Und vielleicht muss ich dann ja nicht mal ins Theater, weil wir Besseres zu tun haben – oder danach eingeschlafen sind.

Voller Vorfreude steige ich die Treppen zu ihrem Büro hoch, öffne die Tür und sehe sofort den Laptop, der wie immer zugeklappt ist. Als ich den Raum betrete, werden meine Schritt unwillkürlich etwas zaghafter: Evelyn hasst es, wenn ich ihr Reich betrete. Kurz zögere ich und überlege, ob sie sich noch freuen wird, wenn ich ihre Grenzen hier verletze, aber wo soll ich die Karten denn sonst hinlegen?

„Entschlossen“ gehe ich zum Schreibtisch, greife nach dem Laptop und klappe ihn auf.

Was ich dann sehe, versetzt mich doch in einem Maße in Erstaunen, das ich in Worten nur schlecht auszudrücken vermag: Der Bildschirm zeigt ein Foto von mir.

Unter anderem.

Flankiert wird er von einem kleinen Text: „Es trauert um den zu früh verstorbenen Walther Green seine liebende Ehefrau Evelyn Green.“

Ich schiebe meinen Kopf näher an den Bildschirm heran, aber ein Irrtum ist ausgeschlossen: Das, was ich da vor mir sehe, ist eine Todesanzeige, laut der ich in knapp neun Monaten das Zeitliche segnen werde.

Mir wird kalt.

Ich schließe die Anzeige und entdecke, dass der Ordner geöffnet ist, in dem sich offensichtlich dieses Machwerk befunden hat. Ich öffne eine Tabelle, die mit „Zeitplan“ betitelt ist.

Was ich dann sehe, sorgt fast für das Ableben, das mich wohl bald ereilen soll: Evelyn hat eine Tabelle angelegt, in der sie feinsäuberlich etwas plant, was mein Tod ist.

Ich lese Stichworte wie „Kontaktaufnahme zum ausführenden Partner“, „Letzte Tilgungsrate Haus“, „Erwerb eines Bohrers (zur Beseitigung dieses Computers)“…

Ich runzele die Stirn: Wenn ich das richtig verstehe, hat Evelyn genau berechnet, wann sie es sich leisten kann, mich um die Ecke zu bringen. Dabei berücksichtigt sie alle Faktoren:

Wie hoch ist meine Lebensversicherung?

Wie groß wäre der zu überbrückende Zeitraum, bis sie ausgezahlt wird?

Was kostet ein Auftragsmörder?

Offensichtlich hat sie 12.000 Euro für diesen Kostenpunkt veranschlagt, was mir angesichts der Tatsache, dass es um ein Menschenleben geht, doch wenig erscheint.

Mein Leben ist 12.000 Euro wert…

Plötzlich höre ich, wie die Haustür ins Schloss fällt.

„Scheiße“, fluche ich und klappe den Laptop schnell zu. Ich renne auf den Flur und sehe runter ins Treppenhaus: Evelyn ist gerade dabei, ihre Jacke aufzuhängen.

In dem Moment kommt mir ein Gedanke: Ich habe den Bildschirm einfach zugeklappt! Als ich ihn vorhin hochklappte, war da sofort die Traueranzeige. Wenn Evelyn ihn jetzt aber öffnet, würde sie den Zeitplan sehen!

Ich weiß nicht warum, aber ich will nicht mit ihr darüber sprechen! Ich will auch nicht, dass sie weiß, dass ich etwas weiß, denn solange sie sich an den Zeitplan hält, bleibt mir noch Zeit zu überlegen, was zu tun ist.

Ich eile ins Büro zurück, öffne den Laptop und schließe die Zeitleiste.

„Walther?“, höre ich ihre Stimme. Sie muss meine Jacke gesehen haben.

„Walther? Bist du schon zuhause?“

Ich kneife die Lippen fest zusammen.

Die Treppenstufen knarzen.

Hektisch öffne ich die Todesanzeige, dann schlage ich den Laptop zu.

„Walther? Was machst du in meinem Büro?“, höre ich ihre Stimme und ein drohender Ton schwingt schlecht kaschiert mit.

„Ich…“, stammele ich.

„Was hast du da in der Hand?“. Sie steht im Türrahmen und deutet auf meine linke. Ich folge ihrem Blick und stelle fest, dass ich noch immer die Theaterkarten umklammert halte. Sie sehen zwar etwas eingedrückt aus, aber ich bin froh, dass ich sie habe. Mechanisch reiße ich sie hoch: „Überraschung!“, rufe ich bemüht. „Ich habe Theaterkarten!“

„Und was haben die damit zu tun, dass du meine Privatsphäre verletzt und in mein Büro eindringst?“ Ich bemerke, wie sie einen kurzen Blick auf den Laptop wirft, den ich mit meinem Körper halb verdecke. „Hast du in meinen Sachen geschnüffelt?“
„Nein!“, rufe ich, vielleicht eine Spur zu laut, aber ich finde, dass ich angesichts der Rahmenbedingungen echt total cool reagiere. „Ich habe gerade überlegt, wo ich die Karten verstecken könnte, so als Überraschung, du weißt schon.“

„Aha.“

Überzeugt ist sie noch immer nicht. Sie denkt kurz nach, kommt dann aber doch zu dem Schluss, dass sie mir glauben muss.

„Dann kannst du sie mir doch jetzt geben, oder?“

Ich nicke, gehe auf sie zu und überreiche ihr die Karten.

Sie freut sich.

Sie freut sich, glaube ich, wirklich und zieht mich an sich.

Mir wird schlecht, als sie ihre Lippen auf meine presst. Sie kommen mir kalt und tot vor. Ich spüre, wie meine Beine weich werden, und das nicht auf die angenehme Art.

„Alles gut bei dir?“, fragt Evelyn besorgt und betrachtet mich eingehend. „Du siehst blass aus.“

„Es war ein harter Tag.“

„An der Uni?“
„Ja… Weißt du, es gibt neue Bestimmungen und jetzt muss ich meine ganze Arbeit umschmeißen.“ Ich kann förmlich sehen, wie die Freude aus ihrem Gesicht weicht und sich stattdessen genervte Langeweile breit macht: Sie hasst es, wenn ich über meinen Job rede, einen Job, der weder mit Prestige noch Geld verbunden ist.

Ich rede weiter: „Ich muss jetzt alle Forschungsausgaben neu berechnen und dann vor den Ausschuss. Da gibt es…“

Sie winkt ab und dreht sich um: „Das hört sich ätzend an. Lass uns nicht über die Arbeit sprechen. Wann geht es los?“

„Um Sieben.“

„Gut. Ich muss vorher noch zum Sport.“

„Und ich zu Rob.“

2

Robs Laden befindet sich in einem alten Haus, das nicht den Eindruck vermittelt, man solle hier Dinge lagern, die nicht nass oder feucht werden dürfen. Wie man auf die Idee kommt, hier Musikinstrumente unterzubringen, ist mir schleierhaft, allerdings habe ich auch noch nie einen Kunden in diesen Räumlichkeiten gesichtet. Ich denke, Rob macht viel über Onlinehandel und so. Er hat zwar keine Homepage, aber es gibt ja diverse Plattformen, wo man sein Zeug loswird, vor allem solches, das man vor dem Kauf besser nicht gesehen haben sollte. Ich habe ihn mal darauf angesprochen und er meinte nur, bei ihm gäbe es kein Rückgaberecht und ich solle das Maul halten.

Der Laden ist relativ klein, besteht aus einer Ladentheke, einem Schlagzeug, drei Gitarren und einem elektrischen Bass. Ich kann das so genau aufzählen, weil sich hier, glaube ich, noch nie etwas geändert hat, abgesehen von der stetig steigenden Wollmauspopulation.

Rob sitzt meistens hinter der Theke und liest. Er hasst Fernseher, weil er der Meinung ist, die würden ihn nur manipulieren wollen. Keine Ahnung wen er damit meint.

Als ich den Laden betrete, klingelt ein Glöckchen und Rob blickt mit einem Gesichtsausdruck von seinem Buch auf, der unterstreicht, warum er im Online-Handel besser aufgehoben ist als im realen Kundenverkehr.

Rob McHouly hatte früher einmal stahlharte Muskeln, heute beschreibt das Adjektiv „teigig“ seine primäre Körperbeschaffenheit eher. Er findet Fernseher zwar ätzend, Lieferdienste dafür umso besser.

Und so sieht er auch aus.

Lange, schwarze Haare.

Schwarzer Vollbart.

Flanellhemd.

Auf dem Kopf dicke Kopfhörer, aus denen Musik dröhnt – klassische Musik. Rob hasst normale Musik wie die Pest. Entweder sind ihm die Texte zu dämlich oder zu deprimierend oder zu fröhlich…

Was er hingegen wirklich liebt, sind Autos… Er redet oft über sie, allerdings blende ich das immer aus, sodass ich davon nichts mehr mitbekomme…

Als er mich erkennt, entspannt sich sein Gesicht und er wirkt nicht mehr aggressiv, sondern neutral, was so was wie freundlich bei ihm ist. Er nimmt den Kopfhörer ab und kurz bevor die Musik verstummt, vernehme ich irgendwelche Streicher, die einen undefinierbaren Lärm veranstalten – Kunst eben.

„Walther, was willst du?“, begrüßt er mich. Dann kneift er die Augen zusammen: „Du siehst Scheiße aus.“ Er verzieht das Gesicht: „Also noch mehr wie sonst!“ Schnaufend hievt er seinen Körper vom Barhocker: „Ich hole Bier.“

Ich will protestieren, aber er ist bereits durch den hygienischen Wandvorhang getaucht und im Nebenraum verschwunden - und mir fehlt ehrlich gesagt auch ein Grund, warum ich jetzt nichts trinken soll.

Ich meine: Meine Frau will mich töten. Oder vielmehr töten lassen.

Wenn das kein Grund ist, was denn bitte dann? Ich meine, Leute besaufen sich doch dauernd tagsüber, viele sogar ohne Grund! Gerade hier in dieser pulsierenden Metropole!

„Also, was ist los? Hat Eve dir das Klopapier gestrichen und du musst scheißen? Das würde erklären, warum du so verkniffen in die scheiß Welt guckst.“ Rob hält mir eine Flasche hin, auf der kein Etikett klebt – er braut sein Bier selbst und wenn man es nicht gewohnt ist, bekommt man quasi postwendend Durchfall. Ich habe meine Darmflora inzwischen soweit trainiert, dass ich erst morgen früh mit einem flockigen Stuhlgang zu rechnen habe.

Wir stoßen an und trinken.

Nachdem wir einen männlichen Moment gewartet haben, fragt er: „Alter, jetzt sag schon: Was ist los?“

Ich stelle die Flasche auf der Theke ab und überlege, wie ich am besten anfangen soll, aber mir fehlen die Worte.

„Warst du beim Arzt? Stirbst du?“

Nahe dran: „Sterben ist das richtige Stichwort“, sage ich langsam und blicke meinem besten Freund in die Augen. Was ich dort sehe, erstaunt mich: Es ist so was wie… Anteilnahme – verrückt!

„Wie meinst du das?“

„Ich… Ich habe gerade herausgefunden, dass Evelyn… Sie plant wohl, mich umzubringen…“

Rob starrt mich an.

Er starrt.

Und starrt.

Dann fragt er: „Echt?“

„Echt.“

„Wie kommst du darauf?“

„Sie hat einen detaillierten Zeitplan auf ihrem Computer. Und die fertige Todesanzeige.“

Robs Augen weiten sich: „Sie hat WAS?“

„Ja…“

Rob setzt die Flasche an und trinkt.

Dann ist die Flasche leer, er nimmt mir meine aus der Hand und setzt sie ebenfalls an.

Nachdem er sie auch geleert hat, rülpst er und fragt: „Und jetzt?“

„Keine Ahnung.“ Ich erzähle ihm kurz die ganze Geschichte.

„Dann weiß sie also nicht, dass du weißt, was sie vorhat?“, fasst Rob die Ausgangslage zusammen.

Ich nicke.

In Robs Augen glimmt auf einmal ein bedrohliches Funkeln auf: „Du solltest die Schlampe umbringen. Ich meine, wenn es stimmt, was du sagst, haben wir ein dreiviertel Jahr Zeit, um einen Plan zu machen und sie um die Ecke zu bringen!“

„Um die Ecke zu bringen? Was redest du da? Ich kann sie nicht umbringen! Sie ist meine Frau!“

Mit einer Geschwindigkeit, die ich ihm nicht zugetraut hätte, sprintet Rob um die Theke und steht so nahe vor mir, dass ich seinen strengen Atem riechen kann (Außerdem sollte er sich mal die Nasenhaare schneiden).

„Walther“, flüstert er. „Ich sage dir mal was: Die will dich töten. Wenn du sie nicht kaltmachst, bist du im Arsch! Irgendjemand wird sterben! Die Frage ist nur, wer!“

„Aber…“

„Nichts aber! Was willst du machen?“

„Ich gehe zur Polizei?“

Rob lacht: „Super Idee! Was willst du denen sagen?“

„Das, was ich dir auch gesagt habe.“

Rob schüttelt den Kopf. Er kann offensichtlich nicht glauben, wie naiv ich bin: „Ich kann nicht glauben, wie blöd du bist“, bewahrheitet sich meine Vermutung in anderen Worten. „Sie wird alles abstreiten. Oder sie sagt einfach, es wäre nur ein Scherz gewesen. Und dann hast du da so eine Gottesanbeterin zuhause, die nur darauf wartet, dass sie dir den Hals abschneiden kann, wenn sich alles beruhigt hat.“

„Nein, das ist nicht...“

„Stimmt, das ist nicht wahr. Sie ist keine Gottesanbeterin. Die haben wenigstens den Anstand, ihren Kerl noch mal ranzulassen, bevor sie ihn kalt machen.“

Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen, während ich am Tresen stehe/kauere.

„Ich weiß nicht, was ich machen soll“, flüstere ich immer wieder. „Was soll ich denn nur machen?“

3

Von Rob aus fahre ich direkt zum Theater, einem kleinen, altehrwürdigen Bau. Ich habe mit Evelyn kurz geschrieben und vereinbart, dass wir uns dort treffen: Sie mit dem Auto, ich aus Ihnen bekannten Gründen lieber zu Fuß. Was ich jetzt überhaupt nicht gebrauchen kann, ist, dass man mir meinen Führerschein abnimmt. Wer weiß, wann ich den Wagen brauche, um vor meiner nach Mord gierenden Frau Reißaus nehmen zu können…

Evelyn sieht – leider – verdammt gut aus: Ihre dunklen, langen Haare sind frisch frisiert, das Kleid liegt eng an und während ich mit ihr zu unseren Plätzen gehe, spüre ich die Blicke der anderen Männer im Rücken.

Normalerweise würde ich vor Stolz platzen, aber jetzt ruft eine laute Stimme in meinem Kopf: „Du willst sie haben? Nimm sie!“

„Gute Plätze“, stellt Evelyn zufrieden fest, während sie sich setzt. Ich nicke und schaue verstohlen auf meine Uhr: Noch zehn Minuten.

„Es tut mir leid, dass ich vorhin so schnippisch war“, sagt Evelyn und legt ihre Hand sanft auf meine. Sie lächelt.

Dieses Lächeln – früher wäre ich für dieses Lächeln im poetischen Sinne gestorben, heute muss ich es vielleicht wirklich.

Oder vielmehr in neun Monaten oder so.

„Ich hatte auf der Arbeit viel zu tun. George, du weißt… Er ist ein richtiges Arschloch…“

George ist ihr Chef und er will Evelyn dorthin kriegen, wo sie nachts schläft. Was man ihm lassen muss: Er hat sich dabei wirklich sehr viel Mühe gegeben, allerdings scheint er in letzter Zeit kapiert zu haben, dass er keinen Erfolg haben wird und versucht jetzt eine andere Masche…

„Ach, schon gut“, sage ich. „Ich kann das verstehen.“ Mein Blick wandert durch den Saal: Wir sitzen auf dem Oberrang, mittig. Die Karten waren teuer, aber das war mir die Sache wert, sollten sie doch der Türöffner in Sachen Sex-Embargo sein.

„Nein, das war nicht in Ordnung“, sagt Evelyn und zieht einen Schmollmund. Dann schiebt sie ihr Gesicht nahe an mein Ohr. Ich spüre ihren warmen Atem an meinem Hals und meine Nackenhaare durchlaufen die gleiche Statikveränderung wie andere Bereiche meines Körpers. Sie haucht mir einen Kuss in den Nacken.

Das Licht im Saal erlischt.

„Wenn wir wieder zuhause sind“, flüstert Evelyn leise lüsternd, „mache ich es wieder gut.“ Dabei legt sie ihre Hand auf die Innenseite meines Oberschenkels.

Auch wenn die folgende Information an dieser Stelle etwas brutal ist, komme ich leider nicht umhin Ihnen zu gestehen, dass ich mit einer bestimmten Körperfunktion gewisse Schwierigkeiten habe. Es überkommt mich meistens in unfassbar ungünstigen Augenblicken und ich erinnere mich an viele Gelegenheiten, wo mich das den einen oder anderen schönen Moment gekostet hat: Wenn ich so richtig nervös werde, bekomme ich Durchfall.

Und zwar schlagartig.

Die jetzige Situation – meine Frau, die mich töten lassen will und jetzt im dunklen Theater befummelt – in Verbindung mit Robs selbstgebrautem Bier, bildet eine Mischung, die so was wie einen atomaren Erstschlag auf meine Verdauung darstellt.

„Ich…“, japse ich und stehe vorsichtig auf. Im Dunkeln sehe ich Evelyns irritiertes Gesicht, aber dann erkennt sie, was das Problem ist.

Dafür sind wir lange genug verheiratet.

Sie lächelt. Anscheinend glaubt sie, ich wäre wegen der bevorstehenden Nacht so nervös, dass es meiner Verdauung einen Schlag versetzt.

„Hey, man sieht nichts!“, zischt hinter mir eine Frauenstimme und ich wette, es ist eine alte Frau! Es sind immer alte Frauen, die in solchen Situationen nerven.

Oder dicke Männer mit zu jungen Frauen, die fette Sportwagen fahren.

„Tschuldigung“, nuschle ich und schiebe mich von unseren mittigen Top-Plätzen vorbei an mäßig erfreuten Theaterbesuchern auf das grüne Licht mit dem weglaufenden Männchen zu, dem ich mich zum wiederholten Male in meinem Leben sehr verbunden fühle.

Ein Theatertyp an der Tür des Oberranges schaut mich böse an, aber ich schiebe ihn zur Seite. Ich habe gelernt, dass keiner meine Erklärungen in diesem Moment hören will – und dass ich nur Zeit verliere, die ich nicht habe.

Ich verlasse den Oberrang und eile zur nächsten Toilette, die zum Glück für alle Beteiligten nicht weit entfernt ist.

Schnaufend stürme ich in den gekachelten Raum und noch bevor ich die Kabinentür geschlossen habe, fällt schon meine Hose zu Boden.

Ich schließe die Augen.

Vergrabe mein Gesicht in den Händen.

Und meine Augen füllen sich mit Tränen.

Erst langsam, dann immer mehr. Schließlich laufen sie in wahren Sturzbächen meine Wangen hinab und heftigste Heulkrämpfe erschüttern meinen Körper, immer wieder flankiert von Krämpfen im Gedärm.

Ich wische mir die Augen ab und lehne mich auf der Toilette zurück, als würde ich auf einem Stuhl sitzen.

Was jetzt?, frage ich mich. Was soll ich tun?

Mir graut es davor, das Klo zu verlassen. Solange ich hier sitze, muss ich nicht mit Evelyn reden. Der nachvollziehbare, aber leider vollkommen unrealistische Wunsch befällt mich, für immer auf der Toilette zu bleiben: Ich könnte mir das Essen bringen lassen, Filme auf meinem Handy gucken…

Kurz flüchte ich mich in eine Traumwelt, deren Grenzen nur die gekachelten Wände sind, aber dieser Traum kann nicht für immer währen, das ist mir klar. Irgendwann werde ich dieses Refugium verlassen müssen, alleine schon, damit der Reinigungstrupp die Katastrophe hier beseitigen kann…

Ich vollziehe die notwendigen Reinigungsmaßnahmen, dann gehe ich zum Waschbecken und spritze mir Wasser ins Gesicht.

Und starre auf den verheulten Kerl, der mich aus dem Spiegel heraus ansieht.

Du kannst nicht zurück in den Saal. Wenn die dich überhaupt reinlassen…

Ich seufze. Mir ist klar, was zu tun ist: Ich ziehe mein Handy aus der Hose und schreibe Evelyn eine kurze Nachricht: „Mir geht es nicht gut. Ich fahre nach Hause, tut mir leid. Muss was Falsches gegessen haben. Viel Spaß, amüsiere dich, du hast es dir verdient! Kuss!“

Dann drücke ich auf Senden.

Natürlich wird sie die Nachricht nicht während der Vorstellung lesen. Da hat sie das Handy ausgeschaltet. Sie wird sie erst erhalten, wenn sie es in der Pause wieder einschaltet.

Beruhigt atme ich ein und aus.

Dann gehe ich.

4

Als ich am nächsten Morgen im Büro sitze, starre ich aus dem Fenster.

Es ist noch früh, sieben Uhr, um genau zu sein.

Mein Kollege, Dr. Rhys Barry, ist noch nicht da.

Wie immer und zum Glück.

Rhys ist ein Arschloch. Er hat ständig gute Laune, ein erfülltes Leben – und echt Probleme mit Körpergeruch. Deswegen ist in unserem Büro das Fenster immer auf Kipp, auch im Winter.

Ich persönlich glaube, die Tatsache, dass man mich zu Rhys ins Büro gesetzt hat, bedeutet, dass meine Karriere beendet ist. Denn niemand will freiwillig in das Stinkebüro und wie soll man Beziehungen pflegen, wenn man niemanden auf einen Kaffee einladen kann? Der Platz neben Rhys ist das real gewordene Abstellgleis für berufliche Träume und Ambitionen.

Ich passe also gut hierher.

Ich seufze.

Evelyn hat auf meine SMS so reagiert, wie ich es mir auf dem Rückweg mit dem Taxi ausgemalt und erhofft habe: Mein plötzliches Verschwinden hat sie als eine brutale Demütigung verstanden, die ihr Verlangen, meinen Hals weiter anzuhauchen, vollkommen vernichtet hat. Wahrscheinlich hat sie sich die ganze Nacht ausgemalt, wie sie mich am besten umbringen könnte. Ich bin wohlweislich direkt ins Gästezimmer umgezogen.

Jede andere Frau hätte sich besorgt um ihren Mann gekümmert, aber so ist Evelyn nicht.

Mir war es recht.

Ich seufze erneut.

Meine Optionen sind überschaubar: Ich kann zur Polizei gehen, aber das macht keinen Sinn, da hat Rob leider Recht. Seine Alternative, Evelyn umzubringen, ist in meinen Augen irgendwie falsch. Natürlich: Wenn dich einer versucht umzubringen und du bringst ihn vorher um, ist das Notwehr. Zumindest in Filmen. Aber da kämpfen die beiden Personen immer direkt gegeneinander. In meinem Fall liegt ja kein klassischer Kampf vor… Ich denke, die Argumentation mit der Notwehr würde nicht greifen, wenn man mich erwischt. Außerdem kann ich Evelyn nicht einfach töten. Ich meine, ich liebe meine Frau, verdammte Scheiße!

Ich seufze wieder.

Dann greife ich zum Telefon und wähle die Nummer eines Mannes, der in meinem Universum das Gegengewicht zu Rob darstellt.

Wie Sie bestimmt bemerkt haben, hat Rob einen gewissen Hang zum Ordinären und Asozialen. Vielleicht mögen Sie ihn ja, dann sollte das Ihnen zu denken geben, aber das müssen Sie mit Ihrem Therapeuten besprechen…

Cian Dunne hingegen ist ein freundlicher, einfühlsamer und kultivierter Mensch. Ich mag ihn, auch wenn er mir manchmal schon fast zu viel Wert auf Gefühle und diesen ganzen Kram legt. Aber ich glaube, jemand, dessen emotionales Repertoire über „Wut“ hinausgeht, könnte jetzt hilfreich sein.

„Hallo?“, meldet sich eine Frauenstimme. „Hier Praxis Dr. Dunne. Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“
„Ja, hallo“, sage ich. „Hier ist Walther Green. Ich würde gerne mit Cian sprechen.“

Nach einer kurzen Pause trällert die Stimme: „Augenblick, ich verbinde.“

Sanfte Musik erklingt, dann meldet sich ein glücklicher Cian: „Walther, wie schön dich zu hören. Ich hoffe, du rufst nicht beruflich an?“

„Nein, alles gut bei mir. Zumindest… dort.“

Cian ist kein Allgemeinmediziner, sondern wie Rob es ausdrückt, einer der letzten Menschen, die mit Torfstechen in Irland ihr Geld verdienen. Damit spielt er zum einen darauf an, dass Cian Proktologe ist, zum anderen versucht er, ihn aufgrund seiner homosexuellen Orientierung zu diskriminieren. Ich weiß nicht, was Robs Problem mit Schwulen ist, aber er hat definitiv eins. Ich habe mal versucht, mit ihm darüber zu sprechen, aber das artete in so vielen homophoben Beschimpfungen aus, dass ich Rob einfach als Arschloch bezeichnete und so schnell die Flucht ergriff, wie es mir möglich war.

„Dann ist es ein privates Problem?“, fragt Cian jetzt besorgt.

„Mhmmm“, mache ich.

„Das hört sich ernst an!“

Ich schweige, was Cian mehr sagt, als würde ich losplappern. Der Mann hat es einfach drauf.

„Pass auf“, sagt er. „Ich habe um halb Zwölf den letzten Kerl vor der Mittagspause hier. Hämorriden veröden, das geht ganz schnell. Wie wäre es, wenn wir uns anschließend zum Essen treffen? Ich lade dich ein, OK?“

„Du musst mich nicht einladen“, antworte ich. „Aber wenn du Zeit hast…“

„Natürlich habe ich für meine Freunde Zeit, wenn es Ihnen nicht gut geht! Und natürlich lade ich dich ein! Ich weiß doch, wie schlecht die unsere intellektuelle Oberschicht an den Universitäten entlohnen!“

Ich muss lächeln – und das tut gut. Wir verabreden uns für ein Uhr in einem Pub, der mittig zwischen der Uni und Cians Praxis liegt, dann lege ich auf.

Als der Hörer die Gabel berührt, öffnet sich die Bürotür und noch bevor ich ihn sehe, rieche ich, wie Rhys eintritt: „Guten Morgen!“, ruft er fröhlich und schließt die Tür hinter sich.

„Morgen“, nuschle ich tapfer und wappne mich für den härtesten Moment des Tages: Wenn Rhys den Mantel auszieht und sein Körpergeruch den Raum schlagartig einnimmt. Hat man sich einmal daran gewöhnt, geht es. Man darf nur nicht den Raum verlassen – oder vielmehr: Wiederkommen.

***

Normalerweise trinke ich mittags keinen Alkohol. Ich finde, wenn ein Ire mittags trinkt, trägt das nur dazu bei, überholte Klischees weiter am Leben zu erhalten.

Aber wenn einer einen Grund zum Saufen hat, dann ja wohl ich (das Argument kommt mir bekannt vor).

Ich bestelle ein Pint am Tresen und setze mich damit an einen Tisch in der Ecke, möglichst weit weg vom Fenster, Licht und Leben.

Ich bin in düsterer Stimmung, als Cian den Pub betritt, sich suchend umsieht. Lächelnd kommt er auf mich zu: „Walther“, sagt er, legt den Kopf schief und mustert mich. „Du hast schon mal besser ausgesehen.“

Ich weiß genau, dass er mich gerne zur Begrüßung in den Arm nehmen würde. Nicht, weil er schwul ist (das behauptet Rob immer), sondern, weil das so seine Art ist. Er ist ein herzlicher Mensch und würde die ganze Welt umarmen, wenn seine Arme lang genug wären.

Mir ist aber nicht nach herzlich.

Ich schnaufe, dann nehme ich einen Schluck Bier.

„Na gut“, sagt Cian, legt seinen Mantel ab und schaut in Richtung Theke: „Ich hole uns Nachschub und bestelle was zu essen, dann kannst du mir erzählen, warum du so ein Gesicht machst.“

Er dreht sich um und ist bald darauf mit einem neuen Pint und einem Glas Weißwein zurück.

Er stellt beides vorsichtig auf dem Tisch ab und nimmt ebenfalls Platz.

„Also, alter Junge“, sagt er und versucht dabei aufmunternd zu klingen. „Dann lass mal hören.“

Ich warte eine Zehntelsekunde, dann berichte ich ihm in kurzen, knappen Sätzen, was passiert ist. Dabei beobachte ich aufmerksam sein Gesicht – und das spricht Bände.

Als Erstes verschwindet das Lächeln.

Dann die gesunde Gesichtsfarbe.

Statt dieser erscheint ein Grauton, den man nur von Beton kennt.

Dann versenkt er den Inhalt seines Weinglases.

„Bist du dir sicher?“, fragt er, nachdem ich meinen Bericht beendet habe.

Ich nicke: „Leider ja. Ich meine: Was willst du da noch groß diskutieren?“

Er nickt. Dann steht er auf und geht zur Bar. Es dauert eine Weile, ehe er mit einem Tablett nebst zwei Pints und zwei doppelten Whiskeys zurückkommt.

Dann schweigen wir uns eine Weile an.

Cian muss das erst mal sacken lassen. Ich bin mir sicher, dass ein perfider Mordplan nicht in sein Weltbild passt.

„Walther“, sagt er. „Ich… Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Evelyn so was tun würde. Ich meine“, er senkt seine Stimme und sieht sich verstohlen um, „wir reden hier von Mord, verdammt noch mal!“

So heftig habe ich Cian noch nie fluchen hören, was den Katastrophengrad der Gesamtsituation nur unterstreicht.

„Du musst dir Klarheit verschaffen“, sagt er, nickt dabei eifrig mit dem Kopf und ich frage mich, ob er nicht auch etwas anderes mit dem Kopf tun kann, außer zu unterschiedlichen Anlässen zu nicken.

„Und wie stellst du dir das vor?“, frage ich und kann nicht verhindern, etwas angepisst zu klingen. „Soll ich sie etwa fragen?“

„Nein, natürlich nicht“, lenkt Cian ein, aber er hat schon eine Alternative parat: „Du könntest einen Ermittler beauftragen. Wenn sie wirklich einen Killer engagieren will, muss sie dabei Spuren hinterlassen. Sie ist ja kein Profi, also macht sie Fehler…“
Ich verziehe das Gesicht: „Ein Privatdetektiv? Echt?“

„Dann weißt du, ob du dir wirklich Sorgen machen musst, und vielleicht findet der so gute Beweise, dass du damit zur Polizei gehen kannst. Dann steht nicht mehr… Wie heißt das immer? Aussage gegen Aussage?

Da ist was dran, und ich versuche, die depressiven Wolken und Alkoholausdünstungen aus meinem Geist zu verdrängen, um mir den Vorschlag näher ansehen zu können.

Aber Cian lässt mich nicht lange nachdenken: „Ich kenne da einen, der wäre für den Job perfekt!“, sagt er und holt sein Handy aus der Hosentasche.

„Ja? Der wäre perfekt? Er macht so was dauernd? Mordende Ehefrauen überführen?“

„Nein, natürlich nicht. Jetzt sei mal nicht so zickig! Ich kann ja verstehen, dass du gestresst bist, aber lass deine miese Laune nicht an mir aus, sonst steh ich auf und geh!“

Ich mache eine beschwichtigende Handbewegung und entschuldige mich. Cian ist mir nicht wirklich böse, aber trotzdem hat er Recht: Er will helfen und ich meckre ihn an.

„Woher“, frage ich, jetzt sehr viel freundlicher, „kennst du denn diesen Ermittler?“

Cian wird rot: „Na ja…“

„Hast du ihn mal beauftragt?“ Ich werde neugierig.

„Nein, nicht direkt.“

Ich mustere meinen Freund, dann muss ich trotz der beschissenen Gesamtsituation trotzdem grinsen: „Der hat dich erwischt?“

„Jetzt hör mal!“, wehrt sich Cian. „Erwischt! Was bin ich? Ein kleiner Junge?“

Ich gucke ihn nur an. Er schnauft, dann erklärt er: „Ich hatte was mit einem verheirateten Kerl. Seine Frau war total eifersüchtig und wir mussten mega aufpassen… Das ist so ein halbes Jahr gutgegangen, aber kaum hatte die diesen Typen engagiert, ist er uns auf die Schliche gekommen. Und er war nicht der erste Schnüffler, das kannst du mir glauben.“

Alles klar: Ein Ermittler hat Cian, das Genie unter den Ehebrechern, auf frischer Tat ertappt - dann muss der Typ Weltklasse sein.

Andererseits erspare ich mir auf diese Weise, mich im Internet durch zweifelhafte Annoncen zu klicken.

„Ich habe mir damals sofort gesagt: Wenn ich mal Probleme bekomme, rufe ich diesen Mann an! Er ist der Beste.“ Er tippte auf seinem Handy herum: „Und jetzt gebe ich ihn dir!“
„Das ist… total nett.“

„Ja, das ist es. Ich habe ihm eine SMS geschrieben, dass sich ein Freund von mir dringend mit ihm treffen muss.“ Er legt das Handy auf den Tisch.

„Was ist das denn für einer?“, frage ich vorsichtig. Mir ist unwohl bei dem Gedanken, einem Fremden davon zu erzählen, was Evelyn vorhat. Das ist ja schon privat…

„Er ist… Er ist echt anders. Total speziell!“

Das Handy brummt. Cian schnappt es sich und – große Überraschung – nickt: „Er kann sich heute Abend um 20 Uhr mit dir treffen. In einem Pub, sehr gut! Ich schicke dir die Adresse.“ Er toucht auf dem Handy rum, dann brummt es in meiner Hose.

„Heute Abend schon?“, frage ich und ignoriere die Nachricht, die er mir geschickt hat. Die kann ich auch später noch lesen.

„Je früher desto besser, oder?“

***

Natürlich hat Cian Recht – ich habe keine Zeit zu verlieren. Die Tatsache, dass ich meinen vermeintlichen Retter noch heute Abend treffen soll, bedeutet außerdem auch, dass mir ein Abend mit Evelyn erspart bleibt.

Auf dem Weg zur Uni gehe ich in eine Apotheke und erstehe drei große Packungen mit Reisetabletten. Der Apotheker sieht mich mitleidig an und auch, wenn er den wahren Grund für meinen Einkauf nicht einmal erahnen kann, empfinde ich diesen Anflug von Mitgefühl als tröstlich.

Den Tipp hatte Cian mir mitgegeben: „Und besorg dir was gegen deinen… unkontrollierten Stuhlgang! Evelyn kennt dich und wird sich fragen, was dich so nervös macht. Du willst doch nicht, dass sie ihren Zeitplan vorverlegt, oder?“

Noch auf dem Weg ins Büro nehme ich drei Tabletten trocken ohne Wasser. Ich spüre, wie ich augenblicklich ruhiger werde.

Als ich am Wasser vorbeikomme, sehe ich einen abgerissenen Mann, der die Schwäne beobachtet. Sein Regenmantel sieht so aus, als hätte er ihn aus Armeebeständen geklaut. Er dreht den Kopf und sieht mir direkt in die Augen: Ein kalter Schauer läuft mir den Rücken runter! Diese Augen haben mehr Leid und Abgründe gesehen, als ich mir jemals würde ausmalen können. Aber es ist nicht dieses Leid, das mich so fertig macht: Mit einem Schlag wird mir bewusst, dass jeder Fremde, jeder Unbekannte mein potentieller Mörder sein könnte. Ich beschleunige meine Schritte, schaue mir immer wieder nervös über die Schultern: Verfolgt mich jemand? Der Alte starrt weiter auf die Schwäne. Aber wenn er mein Mörder ist, ist er ein Profi! Würde mir ein Profi direkt in die Augen sehen? Oder würde er mir gerade in die Augen sehen, weil er ein Profi ist?

Ich biege abrupt in eine Nebenstraße ein. Sie ist enger und weniger belebt. Als der Lärm abnimmt, spüre ich, wie auch ich ruhiger werde.

Ich schaue mich um, bis ich mir sicher bin, nicht verfolgt zu werden.

„Scheiße“, flüstere ich.

***

Vielleicht haben Sie sich gefragt, wie ich überhaupt an meine Frau geraten bin, die laut Rob „zu dir passt wie Scheiße zu Torte“. Ich hinterfrage nicht, wer in diesem Bild die Scheiße und wer die Torte ist.

Ich habe Evelyn kennen – und lieben – gelernt, als ich mit der Uni fast fertig war. Sie war auch in den letzten Zügen und ich hatte damals das unfassbare Glück (aus heutiger Sicht, unfassbare Pech), dass sie in einer Phase der ahnungslosen Intellektualität steckte: Sie bewunderte alles, was mit der akademischen Welt zu tun hatte, und deswegen beeindruckte es sie kolossal, dass ich nach dem Abschluss promovieren würde.

Das war mein erster Pluspunkt. Der zweite war, dass sie absolut ahnungslos war, was meinen Fachbereich anbelangte. Ich glaube, sie stellte sich etwas mit mehr Status darunter vor.

Ihre Eltern unterstützten sie in ihrer Wahl: Ihr Vater war Bauer, also für alles zu haben, was mit Kartoffeln zu tun hatte, und ihre Mutter… Na ja: Ältere Frauen mögen mich einfach. Ich denke, ich wecke so was wie den Beschützerinstinkt bei ihnen.

Ich glaube, das Zeitfenster, in dem es möglich war, dass Evelyn sich in mich verlieben konnte, war unfassbar klein und ich war der glücklichste Mann der Welt, diese Frau gefunden und für mich gewonnen zu haben. Unbewusst habe ich wohl geahnt, dass ich schnell Nägel mit Köpfen machen musste, denn es verging kein Jahr, da waren wir schon verlobt und kurz darauf verheiratet.

Meine Eltern waren von Evelyn hin und weg. Sie waren selbst noch sehr jung gewesen, als sie heirateten, und haben generell die Tendenz, in der ganzen Welt Parallelen zu ihrem eigenen Leben zu entdecken. Ich bezweifle allerdings sehr stark, dass ihnen das heute gelingen würde.

***

Cian hatte mir keinerlei Informationen über den Ermittler verraten, sondern nur grinsend gemeint, ich würde ihn schon erkennen.

Ich bin schon etwas früher im Pub und muss sagen, dass man schneller zum Alkoholiker werden kann, als man glauben möchte. Ich sollte mir dringend vornehmen, meinen Bierkonsum zu reduzieren, sonst sterbe ich nicht an meiner wütenden Ehefrau, sondern an Leberversagen.

Ich blicke auf meine Uhr: 19:58 Uhr. Ich habe einen Tisch gewählt, von dem aus ich die Eingangstür im Blick habe. Der Pub ist gut besucht, natürlich: Eine Studentenstadt in Irland – für jeden Pub eine Lebensversicherung!

Die Eingangstür öffnet sich und ich muss Cian zustimmen: Ich weiß sofort, dass die Person, die da reinkommt, mein Ermittler ist.

Oder vielmehr, meine Ermittlerin.

Sie ist vielleicht 70, aber es könnten auch ein paar Jahre mehr sein, wenn sie sich gut gehalten hat. Mein Gefühl sagt mir allerdings definitiv, dass sie nicht jünger ist. Sie schaut sich um und als sie mich erblickt, kommt sie auf mich zu.

Langsam, aber zielstrebig.

Die soll Cian erwischt haben? Wann denn? Vor 20 Jahren? Ich nehme mir vor, meinen Freund genau das zu fragen und trinke noch einen Schluck Bier.

Die alte Dame arbeitet sich weiter meinem Tisch entgegen. Wie gesagt: Langsam, aber stetig.

Meine Hand zuckt in Richtung Handy, um meinen Maileingang zu überprüfen, aber mir kommt der Gedanke, dass das doch sehr unhöflich wäre.

Also warte ich.

Und zwinge mich, nicht auf die Uhr zu gucken.

Irgendwann ist sie da. Mit einem Seufzen lässt sie sich auf den Stuhl fallen und schält sich aus ihrem Mantel.

„Guten Abend“, sage ich und lächle einnehmend, wie ich hoffe.

„Guten Abend“, antwortet sie und zischt plötzlich „Arschloch“.

Ich reiße irritiert die Augen auf: „Bitte?“, frage ich.

Sie hebt einen Zeigefinger, greift nach ihrer Handtasche und holt aus dieser ein Blatt Papier hervor, das sie mir in die Hand drückt.

„Bitte lesen Sie das“, sagt sie, steht auf und strebt der Bar entgegen.

Ich runzle die Stirn und betrachte den Zettel, der wie ein medizinischer Aufklärungsbogen aussieht.

Auf diese Weise erfahre ich, dass meine Ermittlerin an etwas leidet, was sich Koprolalie nennt. Dabei entwickelt man offensichtlich den Zwang, dauernd Beschimpfungen verwenden zu müssen, die irgendwie mit dem Gesäß zu tun haben.

Oh Scheiße, denke ich und frage mich im gleichen Moment, ob ich vielleicht an derselben Krankheit leide.

Die alte Dame ist inzwischen zurückgekehrt und stellt ein Glas Wasser vor sich auf dem Tisch ab.

„Sie wissen dann ja jetzt Bescheid“, sagt sie mit leiser Stimme und ergänzt: „Arschloch!“ Dabei macht sie ein entschuldigendes Gesicht und ich muss mir ein Lachen verkneifen.

„Mr. Dunne hat mir ein Foto von Ihrem Gesicht geschickt“, sagt sie und greift erneut in ihre Tasche. Anstatt eines Fotos holt sie aber eine große Wochenpackung Tabletten heraus, öffnet sie und steckt sich vier oder fünf Granaten in den Mund, die sie mit einem Schluck Wasser runterspült.

„Pobacke“, sagt sie zufrieden, packt die Schachtel wieder ein und lächelt mich verlegen an: „Dann erzählen Sie mal.“

Ich zögere einen Augenblick. Ich finde die Frau sympathisch: Ich meine, auch Rentner dürfen ein Hobby haben und natürlich ist Altersarmut ein Thema in unserem Land. Aber möchte ich mein Leben in die Hände dieser Frau legen?

„Verdammte Scheiße!“, platzt die Dame plötzlich raus und verdreht sofort die Augen. „Tschuldigung“, sagt sie leise. „Ich weiß, ich wirke vielleicht nicht so, aber Sie können mir glauben, dass ich mein Handwerk wirklich beherrsche. Scheiße!“

Ich zögere, dann frage ich: „Wie heißen Sie denn?“

„Ivy Kornblume.“

„Ah, OK.“

„Sie dürfen mich gerne Ivy nennen, Arschloch.“

„OK. Ich bin Walther.“

„Scheiße.“

„Was?“

„Nein, das hatte keine Bedeutung.“

Ich schweige betroffen, dann frage ich: „Ist das nicht anstrengend?“

„Es ist nicht so, dass ich es mir aussuchen würde, wenn ich einen Wunsch frei hätte. Anstrengend ist allerdings, dass jeder mit mir darüber reden will, wie anstrengend es ist.“

Ich nicke und beschließe, Ivy einfach alles zu erzählen und nicht weiter zu nerven.

Während ich ihr berichte, schließt sie die Augen. Das irritiert mich und ich höre auf zu sprechen, woraufhin sie nur mit der rechten Hand wedelt, ohne die Augen dabei zu öffnen.

Ich fahre in meinem Bericht fort. Als ich fertig bin, sitzt sie reglos da und ich frage mich, ob sie gestorben ist, was mich im Moment ehrlich gesagt nicht sonderlich überraschen würde.

„Mhmmm“, macht sie dann und öffnet die Augen. „Scheiße.“ Als ich nicht reagiere, grinst sie: „Das meinte ich jetzt ernst! Ihre Situation ist scheiße.“

„Ach so, ja! Das stimmt.“

Ich verfalle wieder in Schweigen. Diese Person irritiert mich zutiefst.

„Gut, ich sage Ihnen, was wir machen“, sagt Ivy. „Als Erstes brauchen wir den scheiß Zeitplan. Sie müssen noch mal an den Laptop und das Material sichern, das Sie dort gefunden haben. In der Zwischenzeit nehme ich Ihre Frau unter die scheiß Lupe!“
Ich nicke. Der Gedanke war mir auch bereits gekommen.

„Wenn ich was habe, schreibe ich Ihnen eine Mail an die Uni“, fährt Ivy fort. „Ich kommuniziere lieber schriftlich.“

„Kann ich verstehen.“

„Arschloch.“

„Tschuldigung.“

„Alles gut. Also: Wenn ich was habe, schreibe ich Ihnen.“

„Und wenn ich den Zeitplan habe? Wie nehme ich dann Kontakt zu Ihnen auf? Sollten wir nicht vielleicht die Nummern austauschen?“

Sie schüttelt den Kopf: „Scheiße! Nein, das möchte ich nicht. Wenn ein Ehebrecher meine Nummer hat, macht das nichts. Vor allem, wenn er auf Ärsche steht!“

Ich werde rot.

„Aber ich möchte nicht, dass eine Spur von Ihnen zu mir führt.“

„Warum?“
„Ihre Frau will Sie umbringen lassen. Ich helfe Ihnen dabei, das zu verhindern. Wenn Ihre Frau bereit ist, Sie ermorden zu lassen, wird sie keine Schwierigkeiten damit haben, sich einer alten Dame zu entledigen, die ihr vielleicht im Weg steht. Nein, ich bleibe lieber im Hintergrund, Fistel!“

Ich nicke: Das macht Sinn. Langsam bekomme ich eine Ahnung davon, warum Cian von dieser Dame so begeistert ist.

5

Am nächsten Morgen auf dem Weg zu Auto und Kaffee fühle ich mich elend.

Der gestrige Abend ist leider nicht so erfreulich verlaufen, wie er begonnen hatte, denn bei meiner Ankunft daheim erwartete mich meine Frau. Ich denke, es gibt viele Männer, die meinen Mangel an Begeisterung teilen, wenn sie aus dem Pub kommen und ihre Frau auf sie wartet, aber in meinem speziellen Fall kommt der Aspekt mit dem geplanten Tötungsdelikt erschwerend hinzu.

Ich habe natürlich gewusst, dass ich irgendwann würde mit ihr reden müssen. Seit meiner Flucht aus dem Theater war es mir erfolgreich gelungen, jede direkte Konfrontation zu vermeiden, aber jetzt saß sie im Wohnzimmer auf dem Sofa, eine Decke im Schoß ruhend und ein Glas Wein in der Hand haltend. Mir war auf den ersten Blick klar: Sie hat auf dich gewartet.

Innerlich wappnete ich mich für das große Donnerwetter und ärgerte mich, dass ich mich nicht besser vorbereitet hatte.

Und dann geschah es.

Etwas Unfassbares.

Nie Dagewesenes.

Evelyn öffnete die Lippen und sagte: „Walther, was ist los? Ich mache mir Sorgen um dich. Wie geht es dir?“
Ich starrte sie an.

Es war so absurd.

„Komm, setz dich zu mir“, sagte sie und deutete mit dem Kinn auf den Platz neben sich. Aber nicht aggressiv. Sondern einfühlsam.

Ich zögerte.

„Bitte“, sagte sie.

Mechanisch kam ich ihrem Wunsch nach und setzte mich neben sie, wobei ich darauf achtete, dass ein gewisser Abstand zwischen uns bestand.

„Walther, was ist los? Ich habe das Gefühl, du gehst mir aus dem Weg.“

Ich zögerte, suchte nach Worten. Ich meine, was sollte ich sagen?

„Na ja, weißt du…“, begann ich und kratzte mich dabei am Kopf, während ich dem Blick ihrer Augen auswich, jenen Augen, in die ich mich damals verliebt hatte und über deren Glänzen ich mich mehr gefreut hatte, als über sonst was auf der Welt. Aber dieses Glänzen würde ich wohl nie wiedersehen - ich würde es nie wieder so sehen, mit dieser naiven Unschuld. Ich würde im Blitzen ihrer Augen immer das Blitzen eines Messers, eines Pistolenlaufs oder einer anderen Waffe sehen. Ich…

„Walther, weinst du?“, fragte Evelyn, rutschte an mich heran und legte einen Arm um meine Schulter.

Und sie hatte Recht: Während ich nach einer Lösung für mein Problem gesucht hatte, nach einer Ausrede, war mir schmerzlich bewusst geworden, was das alles hier bedeutete – und dass ihr Mitgefühl so viel Substanz hatte wie Eis in der Wüste.

Dass sie kein Interesse an mir hatte.

Nur an meinem Tod.

Ich schloss die Augen und dann spürte ich, was sie schon längst gesehen hatte: Mir rannen Tränen aus den Augen, erst ein paar vereinzelte, dann reihten sich immer mehr aneinander, bis sie einen ununterbrochenen Strom bildeten, einen Strom der Trauer und des Verlustes.

„Ach Walther“, hauchte Evelyn und nahm mich in den Arm. Sie presste meinen Kopf fest an ihre Schulter.

Und ich weinte noch mehr.

Ich heulte Rotz und Wasser.

Ich weinte, weil ich Angst hatte.

Ich weinte, weil ich die Liebe meines Lebens verloren hatte, weil ich die Nähe, die trotz aller Probleme bestanden hatte, nie wieder fühlen würde.

Und ich weinte vor Freude, so absurd es auch klang. Ich genoss die Zuwendung und den Trost, den Evelyn mir jetzt in diesem Augenblick, in diesem Moment zuteilwerden ließ.

Es dauerte lange, aber irgendwann hatte ich keinen Tropfen Wasser mehr, den ich hätte vergießen können.

„Also, was ist los?“, fragte sie, meinen Kopf weiter an ihre Schulter pressend.

Ich zog ihn zurück, wischte mir mit der Hand über Augen und Nase, wie ein Kind, das ausgerutscht war und sich das Knie aufgeschlagen hatte.

„Ich… Ach… Weißt du…“ Ich sammelte mich. Dann sagte ich das Erste, was mir einfiel: „Ich habe erfahren, dass Rhys bald sterben wird.“

Ich bin nicht stolz auf diese Ausrede, aber sie hat was mit Tod, Verlust und Schmerz zu tun. Wenn Sie eine bessere wissen, lassen Sie es mich wissen.

„Rhys aus dem Büro?“, fragte Evelyn. „Der Stinker?“

„Ja. Er hat… Keine Ahnung… Irgendeine Krankheit. Und jetzt haben ihm die Ärzte gesagt, dass er nur noch neun Monate oder so zu leben hat. Auf jeden Fall kein Jahr mehr.“

„Das ist ja schrecklich. Aber… Warum macht dich das so fertig? Ich meine, das ist schlimm, aber sagst du sonst nicht immer, du könntest ihn nicht leiden?“

Ich schluckte: „Ja, aber trotzdem…“ Fieberhaftes Nachdenken. „Er…“ Ich wischte mir noch mal die Rotze quer übers Gesicht. „Hast du ein Taschentuch?“, versuchte ich Zeit zu schinden.

„Natürlich, warte“, sagte sie und ging in die Küche.

Ich schnaufte durch: Was habe ich mir nur dabei gedacht? Ich hoffe nur, Rhys ist nicht wirklich krank…

Evelyn kam zurück. Sie hatte direkt eine ganze Box Taschentücher mitgebracht. Fehlte nur noch die große Packung Eis und wir wären zwei Teenager, die Probleme mit ihren Typen haben.

Ich nahm mir zwei Taschentücher und machte mein Gesicht sauber.

Sehr gründlich. Evelyn schaute mir dabei zu, beobachtete mich besorgt.

„Na ja“, sagte ich, als keine Pore mehr da ist, die ich noch hätte auswischen können. „Er will weiter arbeiten gehen und tut so, als wäre alles normal. Er leugnet, dass er sterben wird und… Jetzt sitze ich ihm jeden Tag gegenüber, obwohl er bald tot sein wird, und das macht mich fertig.“
„Weil du die Unausweichlichkeit des Todes vor Augen siehst?“, überlegte Evelyn und ich fand, dass diese Aussage auch zu meiner Situation passte.

„Ja, genau. Natürlich weiß ich, dass ich auch irgendwann sterben werde. Aber Rhys… Er weiß, wann es soweit sein wird. Und er macht einfach so weiter. Ich meine, in einem Jahr wird er weg sein und er sitzt sich seinen Hintern noch immer stundenlang im Büro platt.“
„Schrecklich. Was würdest du machen, wenn du an seiner Stelle wärst?“

Es traf mich wie ein Schlag.

Nein, wie die Kombination eines Super-Schwergewichtlers.

Was ist der Unterschied zwischen Rhys und mir? Also dem imaginären Rhys mit der Krankheit?

Die Antwort war: Es gab keinen…

Ich wusste, dass ich vielleicht bald sterben würde, und ich saß im Büro…

Ich meine… Puh…

Es bestand schon die Möglichkeit, dass Evelyns Plan gelingt. Vielleicht würde sie mich töten. Dann wäre ich in einem Jahr tot. Ich wusste, dass diese Möglichkeit bestand, und trotzdem ging ich zur Arbeit und verplemperte meine Zeit, indem ich über sinnlose Sachen nachdachte, denn ehrlich: Meine Arbeit würde keine nachfolgenden Generationen inspirieren, also wirklich nicht…

„Vielleicht solltest du mit jemandem darüber reden“, schlug Evelyn vor. „Mit Cian zum Beispiel. Er kann so was bestimmt gut verstehen.“ Sie verdrehte die Augen: „Rob würde ich ehrlich gesagt nichts davon sagen. Er wird nur so was sagen wie… Keine Ahnung: Rhys stinkt auch jetzt schon, als wäre er tot.

Unwillkürlich musste ich lachen und ich glaubte, genau das war es, was Evelyn wollte.

Ich bin auf diesen Abend nicht stolz.

Ich bin nicht stolz, dass ich Rhys eine Krankheit angehangen habe.

Noch weniger stolz bin ich allerdings darauf, dass ich anschließend mit meiner Frau geschlafen habe.

Im Wohnzimmer, auf dem Sofa.

Und es war gut.

Es war… Keine Ahnung…

Bevor Sie mich verurteilen und brüllen: „Wie kann er nur?“, sollten Sie bedenken, dass ich mich die letzten Tage verdammt allein gefühlt habe. Natürlich habe ich mit vielen Menschen gesprochen, ich habe Freunde und die waren für mich da, sogar Rob auf seine emotional verkrüppelte Art und Weise.

Aber trotzdem war ich isoliert.

Als Evelyns nackter Körper auf mir lag, fand ich den Halt, den ich verloren hatte. Natürlich ist das absurd, weil ich den Halt ja erst wegen ihr verloren hatte, aber trotzdem…

Ganz davon abgesehen bin ich ein Mann, noch dazu ein Ehemann…

Ich habe in der Nacht lange wach gelegen.

Ich habe nachgedacht.

Über Rhys.

Nein: Über Rhys 2.0.

Als ich später im Büro sitze und Rhys den Raum betritt, bekomme ich trotzdem ein schlechtes Gewissen. Wahrscheinlich ist das der Grund, weswegen ich ihn frage, wie es ihm denn so gehe, und er zu einer langen Rede darüber ansetzt, wie er das kommende Wochenende zu gestalten gedenkt.

Nach dem ersten Zehntel seines Vortrages und zehn Minuten meiner knapp bemessenen Lebenszeit ist mein schlechtes Gewissen ihm gegenüber verschwunden.

Ganz im Gegenteil.

Ich entwickle verschiedene Methoden, die seiner imaginären Krankheit unter die Arme greifen könnten.

***

Um zwölf packe ich meine Sachen zusammen und beschließe, dass ich genug gearbeitet habe. Rhys wundert sich offensichtlich über mein begrenztes Arbeitspensum, sagt aber nichts.

Ich verlasse die Fakultät.

Wohin soll ich gehen? Wohin würde Rhys 2.0 gehen?

Auf keinen Fall würde er arbeiten.

Das ist gut.

Er könnte sich betrinken, aber das habe ich die letzten Tage bereits getan.

Er würde etwas machen, was rational betrachtet sehr unvernünftig wäre, dafür aber Spaß macht. Etwas, das langfristig negative Konsequenzen nach sich ziehen könnte, kurzzeitig aber Vergnügen bereitet.

Langsam setze ich mich in Bewegung.

Dann betrete ich ein Geschäft, das ich bereits nach fünf Minuten wieder verlasse.

Ich lehne mich an die Hausmauer und zünde mir eine Zigarette an.

Der blaue Qualm dringt tief in meine Lungenflügel ein, es brennt herrlich und ich kann förmlich spüren, wie sich meine Lebensspanne verkürzt.

Ich stoße den Qualm durch die Nase aus.

Dann kommt der kleine Nikotinkick. Das Glücksgefühl, das man nur bekommt, wenn man nicht Kettenraucher ist.

Ich schließe die Augen und stecke mir das glimmende Röllchen erneut in den Mund.

Das ist doch ein guter Anfang, denke ich und stehe dort, bis ich die Zigarette aufgeraucht habe. Ich lasse den Stummel auf den Boden fallen, trete ihn aus und denke mit dem angenehmen Gefühl der Ignoranz, dass mir die Umwelt am Arsch vorbei geht.

***

Natürlich lande ich bei Rob. In einer solchen Stimmung muss man früher oder später bei jemandem enden, der Ignoranz, Gefühllosigkeit und Kälte zu einem Gesamtkunstwerk vereint, das nur er selbst zu schätzen weiß.

„Na, du siehst aber glücklich aus“, sagt er, kaum dass er mich sieht. Dann schnüffelt er: „Hast du geraucht?“ Rob gewöhnt sich das Rauchen permanent ab, weswegen er alles riecht, was mit Nikotin zu tun hat. Ich wette, er könnte auch Nikotinpflaster erschnüffeln, wenn er dafür ein Bier bekommen würde. Oder eine Zigarette.

„Habe ich.“

Er kneift die Augen zusammen und denkt nach. Da er verdammt schlau (nicht unbedingt intelligent) ist, kommt er natürlich auf die Lösung: „Du scheißt auf die Zukunft und genießt den Augenblick?“

Ich nicke.

„Dann such dir was zum Bumsen!“

Ich grinse schief.

„Hast du schon?“
Ich versuche es mit: „Ich musste nicht suchen.“

Wieder kneift er die Augen zusammen, dann reißt er sie plötzlich auf: „Du hast Eve geknallt?“ Er haut auf die Ladentheke: „Du altes Arschloch!“

Er schüttelt sich vor Lachen, dann geht er in den Nebenraum und kommt mit zwei Flaschen Bier und einem Aschenbecher zurück.

Wir stoßen auf meinen Jagderfolg genauso an wie auf seinen Abbruch des „Nicht-Rauchen-ist-gesünder“-Projektes.

Dann will er Details hören und das ist der Punkt, an dem ich in seinem Ansehen sinke, ach was, ins Bodenlose falle, denn er merkt sofort, dass meine Geschichte („Ich habe sie einfach gepackt und aufs Bett geworfen!“) nicht stimmt. Als ich dann wohl oder übel mit der Wahrheit rüberkomme, drückt er die halb aufgerauchte Kippe aus. Kurz scheint er darüber nachzudenken, ob er mir das Bier wegnehmen soll, aber wahrscheinlich weiß er nicht, wohin mit der vollgesabbelten Flasche, also lässt er es.

„Du hast geheult…“, stellt er kopfschüttelnd fest. „Das ist… Du bist… Alter!“

„Nein“, setze ich zu meiner Verteidigung an und ich muss sagen, ich bin über den Nachdruck in meiner Stimme selbst nicht wenig erstaunt. „Das war super!“

„Die hat dich ja auch ewig nicht mehr rangelassen! Natürlich war das super!“

„Nein, das meine ich nicht. Ich meine…“ Ich suche nach den passenden Worten: „Ich habe erkannt, um was es geht.“

„Du…“

Bevor er mir mit hohlem Schweinkram kommt, unterbreche ich ihn: „Nein, nicht, was du jetzt wieder denkst. Ich rede davon, dass ich erkannt habe, dass ich vielleicht bald tot sein werde.“

„Ich dachte, das hättest du gecheckt, als du diese Todesanzeige auf dem Laptop deiner Frau gefunden hast.“

„Ja, natürlich. Aber das war was anderes. Da war ich geschockt… Ich habe nur daran gedacht, dass sie mich töten will. Jetzt habe ich verstanden, dass ich vielleicht bald tot sein werde.“
Er schüttelt den Kopf: „Halt mich jetzt nicht für blöde oder so, aber ist das nicht so ziemlich das Gleiche?“
„Nein… Ich meine, ich muss meine Zeit nutzen! Wenn es ihr gelingen sollte, mich zu töten, will ich mein Leben auch genutzt haben.“

Rob verdreht die Augen: „Alter“, seufzt er. „Ich finde, du setzt da… falsche Prioritäten. Sollte dein Ziel nicht sein, dafür zu sorgen, dass sie dich nicht umbringt?“

„Ja, klar!“

„Bei deinem Gewäsch hier hört es sich aber so an, als würdest du akzeptieren, dass sie dich umbringt. Das finde ich bedenklich. Du hast doch keine Diagnose bekommen, wie dein Kollege.“
„Der hat keine Diagnose bekommen.“
„Ich dachte, der Stinker stirbt.“
„Das war nur ne Ausrede.“
„Dann stirbt er nicht?“
„Nein.“
„Schade.“

Er sieht wirklich enttäuscht aus, erholt sich aber schnell wieder von diesem Schicksalsschlag.

„Junge“, setzt er an und ich wappne mich für das Schlimmste, immerhin will Rob mir einen guten Rat geben und die sind immer furchtbar!

„Du weißt, ich mag dich. Ich liebe dich wie einen Bruder.“

„Du hast keinen Bruder.“
„Klappe! Ich liebe dich, aber das heißt nicht, dass ich dir nicht aufs Maul haue!“
Ich presse demonstrativ die Lippen zusammen und schweige.

„Auf jeden Fall“, fährt Rob fort, „finde ich, du solltest dir Hilfe holen. Du musst mit jemandem reden.“

„Tue ich doch! Mit dir, mit Cian, mit…“

„Nicht mit dem Torfstecher oder mir, ich meine mit jemandem, der sich mit Gefühlen wirklich auskennt und der der ärztlichen Schweigepflicht unterliegt.“
„Einem Therapeuten?“

Er nickt: „Ich glaube, du hast einen Zusammenbruch… Das ist schon OK, wenn man bedenkt, wie scheiße es für dich läuft, aber ehrlich gesagt ist gerade der falsche Zeitpunkt, um durchzudrehen.“

„Und was soll der Therapeut da machen?“

„Er kann dir Pillen verschreiben! Die haben gutes Zeug!“ Er schiebt schnell hinterher: „Zumindest habe ich so was gehört.“ Ich gehe darauf nicht weiter ein, allerdings scheint Rob selbst Erfahrungen gemacht zu haben, die er mit mir bisher noch nicht geteilt hat.

„Ich gehe nicht zum Psycho“, sage ich und zünde mir eine Zigarette an.

„Dann lass es. Wenn du so klarkommst, ist auch gut.“

„Außerdem habe ich einen Plan“, erwidere ich patzig.

„Ja, du nutzt die Zeit, die dir noch bleibt, um deine künftige Mörderin zu vögeln, wenn sie dich ranlässt: Super Plan, Champion!“

Ich schüttle den Kopf: „Nein! Ich habe eine Ermittlerin engagiert. Die versucht Beweise dafür zu finden, dass Evelyn mich umbringen will. Die Beweise kann ich dann der Polizei vorlegen und die sperren sie weg. Problem gelöst.“

„Und wenn das nicht klappt, kannst du sie immer noch abknallen.“

Ich schüttle den Kopf: „Ich knalle niemanden ab.“

„Sag niemals nie!“
„Ich habe nicht nie gesagt. Ich habe niemanden gesagt.“ Ich grinse: „Und darüber solltest du froh sein.“
„Warum?“

„Das schließt dich mit ein.“

6

Am kommenden Morgen hole ich mir meinen Kaffee bei Dylan, aber anstatt direkt wieder zu verschwinden, setze ich mich mit meinem Pappbecher an einen Tisch, ziehe die Jacke aus und hänge sie über den Stuhl.

Dylan wirft mir einen irritierten Blick zu, sagt aber nichts. Der Laden brummt. Ich persönlich glaube, das liegt daran, dass er keine veganen, glutenfreien oder sonst wie neumodischen Quatschteilchen verkauft, sondern nur gute alte Fett-Zucker-Mehl-Kombinationen. Sein Laden ist eine Bastion des Widerstandes gegen gesunde Ernährung, ein Alptraum für die Hipster-Community und ein Freudenort der Menschen, die sich einen Scheiß um ihr Gewicht, ihre Cholesterinwerte oder sonst was scheren.

Ich mache den Plastikdeckel vom Becher ab und nippe am Kaffee.

Dann schaue ich aus dem Fenster.

Evelyn wird in einer halben Stunde ins Büro fahren. Sobald sie weg ist, kann ich mich in ihr Büro schleichen und die Daten vom Laptop ziehen. Das muss tatsächlich heute sein, denn ab morgen hat sie Urlaub und fliegt dann mit ihrer Freundin Millie irgendwo hin.

Ich glaube Rom.

Bestimmt war es Rom.

So wie ich sie kenne, wird sie den Laptop auf jeden Fall mitnehmen. Offiziell, um unsere Geschäfte online weiterführen zu können, in Wahrheit aber, um an meinem Todesplan weiterzuarbeiten.

Also muss ich heute an die Daten rankommen.

Ich lasse dreißig Minuten ins Land gehen, ehe ich mich vorsichtig auf den Weg nach Hause mache. Währenddessen fühle ich mich wie jemand, der kurz davorsteht, ein ungeheures Verbrechen zu begehen, dabei will ich nur in mein eigenes Haus.

Um in den privaten Unterlagen meiner Frau zu schnüffeln – die aber in diesem Fall irgendwie ja auch mir gehören.

Da Evelyn immer in der Garage parkt, kann ich nicht sicher sein, ob sie das Haus bereits verlassen hat. Also klingle ich. Wenn sie aufmacht, so mein Plan, werde ich behaupten, ich hätte meine Hausschlüssel vergessen.

Wenn sie nicht aufmacht, gehe ich rein – was sich mutiger anhört, als ich mich fühle.

Ich lausche auf Schritte, das Klappern einer Tür, aber alles bleibt ruhig. Offensichtlich ist die Dame des Hauses ausgeflogen. Also lasse ich mich selbst ein, schließe die Tür hinter mir und steige schnellen Schrittes die Stufen zu Evelyns Büro hinauf.

Währenddessen steigt mein Stresslevel sprunghaft an.

Während ich mit der einen Hand die Tür zum Büro öffne, sucht die andere in der Hosentasche bereits den USB-Stick, der sich zwecks Datenklau dort befindet.

Ich klappe den Bildschirm hoch – und erstarre.

„Passwort eingeben“, fordert mich das verdammte Betriebssystem auf und das ist schlecht, denn ich habe kein Passwort, zumindest keines, das zu diesem Computer passen würde.

Außerdem bin ich mir sicher, dass Evelyn bisher nie ein Passwort benutzt hat. Wenn sie jetzt eines hinterlegt hat, muss sie misstrauisch geworden sein. Vielleicht ist ihr auch einfach bewusst geworden, dass ich trotz meines Respekts vor ihrer Privatsphäre doch mal einen Grund haben könnte, an ihren Laptop zu gehen.

Ich starre den Bildschirm an: Was könnte das verdammte Passwort sein?

Ich kann aber auch nicht wild drauflosraten. Keine Ahnung, ob der beim nächsten Hochfahren anzeigt, dass jemand erfolglos versucht hat sich anzumelden, und was dann? Oder die ganze Platte löscht sich automatisch, dann ist alles verloren!

Ich klappe den Bildschirm zu.

Ich brauche Hilfe.

Und zwar schnell.

Noch während ich das Haus verlasse, hänge ich bereits am Telefon und bedränge die Arzthelferin von Cian, ihn aus einer wichtigen Untersuchung und damit von irgendeinem Arschloch wegzuholen: „Es ist sehr wichtig! Es geht um Leben und Tod, verdammt!“, fluche ich pathetisch und das macht Eindruck, denn normalerweise bin ich ein freundlicher und ruhiger Mensch.

Es dauert trotzdem eine Ewigkeit, ehe Cian aufgeregt ins Telefon schnaubt: „Walther, was ist los? Ich bin gerade dabei, einem Patienten…“

„Das ist mir egal, hör zu!“

„Walther!“
„Nein, wirklich! Deine Ermittlerin wollte mir keine Kontaktnummer geben. Sie hat darauf bestanden, dass Sie sich bei mir in der Uni meldet. Aber jetzt ist was dazwischen gekommen und ich muss mit ihr sprechen, und zwar sofort.“

„Ich werde dir ihre Nummer nicht geben, wenn sie das nicht will.“

„Dann schick ihr eine SMS, sie soll mich auf dem Handy anrufen.“
„Was ist denn passiert?“

Ich berichte ihm kurz von dem Laptop-Problem und der Tatsache, dass Evelyn morgen das Land verlassen wird – mit besagtem Rechner.

„Mhmmm“, macht Cian und ich erkenne an seiner Stimmfärbung, dass er das Problem versteht. „Ich sehe, was ich tun kann, aber ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie sie dir da helfen kann.“

„Ich auch nicht, aber sie verdient ihr Geld damit und angeblich ist sie doch sooooo toll!“

Cian verspricht, sich umgehend um die Angelegenheit zu kümmern, und wir legen auf.

Ich fahre gerade auf den Parkplatz der Fakultät, als mein Handy klingelt. Wohlweislich habe ich es auf den Beifahrersitz gelegt, denn mein moderner Rosthaufen verfügt nicht über die Freuden moderner Konnektivität.

Oder Radio.

„Arschloch“, begrüßt mich meine Ermittlerin. „Was ist passiert?“

Ich setze sie ins Bild.

„Dann müssen wir improvisieren“, stellt sie fest und eine Pause entsteht, die sie mit Nachdenken, ich mit Einparken gestalte.

„Ich habe – Scheiße! – eine Idee. Aber es ist etwas riskant“, sagt sie.

„Das Ganze ist ja sowieso nicht gerade das, was man ne sichere Sache nennt, oder?“

„Haben Sie einen Freund, dem Sie absolut vertrauen und der sich die beschissenen Hände schmutzig machen würde? Also nicht ihr lieber Cian.“

Ich denke nach: Ich habe Rob! „Warum?“, frage ich trotzdem vorsichtig.

„Es ist ganz einfach: Sie laden Ihre Frau heute Abend schick zum Essen ein. Immerhin werden Sie sie eine Zeit nicht sehen! Scheiße! Ihr Freund bricht ins Haus ein, klaut den Laptop und das war es!“
Ich stutze: Das klingt wirklich einfach. Aber… „Kann ich nicht nach Hause fahren und den Laptop selbst klauen?“

„Nein“, kommt es postwendend zurück. „Sie haben selbst gesagt, dass das Passwort darauf hindeuten könnte, dass Ihre Frau misstrauisch geworden ist. Ich teile Ihre Skepsis! Das sicherste Alibi ist, wenn Sie während des Einbruchs mit ihr zusammen sind und erst gemeinsam sehen, was zuhause passiert ist. Unterm Strich wird es darauf ankommen, ob sie Ihnen Ihr Erstaunen und Ihre Bestürzung abnimmt. Scheiße!“

„Also hängt alles von meinen schauspielerischen Fähigkeiten ab?“

„Und Ihr Kumpel sollte keine Spuren hinterlassen, denn natürlich werden Sie die Polizei verständigen und die werden den Fall untersuchen. Das einzig Gute ist, dass es so viele Einbrüche gibt, dass die Behörden vollkommen überlastet sind.“

„Mhmmm“, mache ich und bin bereits einen Schritt weiter. „Danke.“

Ohne ein weiteres Wort legt sie auf.

Ich bleibe einen Augenblick im Wagen sitzen und gehe meine Optionen durch, wie man so schön sagt.

Optionen – Plural: Als ob ich mehrere hätte.

Die richtige Formulierung wäre wahrscheinlich, ich überlege, wie ich Rob davon überzeuge, eine Straftat vorzugaukeln, die keine ist. Denn falls man ihn erwischt, würde ich die Anzeige natürlich zurückziehen. Er würde keinen Ärger bekommen, ich schon und dann kämen noch die Konsequenzen hinzu, die das mit Evelyn nach sich ziehen würden…

Wie sich schnell herausstellt, ist Rob Feuer und Flamme, als ich ihm von meinem Plan erzähle – und das ist noch untertrieben. Er kriegt sich vor Freude gar nicht mehr ein, als ich ihm vorsichtig am Telefon meine Notsituation darlege.

„Kein Problem, Alter!“, ruft er. „Ich zieh das durch!“

Ich frage mich, warum er so scharf darauf ist, aber gut… Wir verabreden, dass ich um zwei zu ihm in den Laden komme, um die Details durchzugehen.

Dann kommt der nächste Anruf.

Ein noch schwierigerer.

„Ja?“, fragt die Frauenstimme am anderen Ende der Leitung.

„Hi, Schatz“, flöte ich. „Ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass ich eine Überraschung für dich vorbereitet habe.“

„Noch eine?“

„Ja… Die letzte ist ja…“

„In die Hose gegangen?“

Ich schmunzle gequält über diesen vollkommen neuen und nie gehörten Witz: „Zum Glück nicht.“
„Aber es war knapp.“

Wie gesagt: Diesen Witz haben wir schon öfters gemacht. Eigentlich jedes Mal, wenn ich nervositätsbedingten Durchfall hatte: Zum Glück nehme ich ja jetzt Tabletten.

„Ich habe einen Tisch reserviert. Was hältst du davon, wenn ich dich nach der Arbeit abhole? Wir können ja auch vorher noch etwas in die Stadt gehen, je nachdem, wie viel Zeit wir haben?“

„Das hört sich wundervoll an.“

„Wann hast du deinen letzten Klienten?“

„Warte…“ Ich höre das Klimpern von Tasten. „Das müsste… Ich schätze, ich bin um fünf durch.“

„Hervorragend. Wir sehen uns dann!“

„OK. Ich liebe dich.“

„Dich auch“, nuschle ich und drücke sie weg. Mein Magen rumort. Tabletten hin oder her: Das hier ist eine echt harte Nummer.

***

Als ich meinen Dienstrechner im Büro anschmeiße, habe ich genau eine Mail im Eingang, aber die hat es in sich: Ziemlich verklausuliert steht dort, dass ich mich umgehend beim Dekan einzufinden habe.

Das ist nicht gut. Es ist nie gut, wenn man zum Chef muss.

Ich werfe Rhys einen kurzen Seitenblick zu, aber der sitzt unbeeindruckt hinter seinem Schreibtisch und hackt irgendwas in seine Tastatur, während er zufrieden lächelt: Beneidenswert, denke ich. Aber er muss sich ja nicht riechen. Ich mustere ihn eingehend: Und er scheint gesund zu sein…

Ich verlasse mein Büro und mache mich langsam auf den Weg zum Dekan. Dabei zermartere ich mir mein Hirn, was ich ausgefressen haben könnte, aber mir fällt nichts ein: Ehrlich gesagt hatte ich gar nicht die Gelegenheit, groß Mist zu bauen, weil ich zuletzt öfters früher gegangen bin – und heute erst um 11 überhaupt aufgetaucht bin. Und in zwei Stunden würde ich mich schon wieder verdünnisieren.

Allerdings habe ich die Zeit, die ich hier war, nicht gerade gut genutzt, zumindest nicht im klassischen Sinne…

An der Uni geht es nicht um Forschung. Das glauben nur Idioten, Studenten und Idealisten. Idealisten sind erfahrungsgemäß oft eine Kombination der ersten beiden Gruppen.

An der Uni geht es nicht um Forschung, sondern die Akquise von Forschungsgeldern. Deswegen zwingt man uns, regelmäßig irgendwelche Projekte zu konzipieren, für die wir dann Gelder beschaffen sollen, möglichst viel und möglichst langfristig. Wer gut darin ist, klettert die Leiter hoch, wer schlecht, landet bei Rhys.

Ich weiß, dass ich kein guter Verkäufer bin. Sie könnten mir einen nagelneuen Sportwagen geben – und ich würde ihn nicht loswerden. Es geht dabei nicht ums Produkt, sondern das Verkaufen an sich. Wenn man aber erkannt hat, dass es nicht am Produkt, sondern dem eigenen Unvermögen des Verkaufens liegt, macht das alles um einiges leichter: Seit dieser Erkenntnis gebe ich mir keine Mühe mehr, wenn ich Projekte plane, da sie ohnehin niemand haben will. Inzwischen brauche ich einen Vormittag für einen Antrag. Damals habe ich wochenlang formuliert, recherchiert und so weiter – nur um dann zu erfahren, dass niemand daran interessiert ist. Inzwischen muss ich ein Lächeln unterdrücken, wenn es ein Projekt mal wieder nicht geschafft hat.

Der Uni ist es allerdings sehr wichtig, dass wir es trotzdem versuchen.

Vielleicht ist es das, denke ich, während ich mich dem Büro des Dekans nähere. Vielleicht bekomme ich Ärger, weil sie es gemerkt haben…

Unser Dekan ist ein wirklich bedeutender Mann. Zumindest geht er davon aus. Ich würde ihm jetzt deswegen aber keine Arroganz unterstellen: Jeder Professor glaubt, die Welt wäre ohne ihn viel schlechter dran, und wäre ich Professor, würde ich das bestimmt auch glauben. Vielleicht bin ich nur kein Professor, weil ich keine so hohe Meinung von mir habe, sondern eine realistische… Wer weiß?

Ich gehe innerlich meine aktuellen Forschungsanträge durch: Beim letzten Mal habe ich mich mit dem Bereich der laktosefreien Nahrungsmittel auseinandergesetzt. Ich finde, das hört sich gut an, wird aber vollkommen überbewertet: Heute sind alle laktoseintolerant, dabei müssen sie nur furzen, weil in den ganzen Fertiggerichten, die sie gestresst in sich reinschaufeln, zu viele Zwiebeln und tonnenweise Sellerie verarbeitet ist. Natürlich sitzt sich die gestresste, intellektuelle Oberschicht dabei den Hintern platt und wundert sich dann abends, dass sie Bauchschmerzen hat – und Rücken!

Ich weiß nicht mehr genau, was ich da geplant habe. Das ist eben das Problem, wenn man wenig Zeit für so ein Projekt benötigt - aber es war ganz gut.

Glaube ich.

Bestimmt!

Nicht dass es einen Unterschied machen würde.

Die Sekretärin des Dekans ist ein alter Drache. Furchtbar unfreundlich scheucht sie mich an ihrem Schreibtisch vorbei in das Büro ihres/unseres Chefs, was kein gutes Zeichen ist: Der Herr Dekan ist nämlich immer sehr beschäftigt. Er trägt stets maßgeschneiderte Anzüge und legt viel Wert auf ein gepflegtes Äußeres. Ihm ist nämlich wichtig, dass man ihn trotz seines Forschungsgebietes nicht für ein Landei hält, und deswegen jagt er jedem städtischen Trend hinterher und drückt sich besser aus als ein Manager der Medienbranche.

Als ich sein Büro betrete, sitzt er hinter seinem Schreibtisch und wischt energisch über sein Tablet. Wahrscheinlich spielt er in Wahrheit irgendein Spiel, aber er wirkt sehr businnessmäßig.

Dann blickt er auf und sein Gesicht verschlägt mir den Atem, sprich: Ich bin geschockt.

Er lächelt!

Nein: Er strahlt, als wäre es in seinem Gesicht zu einer unkontrollierbaren Kernschmelze gekommen, und ich nehme mir vor, neben meinen Reisetabletten zukünftig auch Jodtabletten stets mit mir zu führen.

„Mein lieber Dr. Green!“, ruft er begeistert. Seltsam: Eigentlich sind sich alle hier einig, dass meine akademische Wertigkeit so gering ist, dass man mich nicht mit „Doktor“ anzureden braucht.

„Guten Tag, Herr Dekan“, stümpere ich unbeholfen.

„Ach, was soll das denn?“, fragt er und eilt um seinen Schreibtisch, um meine Hand zu schütteln: Natürlich hat er einen schlaffen Händedruck, er ist ja kein Bauer.

„Nennen Sie mich Ian!“

„OK… Ian, danke.“

Er platziert mich vor seinem Schreibtisch auf einem extremst bequemen Besucherstuhl. Dann nimmt er selbst auch Platz. Er will gerade anfangen zu reden, als er einen Finger hebt und zum Telefon greift.

„Hallo? Bringen Sie uns doch bitte zwei Milchkaffee, ja? Und ein paar Kekse.“

Er grinst mich an, als er den Hörer weglegt: „So, dann zu Ihnen, mein lieber Dr. Green!“ Er strahlt schon wieder und ich bin mir sicher, dass das gesundheitliche Risiken für mich zur Folge haben wird.

„Sir… Ian… Ich bin etwas verwirrt“, gestehe ich.

Er grinst noch breiter: „Das habe ich mir gedacht. Aber ich wollte Ihnen die gute Nachricht gerne selbst überbringen.“

Ich habe keine Ahnung, was er von mir will.

„Ihr Projekt“, lässt er die Katze aus dem Sack. „Die Finanzierung steht. Das Laktose-Projekt!“

Meine Augen weiten sich: „Dafür hat sich jemand gefunden?“

„Ja!“, ruft er begeistert, dann senkt er seine Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern: „Das Beste ist aber, wer investieren will.“

Die Tür öffnet sich und die griesgrämige Sekretärin bringt zwei Gläser Milchkaffee und einen Teller Kekse auf einem Tablett herein. Sie serviert alles formvollendet, inklusive eines bösen Blickes für mich, und verschwindet wieder.

Der Dekan, mein neuer bester Freund mit Namen Ian, rührt freudig erregt in seinem Kaffee herum und fährt fort: „Es sind Chinesen! Das war genial von Ihnen! Dass Sie die als Zielgruppe benannt haben.“

Ich erinnere mich, was mit Asien oder so geschrieben zu haben. Ich glaube, ich hatte im Internet gelesen, dass viele Asiaten Probleme mit Laktose haben und daher aufgeführt, dass sich hier ein Markt öffnen könnte. Allerdings bin ich bestimmt nicht der Erste, der auf diese Idee gekommen ist.

„Ein chinesischer Investor möchte gerne in Sie investieren. Natürlich ist es noch nicht die ganz große Summe, aber darum geht es nicht. Es geht darum, einen Fuß in die Tür zu bekommen!“ Er trinkt einen Schluck Kaffee, lehnt sich im Stuhl zurück und sieht mich mit väterlicher Güte in den Augen an: „Wer hätte gedacht, dass Sie für uns den asiatischen Markt erobern? Ausgerechnet Sie?“

Ich nehme mir einen Keks. Wenn man einen vollen Mund hat, muss man nichts sagen, auch wenn mein Chef das nur rhetorisch meinte, zumindest hoffe ich das inständig.

„Natürlich habe ich sofort ein paar Anrufe getätigt“, sagt er und jetzt huscht ihm ein Lächeln übers strahlende Gesicht, sodass es kaum auffällt. „Sie erhalten ein neues Büro.“ Wieder senkt er die Stimme: „Barry ist ja… Na ja… Nicht der angenehmste Zeitgenosse.“ Dabei tippt er sich verschwörerisch an die Nase.

„Danke“, sage ich, nachdem mein Keks leider meinen Magen erreicht hat. „Das ist sehr… freundlich.“

„Ach, ein Kinderspiel. Demnächst kommt der Investor auch hierher, dann können Sie ihn persönlich kennenlernen.“

Ich nicke.

„Und Sie erhalten eine Gehaltserhöhung.“

***

Als ich das Büro des Dekans verlasse, gehe ich auf direktem Weg zu meinem Auto und fahre los.

Ich habe kein Ziel.

Ich will nur weg.

Das ist mir alles zu viel.

Natürlich sind das gute Neuigkeiten. Nach Jahren des beruflichen Stillstandes geht es weiter. Ich habe zwar keine Ahnung, nach was ich forschen soll, aber das ist egal. Ich schreibe immer einen Passus in diese Anträge, dass wir vielleicht nichts rausfinden und die Investoren auf eigenes Risiko handeln. Anscheinend hat einer meine Darstellung nicht gründlich genug gelesen oder er hat zu viel Geld.

Auch die Tatsache, dass ich Rhys nicht mehr riechen muss, ist etwas Gutes.

Aber ein Faktor verhagelt mir alles und das kann ich leider nicht wegdiskutieren: Evelyn. Sogar jetzt, in diesem Moment.

Mein erster Impuls war: „Das muss ich Evelyn erzählen.“ Als mir klar wurde, dass sie das nicht interessieren wird, war das ein fieser Stich, der wirklich wehgetan hat, aber dann wurde mir bewusst, dass sie auf keinen Fall etwas von meinem Erfolg erfahren darf! Denn dann erfährt sie auch etwas von meiner Gehaltserhöhung.

Mehr Gehalt = mehr Geld.

Mehr Geld = höhere Tilgungsraten für das Haus.

Höhere Tilgungsraten = schneller schuldenfrei.

Schneller schuldenfrei = Walther stirbt früher.

Walther stirbt früher = ätzend!

Zusammengefasst: Mehr Gehalt = ätzend!

Ich muss also alles daran setzen, meiner Frau zu verheimlichen, dass ich mehr Geld verdiene, damit sie keinen Grund hat, mich früher als geplant zu töten. Leider verwaltet sie unsere Finanzen und sieht genau, was ich verdiene…

Ich setze den Blinker und halte am Straßenrand im Parkverbot.

Warnblinklicht.

Dann schnaufe ich durch.

Eins nach dem anderen.

Jetzt muss ich erst mal den Laptop besorgen.

Und dafür brauche ich Rob.

Ich bin geliefert.

Um überhaupt die Chance zu haben, geliefert sein zu können, muss ich mich jetzt um etwas anderes kümmern: Ein passendes Lokal für mein romantisches Date mit Evelyn.

Wie sich schnell herausstellt, ist das aber gar nicht so einfach. Denn das Lokal muss etwas Besonderes sein, immerhin möchte ich ja meine heiß geliebte Frau überraschen und mir nicht ein Alibi erschleichen, damit sie nicht auf dumme Gedanken kommt und mich vorzeitig tötet …

Ein italienisches Restaurant scheidet aus, denn morgen fährt Evelyn ja nach Italien und wird dort genügend Pizza und Pasta essen. Chinesisch wäre auch eine Variante, aber das erinnert mich ehrlich gesagt zu sehr an meinen beruflichen Erfolg, der sich leicht in einen Todes-Katalysator verwandeln könnte: Nicht gut.

Bei dem Gedanken an den chinesischen Investor bekomme ich Magengrummeln und ich werfe eine Reisetablette ein, nur für alle Fälle.

Italienisch, chinesisch – meine Kenntnisse über die weltläufige Küche sind damit erschöpft, also befrage ich das Internet. Es informiert mich darüber, dass es außerhalb der Stadt ein kleines deutsches Lokal gibt, wo „gute Hausmannkost aus Bayern“ serviert wird: Wurst, Schnitzel, Sauerkraut… Und Bier – nicht die schlechteste Sache, wenn auch nicht romantisch im klassischen Sinne. Ich seufze und stelle mir ein großes Weißbier vor – und bin davon überzeugt, das passende Lokal gefunden zu haben.

***

„Was ist das denn?“, fragt Evelyn und zieht die Augenbrauen hoch. Sie ist in ihrer Pause nach meinem Anruf schnell in die Stadt gegangen und hat sich für den Abend ein schickes Kleid gekauft.

Als würde sie dafür einen besonderen Anlass brauchen. Andererseits soll mir jeder Grund recht sein, der unseren Kontostand reduziert.

„Das… Ich weiß nicht. Also im Internet hörte sich das sehr viel… Also da stand, das wäre was Besonderes, ehrlich!“, entschuldige ich mich.

Wir stehen vor einem alten, windschiefen Haus. Davon gibt es viele in Irland, aber die wenigsten von ihnen behaupten, ein weltberühmtes Restaurant zu beherbergen. Ein altes Schild verkündet, dass man hier die bayrische Gastfreundlichkeit erleben könne und auch wenn ich noch nie in Bayern oder Deutschland gewesen bin, kann ich mir nicht vorstellen, dass die Bayern das gerne so stehen lassen würden.

„Also… Ich würde sagen, eigentlich sieht es aber ganz gut aus“, versuche ich die Situation zu retten und lächle meine Frau an.

Sie sieht mich an – und lächelt nicht. Ich weiß nicht, was das für ein Gesichtsausdruck ist. Vielleicht fühlt sie sich ja jetzt in ihrem Vorhaben bestätigt, diesen Kerl neben ihr bald um die Ecke zu bringen. Oder vielmehr bringen zu lassen, denn wir leben ja in einer Dienstleistungsgesellschaft, in der man unliebsame Tätigkeiten outsourct.

„Komm, lass uns wenigstens mal reingehen“, sage ich, tätschle ihre Hand (sie ist kalt und steif) und steige dann schnell aus, um mich der Strafkraft ihrer Augen zu entziehen.

Der Boden vor dem Gasthof ist „naturbelassen“, sprich, man steht im Dreck. Ich finde das nicht schlimm, ich höre aber von Evelyn ein Geräusch des Unmutes, als ihre High-Heels im Dreck versinken.

Ich muss innerlich grinsen und bemühe mich, diese innere Regung zu unterdrücken. Apropos innere Regung: Vor diesem Date habe ich drei Tabletten eingenommen! Sicher ist sicher!

Nun eile ich um den Wagen und ergreife den Arm meiner Frau, um sie, galant wie ich bin, zum Eingang zu geleiten. Natürlich nimmt sie meine Bemühungen nicht zur Kenntnis.

Als wir die Tür öffnen, bin ich von den Eindrücken überwältigt. Alles ist wie in einem original deutschen Wirtshaus, wie man es sich außerhalb von Deutschland vorstellt, was bedeutet: Es riecht nach Bier.

Es ist überhitzt.

Ein paar Besoffene grölen.

Hinter der Theke steht ein Dicker mit Schnauzer, der Bier in riesige Biergläser zapft.

Ergo: Ich bekomme Durst.

Ich werfe Evelyn einen Seitenblick zu: Sie ist entsetzt und mir wird klar, dass ich bei der Lokalauswahl ein glückliches Händchen gehabt habe! Sie findet es total ätzend, kann mir aber nicht vorwerfen, ich hätte mir keine Mühe gegeben. Das erste Mal seit langem verspüre ich ein Gefühl des Triumphes und der Überlegenheit – und das gegenüber meiner Frau!

Ich steuere zielsicher auf die Theke zu: „Abend!“, rufe ich dem Wirt selbstbewusst zu. „Ich hatte einen Tisch reserviert. Auf den Namen Green.“

„Ach, ja mei!“, rumpelt der Wirt und ich kann ihn kaum verstehen, so undeutlich spricht er. „Dann war das dein Ernst? I dachte, das wär a Scherz!“

„Nein.“

„Wir haben keine Reservierungen. Hockts euch einfach nieder.“

Ohne einen Blick auf meine Frau zu riskieren, schreite ich zu einem Tisch, der etwas abseits steht.

Ich muss sagen, auch wenn sie mich töten will und ich zuvor Schadenfreude empfunden habe, tut mir Evelyn jetzt leid, wie sie ihren Mantel auszieht und in einem schicken, engen Kleid dasteht und so deplatziert wirkt wie…

Also es ist wirklich schlimm.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752100525
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Oktober)
Schlagworte
Eifersucht Liebe Galway Irland Humor Liebesroman

Autor

  • Torben Stamm (Autor:in)

Torben Stamm schreibt in seiner Freizeit gerne Krimis, Thriller und Fantasy!
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Titel: Die geplante Ermordung des Walther Green und dessen seltsame Bemühungen, diese zu verhindern - Eine Groteske mit viel zu langem Titel