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Kruento - Der Aufräumer

von Melissa David (Autor:in)
404 Seiten
Reihe: Kruento, Band 3

Zusammenfassung

Zwei verfeindete Gruppierungen, ein gefährliches doppeltes Spiel und eine Liebe, die nicht sein darf.

Die Vampirin und Computerspezialistin Isada hat sich der Splittergruppe Gen Guards angeschlossen, deren erklärtes Ziel es ist, die Inimicus zu bekämpfen. Bei einem misslungenen Einsatz fällt ihr Laptop Pierrick, dem Aufräumer des Clans, in die Hände. Er bittet ausgerechnet Isada um Hilfe, das Sicherheitssystem ihres eigenen Rechners zu knacken.
Je länger sie für Pierrick arbeitet, desto mehr fühlt sie sich zu ihm hingezogen. Auch er scheint Gefühle für sie zu entwickeln, doch er ist bereits verheiratet - mit Isadas Schwester.
Für die junge Vampirin beginnt ein gefährliches Doppelspiel und schon bald ist nicht nur ihr Leben in Gefahr.

Jedes Buch ist in sich abgeschlossen.

Die Reihe im Überblick
Kruento - Heimatlos (Novelle)
Kruento - Der Anführer (Band 1)
Kruento - Der Diplomat (Band 2)
Kruento - Der Aufräumer (Band 3)
Kruento - Der Krieger (Band 4)
Kruento - Der Schleuser (Band 5)
Kruento - Der Informant (Band 6)

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Klappentext


Die Vampirin und Computerspezialistin Isada hat sich der Splittergruppe Gen Guards angeschlossen, deren erklärtes Ziel es ist, die Inimicus zu bekämpfen. Bei einem misslungenen Einsatz fällt ihr Laptop Pierrick, dem Aufräumer des Clans, in die Hände. Er bittet ausgerechnet Isada um Hilfe, das Sicherheitssystem ihres eigenen Rechners zu knacken. 

Je länger sie für Pierrick arbeitet, desto mehr fühlt sie sich zu ihm hingezogen. Auch er scheint Gefühle für sie zu entwickeln, doch er ist bereits verheiratet - mit Isadas Schwester.

Für die junge Vampirin beginnt ein gefährliches Doppelspiel und schon bald ist nicht nur ihr Leben in Gefahr.

Impressum


E-Book

1. Auflage September 2016

203-346-01

Melissa David

Mühlweg 48a

90518 Altdorf

Blog: www.mel-david.de 

E-Mail: melissa@mel-david.de 



Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss

www.juliane-schneeweiss.de

Bildmaterial: © Depositphotos.com


Lektorat, Korrektorat:

Jana Oltersdorff



Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form bedürfen der Einwilligung der Autorin.

Personen und Handlungen sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Ausnahme bildet die Vampirin Bella, die eine Rolle im Buch gewonnen hat.

Kruento




Der Aufräumer

Band 3


von

Melissa David

Vorwort


Lieber Leser,


dieses Buch enthält ein Glossar, das sich im Anschluss der Geschichte befindet. In diesem Glossar werden unbekannte Begriffe erklärt. Wenn du das Glossar vorab lesen möchtest, bitte hier klicken.

Um auch die Vampirbegriffe, die im Buch verwendet werden, zu verstehen habe ich unbekannte Wörter beim ersten Auftauchen direkt zur Erklärung verlinkt. Du musst also nur draufklicken. In der Regel kommst du mit „zurück“ wieder zur aktuellen Textstelle.

Ich hoffe, dir ist das Glossar eine Hilfe, um die Welt der Kruento besser zu verstehen. Solltest du technische Probleme haben, kannst du dich gerne unter melissa@mel-david.de an mich wenden.

Du möchtest noch tiefer in die Welt von Kruento eintauchen? Auf meinem Blog findest du spannende Artikel mit Hintergrundinformationen über die Kruento.


Nun wünsche ich dir viel Spaß beim lesen. Mache dich bereit und tauche ein in die Welt der Kruento.


Deine Melissa David

Kapitel 1


Ein schwarzer Bus mit getönten Scheiben hielt in einer kleinen Seitenstraße in der Nähe des LDC-Towers.

Isada umklammerte ihren Laptop. Rico, der Fahrer des Busses, blieb sitzen, während die Vampirin nach hinten kletterte und sich zu den zwei Männern setzte. Ihre Mienen zeigten Entschlossenheit. Jeder von ihnen wusste, worum es ging. Isada klappte den Computer auf, und sofort erschien der 3D-Lageplan des Towers. Angespannt konzentrierte sie sich auf den Bildschirm. Jetzt durfte nichts mehr schiefgehen. Die Technik hatte sie so oft überprüft. Erleichtert atmete Isada auf, als zwei blinkende Punkte aufleuchteten, die sich noch ein ganzes Stück vom Tower entfernt befanden. Um genau zu sein, befanden die Punkte sich genau an der Stelle, an der sie ihren Bus geparkt hatten. Isada blickte auf, musterte Rave und Vario, die beide einen Chip bei sich trugen, mit dem sie jeden ihrer Schritte genauestens verfolgen konnte.

„Ihr könnt los.“

Rave und Vario sahen sich an.

„Hast du den Stick?“, fragte Rave.

Vario griff in seine Tasche, zog die wenige Zentimeter große Speicherkarte hervor und verstaute sie sicher.

„Gehen wir.“ Rave zog die Kapuze seiner Trainingsjacke über den Kopf und stieg aus.

Vario folgte ihm. Die Tür des Busses schlug hinter den beiden Vampiren zu. Isada und Rico blieben allein zurück.

Isada verfolgte auf ihrem Bildschirm, wie sich die zwei Punkte dem LDC-Tower näherten.

Es war still im Bus. Nur das unregelmäßige Trommeln von Ricos Fingern auf dem Lenkrad war zu hören.

„Kannst du bitte damit aufhören?“ Isada war genervt. Das Projekt zu begleiten kostete Konzentration.

Ihre Blicke begegneten sich im Rückspiegel. Die Anspannung stand nicht nur ihr ins Gesicht geschrieben. Rico knurrte, nahm seine Hände jedoch vom Lenkrad.

Isada griff nach dem In-Ear-Monitoring und steckte es sich an. Vario und Rave befanden sich nun direkt vor dem Eingang des Towers. Sie überbrückte die Sicherheitskameras und spielte das Video der vergangenen Nacht ein.

„Wir betreten jetzt das Gebäude“, hörte sie Rave sagen.

Isada blickte kurz auf die Uhr. Sie befanden sich perfekt im Zeitplan. Es war weit nach Mitternacht, die Straßen und der LDC-Tower wirkten wie ausgestorben.

„Ich bin im Aufzug“, sagte Vario in diesem Moment.

Isada stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Es lief besser als gedacht. Sie hatten nicht genau gewusst, ob es Vario gelingen würde, mit dem Aufzug nach oben zu fahren. Wäre er über das Treppenhaus gegangen, hätte das beim Wachpersonal, das sich auch zu später Stunde noch im Gebäude befand, Aufmerksamkeit erregt.

Während sich Varios blinkender Punkt in der 3D-Animation in die Höhe erhob, blieb Raves in der Eingangshalle.

Isada hatte sich vor Ort alles genauestens angesehen. Hinter dem großen Tresen an den zwei Schaltern saßen tagsüber zwei Sicherheitsbeamte, nachts nur einer. Einige Grünpflanzen und ein Zeitungsständer schirmten den Wartebereich ein wenig ab. Und genau dort musste sich Rave in diesem Augenblick aufhalten.

Schier endlos schien es zu dauern, bis Vario das oberste Stockwerk erreichte. Zu Fuß wäre er natürlich deutlich schneller gewesen.

„Ich bin da“, kommentierte Vario und fluchte im nächsten Moment. „Ich brauche einen Zugangscode“, erklärte er.

Isada zoomte den Bereich, in dem Vario sich befand, näher heran. „Das kann nicht sein.“ Fieberhaft suchte sie eine Erklärung für die verschlossene Tür, die nicht eingezeichnet war und die es demzufolge nicht geben dürfte.

„Ich kann den Wachmann befragen?“, schlug Rave vor.

„Nein“, entgegnete Isada rasch. Sie wollte nicht, dass das Projekt gefährdet wurde. „In welchem Stockwerk bist du?“

„Im obersten“, antwortete Vario genervt.

„Im wievielten Stockwerk genau?“, wiederholte sie ihre Frage eindringlich. Sie hörte Varios Stöhnen.

„Warte, ich sehe im Aufzug nach.“

Es dauerte etwas. „Siebenundzwanzig“, meinte er dann ungeduldig.

Isada verkleinerte das Bild vor sich, sodass sie das komplette Gebäude betrachten konnte. Sie musste nachdenken – schnell.

Eine Vermutung keimte in ihr auf. Sie zählte noch einmal die Stockwerke und kam wie Vario auf siebenundzwanzig. Entschlossen klappte sie den Laptop zu und schob die Bustür auf.

„Nicht, Isada. Was machst du?“, rief Rico ihr hinterher.

Isada reagierte nicht, sondern schloss geräuschvoll die Bustür. Dann rannte sie auch schon mit dem Computer unter dem Arm in Richtung des Gebäudekomplexes, in dem sich Vario und Rave befanden.

Als der Tower sichtbar wurde, blieb Isada stehen und begann die Stockwerke abermals abzuzählen. Diesmal anhand der Fenster. Sie stutzte und begann noch einmal von Neuem zu zählen. Nun war sie sich ganz sicher.

„Du musst in den achtundzwanzigsten Stock.“

Schweigen.

„Hast du mich verstanden?“, fragte Isada nach.

„Du sagtest, ich soll ganz nach oben fahren, das habe ich gemacht. In diesem Gebäude gibt es kein weiteres Stockwerk.“

„Doch“, beharrte Isada.

Vario schnaubte: „Ich stehe hier im Aufzug. Es gibt genau siebenundzwanzig Stockwerke, ein Erdgeschoss und zwei Kellergeschosse.“

„Ich stehe hier vor dem Gebäude und habe nachgezählt. Es gibt einen achtundzwanzigsten Stock“, erklärte Isada noch einmal. Die Unruhe in ihr wuchs. Ein Blick auf die Uhr, und sie wusste, dass sie dem Zeitplan mittlerweile um acht Minuten hinterher hinkten.

„Versuch es über das Treppenhaus“, schlug Rave vor.

„Okay.“

Isada sah sich um. Sie brauchte einen Platz, an dem sie ungestört die Operation weiterverfolgen konnte. Sich hier auf der öffentlicher Straße aufzuhalten, war nicht unbedingt klug, die Zeit reichte jedoch nicht, um zurück zum Bus zu laufen. So blieb ihr nichts anderes übrig, als den Einsatz von hier aus zu überwachen.

Nicht weit entfernt entdeckte Isada ein Steakhouse mit einer großzügigen Terrasse. Das Geschäft hatte längst geschlossen, die Sonnenschirme waren eingeklappt und die Stühle zusammengestellt. Isada setzte sich auf die Terrassenbegrenzung. Die Sträucher hinter ihr boten Schutz, dass niemand ihr über die Schulter blicken konnte. Eilig klappte sie den Laptop wieder auf und sah, wie Varios Punkt sich dem Dach näherte. Sie blickte hinauf, konnte von hier unten jedoch nichts sehen.

„Bist du auf dem Dach?“

„Nein. Du hattest recht, es gibt hier noch ein weiteres Stockwerk.“

Erleichtert atmete Isada aus. Wie konnte ihr so etwas während der Vorbereitungen entgangen sein?

„Ich bin jetzt oben. Hier ist eine massive Stahltür mit einem Sicherheitsschloss. Ich brauche eine Chipkarte, um hineinzukommen.“

„Mist!“ Isada lagen noch weit schlimmere Schimpfwörter auf der Zunge, die sie tapfer hinunterschluckte. Ihre Finger bearbeiteten die Tastatur, während sie die gesammelten Dokumente durchsah, um einen Hinweis auf eine Chipkarte oder dergleichen zu bekommen.

„Ich finde einfach nichts.“ Sie klang frustriert. Wenn sie nicht fündig wurde, mussten sie die Operation abbrechen.

„Wie lange braucht die Polizei, bis sie hier sein wird?“, erkundigte sich Vario.

„Denk nicht einmal daran“, entrüstete Isada sich. „Dann wird nicht nur das Wachpersonal mitbekommen, dass etwas nicht stimmt, sondern auch die Ekklesia auf der Matte stehen.“

„Wenn du keinen Weg findest, machen wir es so“, beschloss Vario.

Isada zögerte das Unausweichliche hinaus. Sie wollte nicht klein beigeben, wollte nicht aufgeben, doch schließlich tat sie genau das. „Wir brechen ab.“

„Nein!“, verkündeten Vario und Rave gleichzeitig.

„Wenn ich die Tür aufbreche, müsste bei dem Sicherheitstyp der Alarm losgehen. Kannst du dich um ihn kümmern, damit er keine Verstärkung holen kann?“, fragte Vario.

„Aber klar“, entgegnete Rave.

„Das ist zu gefährlich.“ Isada fühlte sich unwohl dabei. Das, was ihre zwei Freunde da durchziehen wollten, war hirnrissig.

„Isada, wie lange, bis die Polizei da sein wird?“ Vario ließ einfach nicht locker.

Isada schloss kurz die Augen, blickte auf den kaum beleuchteten Tower vor sich und antwortete dann resigniert: „Zehn Minuten.“

Rave fluchte. „Das wird verdammt knapp. Schaffst du das?“

„Kümmere du dich darum, dass der Wachmann niemanden ruft. Alles andere überlass mir. Das wird schon klappen.“

Isada blickte nach links und rechts. Die Straße lag verlassen vor ihnen. Weder ein Fußgänger noch ein Auto waren zu sehen. Dennoch fühlte sie sich unbehaglich.

„Ich habe es gleich“, verkündete Vario.

„Ich auch!“ Rave hörte sich nicht so überzeugt an.

Isada hatte ebenfalls kein gutes Gefühl bei der Sache. Sie zögerte ihre Zustimmung hinaus. Sie hatten geplant, den Stick anzubringen, ohne dass die Polizei – und damit auch die Ekklesia – von ihrem Eindringen erfuhr. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie die einen Zoll große Speicherkarte fanden, war eher gering. Trotzdem hätte sie gerne Aufsehen vermieden.

„Also gut“, stimmte Isada schließlich zögernd zu. „Weißt du, was zu tun ist, wenn du drin bist, Vario?“

„Klar, das haben wir ja schon so oft durchgespielt. Ich bin soweit. Eins, zwei, drei.“

Isada hörte über ihren Ohrstöpsel einen Knall, Tumult brach aus, und sie konnte nicht ganz zuordnen, welche Geräusche von wem kamen. Durch den Knopf in ihrem Ohr hörte sie einen Signalton. Im zweiten Stock ging das Licht an.

„Der Wachmann ist bewusstlos und der Alarm abgeschaltet“, erklärte Rave.

Erleichtert atmete Isada kurz durch. „Beeil dich, Vario.“

Sie behielt die Countdown-Uhr stetig im Blick, ebenso Varios blinkenden Punkt, der sich auf ihrem Modell auf dem Dach befand.

„Ich bin drin“, rief Vario.

„Fuck“, brüllte Rave dazwischen.

„Was ist los?“ Aufgeregt rutschte sie auf der Steinmauer hin und her. Am liebsten hätte sie alles stehen und liegen gelassen und wäre in das Gebäude gerannt. Nur, weil ihr die Vernunft einbläute, dass so eine Aktion völlig sinnlos wäre, ließ sie es bleiben.

„Zwei Wachmänner“, keuchte Rave. „Einer davon ein Inimicus.“

Isada fühlte sich plötzlich schwer wie Blei. Die Polizei und die Ekklesia waren eine Sache, ein Inimicus eine ganz andere.

„Verschwindet!“, rief Isada aufgeregt. „Raus! Sofort!“

„Ich habe es gleich“, hörte sie Vario.

„Rave?“ Es war ihr egal, dass ihre Stimme zitterte. „Rave? Verdammt, sag etwas!“ Sie presste sich schnell eine Hand auf ihrem Mund, damit sie nicht laut aufschrie.

„Der Stick steckt. Ich schau nach Rave“, verkündete Vario.

„Nein“, flüsterte Isada fassungslos. „Schau, dass du rauskommst. Die Polizei ist gleich da.“

„Ich lass Rave nicht allein.“

Isada starrte auf den grünen Punkt, der sich schnell fortbewegte und in übermenschlicher Geschwindigkeit Stockwerk um Stockwerk zurücklegte.

„Rave?“, brüllte Vario, bekam jedoch keine Antwort.

Isadas Kehle war wie zugeschnürt. Warum antwortete Rave nicht? Sie hoffte inständig, dass er nur sein In-Ear-Monitoring verloren hatte und sich deswegen nicht meldete. Ein Inimicus, so ein Mist. Warum musste ausgerechnet ein Inimicus hier sein?

„Ich bin gleich in der Eingangshalle“, vernahm sie Varios Stimme.

Ein Poltern.

„Vario?“

„Wie lange habe ich noch?“

Schnell blickte Isada auf den Countdown. „Weniger als eine Minute.“

Testa! Haut sofort ab. Hörst du, ihr müsst weg sein, bevor die Polizei kommt! Rave und ich kommen schon irgendwie klar.“

„Was ist mit Rave?“ Isada musste es wissen, brauchte eine Bestätigung. Auf dem Monitor sah sie, dass Vario sich nun im Eingangsbereich befand.

Dass eine Antwort ausblieb, war kein gutes Zeichen. Isada zitterte. Es war ihr unmöglich, sich zu rühren.

„Er ist tot.“

Isada schloss die Augen.

„Ihr müsst sofort losfahren“, keuchte Vario. „Ich versuche, den Inimicus aufzuhalten.“

Begleitet von Varios schweren Atemgeräuschen, dachte Isada nach. Vario vermutete sie immer noch bei Rico im Bus.

Der Countdown näherte sich dem Ende. In zwanzig Sekunden würde es hier von Polizisten wimmeln. Isada schluckte. Was sollte sie tun?

Vario schrie auf, gurgelte. Dann war nichts mehr zu hören.

„Vario?“, flüsterte sie tonlos. Nichts. „Vario?“ Tränen rannen ihr über die Wangen.

Die Eingangstür des Towers öffnete sich. Ein kleiner, aber dafür umso breiter gebauter Muskelprotz trat auf den Gehweg. Er trug eine graue Wachmannuniform. Langsam hob er die rechte Hand ans Ohr.

„Ich werde dich finden“, hörte sie eine kehlige Stimme. Die Härchen auf ihrem Körper stellten sich auf.

Der Inimicus blickte in ihre Richtung und kniff die Augen zusammen.

Es gab nichts, wo sie sich hätte verstecken können und so blieb sie einfach sitzen, tat so, als würde sie ihn nicht bemerken. Erst als er in ihre Richtung losrannte, sprang Isada auf, ließ den Laptop ins Gebüsch gleiten und stürmte los.

„Lauf nur, ich finde dich!“, hörte sie ihn in ihrem Ohr.

Eilig riss sie sich den In-Ear-Stecker heraus und schleuderte ihn auf die Straße. Sie musste den Kerl abschütteln. Unbewaffnet wie sie war, hätte sie keine Chance gegen den Inimicus, wenn dieser sie in die Finger bekam.

Isada hastete weiter, die Umgebung flog nur so dahin. Sie stolperte fast, als sie mit dem Absatz der Pumps an einer Unebenheit hängen blieb und verfluchte ihre Entscheidung, sich gegen ihre flachen Demonia-Sneakers entschieden zu haben.

Sie drehte sich vorsichtig um und schnupperte. Ein undefinierbarer Duft stieg ihr in die Nase und verwirrte ihre Sinne. Sie konnte nicht einmal sagen, ob der Inimicus sie noch verfolgte. So hastete Isada weiter. Nach den häufigen Richtungswechseln hatte sie völlig die Orientierung verloren. Erneut lief sie in eine andere Himmelsrichtung und erhaschte im Vorbeirennen einen Blick auf ein Ortsschild. Sie befand sich in South End. Die Straßen wurden kleiner, verwinkelter.

Drei Blocks später verlangsamte sie das Tempo, schnupperte noch einmal. Es roch nach Menschen, Abfall, einer Frittenbude in der Nähe und Meer. Kein Geruch, der sie verwirrte, kein Duft, den sie nicht zuordnen konnte. Sie wurde ruhiger. Der Inimicus befand sich also nicht mehr in ihrer näheren Umgebung. Suchend blickte sie sich um. South End war groß, und sie hatte noch immer keine Ahnung, wo sie genau war und wie sie von dort wieder nach Hause kommen würde.


* * *


Das grelle Blaulicht blendete Pierrick, als er aus seinem SUV stieg. Er setzte seine Sonnenbrille auf und machte sich auf den Weg in das Gebäudeinnere. Seve erwartete ihn bereits im Eingangsbereich.

„Wie ist die Lage?“, wollte er ohne Umschweife wissen und zog sich die Lederhandschuhe über.

„Zwei Tote. Rave Bagués von Soya Gregorio und Vario Karpinski von Soya Lucio. Beides Epheben. Sie haben eine Tür in der achtundzwanzigsten Etage aufgebrochen. Die Spurensicherung hat alles durchsucht, allerdings ebenso wenig gefunden wie Dale und Hadrian.“

Pierrick nickte. Es war immer gut, wenn sich seine Leute noch einmal umsahen. Menschen übersahen so viel. Nicht gut hingegen war allerdings, dass auch die zwei Vampire nichts gefunden hatten.

„FBI?“, wollte Pierrick wissen, als er die zwei ermittelnden Detectives sah, die ihm zunickten und sich dann einen Weg zu ihnen bahnten.

„Ja“, antwortete Seve knapp.

Pierrick wandte sich zu den zwei Detectives um. „Special Agent Legrand“, stellte er sich vor und reichte jedem von ihnen die Hand. „Wir übernehmen den Fall, da es sich um international gesuchte Verbrecher handelt. Mit Ihrem Chief ist bereits alles abgesprochen.“

Überrascht sahen sich die beiden Männer an.

Pierrick ging etwas um die Ecke, winkte die Detectives zu sich. Neugierig folgten sie ihm.

„Sie verstehen, dass wir das überprüfen müssen“, erklärte der Kleinere von ihnen.

„Selbstverständlich.“ Pierrick wartete, bis sie sich außer Sichtweite der anderen Menschen befanden, dann drehte er sich zu ihnen um und drang gleichzeitig in beide Köpfe ein. Er suchte nach Gedankenfetzen, die ihm weiterhelfen konnten. Es war nicht viel, was sie wussten. Im Wesentlichen hatten sie nur die zwei Ephebenleichen gesehen. Mit ihrer Arbeit waren die Detectives noch nicht sehr weit gekommen, dank dem schnellen Eingreifen seiner Männer. Anschließend tilgte er die Bilder der Toten aus den Köpfen und pflanzte dafür unbedeutende Erinnerungen ein. Ihr Chief hatte tatsächlich einen Anruf mit der Information erhalten, dass eine FBI-Sondereinheit aktiv wurde. Der Anrufer war niemand anderes als sein bester Mann, Seve, gewesen.

„Vielen Dank für Ihre Arbeit“, bedankte er sich bei den Detectives und schickte sie fort. Eilig traten sie den Rückzug an, verließen das Gebäude, ohne sich noch einmal umzublicken, stiegen in ihr Auto und brausten davon.

Pierrick ging zu Seve hinüber. Am Boden lagen die zwei Vampire. Beide waren geköpft worden.

„Inimicus?“, fragte er, während er die Epheben eingehend musterte.

„Ja.“

„Dokumentieren und aufräumen. Wissen Gregorio und Lucio schon Bescheid?“

„Noch nicht. Ich wusste nicht, ob du sie informieren möchtest.“

„Das überlasse ich dir. Ich werde Darius und Jendrael informieren.“

Seve nickte knapp und zückte sein Handy, um eine Notiz zu machen.

Gerade kamen Tilford und Sandor herein, zwei weitere Männer seines Teams, die jegliche Spuren vernichten würden.

„Ich werde mich oben umsehen“, erklärte Pierrick.

Seve zögerte kurz und entschied dann: „Ich begleite dich.“

Pierrick steuerte das Treppenhaus an. In vampirischer Geschwindigkeit ließ er Stockwerk um Stockwerk hinter sich. Seve konnte mit seinem Tempo problemlos mithalten. Als sie die oberste Etage erreichten, sah Pierrick die aufgebrochene Tür.

„Dadurch wurde der Alarm ausgelöst“, kommentierte Seve.

„Das hatte ich mir schon gedacht.“ Pierrick schob die Tür auf und betrat den Raum. Ein schmaler Gang war zu sehen. Rechts und links befanden sich deckenhohe Schränke, die mit Glastüren verschlossen waren. Dahinter befand sich das, worauf es die Epheben vermutlich abgesehen hatten.

„Die Firma Orion-Tec Security Inc. hat hier ihren Serverraum.“

Pierrick pfiff anerkennend durch die Zähne. „Nicht schlecht. Da hat wohl jemand Interesse an diesen Daten gehabt?“

Seve zuckte mit den Schultern.

„Weiß man, ob etwas fehlt?“

„Da müssten wir jemanden finden, der sich hier auskennt.“ Seve ließ seinen Blick über die unzähligen Kabel und Steckverbindungen gleiten.

Pierrick tat es ihm gleich. „Ich brauche Virus hier. Er soll sich das ansehen“, erklärte er knapp.

Seve hatte bereits das Telefon am Ohr. Deswegen schätzte er diesen Vampir als Mitarbeiter so ungemein. Er war zuverlässig, er war gründlich und was das Allerwichtigste war: Er war unglaublich schnell.

Über Pierrick schaltete sich ein Gebläse ein. Er blickte nach oben und inspizierte die Lüftung.

„Virus ist bereits auf den Weg.“ Seve steckte sein Handy wieder ein und holte Pierrick ein, der noch immer das Gebläse betrachtete. Beide Männer starrten nun auf das sich drehende Monstrum.

„Ist da etwas?“ Seve trat einen Schritt zur Seite, um einen anderen Blickwinkel auf das Objekt zu haben.

„Nein.“ Pierrick ging weiter und blieb erst stehen, als sich der Weg kreuzte. Er blickte nach rechts, runzelte die Stirn und sah nach links. Jeweils fünfundsechzig Fuß in jede Richtung. Er sah nach vorne. Bis zur Wand waren es nochmal locker dreißig Fuß. Wofür brauchte man so viel Speicherplatz?

„Welche Daten werden hier gesammelt?“, wollte Pierrick wissen.

Seve zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, aber ich werde es herausfinden“, erklärte er und zückte abermals sein Telefon.

Zehn Minuten später hatte Seve im Netz immer noch keine Antwort gefunden.

„Wow!“, stieß jemand begeistert hervor.

Pierrick hatte Virus bereits gerochen und wandte sich langsam zu dem Computergenie um, das inzwischen auf Darius’ Anwesen gezogen war und von dort aus die virtuellen Geschicke des Clans leitete.

„Kannst du mir sagen, was das ist?“ Pierrick machte eine allumfassende Handbewegung und hoffte darauf, dass Virus ihm ein paar Antworten liefern konnte. Sie mussten den Tatort bald räumen, und bis dahin gab es noch viel zu tun.

Virus ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und schritt bedächtig den Korridor entlang. Fasziniert strich er immer mal wieder über eine Glasfront der deckenhohen Schränke. „Unglaublich“, murmelte er ehrfürchtig.

„Was ist das hier?“ Langsam wurde Pierrick ungeduldig.

Virus ging an dem Soya vorbei, grinste dabei wie ein Kleinkind an Weihnachten und machte sich einige Meter von den anderen Vampiren entfernt zu schaffen.

Pierrick kam näher und sah, dass dort, wo Virus stand, etwas im Schrank fehlte. Gerade öffnete Virus die Glastür und stellte seinen Laptop auf den leeren Platz. Er griff nach einem Kabel, steckte es in seinen Laptop und fuhr diesen hoch.

Manchmal fragte sich Pierrick, ob diese ganze Technik nicht doch ein Fluch für sie alle war. Er mochte den Fortschritt und hatte sich ihm nie entzogen. Weder auf sein Mobiltelefon noch auf den Flatscreen in seinem Haus wollte er verzichten. Doch er kannte auch die Zeit, in der die Menschen mit Öfen heizten, Kerzen Licht spendeten und die ersten Tonaufnahmen noch in ferner Zukunft lagen. Er wünschte sich weiß Gott nicht in diese Zeit zurück, aber manchmal vermisste er die Ruhe und Gelassenheit, wie sie zu dieser Epoche geherrscht hatten.

„Wow!“, entfuhr es Virus, als er die ersten Daten auf seinem Bildschirm sah. „Das System kenne ich.“ Plötzlich war er sehr aufgeregt.

„Was ist das?“

„Hier werden sämtliche Überwachungsdaten aus ganz Boston gespeichert“, verkündete er freudestrahlend. „Ich habe mich schon öfter in ihr Netz gehackt.“

„Was wollten die Epheben hier?“, fragte Seve, der nun neben Pierrick stand.

„Woher soll ich das wissen?“ Virus konzentrierte sich auf die Daten, die über seinen Bildschirm huschten. „Den Serverraum vielleicht lahmlegen? Daten löschen? Keine Ahnung.“

„Was hätten sie davon?“, überlegte Seve laut.

Virus verfolgte die Datensätze, die sein Bildschirm ausspuckte. „Soweit ich feststellen kann, wurde das Programm weder gehackt, noch wurden Daten aus dem Speicher gelöscht.“

„Dann haben sie also ihre Aufgabe nicht zu Ende bringen können.“ Pierrick sah sich noch einmal um. Er fühlte sich hier drinnen nicht wohl. „Wenn du nichts Auffälliges feststellen kannst, gehen wir. Mach fertig.“

Seve schloss sich ihm an.

„Kümmern wir uns um die Wachleute.“

Der Vampir nickte Pierrick zu und ging voran. Während sie die Treppen ins Erdgeschoss hinabstiegen, blieb Seve stehen und drehte sich zu ihm um: „Glaubst du, die Epheben gehören den Gen Guards an?“

„Wie kommst du zu der Annahme?“

„Du hast die Gruppe heute noch kein einziges Mal erwähnt.“

Pierrick schwieg, dachte einen Moment nach und ging dann an Seve vorbei. „Das mag vielleicht daran liegen, dass mir diese Gruppierung zutiefst zuwider ist. Natürlich gehörten die Epheben den Gen Guards an. Was sonst sollten sie hier zu tun gehabt haben, als die blödsinnigen Befehle einiger irrer Vampire auszuführen, denen es egal ist, wenn sie unsere Kinder in den Tod schicken?“ Er biss die Zähne fest zusammen und versuchte damit zu verhindern, dass seine Fänge hervorschossen.

Endlich erreichten sie den Eingangsbereich. Tilford und Sandor hatten schnell und zuverlässig gearbeitet. Nichts deutete mehr auf die blutige Auseinandersetzung hin. Sämtliches Beweismaterial würde in Kürze in Flammen aufgehen und die Tat der jungen Vampire für immer verschleiern.

„Wir sind fertig“, erklärte Sandor.

Zur gleichen Zeit trat Dale durch die Tür. Während Hadrian vor der Tür Wache hielt und den Gebäudeeigentümer sowie den Direktor der Orion-Tec Security Inc. davon abhielt, das Haus zu betreten, hatte Dale die Umgebung abgesucht. Er hielt einen schwarzen Gegenstand in der Hand.

„Den Laptop habe ich gegenüber in einem Gebüsch gefunden“, erklärte er.

„Mal sehen, was Virus dazu sagt“, meinte Pierrick abweisend und machte eine ausladende Handbewegung.

„Ich bin schon da“, erklärte der blonde Vampir, schob sich an Pierrick vorbei und nahm das Gerät in Empfang.

„Ich habe die Gebäudeüberwachung der letzten Stunden heruntergeladen und gelöscht“, erklärte er freudestrahlend an Pierrick gewandt.

Dieser nickte anerkennend. Virus mochte jung sein und noch ordentlich Flausen im Kopf haben. Für einen Vampir war er gerade einen Wimpernschlag alt und hatte noch nicht einmal sein erstes halbes Jahrhundert hinter sich gebracht, aber auf dem Gebiet der modernen Technik war er unschlagbar.

„Wie lange wirst du noch brauchen?“, fragte Dale mit einem stirnrunzelnden Blick auf Hadrian, der sich vor der Tür noch immer abmühte, die zwei Männer in ihren grauen Anzügen abzuwimmeln.

„Was ist mit den Wachleuten?“, wandte sich Pierrick an Seve.

„Die warten in ihrem Pausenraum auf uns. Sind alle etwas durcheinander. Einer von ihnen hat einen ordentlichen Schlag auf den Hinterkopf bekommen und war daraufhin einige Zeit bewusstlos.“

„Ich rede kurz mit ihnen, dann sind wir hier fertig“, sagte Pierrick in Dales Richtung, der nickte und seinem Kollegen Hadrian zu Hilfe eilte.

Seve führte Pierrick in einen Raum, der sich hinter dem Empfang befand. Fünf Männer, alle in der einheitlichen grauen Uniform, warteten dort.

„Sind Sie vom FBI?“, wollte ein großer, bulliger Kerl wissen und verschränkte die Arme vor der Brust. Pierrick blieb vor dem Wachmann stehen, legte den Kopf schief und sah ihn einfach nur an. Der Kerl wurde unruhig und hielt das Blickduell nur wenige Sekunden aus, ehe er den Kopf neigte.

„Wer von Ihnen hat den Schlag auf den Hinterkopf bekommen?“ Pierrick blickte fragend in die Runde.

Ein etwas dünnerer, aber dafür umso größerer Mann trat vor. An den Schläfen war er bereits leicht ergraut. „Ich“, meinte der Mann unsicher und fuhr sich über den Nacken. „Es geht aber schon wieder.“

Pierrick drang in den Kopf des Wachmannes, durchstöberte die Erinnerungen und stellte zufrieden fest, dass Rave zumindest so umsichtig gewesen war, sich nicht sehen zu lassen. Vario, der zweite Ephebe, dagegen schon. Er hatte den Aufzug betreten. Pierrick ließ die Gedankenfetzen verblassen und nahm sich den nächsten Wachmann vor. Dieser hatte allerdings nur den Alarm mitbekommen und die toten Epheben gesehen. Auch diese Erinnerung nahm Pierrick mit, ehe er zum nächsten Mann ging. Einen nach dem anderen nahm er sie sich vor, reinigte ihr Gedächtnis.

Bei dem vorletzten Wachmann hielt Pierrick einen Moment inne, verweilte ungewöhnlich lange in seinen Gedanken. Mit einem Mal war ihm der Sinn der Erinnerung klar. Der Mann vermisste seinen Kollegen. Als der Alarm ausgebrochen war, war dieser ins Erdgeschoss gegangen und seitdem nicht mehr aufgetaucht. Er grub etwas tiefer und erhaschte einen Blick auf den vermissten Kollegen. Es überraschte Pierrick nicht, dass der Kerl ungewöhnlich klein war, dafür aber äußerst stämmig. Die fliehende Stirn und die breite Boxernase bestätigten Pierricks Vermutung. Es handelte sich um einen Inimicus: Acer Petterson. Den Namen würde er sich merken und alles, was es über ihn zu wissen gab, herausfinden. Pierrick wandte sich dem letzten Wachmann zu, dem Bulligen, der ihn dumm angeredet hatte. In seine Gedanken zu gelangen, war ein Spaziergang. Er war sehr einfach gestrickt und besaß kaum Abwehrmechanismen. In Kürze war er mit seiner Arbeit fertig.

Pierrick gab Seve das Zeichen zum Aufbruch und verschwand. Mit großen Schritten durchquerte er die Eingangshalle und trat in die dunkle Nacht hinaus. Sofort wurde er von dem Direktor bestürmt: „Special Agent, können Sie schon etwas sagen?“

„Soweit wir es bis jetzt beurteilen können, ist nichts passiert. Ihr Datenraum ist unversehrt. Das kaputte Türschloss kann man ersetzen. Lassen Sie Ihre Leute morgen alles überprüfen. Special Agent Nagana“, er wies auf Seve, „wird mit Ihnen in Kontakt bleiben.“

„Und das Wachpersonal?“, ereiferte sich der Gebäudebesitzer.

„Sie sind nach der Nacht erschöpft, aber außer einer Beule und Kopfschmerzen geht es ihnen gut.“

Er verabschiedete sich flüchtig von den Anzugträgern, die darauf warteten, dass die restlichen Männer das Gebäude verließen, ehe sie selbst hineinkonnten.

„Soll ich dich fahren?“, fragte Pierrick und blickte sich nach Virus um. Seine Leute waren mit einem SUV und dem geräumigen Bus gekommen.

„Nein, das ist nicht notwendig. Ich bin mit dem Auto da“, erklärte Virus und deutete auf einen dunkelroten Dodge Charger.

Während seine Leute in ihre Fahrzeuge stiegen und davonfuhren, blickte Pierrick die verlassene Straße entlang.

Er konnte sich nicht erklären, was die Epheben hier gewollt hatten, und er war sich diesmal auch nicht so sicher, dass die Gen Guards dahintersteckten. Aber das hatte er Seve gegenüber so nicht äußern wollen. Diese Aktion schien im Gegensatz zu dem bisherigen Vorgehen der Gruppe äußerst genau geplant zu sein. Wenn dieser Inimicus nicht erschienen wäre, hätte das Vorhaben ein voller Erfolg werden können.

Gedankenverloren ging er auf seinen Mercedes zu und hatte bereits die Tür geöffnet, als ihn etwas innehalten ließ. Ein vertrauter Geruch stieg ihm in die Nase. Honig und reife Birne. Der Duft war sehr feminin und gehörte einer jungen Vampirin, der er in letzter Zeit gekonnt aus dem Weg gegangen war. Er atmete noch einmal tief ein und schüttelte den Kopf. Seine überreizten Sinne mussten ihm einen Streich gespielt haben, denn jetzt roch es nach Boston: Abgase, Menschen und der verwesende Gestank von Speiseresten in einer Mülltonne hinter dem Steakhouse. Er hatte bereits die Jacke ausgezogen und auf den Beifahrersitz geworfen, als er abermals den süßlichen Geruch wahrnahm und seine Umgebung taxierte. Bildete er sich ihre Anwesenheit nur ein, oder hielt sie sich tatsächlich in der Nähe auf? Wenn sie hier war, befand sie sich in Gefahr. Er musste sicher gehen, sich vergewissern, dass er sich getäuscht hatte, sonst würde er keine ruhige Minute finden. Also schlug er die Autotür wieder zu und lief zu Fuß los, immer der Duftspur nach.

Kapitel 2


Isada wusste nicht mehr, wie lange sie durch die Nacht gestolpert war. Sie war vollkommen erledigt und konnte einfach keinen Fuß mehr vor den anderen setzen. Wo sie sich befand, wusste sie noch immer nicht genau. Ein unbändiger Hunger war der Furcht gewichen. Sie musste sich nähren, musste einen Blutwirt finden. Verzweifelt sah sie sich um. Eine Straße sah wie die andere aus; düster und verlassen. Ehe sie den Heimweg einschlug, musste sie erst einmal Nahrung finden.

Sie schleppte sich weiter und beobachtete, wie zwei Jugendliche einige Meter vor ihr vorbeispazierten. Isada überlegte, ob sie es wagen sollte, die beiden anzugreifen, entschied sich jedoch dagegen. Beeinflussung von Menschengehirnen war noch nie ihre Stärke gewesen. Darüber hinaus sahen die Kerle kräftig aus, und in ihrem jetzigen geschwächten Zustand würde sie bei einer Auseinandersetzung womöglich den Kürzeren ziehen.

Sie wartete einen Moment, bis die jungen Männer vorbeigegangen waren, dann schlich sie aus der Gasse. Ein Auto fuhr an ihr vorbei. Ihr schwindelte, sie musste sich an der Mauer abstützen. Sie musste trinken, und dann würde sie zu ihrem Laptop zurückkehren und ihn in Sicherheit bringen. Die Daten waren geschützt, und es bedurfte einer ganzen Ecke Know-how, das Sicherheitssystem, das sie darauf installiert hatte, zu knacken. Dennoch würde sie sich besser fühlen, wenn sie den Computer in ihrer Nähe wusste. Zuerst brauchte sie jedoch eine Nahrungsquelle. Es musste nur ein Mensch vorbeikommen, der alleine war und der ihr in die Dunkelheit folgen würde. Ihr wurde kurz schwarz vor Augen, und sie lehnte sich mit dem Rücken an die Hausfassade.

Ihre Gedanken schweiften ab. Ein Inimicus. Wie hatte das nur passieren können? Die Operation war gut durchdacht gewesen. Sie hoffte, dass Rico entkommen war. Diese Inimicus waren Raubtiere. Einmal mehr hatten sie bewiesen, welche hinterhältigen Kreaturen sie waren. Sie hatten Vario und Rave auf dem Gewissen. Diese Wesen würden immer weiter morden, wenn man sie nicht aufhielt. Deshalb hatte sie sich den Gen Guards angeschlossen. Man musste diese Monster bekämpfen, ihnen Einhalt gebieten. Und wenn der Rat dazu nicht in der Lage war, dann musste sie es tun. Diese Einstellung hatte nicht nur sie, sondern etliche andere junge Vampire ebenfalls. Deshalb hatten sie sich unter dem Namen Gen Guards zusammengeschlossen.

Isada richtete sich auf und verdrängte die Angst, die noch immer durch ihre Adern pulsierte. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so sehr gefürchtet, noch nie war sie so nah daran gewesen, einem Inimicus gegenüberzustehen. Sie hätte nichts gehabt, um sich gegen ihn zur Wehr zu setzen. Ihre Waffe war ihr Laptop. Den Umgang mit einem Schwert hatte sie nie gelernt. Ihr Vater hatte befunden, dass eine Frau sich mit dem schmutzigen Kriegshandwerk nicht zu befassen brauchte, schon gar nicht als Vampirin. Isada hatte diese Einstellung immer geteilt, aber nun wünschte sie sich doch zu wissen, wie man eine Waffe benutzte. Sie wollte sich verteidigen können, wollte so unabhängig sein wie Sam, die Samera ihres Anführers. Ihr Homen, der Soya Darius, hatte ihr erlaubt, mit ihm in den Krieg gegen die New Yorker Vampire zu ziehen und an seiner Seite zu kämpfen. Isada seufzte. Sam war ihr großes Vorbild. Sie war hübsch, intelligent und unabhängig. Neben den männlichen Vampiren leitete sie die Geschicke des Clans. Schon öfter hatte sie gehört, dass die junge Vampirin an jeder Ekklesia-Sitzung teilnahm. Auf die Idee wäre ihre Schwester Caren nie gekommen. Sie begnügte sich damit, die Frau eines Soyas zu sein und ihren Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Die Leitung des Clans überließ sie ihrem Mann.

Schritte ließen Isada aus ihren Gedanken aufschrecken. Eine junge Frau kam auf sie zu. Sie trug eine rote Strickmütze und hatte die Hände in ihren Manteltaschen vergraben. Sie lief zügig und nahm ihre Umgebung kaum wahr.

Fieberhaft dachte Isada nach, wie sie die Frau ansprechen konnte, damit sie ihr in die dunkle Gasse folgte.

„Entschuldigung“, begann sie unsicher.

Die Frau hielt an, musterte Isada kurz und blickte sich unruhig um. Es war, als spürte sie die nahende Gefahr.

„Tut mir leid, ich habe keine Zeit“, meinte sie kurz angebunden und schob sich an Isada vorbei. Ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, eilte die Frau weiter.

Frustriert blickte Isada zu Boden und betrachtete ihre schwarzen Pumps mit den lila Schleifen. „Na super“, murmelte sie. Die Schleife auf der linken Seite fehlte. Sie musste sie bei ihrer Flucht verloren haben. „Auch das noch“, stieß sie frustriert hervor und spähte suchend in die dunkle Gasse.

„Etwas verloren?“

Isada zuckte zusammen und fuhr herum. Sie starrte eine Frau an, die plötzlich vor ihr stand. Wo war sie nur hergekommen? Waren ihre Sinne inzwischen so benommen, dass dieser Mensch vollkommen ihrer Aufmerksamkeit entgangen war? Isada atmete tief durch und nahm den Duft eines süßen, blumigen Parfüms wahr. Die Frau vor ihr war vielmehr ein Mädchen, noch viel zu jung, um mitten in der Nacht allein unterwegs zu sein.

„Ich glaube, ich habe in der Gasse eine Schleife meines Schuhs verloren. Es sind meine Lieblingsschuhe.“ Das war nicht einmal gelogen, und Isada beglückwünschte sich zu dieser Idee. „Es ist nur so dunkel. Mein Handy-Akku ist leer, und eine Taschenlampe habe ich nicht dabei.“

Das Mädchen grinste unter seiner Kapuze und zog aus der Manteltasche ein Mobiltelefon. „Aber ich habe Licht“, erklärte es und zog seinen Handschuh aus, um das Telefon zu bedienen.

„Das ist wirklich sehr nett“, bedankte sich Isada erfreut. Ihr lief bereits das Wasser im Mund zusammen. Am liebsten hätte sie sich augenblicklich auf das Mädchen gestürzt. Nur noch ein klein wenig, ermahnte sie sich. Sie kämpfte gegen das Herausschieben ihrer Fänge an und wandte den Blick ab. Wenn das Mädchen Isadas glühende Augen zu früh entdeckte, würde es fliehen, und all ihre Mühe wäre vergebens.

Das Mädchen hielt sein Handy so, dass der weiße Bildschirm in die Gasse leuchtete. Ohne Scheu, ohne Bedenken, ging sie voran in die Dunkelheit. Isada folgte ihr. Noch immer riss sie sich zusammen. Es kostete sie schier übermenschliche Willenskraft zu warten, bis das Mädchen weit genug in die Gasse hineingegangen war. Dann griff sie nach dessen Schulter, wirbelte es herum und drückte es an die Wand. Ihr Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei, und ihre Augen weiteten sich entsetzt, als sie Isada anblickte. Die Kapuze rutschte dabei vom Kopf und entblößte einen Schopf dunkler Haare.

Isada handelte nun nur noch instinktiv. Sie riss an dem Mantel des Mädchens, zerrte den Schal herunter und entblößte endlich ihren Hals. Mit Vorfreude auf das, was sie erwartete, leckte sie sich über die Lippen und schlug ihre Zähne in das weiche Fleisch. Gleich darauf spürte sie das Blut, das ihr entgegen quoll. Gierig presste Isada ihren Mund auf die Haut und trank. Es fühlte sich großartig an, wie das berauschende Lebenselixier in sie floss und durch ihren Körper gepumpt wurde, bis jede Zelle davon durchdrungen war. Sie konnte nicht genug davon bekommen, genoss jede Sekunde. Sie spürte, wie das Mädchen in ihren Armen immer mehr in sich zusammensackte, doch das störte sie nicht. Sie wollte immer weiter trinken, sich an ihr laben, bis dieses berauschende Gefühl abklang. In ihren Ohren begann es zu rauschen, und ihre Glieder wurden seltsam steif, was von der zu großen Menge Blut in ihrem Körper kam. Sie konnte und wollte sich nicht von dem Mädchen lösen, wollte keinen Tropfen des köstlichen Lebenssafts verschwenden. Sie musste mehr haben.

„Isada?“ Sie hörte die sich nähernde Stimme kaum, konnte auch nicht aufblicken, weil sie am Hals des Mädchens hing.

„Isada!“ Sie wurde brutal zurückgezogen. Das Mädchen entglitt ihren Fingern und sank zu Boden.

„Nein!“, schrie sie und reckte sich der Blutwirtin entgegen. Feste Arme, die sich wie ein Schraubstock um sie schlossen, verhinderten dies. Isada kämpfte dagegen an. Sie musste mehr von dem köstlichen Blut haben.

„Isada!“, hörte sie noch einmal die beschwörende Stimme, die in aller Bestimmtheit ihren Namen rief. Sie blinzelte und sah in die bernsteinfarbenen Augen des Vampirs, den sie hier am allerwenigsten sehen wollte. Pierrick Legrand, ein Soya, ihr Renovator und der Mann ihrer Schwester. Sie schluckte, als er sie bestimmt zur Seite schob und auf das leblose Mädchen zutrat. Er hob sie hoch, legte einen Finger auf ihre Halsschlagader und suchte nach einem Puls.

Isada starrte wie gebannt auf das leblose Ding, und die Erkenntnis überrollte sie wie eine Welle. Was hatte sie getan? Was war in sie gefahren? Sie hatte noch nie einen Menschen umgebracht! Blutrausch war etwas, was nur männliche Epheben überfiel, aber doch nicht sie. Sie hielt den Atem am, während Pierrick schier endlos seine Hand an den Hals des Mädchens hielt. Erleichtert stieß sie die Luft aus den Lungen, als der Vampir schließlich sagte: „Sie lebt. Der Puls ist schwach, aber wenn sie sofort ärztliche Hilfe bekommt, wird sie überleben.“

Sorgfältig bettete er das Mädchen auf dem Boden, achtete darauf, dass sie sich nirgends stieß. Dann schloss er ihre Jacke, damit sie nicht so schnell auskühlte. Während er aufstand, wählte er bereits den Notruf. Isada musste zwei Mal hinblicken, ehe sie registrierte, dass er sich das Telefon des Mädchens ans Ohr hielt. Er nannte den genauen Ort, fügte ein paar Daten über die Verletzte hinzu und legte auf. Pierrick ließ das Handy fallen. Es landete auf der Jacke des Mädchens, ehe es langsam zu Boden rutschte.

Plötzlich war Pierrick neben ihr. „Wir müssen hier weg! Sofort!“

Isada konnte sich nicht rühren. Mit großen Augen blickte sie ihn an, als ob sie ihn das erste Mal sah. Was er sagte, kam in ihrem Gehirn nicht an.

Er stieß sie an. „Komm, los!“

Noch immer war sie unfähig, sich zu bewegen. Der Schock saß zu tief in ihren Gliedern.

Isada quiekte erschrocken auf, als Pierrick sie einfach hochhob. Sie musste sich an ihm festhalten, als er mit ihr durch die dunkle Nacht rannte.

Pierrick kannte den Weg, und es dauerte nicht lange, da kamen auch ihr die Straßenzüge wieder bekannter vor. Sie waren nicht mehr weit vom LDC-Tower entfernt. Unmerklich verspannte sie sich. Er wusste doch nicht, dass sie bei dieser Aktion beteiligt gewesen war, oder? Sie krallte ihre Finger fester in Pierricks Hemd und wenn sie ein kleines bisschen religiös gewesen wäre, hätte sie unablässig gebetet, dass der Soya nichts von ihrer geheimen Mission wusste.

„Lass mich runter!“, bat sie schließlich. Zu ihrer Überraschung gehorchte Pierrick sofort.

„Ich bin wieder in Ordnung“, sagte sie und konnte ihn nicht ansehen, ohne dabei vor Scham im Boden zu versinken. „Ich komme schon allein nach Hause.“

„Mach keine Dummheiten, Isada. Sich allein in dieser Gegend aufzuhalten, ist gefährlich. Du solltest überhaupt nicht hier sein.“

Isada verschränkte die Arme vor der Brust. „Das geht dich überhaupt nichts an. Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig.“

Sie sah, wie Pierrick sie einen Moment nachdenklich musterte und dabei die Stirn in Falten legte. „Du hast keine Ahnung, was hier heute Nacht geschehen ist“, murmelte er, umfasste ihr Handgelenk und zog sie mit sich. Ihr blieb nichts anderes übrig, als mit ihm zu gehen.

„Hör damit auf. Du bist nicht mein Vater“, protestierte sie und versuchte ihre Hand freizubekommen.

Pierricks Griff war unnachgiebig. „Aber ich bin dein Soya.“

Isada schluckte. Sie spürte die übermächtige Präsenz, die ihn umgab und die sie niederzwingen würde, wenn sie sich weiter gegen ihn auflehnte.

„Was hast du hier überhaupt gemacht? Allein? So weit fort von zu Hause?“ Er ließ sie los, und Isada hielt ihr schmerzendes Handgelenk.

Demonstrativ blickte sie fort. Sie mochte es nicht, wenn jemand so mit ihr redete. Sie war schließlich kein kleines Kind mehr und mit ihren achtundsiebzig Jahren schon fast erwachsen.

„Das geht dich nichts an.“ Nie durfte er erfahren, dass sie etwas mit dem Überfall auf die Sicherheitsfirma zu tun hatte. Wenn das herauskam, war ihr Schicksal besiegelt. Der Rat fackelte nicht lange mit Angehörigen der Gen Guards und griff unbarmherzig durch. Entweder wurden Mitglieder der Gruppierung von ihrem Familienoberhaupt unter Hausarrest gesetzt, oder sie verschwanden in Soya Darius’ Haus, wo sie vermutlich ein weit schlimmeres Schicksal ereilte. Isada würde es nicht überleben, zu Hause eingesperrt zu werden. Es würde sie verrückt machen.

Da Pierrick ein Mitglied des Ekklesia-Rats war, waren sie in diesem Kampf Feinde, auch wenn er das nie erfahren durfte.

„Komm mit, ich bringe dich nach Hause“, sagte Pierrick nachsichtiger.

Isada zögerte und befand, es würde ihr momentan nichts nützen, sich gegen Pierrick aufzulehnen. Wortlos stapfte sie hinter ihm her. Sie spähte an seinem breiten Rücken vorbei und versuchte, einen Blick auf das Steakhouse und den Platz davor zu erhaschen, dort, wo sie ihren Computer zurückgelassen hatte. Doch Pierrick ließ ihr absolut keine Chance und dirigierte sie zu seinem schwarzen Mercedes, der direkt vor dem Tower parkte.

Nachdenklich musterte sie das hell erleuchtete Gebäude, in dem nun ihr Stick im Serverraum der Sicherheitsfirma steckte und ihr mit ihrem Laptop uneingeschränkten Zugang zu allen Überwachungssystemen geben würde, ohne sich einhacken zu müssen. Ihr Plan war brillant gewesen. Nur mit einem Inimicus hatte sie nicht gerechnet. Sie biss sich auf die Lippe, um vor Wut nicht laut aufzuschreien.

„Steig ein!“, forderte Pierrick sie auf und hielt ihr die Beifahrertür auf.

Pierricks Handy klingelte. Er zog es aus der Tasche, warf einen kurzen Blick auf das Display und nahm den Anruf entgegen. „Was gibt es, Seve?“

„Ich wollte dir nur sagen, dass die Leute von Orion-Tec nichts in ihren Systemen gefunden haben.“

Problemlos konnte sie das Telefongespräch mithören.

„Danke dir“, murmelte Pierrick und legte auf.

Isada zog interessiert eine Augenbraue nach oben, als sie an ihm vorbeiging und sich in den bequemen Autositz fallen ließ. Pierrick ignorierte ihre unausgesprochene Frage, warf die Tür hinter ihr zu und umrundete das Auto.

Er fädelte sich in den nächtlichen Verkehr ein und nahm die Straße Richtung Readville. Dort lebte Isada bei ihrem Vater, eine Straße vom Franklin Park entfernt.

Gerne hätte Isada die Beine unter sich angezogen, doch mit ihrem kurzen Tüllrock war sie dazu nicht passend gekleidet. Somit begnügte sie sich damit, aus dem Fenster zu starren und die nächtliche Ruhe in sich einzusaugen. Pierrick ignorierte sie, so gut es ihr möglich war.

„Was hast du dort gemacht?“, fragte der Soya in die Stille hinein.

Er hatte die Frage an diesem Abend schon einmal gestellt, und Isada hatte sie in voller Absicht unbeantwortet gelassen. Sie wusste jedoch, wenn sie ihm keine zufriedenstellende Story auftischte, würde er nachfragen und irgendwann hinter ihr Geheimnis kommen.

„In der Nähe ist ein Goth-Club“, meinte Isada leichthin. „Ich war mit ein paar Freunden dort.“

Sie sah Pierricks Stirnrunzeln und hoffte inständig, dass er ihr die Lüge abkaufte.

„Du weißt, dass die ungeschützten Clubs gefährlich sind“, tadelte er sie sanft, und Isada war erleichtert, dass er keinen Verdacht zu schöpfen schien.

„Es gibt keine sicheren Goth-Clubs, wie du sicher weißt. Außerdem war ich nicht allein, sondern mit ein paar Freunden unterwegs.“

„Von denen habe ich keinen zu Gesicht bekommen. Es war keiner da, der dich davon abgehalten hätte, dem Blutrausch zu verfallen.“ Seine Stimme wurde schärfer.

Isada schnaubte. „Ich bin kein Kleinkind mehr.“

„Das habe ich auch nicht behauptet.“ Sein Blick war starr nach vorne gerichtet, seine Hände umklammerten das Lenkrad. „Ich mache mir nur Sorgen um dich. Heute Nacht hat ein Inimicus zwei Epheben umgebracht.“

Eine eiskalte Hand griff nach Isadas Herz. Pierrick musste das Entsetzen von ihrem Gesicht abgelesen haben.

„Mitglieder der Gen Guards“, schob er entschärfend nach. „Sie bringen sich selbstverschuldet in gefährliche Situationen.“

Isada lag bereits eine Antwort auf der Zunge, die sie in Anbetracht der Situation hinunterschluckte. „Wie kann man nur so dumm sein“, sagte sie stattdessen kopfschüttelnd.

„Was hast du über die Gen Guards gehört?“

Isada zögerte und wählte ihre Antwort mit Bedacht: „Die Meinungen sind sehr geteilt. Manche heißen es gut, was sie für den Clan tun, andere halten ihre Aktionen für lebensmüde und dumm.“

„Und was hältst du von ihnen?“, hakte Pierrick nach.

Isada wagte nicht, ihn anzublicken, sonst würde er in ihren Augen die Wahrheit lesen. Ihr Hals war wie zugeschnürt, und so zuckte sie nur hilflos mit den Schultern.

„Die zwei Vampire waren in etwa so alt wie du“, fuhr Pierrick unbeirrt fort.

Isada fragte sich, warum er ihr das erzählte. Wollte er sie prüfen? Hatte er einen Verdacht?

„Wer?“, fragte sie vorsichtig und kannte die Antwort schon.

„Vario und Rave. Kennst du die zwei?“

Isada schlug sich die Hände vor den Mund und riss die Augen auf. Eine Welle der Übelkeit ergriff sie. Sie hatte gedacht, dagegen gewappnet zu sein, aber als Pierrick die Namen nannte, realisierte sie zum ersten Mal in voller Härte, dass die beiden wirklich tot waren. Ihr Magen rebellierte.

„Halt an!“, keuchte sie, und Pierrick trat auf die Bremse. Mit quietschenden Reifen und schlingernd kam der Mercedes zum Stehen. Isada öffnete die Tür und erbrach sich auf den Bordstein. Ihr Körper bäumte sich immer wieder auf und entledigte sich eines Schwalls Blutes. Sie würgte und erbrach sich erneut. Magensaft und der Geschmack des Blutes mischten sich in ihrem Mund. Angeekelt schluckte sie.

Pierrick reichte ihr ein Papiertaschentuch. Isada nahm es wortlos entgegen und säuberte sich damit notdürftig.

„Alles in Ordnung mit dir?“

„Ja, geht schon“, nuschelte sie in das Taschentuch. Sie schämte sich vor ihm. Sie wollte auf Pierrick nicht schwach und verletzlich wirken. Sie wollte ihm zeigen, dass sie eine starke und unabhängige Vampirin war. So wie ihr großes Vorbild, Sam Wesley, die sicher nicht auf den Bordstein gekotzt hätte.

„Du kanntest also die zwei?“, stellte Pierrick tonlos fest, ehe er sich abwandte.

Isada schluchzte. Natürlich kannte sie Vario und Rave. Sie gehörten zu ihrem Freundeskreis. Seit sie gemeinsam den Gen Guards beigetreten waren, hatten sie noch engeren Kontakt als zuvor. Sie hatte die zwei Vampire in den Tower geschickt und damit war sie für ihren Tod verantwortlich. Undamenhaft schniefte sie in ein sauberes Taschentuch, das Pierrick ihr reichte, und wischte sich über die tränennassen Wangen.

Den aufmerksamen bernsteinfarbenen Augen des Soyas entging keine ihrer Regungen. Sie musste sich zusammenreißen, sonst würde er alles erfahren.

„Was weißt du über sie?“

Noch immer kneteten ihre Finger das Taschentuch. „Gar nichts“, log sie. „Wir kennen uns halt, hängen ab und an zusammen herum. In letzter Zeit war ich aber meist mit anderen Leuten in Goth-Clubs unterwegs.“

„Mach die Tür zu, wir fahren weiter!“

„Aber das ganze Blut.“

Pierrick zückte sein Handy, drückte eine Kurzwahltaste und hielt sich das Mobiltelefon ans Ohr. „Seve, ich habe noch einen Job für dich. Etwas Blut am Straßenrand.“ Er nannte die Straße, wartete auf eine Bestätigung und verabschiedete sich.

„Mein Team kümmert sich darum. Tür zu!“, wies er sie an, ohne Widerspruch zu dulden. Isada gehorchte. Normalerweise gehörte es nicht zum Job des Aufräumerteams, Erbrochenes von der Straße zu kratzen. Dafür war jeder Vampir selbst verantwortlich. Aber wenn Pierrick seinen Männern den Auftrag gab, würde sie es tunlichst vermeiden, daran etwas ändern zu wollen. Isada konnte sich durchaus schönere Dinge vorstellen, als die Straße zu putzen.

Kaum, dass ihre Tür zuschlug, fuhr Pierrick weiter. Es war nicht mehr weit bis zum Haus, in dem sie wohnte.

„Kannst du mich hier rauslassen?“

Pierrick schüttelte den Kopf. „Ich werde dich persönlich bis zur Haustür begleiten.“

Sie verkniff sich einen Kommentar, wusste aber schon, dass es mit ihrem Vater mal wieder Streit geben würde. Sie seufzte und ließ sich im Sitz zurückfallen. Die Arme vor der Brust verschränkt, starrte sie auf die Straße. Wenn ihr Vater mitbekam, wo sie sich herumgetrieben hatte, würde sie heute Nacht nicht mehr loskönnen, um den Laptop zu holen. Sie betete inständig, dass ihn in der Zwischenzeit niemand gefunden hatte und ergab sich ihrem Schicksal. Pierrick hielt direkt vor dem Grundstück an.

Kapitel 3


Erschöpft ließ Acer sich auf einer Steintreppe nieder. Sein Herz pochte laut vor Anstrengung. Er hatte alles gegeben, um die Vampirin zu verfolgen, aber dennoch war es der Kleinen gelungen, ihm zu entwischen. Als er zurück zum Tower gegangen war, hatte es dort von Vampiren gewimmelt. Er war schließlich nicht verrückt, und so war er wieder fortgegangen.

Er stützte die Ellenbogen auf den Knien ab und legte seinen Kopf in die Hände. Wie sollte es jetzt nur mit ihm weitergehen? Es war unmöglich, in sein Leben zurückzukehren. Die Vampire hatten in der Zwischenzeit sicher schon längst seinen Namen herausgefunden. Auf vampirischen Besuch in seinen eigenen vier Wänden konnte er gut und gerne verzichten.

Frustriert stöhnte er auf. Acer war zwar seit einem Jahr hier in Boston zu Hause, hatte jedoch kein Interesse gehabt, andere Personen kennenzulernen. Das bereute er jetzt. Denn er hatte niemanden, bei dem er unterschlüpfen, niemanden, bei dem er zumindest ein paar Tage wohnen konnte.

Er dachte an sein Leben in Bangor zurück. Das Entsetzen, das ihn ergriffen hatte, als er zu dem wurde, was er nun war. Der Ekel, mit dem ihn Marie, seine Freundin, angesehen hatte, als er einem lebenden Huhn den Kopf abgebissen und es in seinem Wahn roh verspeist hatte. Sie war gegangen und nie wiedergekommen. Acer hatte es in ihrer gemeinsamen Wohnung nicht ausgehalten, und so hatte er alle Zelte abgebrochen, um neu zu beginnen. Als er dann das erste Mal hier auf einen Vampir getroffen war, hatte er es nur knapp überlebt. Seitdem war er immer bewaffnet und ging diesen Wesen, so gut es ging, aus dem Weg.

Wo sollte er jetzt nur hingehen? Er wagte nicht, seine Wohnung aufzusuchen und seine Sachen zu packen. Die Angst, dass dort die Vampire bereits auf ihn warteten, war einfach zu groß. Sie waren überall, diese verdammten Blutsauger.

Warum nur musste er ausgerechnet bei seiner Arbeit diesen Vampiren über den Weg laufen? Glücklicherweise waren die Zwei im Kampf nicht ausgebildet gewesen. Da hatte er aus sicherer Entfernung schon andere Vampire sehen dürfen. Wäre auch nur einer seiner Gegner ein älterer Vampir gewesen, hätte sein letztes Stündlein geschlagen.

Acer nahm eine Veränderung der Umgebung wahr und hob den Kopf. Angespannt blickte er sich um. Weder sah noch hörte er etwas. Dennoch war er nicht mehr allein. Es war nicht unbedingt Gefahr, die auf ihn zukam, sonst hätten sich sämtliche Haare seines Körpers aufgestellt. Unruhig stand er auf, zupfte sein Hemd zurecht und blickte sich suchend um.

„Wer ist da?“, rief er in die Dunkelheit.

Niemand antwortete ihm. Er zückte sein Messer, das noch immer vom Blut des Epheben bedeckt war, und ging ein paar Schritte weiter die Straße hinab. Das Einzige, was er hörte, war sein Atem.

„Ich weiß, dass ihr da seid“, rief er erneut und hoffte, dass diesmal eine Reaktion kam.

Er fuhr herum, als er hinter sich Schritte vernahm. Aus der Schwärze trat ein Mann auf ihn zu. Er war ein wenig größer als er selbst, was bei einer Körpergröße von einem Meter sechzig nicht verwunderlich war. Der Fremde trat näher und schob seine Baseballkappe, auf der das Logo der Red Sox prangte, weiter nach hinten. Acer sah eine breite Boxernase, einen leicht vorgeschobenen Mund und hohe, markante Wangenknochen.

Beschwichtigend hob der Mann die Hände. „Wir wollen dir nichts tun. Du bist einer von uns.“

Irritierte starrte Acer den Mann an. „Wer seid ihr?“, wollte er wissen und kam einen Schritt näher, das Messer immer noch griffbereit in seiner Hand.

„Ich bin Younes Sawall.“

Ein Geräusch ließ Acer herumfahren. Hinter ihm tauchten zwei weitere Männer auf.

„Ethan und Kayden“, sagte Younes und deutete auf die Kerle hinter ihm. „Wir sind wie du.“

„Sag ihnen, sie sollen stehen bleiben“, fuhr Acer ihn panisch an.

Younes hob die Hand und gab seinen Leuten ein Zeichen zu gehorchen.

„Ich kann mir vorstellen, was du durchmachst.“

„Nichts kannst du!“, brüllte Acer. Er umklammerte das Messer fester. Tränen schossen ihm in die Augen. „Ich habe zwei Jungen getötet. An meinen Händen klebt Blut.“ Als Beweis hob er die Waffe.

„Du hast nur der Gerechtigkeit Genüge getan. Das waren keine Jungen, das waren keine Menschen. Das waren Kruento“, entgegnete Younes unbeirrt.

Acer erstarrte. „Kruento?“, fragte er unsicher nach. Den Begriff hatte er noch nie gehört.

„Vampire“, stieß einer der Kerle hinter ihm angewidert hervor.

„Ihr wisst von ihnen?“ Acer ließ es zu, dass Younes immer näher kam und ihm schließlich das Messer aus der Hand nahm.

„Ich habe dir schon erzählt, dass wir wie du sind. Dein Hunger auf rohes Fleisch, die Veränderungen, die in deinem Körper stattgefunden haben.“

„Woher weißt du davon?“, stammelte Acer.

„Uns erging es ebenso wie dir. Wir sind anders. Wir sind extrem stark, springen aus dem Stand mehrere Meter weit. Unsere Schnelligkeit und Wendigkeit ermöglichen es uns, ernsthafte Gegner der Kruento zu sein und sie aufzuhalten. Wir sind keine Menschen.“

Acers Augen wurden immer größer. „Was sind wir dann?“

„Die Kruento nennen uns Inimicus, den Feind. Die Menschen haben uns den Namen Neandertaler gegeben, weil wir aus direkter Linie von ihm abstammen.“

Acer stand immer noch wie angewurzelt am selben Fleck.

„Der Name ist egal. Wichtig ist, was wir tun. Wir wurden geboren, um die Welt von den Kruento zu säubern. Heute Nacht hast du deine Bestimmung gefunden, mein Freund.“ Younes schlug Acer kameradschaftlich auf die Schulter. „Du kannst nicht zurück in dein altes Leben, nicht, nachdem die Kruento von deiner Existenz wissen. Schließe dich mir an, und ich werde dir alles zeigen, was ich weiß. An meiner Seite wirst du überleben, und wir werden Boston von den Monstern säubern, bis niemand von ihnen mehr übrig ist.“

Es war das erste Mal seit langem, dass Acer wieder Mut schöpfte. Er glaubte dem Fremden. Dieser wusste Dinge, die er nie gewagt hatte, einer Menschenseele anzuvertrauen. Die Gier nach rohem Fleisch war ihm peinlich, und er hielt sich für nicht ganz normal im Kopf. Younes hatte ihn weder als abnormal noch als seltsam hingestellt. Er hatte ihn akzeptiert, wie er war, ja, ihm sogar gesagt, dass es andere gab, die wie er waren.

Zögernd blickte er sich zu den zwei anderen Männern um. Sie mochten harmlos wirken, doch er wusste, dass sie gefährlich waren. Ihre grimmigen Mienen zeugten von Entschlossenheit. Würden sie ihn lebend gehen lassen? Hatte er überhaupt eine Wahl? Wohin sollte er gehen? Younes hatte ihm einen Ausweg angeboten, ein Ziel gegeben. Er würde sich nicht länger einsam fühlen, sich nicht länger vor aller Welt verstecken müssen. Wenn er sich Younes anschloss, dann wären vielleicht all seine Probleme vom Tisch.

„Was muss ich dafür tun?“ Noch immer skeptisch musterte Acer den Mann vor sich.

Hinter ihm hörte er ein kehliges Lachen und fuhr herum. Der Kerl mit der braunen Lederjacke hielt sich vor Lachen den Bauch, während auch der andere breit grinste. Acer verstand nicht, was so lustig an seiner Frage war.

„Mitkommen“, erwiderte Younes ernst, gab den Männern ein Handzeichen, und sie verschwanden. Gleichzeitig drehte Younes sich um und entfernte sich langsam.

Acer stand da, zögerte noch.

Schließlich drehte Younes sich noch einmal um. „Kommst du nun?“, fragte er.

Acer eilte los. Er würde mit Younes gehen. Etwas anderes blieb ihm nicht übrig, wenn er diese Nacht nicht auf der Straße verbringen wollte. Und wenn das, was Younes ihm anbot, nichts für ihn war, dann konnte er immer noch die Stadt verlassen.


* * *


Ohne Abschiedsgruß stieg Isada aus Pierricks Mercedes und nahm aus dem Augenwinkel wahr, dass der Soya ihr zur Eingangstür folgte.

Noch ehe sie die Tür aufsperren konnte, wurde sie von innen geöffnet. Isadas Vater stand mit angespannter Miene vor ihr.

„Isada?“, fragte er besorgt.

„Alles okay“, beschwichtigte Isada ihn und schob sich an ihm vorbei.

Mori Alexio straffte die Schultern und richtete die Aufmerksamkeit auf seinen Schwiegersohn, der soeben die Stufen vor dem Haus erklomm.

„Alexio“, grüßte dieser seinen Schwiegervater.

„Pierrick.“ Er machte eine einladende Handbewegung, und Isada verfluchte Pierrick im Stillen, als er die Einladung annahm.

Flehend sah sie ihn an und bat stumm darum, dass er ihrem Vater nichts erzählte. Pierrick ließ sich nicht anmerken, ob er ihre wortlose Botschaft verstanden hatte.

„Ist etwas passiert?“, fragte Alexio neugierig, als er hinter Pierrick die Tür schloss.

„Du solltest darauf achten, dass Isada sich nicht alleine in der Stadt herumtreibt. Die Nächte sind gefährlich geworden. Erst heute wieder sind zwei Epheben einem Inimicus zum Opfer gefallen.“

Wütend riss sich Isada den Mantel von den Schultern und hängte ihn auf. Wenn Pierrick so weitermachte, würde sie das Haus überhaupt nicht mehr verlassen dürfen. Sie wusste nur zu gut, wie wichtig ihrem Vater die Meinung des hoch angesehenen Soyas war.

„Ich war nicht in Gefahr“, log Isada und hoffte, dass Pierrick sie nicht korrigierte.

Ihr Vater schien zu spüren, dass sie nicht ganz bei der Wahrheit blieb. Zweifelnd sah er sie an und blickte schließlich zu Pierrick.

„Ich bin keinem Inimicus begegnet.“ Isada reckte das Kinn.

„Ich habe sie nach Hause gebracht, um sicher zu gehen, dass ihr auf dem Weg nichts passiert.“

Isada funkelte Pierrick an. „Ich danke dir sehr dafür. Ich weiß, dass du als Soya viel zu tun hast.“ Sie versuchte, ihre Stimme zuckersüß klingen zu lassen. Innerlich kochte sie jedoch. Er mochte viel zu tun haben, was aber eher der Tatsache geschuldet war, dass er der Aufräumer der Clans war und sie ihr Projekt in den Sand gesetzt hatte.

„Ich bin dann in meinem Zimmer“, erklärte Isada und war bereits auf der zweiten Stufe, als ihr Vater sie zurückpfiff: „Hast du nicht etwas vergessen? Du kannst doch deinen Soya nicht grußlos stehen lassen.“

Isada blieb mit dem Rücken zu den Männern auf der Treppe stehen und überlegte einen Augenblick lang, die Anweisung ihres Vaters zu ignorieren. Dann beschloss sie, es nicht zu tun. Den Ärger, den dies heraufbeschwören würde, wäre es einfach nicht wert. So drehte sie sich um und befand sich mit Pierrick, der fast zwei Meter maß, in etwa auf Augenhöhe. Während sie in seine bernsteinfarbenen Augen blickte, ging sie zurück in die Eingangshalle. Vor ihm blieb sie stehen. Jetzt musste sie den Kopf weit in den Nacken legen, um zu ihm aufzublicken.

„Ich danke dir sehr, dass du mich nach Hause gebracht hast. Minola.“

Er nickte ihr zu und signalisierte ihr, dass er sie entließ. Isada wandte sich ihrem Vater zu und wartete darauf, dass er sein Einverständnis gab und sie auf ihr Zimmer gehen konnte.

„Du kannst gehen“, sagte er zufrieden.

Ohne Pierrick noch einmal anzuschauen, ging Isada die Treppe hoch. Sie musste sich zusammenreißen, damit ihr Hochgehen nicht wie eine Flucht aussah. Oben angekommen, ging sie in ihr Zimmer, ließ jedoch die Tür offen. So konnte sie problemlos das Gespräch der Männer einen Stock tiefer verfolgen.

„Muss ich mir um sie Sorgen machen?“, wollte ihr Vater wissen.

„Ich denke nicht. Sie ist eine vernünftige junge Vampirin“, entgegnete Pierrick.

Isada war überrascht. Sie hätte nach Pierricks Verhalten nicht damit gerechnet, dass er Partei für sie ergreifen würde.

„Achte nur darauf, dass sie zukünftig nicht alleine unterwegs ist. Sie soll die sicheren Clubs aufsuchen. Davon gibt es genügend.“

Es wäre auch zu schön gewesen, um wahr zu sein.

Alexio seufzte laut auf. „Ich werde es versuchen. Es wird langsam Zeit, dass sie etwas ruhiger wird.“

Pierrick lachte auf. „Wie willst du das anstellen?“

„Ich habe daran gedacht, sie zu verheiraten. Caren hat die Ehe auch gutgetan.“

Isada stockte der Atem. Das konnte ihr Vater doch nicht ernst meinen. Sie wollte nicht heiraten.

Plötzlich war sie so mit ihren Gedanken beschäftigt, dass sie das restliche Gespräch verpasste. Sie hörte nur noch, wie die Eingangstür ins Schloss fiel und die leicht schlurfenden Schritte ihres Vaters im Arbeitszimmer verschwanden.

Mit zittrigen Fingern schloss sie die Zimmertür. Sie sollte heiraten. Dazu war sie noch viel zu jung, und überhaupt fühlte sie sich alles andere als bereit zu diesem bedeutenden Schritt. Wenn sie heiratete, müsste sie sich einem anderen Vampir unterordnen, und das ging überhaupt nicht. Es reichte schon, dass ihr Vater so viel Kontrolle über sie hatte, und bisher hatte sie das Glück gehabt, dass sie dennoch größtenteils machen konnte, was sie wollte. Nie würde sie sich einem männlichen Vampir bedingungslos unterordnen können. Sie wollte frei sein, wollte etwas bewegen. Das war auch einer der Gründe, warum sie sich den Gen Guards angeschlossen hatte.

Die Gen Guards. Sie stockte. Der Laptop. Er lag noch immer im Gebüsch vor dem Steakhouse.

„Testa!“, rief sie frustriert aus, als ihr bewusst wurde, dass ihr Rucksack sich in Ricos Bus befand. Natürlich mit allen wichtigen Dingen inklusive ihrem Handy.

Auf ihrem Schreibtisch stand ein Festnetztelefon, das sie kaum benutzte. Nun dachte sie jedoch ernsthaft darüber nach, Rico anzurufen. Isada wusste, dass Mirosh, ihr Gruppenleiter, nicht davon begeistert sein würde. Letztendlich erledigte sich dieser Gedanke von selbst, denn sie wusste Ricos Telefonnummer nicht auswendig.

Ihr Laptop! Nicht das Gerät, das die Gen Guards finanziert hatten und das sie nur für deren Belange einsetzte, sondern ihr ganz persönlicher Computer. Ihr Rettungsanker. Ohne ihn wäre sie völlig von der Außenwelt abgeschnitten. Sie eilte zu ihrem Bett, griff nach dem Laptop, der auf ihrem Nachtisch lag, und klappte ihn auf. Auch hier hatte sie diverse Sicherheitsvorkehrungen getroffen, und selbst ein Profi würde Tage brauchen, ehe er das Sicherheitssystem ihres Computers außer Gefecht setzen konnte. Unruhig trommelte sie auf das Metallgehäuse und wartete, bis das Betriebssystem hochgefahren war. Dann tippte sie den ersten von drei Geheimcodes des Sicherheitsprogramms ein, das sie selbst geschrieben hatte.

Kaum hatte sie sich angemeldet, öffnete sie ihr Nachrichtenprogramm und schickte Rico eine Nachricht. Es dauerte nicht lange, als dieser antwortete: Alles okay bei mir. Wie geht es dir? Was ist mit Rave und Vario? Dein Rucksack liegt noch im Auto. Heute ist es zu spät. Vor Sonnenaufgang schaffe ich es nicht mehr zu dir und wieder zurück. Ich bringe ihn dir morgen vorbei.

Isada schloss den Laptop. Mit Tränen in den Augen sah sie gerade ohnehin nichts. Sie wusste nicht, wie sie Rico sagen sollte, dass die beiden anderen nicht mehr lebten. Der Einsatz war vollkommen schiefgelaufen, und das alles war ihre Schuld. Nein, sie konnte Rico jetzt unmöglich antworten.

Isada vergrub ihren Kopf in den Kissen und weinte leise hinein. Diese einzige Nacht hatte ihr ganzes Leben aus der Bahn geworfen.


* * *


Pierrick verließ das Haus seines Schwiegervaters mit gemischten Gefühlen. Er bezweifelte, dass es der richtige Weg war, Isada in eine Ehe zu zwingen. Sie war ein Freigeist, unbezwingbar, und genau das machte ihr Wesen aus. Glücklicherweise war er nicht dafür verantwortlich, diese Entscheidung zu treffen.

Dass er mit Alexio über ihre Unvorsichtigkeit heute Nacht reden musste, war unabwendbar gewesen. Wenn Isada nicht besonnener war und besser auf sich aufpasste, dann musste es ihr Rinoka tun. Er und Isada hatten keine enge Beziehung, im Gegenteil, er war ihr in den letzten Jahren bewusst aus dem Weg gegangen. Sie löste eine Sehnsucht in ihm aus, die er gerne tief in sich vergrub. Aber dass ihr etwas geschah, wollte er auch nicht, schließlich war sie die Schwester seiner Frau. Er hatte Isadas Geburt miterlebt, sie aufwachsen sehen, war sogar Alexios Bitte gefolgt und ihr Renovator geworden und hatte sie durch die Verwandlung begleitet. Inzwischen war sie zu einer wunderschönen jungen Vampirin herangewachsen. Nicht einmal ihre derzeitige Vorliebe für diese grässliche Gothic-Kleidung konnte sie entstellen. Es war einfach alles ein wenig zu viel. Zu viel Make-up, zu wenig Kleidung. Ihm wurde schon wieder ganz heiß, als er an den kurzen Tüllrock dachte, der kaum ihre Oberschenkel bedeckte. Gut, ihre Beine hatten in diesem löchrigen Etwas gesteckt, das man kaum als Strumpfhose bezeichnen konnte. Zum Glück hatte sie ihre Jacke erst im Haus ausgezogen. Das Shirt, das sie trug, entblößte nicht nur ihre rechte Schulter, sondern endete auch knapp über dem Bauchnabel.

Die Bilder aus seinem Kopf vertreibend, startete er den Mercedes und gab Gas.

Er durfte sich nicht weiter Gedanken um Isada machen. Das war nicht gut für ihn. Er war ein verheirateter Mann. Und nur, weil seine Ehe momentan etwas schwierig war, bedeutete das nicht, dass er mit Caren nicht glücklich war.

Vollia!“ Er musste seinen Kopf freibekommen, sich auf seine Aufgabe als Aufräumer konzentrieren.

Entschlossen blickte er in den Rückspiegel, wechselte die Spur und bog ab. Bevor er nach Hingham fahren konnte, musste er noch einen Abstecher zu Darius’ Anwesen machen. Dort würde er Virus antreffen. Vielleicht hatte er bereits Neuigkeiten für ihn und wusste, wer hinter dem Überfall in dem Tower steckte. Wenn nicht, konnte Virus ihm zumindest mit dem Inimicus weiterhelfen.

Zwanzig Minuten später passierte Pierrick das große Tor zu Darius’ Anwesen. Zügig fuhr er die breite Einfahrt entlang und bog in Richtung Tiefgarage ab. Virus hatte ihm das Tor bereits geöffnet.

Neben Virus’ dunkelrotem Dodge stand Areks BMW. Der Soya bildete gemeinsam mit Darius die Ekklesia-Krieger aus und war deswegen sehr oft in der unterirdischen Festung des Anführers anzutreffen. Mochte das weiße, viktorianische Gebäude noch so unschuldig wirken, tief unter der Erde erstreckte sich der eigentliche Wohnbereich der Vampire. Neben diversen Schlaf- und Gemeinschaftsräumen befand sich dort unten eine Trainingshalle, die die Mitglieder eines Kampfsportvereins vor Neid erblassen ließ. Eine Krankenstation und dank Virus eine inzwischen technisch gut ausgerüstete Kommandozentrale vervollständigten das unterirdische Labyrinth.

Pierrick betrat den Aufzug und ließ sich in die Tiefe bringen. Er kannte den Weg inzwischen gut. Unzählige Male war er im letzten Jahr hier gewesen, hatte mit Darius über Einsätzen gebrütet, mit den anderen Soyas Ratssitzungen abgehalten, und wenn es seine begrenzte Zeit zuließ, erschien er hin und wieder zum Training.

Er klopfte nicht an, als er Virus’ Reich betrat; der junge Vampir hatte sicher längst an seinem Geruch erkannt, wer ihn besuchte.

Virus war jedoch so in seine Arbeit vertieft, dass er Pierricks Eintreten nicht bemerkte. So verschränkte der Soya die Arme vor der Brust und lehnte sich am Türpfosten an, während er Virus zusah, wie dieser hochkonzentriert in seine Monitore starrte und seine Tastatur bearbeitete.

Mitten in seiner Arbeit hob er plötzlich den Kopf und blickte überrascht Pierrick an. „Was machst du hier?“

„Ich wollte dich bei deiner Arbeit nicht stören.“ Pierrick schlenderte auf Virus zu. „Wie ich sehe, ist es dir noch nicht gelungen, dem Gerät ein paar Informationen zu entlocken.“

„Nein!“, sagte Virus frustriert. „Ich habe keine Ahnung, wie dieses Ding geschützt ist. Immer wenn ich denke, ich bin einen Schritt weiter, wirft mich dieses Sicherheitssystem wieder raus. Wer auch immer dieses Programm geschrieben hat, verdient meinen ganzen Respekt.“

„Ich dachte, du bist ein Experte.“

Virus grinste breit. „Nicht auf allen Gebieten der Technik. Ich schraube lieber, als eine eigene Software zu schreiben.“

Pierrick nickte abwesend. „Ich brauche deine Hilfe.“

„Ich weiß, du musst an die Daten des Laptops. Ich gebe mir wirklich Mühe, aber ich weiß nicht, wie lange ich brauchen werde.“

„Das meinte ich nicht“, unterbrach Pierrick das Computergenie.

Überrascht hielt Virus inne und wartete darauf, dass der Soya fortfuhr.

„Acer Patterson. Ich will, dass du alles über ihn herausfindest.“

„Wie eilig ist das?“, wollte Virus wissen.

„So schnell wie möglich. Das ist der Name des verschwundenen Wachmanns, und ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass er unser Inimicus ist.“

Virus zog scharf die Luft ein, wirbelte auf seinem Drehstuhl herum und begann augenblicklich mit der Recherche.

„Das kann einige Minuten dauern. Aber es wäre mir recht, wenn du nicht hinter mir stündest und mir über die Schulter schaust.“

Pierrick verstand den Wink, drehte sich um und verließ Virus’ Arbeitszimmer.

In der Trainingshalle fand er Darius und Arek sowie eine Handvoll junger Krieger. Arek war gerade damit beschäftigt, ihnen einen neuen Griff zu zeigen, während Darius in Jeans und T-Shirt an die Wand gelehnt zuschaute. Offensichtlich trainierte er heute nicht mit.

Pierrick blieb an der Tür stehen und nickte Darius zu. Der Anführer ihres Clans stieß sich von der Wand ab und kam zu ihm.

„Sie machen sich gut“, sagte Pierrick und nickte in Richtung der Epheben.

„Ja. Arek will sie in einem Monat auf Patrouille schicken.“

Zustimmend nickte Pierrick.

„Weshalb bist du hier?“, fragte Darius nach. Noch immer war sein Blick auf die jungen Vampire gerichtet.

„Hat Virus dir von den zwei Epheben im LDC-Tower berichtet?“

Darius machte einen undefinierten Laut. „Schon wieder zwei Tote. Sam habe ich es noch gar nicht gesagt. Sie ist momentan etwas emotional und steckt das nicht so leicht weg.“

„Virus verfolgt für mich gerade eine Spur.“

„Wenn ich dir irgendwie helfen kann, Pierrick, lass es mich wissen.“

„Ich danke dir.“

„Das Training ist für heute beendet.“ Arek klatschte in die Hände und schickte die Krieger unter die Dusche. Eilig räumten zwei der Epheben die Schwerter auf, während der Rest bereits Richtung Umkleideräume verschwand. Arek kam auf die Soyas zu.

„Deine Nacht scheint auch nicht besonders zu laufen“, sagte er mit einem prüfenden Blick auf Pierrick.

„Zwei tote Epheben, ein herumlaufender Inimicus.“

„Testa“, schimpfte Arek. „Gen Guards?“

Pierrick nickte.

Das Gespräch der Soyas wurde unterbrochen, weil sich die Tür ein weiteres Mal öffnete und Virus mit einem ganzen Stapel bedruckter Papiere erschien.

„Alles, was ich über ihn finden konnte“, sagte er grinsend und überreichte Pierrick die Ausdrucke.

„Hast du auch eine Zusammenfassung?“, entgegnete dieser wenig begeistert von der Informationsflut.

„Natürlich.“ Virus begann die Papiere zu durchstöbern und riss sie Pierrick damit beinahe aus der Hand. Gerade so konnte der Soya vermeiden, dass sämtliche Schriftstücke auf dem Boden landeten.

„Hier!“ Virus zog eine Seite mit einem Polizeifoto heraus.

„Schon am Bild erkennt man, dass er Inimicus-Gene in sich hat, wobei sie damals noch nicht so ausgeprägt waren. Das Bild ist zwei Jahre alt.“

Pierrick kramte die Erinnerung des Wachmanns in seinem Gedächtnis hervor und musste Virus zustimmen.

„Er stammt ursprünglich aus Bangor und wurde dort wegen Körperverletzung verhaftet. Die Anklage wurde jedoch fallen gelassen. Kurz danach kam er nach Boston. Adresse, Sozialversicherungsnummer, Arbeitgeber, findest du alles in den Unterlagen.“

Pierrick hatte bereits ein weiteres Papier in der Hand, auf dem der Wohnsitz des Inimicus vermerkt war. Er war sich nicht sicher, ob der Wachmann in seine Wohnung zurückkehren würde. Aber vielleicht dachte er, dass ihm am Tag keine Gefahr drohte. Das Haus musste überwacht werden. Pierrick hatte wenig Lust, sich den Tag um die Ohren zu schlagen. Er war müde und brauchte seinen Schlaf.

„Hättest du ein paar Krieger, die bereit für eine Tagesschicht wären? Nur Beobachten?“, wandte er sich an Arek.

Dieser dachte kurz nach, dann nickte er. „Ja, drei habe ich. Keine Epheben mehr, denen setzt das Sonnenlicht noch zu sehr zu.“

„Wunderbar. Ich schicke dir die Daten aufs Handy. Sie sollen sich in Position bringen und sich bei mir melden, sobald jemand in die Wohnung will.“

Arek nickte und hatte bereits sein Telefon gezückt, um die betreffenden Vampire zu kontaktieren.

„Mach ihnen bitte klar, dass sie nicht die Helden spielen sollen und es sich nur um eine Observation handelt.“

„Keine Sorge“, erwiderte Arek und grinste. „Die Vampire, die ich im Auge habe, sind absolut zuverlässig.“

„Dann kann ich mich jetzt wieder dem Laptop widmen“, verkündete Virus und verschwand.

Pierrick blickte auf seine Armbanduhr. Die Sonne war bereits aufgegangen. Kein Wunder, dass er so müde war. Die Nacht war ereignisreich und anstrengend gewesen. Es wurde Zeit, dass er etwas Ruhe bekam. So verabschiedete er sich von den anderen und machte sich auf den Weg nach Hingham.

Kapitel 4


„Isada?!“

Isada, die gerade auf dem Weg die Treppe hinunter war, schloss die Augen. Sie hatte gehofft, das Haus verlassen zu können, ohne auf ihren Vater zu treffen.

„Ja, Vater?“ Zum Glück sah er nicht, wie sie die Augen verdrehte.

„In mein Arbeitszimmer.“

Isada schwante nichts Gutes, als sie das kleine Büro im Erdgeschoss des Hauses betrat.

„Wo willst du hin?“ Alexio Dearing saß hinter seinem massiven Schreibtisch, die Augenbrauen ärgerlich zusammengezogen, als er seine Tochter von oben bis unten musterte. Isada wusste, dass er ihr Erscheinungsbild missbilligte. Vielleicht fand sie genau deshalb so große Freude am Gothic-Look. Heute hatte sie sich für eine relativ schlichte schwarze Jeans entschieden, deren Löcher einen Großteil ihres nackten Oberschenkels zeigten, und ein gewagtes Miederoberteil, das nur über der Brust nicht durchscheinend war. Ihr persönliches Highlight waren jedoch die schwarzen Spitzenhandschuhe, die sie über alles liebte.

„Ich bin mit einem Freund verabredet“, erklärte Isada und versuchte, sich die Anspannung nicht anmerken zu lassen. Rico hatte ihr versprochen, ihr ihre Sachen zu bringen und sie hoffte, dass er mit ihr zum Tower fuhr, wo sie nach ihrem Laptop suchen konnte.

„Ich möchte nicht, dass du dich allein auf der Straße herumtreibst.“

„Ich bin nicht allein. Rico Schweda holt mich ab.“

Ihr Vater ließ einen verächtlichen Laut hören. „Schweda. Die Familie hat noch nie einen dominanten Vampir hervorgebracht. Das ist kein guter Umgang für dich.“

Isada stemmte demonstrativ die Hände in die Hüfte. „Er ist ein Freund. Nicht mehr und auch nicht weniger.“

„Du wirst dieses Haus nicht mehr alleine verlassen, und deine Begleiter will ich davor abgesegnet haben. Punkt. Morgen ist die Geburtstagsfeier von Zak Hogben, und ich erwarte, dass du daran teilnimmst. Es wird Zeit, dass ich dir ein paar geeignete Heiratskandidaten vorstelle.“

„Ich denke nicht …“

„Mir ist es egal, was du denkst“, unterbrach er sie. „Bis zum Ende des Jahres wirst du verheiratet sein.“

„Nein!“, rief Isada aufgebracht. „Ich will nicht heiraten.“

„Du wirst, und das ist nicht verhandelbar.“

Schmollend wandte sich Isada ab und war im Begriff, ihren Vater einfach stehen zu lassen.

„Wage es nicht zu gehen!“

Etwas griff auf mentaler Ebene nach ihr. Der Schlag traf sie so unvorbereitet, dass sie in die Knie ging und sich mit den Händen am Boden abstützen musste.

„Ich denke, es wird Zeit, dass du erwachsen wirst. Deiner Schwester hat die Ehe auch gutgetan. Als sie so alt war wie du, war sie längst verheiratet.“

„Das ist etwas anderes“, beharrte Isada, die noch immer außer Atem auf dem Boden saß. „Sie war in Pierrick verliebt.“ Auch wenn sich dies weit vor ihrer Geburt ereignet hatte, kannte Isada die Geschichte ihrer Schwester und des Soyas nur allzu gut. Jedes Mädchen, das sie kannte, träumte von so einer unglaublichen Liebesgeschichte, wie sie Caren erfahren durfte.

„Es geht hier nicht um Liebe, Isada, sondern um deine Zukunft. Ich möchte, dass du einen Ehemann findest, der die besten Voraussetzungen hat, dir im Clan eine gute Position zu verschaffen.“

Es kostete Isada alle Kraft, sich aufzurichten. Wütend funkelte sie ihren Vater an. „Worum geht es dir eigentlich? Darum, mich loszuwerden oder einen weiteren vorteilhaften Schwiegersohn zu haben? Ich lege keinen Wert auf eine Position im Clan, und ich will auch keinen Vampir, der …“

„Schweig!“, donnerte ihr Vater. Die gedankliche Ohrfeige, die er ihr gleichzeitig verpasste, saß. Ihre Seele schmerzte mehr, als es ihre Wange jemals konnte. Es gab noch so viel, was sie ihm sagen wollte, doch dem Mori noch einmal verbal die Stirn zu bieten, traute sie sich nicht.

„Morgen Abend wirst du auf dieser Party erscheinen. Etwas anderes dulde ich nicht.“

Abwartend blickte er sie an, sodass Isada nicht anders konnte, als „Ja, Vater“ zu murmeln.

Endlich verschwand der Druck in ihrem Kopf, und Isada atmete erst einmal tief durch. Mit einem letzten hasserfüllten Blick auf ihren Vater stand sie auf und verließ das Arbeitszimmer. Den Rücken durchgestreckt, das Haupt erhoben, ging sie bis zur Treppe. Erst dort sackte sie in sich zusammen und eilte in ihr Zimmer hinauf. Erleichtert, die Tür hinter sich verriegeln zu können, erlaubte sie sich nun, die Tränen zu vergießen, die schon so lange in ihren Augen brannten. Sie sank auf den Boden, mit dem Rücken zur Tür, verbarg ihr Gesicht an ihrer Brust und schlang die Arme um die Beine. Hemmungslos weinte sie. Die Anspannung löste sich nur langsam.

Das Klingeln an der Haustür nahm Isada nur am Rande wahr. Erst die näherkommenden Schritte ihres Vaters veranlassten sie, das Schluchzen zu unterdrücken. Sie wischte sich mit den Händen über das tränennasse Gesicht und war froh, als sie hörte, wie ihr Vater etwas vor der Tür fallen ließ und wieder ging.

Sie wartete, bis sie sicher sein konnte, dass er fort war und öffnete ihre Zimmertür. Zu ihren Füßen lag der schwarze Stoffrucksack, den Rico vorbeigebracht haben musste. Grimmig griff sie danach und ärgerte sich über sich selbst. Wie sollte sie nun zum LDC-Tower kommen, wenn sie das Haus nicht mehr alleine verlassen durfte? Noch immer über sich selbst verärgert, stieß sie die Zimmertür hinter sich zu und öffnete den Rucksack. Neben ihrem Handy befand sich ein zweites Mobiltelefon darin. Das Prepaid-Handy hatte sie von Mirosh, ihrem Gruppenleiter bei den Gen Guards, bekommen und wurde nur für die Angelegenheiten der Gruppe genutzt. Sie blickte auf das Display und erkannte, dass sie über den Messenger eine Nachricht bekommen hatte.

Schnell öffnete sie es und las Ricos Nachricht.

Im Clan wird über nichts Anderes mehr geredet. Warum hast du gestern nicht gesagt, dass Vario und Rave tot sind? Du hättest zumindest selbst an die Tür kommen können, anstatt deinen Vater zu schicken.

Isada presste die Lippen aufeinander. Das lag nicht an mir, tippte sie. Ich hatte einen Streit mit meinem Vater. Kannst du mir einen Gefallen tun und am Tower beim Steakhouse nach meinem Laptop suchen?

Isada setzte sich mit dem Telefon auf ihr Bett, lehnte sich an die Wand und wartete darauf, dass Rico ihre Nachricht las und ihr antwortete. Es dauerte ewig, bis das Piepen erklang, das den Eingang der neuen Nachricht ankündigte.

Was ist das für eine Schnapsidee? Ich bin doch nicht blöd. Die Ekklesia wartet doch nur darauf, dass wir uns dort blicken lassen.

Sauer warf Isada das Telefon auf ihr Kopfkissen. Warum hatte sich heute alle Welt gegen sie verschworen? Natürlich war es gefährlich dort aufzutauchen, aber noch viel brisanter wurde die Lage, wenn sie diesen Laptop in die Hände bekamen. Sie sprang auf und lief einige Runden durch ihr Zimmer, ehe sie sich in der Lage fühlte, eine halbwegs vernünftige Antwort zu schreiben.

Dann hoffe ich für dich, dass, wenn sie den Laptop finden, sie ihn nicht knacken können. Sonst sind wir nämlich beide dran.

Sie hielt das Gerät in der Hand und starrte auf das Display. Rico antworte nicht mehr. Typisch, ärgerte sie sich im Stillen über den Angsthasen, den sie zu ihren Freunden zählte. Zumindest wusste Isada nun, dass sie sich auf Rico nicht verlassen konnte.

Hast du Mirosh kontaktiert?, schrieb sie.

Mirosh musste dringend informiert werden. Er war derjenige, der den Kontakt zu den Ranghöheren in der Gruppe hielt.

Ja.

Isada war erleichtert. Das bedeutete nämlich, dass sie nicht mit ihm telefonieren musste. Er hätte Fragen gestellt, ihr zu Recht die Schuld am Tod ihrer Freunde gegeben, und sie hätte ihm erklären müssen, wo der Laptop abgeblieben war.

Als ob Mirosh Gedanken lesen konnte, vibrierte Isadas Telefon, und auf dem Display erschien sein Name. Sie fluchte und überlegte, ob sie das Gespräch ignorieren sollte. Doch auf diesem Weg würde sie es nur hinauszögern. Irgendwann musste sie sich Mirosh stellen, also konnte sie das auch sofort tun.

„Hallo, Mirosh!“

„Kannst du reden?“, fragte er, anstatt ihren Gruß zu erwidern.

„Ja.“

„Dann erwarte ich einen ausführlichen Bericht von gestern. Was ist passiert, dass wir nun mit zwei Leuten weniger dastehen?“

Isada seufzte, atmete tief durch und begann zu erzählen: „Zuerst verlief alles nach Plan. Rave und Vario sind hineingegangen. Dann gab es ein Problem. Das oberste Stockwerk war in den Plänen, die ich hatte, nicht eingezeichnet. Deswegen habe ich den Bus verlassen und bin direkt zum Tower gegangen.“

„So etwas Ähnliches habe ich mir nach Ricos Erzählungen gedacht. Was ist dann passiert?“

Isada zögerte einen Moment, ehe sie weitersprach: „Vario musste den Alarm auslösen, sonst wäre er nicht in den Serverraum gelangt. Rave hat den Wachmann im Eingangsbereich außer Gefecht gesetzt. Dann ist irgendwie alles eskaliert. Einer der Wachmänner dort war ein Inimicus, der plötzlich auftauchte. Er hat zuerst Rave erledigt, und als Vario ihm zur Hilfe kam, auch ihn.“ Sie schluckte schwer und musste sich zusammennehmen, um nicht in Tränen auszubrechen.

„Wie hat der Inimicus von uns erfahren?“

„Ich habe keine Ahnung. Ich bin weggerannt, als er mich entdeckte. Glücklicherweise konnte ich ihm entkommen.“

„Und der Stick?“

„Vario hat ihn platziert. Es müsste alles funktionieren. Nur …“ Sie verstummte.

„Nur?“, wollte Mirosh wissen.

„Ich musste den Laptop zurücklassen und hatte bisher keine Möglichkeit, ihn zu holen.“

„Vollia“, fluchte Mirosh laut. „Heute ist es zu gefährlich, dort vorbeizugehen. Die Ekklesia wird alles rund um den Tower im Auge behalten. Warum hast du ihn nicht gleich gestern Nacht geholt?“

Isada presste die Lippen fest aufeinander. „Soya Pierrick hat mich aufgegabelt und nach Hause gebracht. Keine Sorge, er ahnt nichts“, schob sie schnell nach. „Aber es gab dann noch eine etwas längere Unterhaltung mit meinem Vater …“

Mirosh brummte unzufrieden. „Und wie sollen wir jetzt ins Überwachungssystem kommen?“

„Ich überlege mir etwas, versprochen. Wenn ich nur die Zugangsdaten vom Laptop habe und das Programm, das ich geschrieben habe, dann ist es völlig egal, von welchem Computer ich zugreife.“

„Wofür brauchst du dann diesen Laptop?“

„Ich muss das Programm freischalten und den Stick aktivieren.“

Das mochte Isada an Mirosh. Auch wenn er sich in Computerdingen nicht so gut auskannte wie sie, hatte er doch ein gewisses Grundverständnis von der Technik, was bei den Vampiren nicht ganz alltäglich war.

„Wo soll dieses verdammte Gerät sein?“, fragte Mirosh.

„Ich habe es im Gebüsch vor dem Steakhouse versteckt.“

„Also gut, ich werde sehen, was sich machen lässt. Halte dich bereit, wenn ich den Laptop habe, brauche ich dich.“

„Warte“, beeilte Isada sich zu sagen, ehe Mirosh das Telefongespräch beendete.

„Was ist noch?“ Seine Stimme klang scharf.

„Ich stehe vollkommen hinter unserer Sache und werde unser Projekt nach Leibeskräften unterstützen. Allerdings ist mein Vater gerade der Ansicht, dass ich zu viele Freiheiten habe.“

Mirosh stöhnte auf. „Ahnt er etwas?“

„Nein, sicher nicht. Er möchte allerdings, dass ich seßhafter werde.“

Mirosh lachte.

„Du und seßhaft, dass ich nicht lache.“

Ein klein wenig fühlte Isada sich verletzt. Sie konnte durchaus ernsthaft und zielstrebig sein. Immerhin hatte sie drei Universitätsabschlüsse und wusste zumindest, was sie mit ihrem Leben nicht anfangen wollte. Nie wollte sie eine langweilige Vampirin sein, die im Schatten ihres Mannes ihr Dasein fristete und nur dann Anerkennung bekam, wenn sie Kinder in die Welt setzte. Alles, nur das nicht.

„Das ist nur eine Phase meines Vaters. In ein paar Wochen sieht alles schon wieder anders aus“, log Isada und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass sie damit Recht behalten würde. Allerdings änderte ihr Vater selten seine Ziele, zumindest nicht, wenn er groß und breit einen Soya, den er sehr schätzte, eingeweiht hatte. Schon allein deshalb würde Mori Alexio alles daransetzen, sie zu verheiraten.

„Gut. Ich werde dich vorerst keiner anderen Gruppe zuteilen. Wenn ich etwas für dich habe, melde ich mich.“ Noch ehe Isada etwas darauf antworten konnte, klickte es in der Leitung, und Mirosh hatte aufgelegt.

Erschöpft ließ Isada die Hand mit dem Telefon sinken. Sie fühlte sich plötzlich unglaublich müde, dabei war es erst kurz nach Mitternacht. Sorgfältig verstaute sie das Prepaid-Handy wieder im Rucksack und stopfte diesen in ihren Schrank. Ihr Vater pflegte ihre Sachen zwar in Ruhe zu lassen, aber man konnte nie wissen. Dann machte sie ihre Musikanlage an, suchte If you feel better von Emilie Autumn heraus und drehte die Lautstärke auf Anschlag. Zufrieden legte sie sich auf ihr Bett und tauchte ab in die Welt der Musik.


* * *


Die importierte mexikanische Haustür flog hinter ihm ins Schloss, als Pierrick sein Zuhause betrat. Er war als Aufräumer am späten Abend zu einem Notfall gerufen worden. Im Gegensatz zur Nacht davor war es ein harmloser Fall gewesen. Es ging lediglich darum, ein paar Menschen zu beeinflussen, die aufgrund der Unvorsichtigkeit einer Familie von der Existenz der Kruento erfahren hatten. Weder Verletzte noch Tote waren zu beklagen, es war nur eine Lappalie gewesen.

Der Eingangsbereich lag ruhig und verlassen vor ihm. Seine Schritte hallten auf den weißen, blank polierten Fliesen, als er den Flur entlangging. Im Vorbeigehen spähte er ins Wohnzimmer, fand dieses jedoch verwaist vor. Caren musste sich in ihre Räume im ersten Stock zurückgezogen haben. Seit Tagen verschanzte sie sich dort oben und ließ niemanden – auch ihn nicht – an sich heran. Die Tatsache, dass er für ihren Kummer mitverantwortlich war, lastete schwer auf seiner Seele. Er seufzte, fuhr sich mit der Hand durch die Haare und betrat sein Büro. Hier war sein Reich, sein Rückzugsort. Dunkles Holz und Leder dominierten den Raum. Caren betrat dieses Zimmer nur ungern, um genau zu sein nur dann, wenn er sie explizit darum bat.

Pierrick streifte den Mantel ab und warf ihn achtlos über den Stuhl vor dem Wandsekretär, ehe er zu seinem Schreibtisch ging. Erschöpft ließ er sich in seinen Ledersessel sinken, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Wie sehr wünschte er sich jetzt jemanden an seiner Seite, dem er von seiner Nacht erzählen konnte, jemanden, der an seinem Leben teilnahm. Zunehmend fühlte er sich ausgepowert. Alle forderten immer nur von ihm. Der Clan brauchte ihn als Aufräumer, der die Drecksarbeit übernahm. Die Moris sahen in ihm den Soya, der Streit schlichtete und ihnen eine Richtung vorgab. Pierrick starrte die holzvertäfelte Decke an und versuchte sich an eine Zeit zu erinnern, in der es anders gewesen war. Caren war einst seine Freundin und Vertraute gewesen. Traurigkeit erfüllte ihn, als er an früher zurückdachte. Sobald er das Haus betreten hatte, war Caren da gewesen. Mit strahlenden Augen hatte sie ihm auf dem Weg ins große Wohnzimmer von ihrem Tag berichtet. Dort hatte Caren sich mit Handarbeiten beschäftigt, während er nebenan in seinem Arbeitszimmer den Papierkram aufarbeitete. Oder sie hatten die restliche Nacht gemeinsam verbracht. Es war lange her, seit sie das letzte Mal beisammengesessen hatten. Von Jahr zu Jahr hatte Caren sich immer weiter von ihm entfernt, ihn einfach nicht mehr an sich herangelassen. Er blickte auf die Fotografie von Caren und ihm, die auf seinem Schreibtisch stand. Er vermisste sie. Nach außen hin mimte sie nach wie vor die perfekte Ehefrau, und niemand, nicht einmal Carens Familie, ahnte, wie es tatsächlich um ihre Ehe stand.

Er überprüfte sein Handy, doch Virus hatte sich bisher nicht gemeldet. Vermutlich war es ihm immer noch nicht gelungen, an die Daten des Laptops zu kommen. Eigentlich hätte er auch noch zwei Suchanfragen an Virus gehabt, aber er konnte ihn nicht ständig von seinen eigentlichen Aufgaben abhalten. Vielleicht war es an der Zeit, sich selbst einen Computerexperten ins Team zu holen. Er hatte nur keine Ahnung, wer dafür infrage käme, deshalb hatte er bisher nichts unternommen.

Er zögerte, dann traf er eine Entscheidung und erhob sich. Pierrick wusste nicht, ob er erwünscht war, aber er wollte Caren sehen. Und als ihr Homen nahm er sich jetzt dieses Recht heraus.

Langsam stieg er die Treppe hinauf, die vom angrenzenden Wohnzimmer in den ersten Stock führte.

„Caren?“, rief er.

Es blieb alles still. Er ging an den drei verschlossenen Türen vorbei. Jedes dieser drei Zimmer war für eines seiner Kinder bestimmt gewesen. Alle blieben sie bis heute unbenutzt. Nachdem Caren das erste Mal schwanger geworden war, hatten sie das erste Zimmer liebevoll in ein Kinderzimmer verwandelt. Als sie das Baby verloren hatte, hatte sie es nicht über sich gebracht, auch nur eine Winzigkeit zu verändern. Noch heute lagen auf dem Regal über dem Wickeltisch neben dem Babypuder winzige Leinenhemdchen, Fatschenbänder und kleine, kunstvoll bestickte Hauben, wie es zur damaligen Zeit gebräuchlich gewesen war.

In der zweiten Schwangerschaft weigerte Caren sich beharrlich, dieses Kinderzimmer zu benutzen und da sie genug leerstehende Räume hatten, verwandelte sich ein weiteres Gästezimmer in eine Kinderstube. Auch heute noch stand die handgeschnitzte Holzwiege unter einem seidenen Baldachin-Himmel, in dem einst sein Sohn gebettet werden sollte. Doch dazu war es nie gekommen.

Die letzte und dritte Schwangerschaft war nun etwa zwanzig Jahre her und hatte auch kein gutes Ende genommen. Caren erlitt bereits zu Beginn des zweiten Schwangerschaftsdrittels eine Totgeburt.

Pierrick erreichte Carens Zimmer. Einst war es ihr gemeinsames Schlafzimmer gewesen, doch schon vor Jahren war er ausgezogen. Er öffnete die Zimmertür. Das King-Size-Bett war frisch bezogen, die Kissen ordentlich aufgeschüttelt. Weder auf dem blauen Sofa, noch an dem zierlichen Holztisch mit den Stühlen war Caren zu finden. Er schloss die Tür wieder und ging weiter. Das Mondlicht durchflutete den weißen Salon. Am großen Fenster stand ein einzelner, weißlackierter Stuhl, auf dem Caren saß und hinaus in den Garten blickte.

Pierrick verweilte einen Moment an der Tür. Ein wehmütiges Lächeln lag auf seinem Gesicht, als er seine Frau betrachtete. Wie ein Fächer hatten sich ihre langen, schwarzglänzenden Haare auf ihrem Rücken ausgebreitet – ein einsamer Schatten in dem weiß möblierten Raum mit der hellen Stuckdecke.

„Caren?“, fragte er leise und trat langsam auf sie zu.

Sie bewegte sich keinen Millimeter, als er zu ihr trat und ihr sanft die Hand auf die Schulter legte. Erst, als er neben ihrem Stuhl in die Hocke ging, drehte sie ihm das Gesicht zu.

Sie hatte geweint. Aus unendlich traurigen Augen blickte sie ihn an. Pierrick hatte das Gefühl, dass sein Herz ein weiteres Mal in tausend Stücke zerbrach. Caren wandte den Blick wieder ab und starrte aus dem Fenster.

Sanft strich er über ihren Kopf und hauchte ihr einen Kuss auf dem Scheitel, als er sich erhob.

„Wann hast du das letzte Mal getrunken?“

Sie zuckte mit den Schultern.

„Du weißt, es ist nicht gut für dich, zu lange zu warten.“

„Ich weiß“, antwortete sie tonlos.

„Wann hast du das letzte Mal getrunken, Caren?“, fragte er noch einmal, diesmal jedoch bestimmter.

Nachdem er keine Antwort bekam, öffnete er den Knopf an seinem Hemd und krempelte den Ärmel nach oben. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, dass Caren sich selbst so vernachlässigte. Sich so lange Nahrung vorzuenthalten, war sowohl für sie selbst als auch für ihr Umfeld gefährlich. Mehr als einmal hatte er einen Straßenzug aufräumen müssen, nachdem ein außer Kontrolle geratener Kruento in einen Blutrausch gefallen war.

Pierrick biss sich selbst ins Handgelenk und hielt Caren die blutende Wunde direkt an die Lippen. Zuerst war sie zögerlich, leckte mit ihrer Zunge nur über seine Haut. Dann leuchteten ihre Augen auf, und sie vergrub ihre Zähne in seinem Fleisch.

Er hatte recht gehabt. So gierig wie sie trank, hatte sie schon viel zu lange kein Blut mehr zu sich genommen.

In seinen Lenden zog es. Das Saugen an seinem Handgelenk und die Tatsache, dass es sich um Caren handelte, erregten ihn; in seiner Hose wurde es eng. Wie gerne hätte er jetzt Caren gepackt, sie aufs Bett gelegt und sich in ihr versenkt. Doch er wusste genau, sie würde es nicht wollen, und er verspürte keinen Gefallen daran, eine widerwillige Frau zu nehmen. Deshalb unterdrückte er sein Verlangen und biss die Zähne fest zusammen. Um Beherrschung ringend schloss er die Lider. Ein Bild tauchte vor ihm auf. Doch nicht seine Frau war es, die sich in schwarzer Spitze auf einem weißen Bettlaken räkelte. Es war Isada. Er riss die Augen wieder auf. Woher war dieser Gedanke gekommen? Er durfte nicht an Isada denken, während Caren von ihm trank. Auf diese Weise durfte er überhaupt nicht an Isada denken. Sie war seine Schwägerin und sowohl als Vampirin als auch als Frau in jeder Hinsicht tabu.

Am Anfang ihrer Ehe hatte es außer Caren niemanden gegeben. Doch nachdem sie sich immer weiter von ihm zurückgezogen hatte, musste er sich etwas überlegen. Er war kein Heiliger und hatte Bedürfnisse, die gestillt werden wollten. So war er auf Menschenfrauen ausgewichen, Mädchen, die leicht zu haben waren und die ihn entweder an ihr Blut oder zwischen ihre Beine ließen. Niemals beides gleichzeitig und nie ein zweites Mal. Caren hatte nichts dazu gesagt und es stillschweigend geduldet.

Als Isadas Bild sich noch einmal in seinen Geist schob, entwand er sich Carens Griff. Sie protestierte, wollte sein Handgelenk wieder an ihren Mund führen. Doch seine Wunde schloss sich bereits.

„Du hast genug“, erklärte er ihr sanft und strich ihr über das Haar.

Sie blickte zu ihm auf, und ihre schokoladenbraunen Augen funkelten ihn an. Die Fänge weit ausgefahren, sein Blut noch immer auf ihren Lippen, knurrte sie ihn an.

„Du solltest schlafen gehen“, sagte er, als er sich endgültig erhob und langsam das Zimmer verließ. Noch immer wütete das Verlangen in ihm. Er wollte sie berühren, ihren nackten Körper spüren. Sehnsüchtig wartete er auf eine Einladung, die Nacht bei ihr zu verbringen. Doch diese blieb aus, und so schloss er die Zimmertür hinter sich.

Er atmete tief durch und versuchte, sich unter Kontrolle zu bringen. So erregt wie er war, würde er unmöglich Schlaf finden. Also beschloss er, im Keller seinen Fitnessraum aufzusuchen. Einen Ort, den er öfter ansteuerte, als ihm lieb war. Aber zumindest musste er sich so nicht in seinem Bett schlaflos hin und her wälzen. Er würde trainieren, bis die Erschöpfung einsetzte und er für ein paar Stunden in einen unruhigen Schlaf fallen könnte.


* * *


Younes saß an seinem neuen Arbeitsplatz, einem Büro im West End, und schrieb an einer Rechnung. Nachts war das Industriegebiet verlassen und der perfekte Ort für ihn und seine Freunde, um zu arbeiten und anderen Tätigkeiten nachzugehen. Seit etwa zwei Monaten existierte nun ihre Schilder- und Lichtreklamewerkstatt, die sie unter den Namen Light On betrieben. Während im Erdgeschoss in der Lagerhalle die Reklameschilder zusammengebaut wurden, befanden sich im Obergeschoss die Büros. Jedoch wurde nur dieser Raum als solches genutzt. Alle anderen Räume waren in Schlafräume umfunktioniert worden. Je zwei Männer teilten sich ein Zimmer. Younes wohnte noch immer bei Natalie, die inzwischen hochschwanger war. Die meiste Zeit verbrachte er aber trotzdem hier bei seinen Brüdern.

Younes starrte auf die unfertige Rechnung. Er hasste den ganzen Papierkram. Das hier war mit Sicherheit nicht sein Traumjob, aber es spülte genug Geld in ihre Kasse, damit sie ihren Feldzug finanzieren konnten. Und einen weiteren Vorteil besaß diese Firma auch noch: Er kam ohne Probleme an Utensilien, die man für den Bombenbau benötigte. Allein schon das Gas für die Neonröhren eröffnete ganz neue Möglichkeiten.

Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken.

„Herein!“, rief Younes, und Tyler steckte seinen Kopf durch den Türspalt.

„Du bist also doch noch da.“ Der Inimicus schob die Tür ganz auf und trat ein.

„Ja, ich habe noch etwas zu erledigen.“

Tyler ließ sich auf einen der gepolsterten Stühle fallen. Younes kniff die Augen zusammen und musterte den jüngeren Inimicus. Er hatte etwas auf dem Herzen, das sah er ihm an der Nasenspitze an.

„Was ist passiert?“ Langsam erhob Younes sich und umrundete den Schreibtisch, bis er vor Tyler stehen blieb und auf ihn hinabsah.

„Glaubst du wirklich, Acer, der Neue, ist vertrauenswürdig?“

Younes runzelte die Stirn, ehe er sich abwandte und zum Fenster hinter seinem Schreibtisch ging. Er blickte auf das schlafende Industriegebiet und wählte seine Worte mit Bedacht.

„Er wird seine Chance bekommen zu beweisen, ob er auf unserer Seite ist. Bis dahin wird er mitlaufen.“

„Aber … wenn er uns verrät.“

„An wen denn?“ Younes drehte sich dem Inimicus zu und legte leicht den Kopf schief.

„Die Kruento? Oder die Behörden?“

Younes lächelte mild. „Du glaubst doch nicht, dass die Kruento ihn ausreden lassen, bevor sie ihn einen Kopf kürzer machen oder ein Schwert durchs Herz jagen. Er hat zwei von ihnen umgebracht.“

„Und die Behörden?“

„Die Polizei wird einem vorbestraften und untergetauchten Wachmann sicherlich keinen Glauben schenken. Jeder von uns könnte die Vorwürfe, die er ersinnen würde, entkräften.“

Tyler schien sich mit der Antwort zufrieden zu geben, zumindest entspannten sich seine Gesichtszüge.

„Wo ist er jetzt?“, fragte Younes.

„Er ist unten in der Werkstatt und baut mit den anderen das Reklameschild fertig, das morgen Nachmittag abgeholt wird.“

„Ich werde, bevor ich gehe, unten in der Halle nochmal vorbeischauen. Sei unbesorgt. Ethan und Will haben den Neuen im Blick und werden mir jede Unregelmäßigkeit melden.“

„Ich danke dir“, sagte Tyler. Er nickte Younes zu und verließ das Büro, um sich wieder seiner Arbeit zu widmen.

Nachdenklich ging Younes zu seinem Schreibtisch zurück. Er musste Tyler im Auge behalten. Der junge Inimicus zweifelte an ihren Zielen, an dem ganzen Projekt. Das musste sich ändern. Vielleicht wäre es eine gute Möglichkeit, ihn für ihren nächsten Angriff einzusetzen. Sollte er den Kampf überleben, war es gut, würde er es nicht tun, hätten sie keinen großen Verlust zu beklagen.

In solchen Momenten wünschte er sich, dass sein Mentor noch am Leben wäre. Leyton wüsste mit Sicherheit Rat. Younes schloss kurz die Augen. Das Schicksal hatte es nicht gut mit ihm gemeint, und so musste er diese harten Jahre allein meistern. Zumindest so lange, bis sein Sohn alt genug war, den Platz an seiner Seite einzunehmen. Trotz allem hatte Leytons Tod auch einen Nutzen gehabt. Nur dadurch wurden ihm die Augen für die Wahrheit geöffnet. Die Kruento mussten ausgelöscht werden. Er würde weiter Seinesgleichen um sich sammeln, und eines Tages würden sie eine Armee haben, die schlagkräftig genug war, es auch mit den mächtigsten Kruento aufzunehmen.

Younes druckte die fertige Rechnung aus, faltete sie zusammen und steckte sie in einen Umschlag. Dann fuhr er seinen Computer herunter. Er griff nach seiner Jacke und verließ das Büro. Noch ein kurzer Stopp unten in der Fertigungshalle, dann würde er zu Natalie fahren.

Kapitel 5


Isada war nichts anderes übrig geblieben, als ihren Vater auf die Geburtstagsfeier im Haus der Familie Hogben zu begleiten. Die einzige Form ihres Protestes drückte sie durch ihr Aussehen aus. Sie hatte sich dafür entschieden, ihre langen Haare aufzutoupieren und dunkellila Haarsträhnen einzuflechten. Die Augen waren schwarz umrandet und ihre Wangen und der Mund mit dunklem Violett bemalt. Das barocke Kleid mit einer raffinierten Schnürung endete vorne über dem Knie und ließ ihre langen, in Stiefeletten steckenden Beine frei, während es hinten bis zum Boden ging.

Missbilligend hatte ihr Vater sie gemustert, als sie im Eingangsbereich ihre Jacke auszog. Aber da war es zu spät gewesen, etwas dagegen zu unternehmen.

Am Arm ihres Vaters betrat Isada den weitläufigen Wohnbereich der Familie Hogben. Natalio, der Sohn des Hauses, war etwa so alt wie sie selbst. Ihn kannte sie ganz gut, weil er sich mit seinen Freunden öfter zu ihrer Clique gesellte. Mori Zak stand mit seiner Frau, einer blonden Vampirin in einem traumhaft schönen blauen Kleid, einige Schritte von ihnen entfernt und begrüßte gerade ein paar Gäste. Ihr Vater wies auf die Gastgeber und führte Isada zu ihnen. Isada versuchte ein Lächeln aufzusetzen und beglückwünschte Mori Zak zu seinem zweihundertsten Geburtstag.

Der Mori strahlte ein ungeheures Selbstbewusstsein aus, und das war genau das, was ihrem Vater imponierte.

„Natalio“, rief in diesem Augenblick Marena Hogben und winkte ihren Sohn heran.

„Ja, Mutter?“

„Kümmere dich ein wenig um Isada. Ihr jungen Vampire langweilt euch doch nur in unserer Gegenwart“, erklärte sie lächelnd und legte Isadas Hand in die Armbeuge ihres Sohnes.

„Aber gerne.“ Er nickte Isadas Vater um Erlaubnis bittend zu und wartete auf sein stummes Einverständnis, ehe er Isada fortführte.

„Hast du gehört, was mit Vario und Rave geschehen ist?“, fragte Natalio in einem aufgesetzten Plauderton und führte Isada durch den Raum.

„Ja“, gab sie zu. „Schrecklich, nicht?“ Das erdrückende Gefühl, das sie immer verspürte, wenn das Thema auf die toten Epheben kam, war wieder gegenwärtig.

„Ich hätte nie gedacht, dass sie sich den Gen Guards anschließen. So ein Blödsinn. Jeder, der das tut, muss mit dem Tod rechnen.“

Isada wusste, dass Natalio eher zu den Konservativen gehörte und alles, was der Ekklesia-Rat beschloss, begeistert aufnahm. Sie verzichtete auf eine Antwort und machte sich von Natalio los, als sie Janet und Diango, zwei weitere Epheben, erreichten. Janet war früher in Kindheitstagen ihre allerbeste Freundin gewesen, doch in den letzten Jahren waren sie sich immer fremder geworden. Während Janet einen festen Freund suchte, hatte Isada Freunde in der Gothic-Szene gefunden. Als Isada ihr Computer-Science-Studium aufnahm, hatte Janet Musik studiert und einen Vampir gefunden, den sie in einem halben Jahr heiraten würde. Schon jetzt redete sie nur noch von Kindern. Ihre Leben hätten nicht unterschiedlicher verlaufen können.

„Schön, dich hier zu sehen“, begrüßte Janet sie und gab ihr einen Kuss auf jede Wange.

„Ich freue mich auch. Wie geht es dir?“, erwiderte Isada die Begrüßung.

„Wunderbar.“ Janet unterzog die Freundin einer genauen Prüfung und stellte dann fest: „Das Kleid steht dir, aber die Strähnen und das Make-up hätten durchaus etwas dezenter ausfallen können.“

Isada grinste. Aus dem Mund der perfekten Janet hörte sich das wie ein Kompliment an. „Wo hast du Ennis gelassen?“ Isada konnte Janets Verlobten nirgends sehen.

„Er hat heute Nacht andere Verpflichtungen.“

„Dafür leiste ich ihr heute Gesellschaft“, erklärte Diango und schob sich in den Mittelpunkt.

Isada mochte den hochgewachsenen blonden Vampir nicht, der alles viel zu genau nahm. Höflich lächelte sie ihm zu und war erleichtert, als sie in einer Traube von Frauen ihre Schwester Caren entdeckte, die sich die Hand vor den Mund hielt und lachte.

„Ihr entschuldigt mich, ich möchte kurz meine Schwester begrüßen.“ Isada wartete nicht, bis die anderen drei ihr Einverständnis gaben, sondern schob den Rock etwas zur Seite, sodass sie an Natalio vorbeigehen konnte.

Caren saß auf einem Stuhl und war umringt von etlichen Frauen, die die Gesellschaft der Mi genossen.

„Hallo Caren“, grüßte Isada und blickte auf ihre ältere Schwester hinab.

Caren hatte sich hübsch zurechtgemacht. Die langen schwarzen Haare waren aufwändig auf ihrem Kopf festgesteckt, ein Teil fiel offen über ihren Nacken. Sie trug ein schulterfreies, tiefrotes Kleid.

Isada bemerkte den missbilligenden Blick, mit dem ihre Schwester sie musterte. Sie bog den Rücken durch und straffte die Schultern. Es war ihr egal, was Caren zu ihrem Aussehen sagte. Ihr gefiel, wie sie sich gekleidet hatte, und das war die Hauptsache.

Caren erhob sich geschmeidig und nickte den Frauen gönnerhaft zu. „Bitte entschuldigt mich einen Moment. Ich muss kurz mit meiner Schwester reden“, erklärte sie, fasste Isada am Arm und zog diese mit sich fort.

„Was soll das?“, fragte Isada wütend und versuchte, sich loszumachen.

Der unnachgiebige Griff ihrer Schwester war jedoch zu fest. 

„Wir müssen reden!“ Caren öffnete die Terrassentür und wartete, bis Isada hindurchgegangen war, ehe sie ihrer Schwester folgte.

Die Nacht war kühl und auch wenn Vampire nicht schnell froren, hatte man die Party ins Haus verlegt. So waren sie hier ungestört.

„Du siehst aus wie eine Ancilla“, meinte Caren empört.

Isada schnappte nach Luft. „Was fällt dir ein …?“ Sie trat einen Schritt zurück und stieß gegen die steinerne Terrassenbrüstung. „Ich muss mich vor dir nicht rechtfertigen. Du bist nicht meine Mutter.“

„Isada“, meinte Caren etwas versöhnlicher und kam auf sie zu.

Isada wich ihr aus. „Lass mich!“

„Schau dich doch an. Du signalisierst damit jedem Vampir, dass du leicht zu haben bist.“

„Du musst meine Kleidung nicht schön finden, es kann dir herzlich egal sein, wie ich herumlaufe. Und ich bin nicht leicht zu haben.“

„Dann hör auf, wie eine Canicula herumzulaufen.“

Isada schnaubte. „Das muss ich mir von dir nicht bieten lassen, Caren. Es reicht, dass ich auf Vater hören muss und er mir seinen Willen aufzwingen kann. Nur deshalb – hörst du! – nur deshalb bin ich heute hier. Es wird in meinem Leben nur zwei Vampire geben, die mir vorschreiben können, was ich tun und lassen kann. Der eine wird mein Rinoka sein und der andere mein Soya. Und du, meine liebe Schwester, bist weder das eine noch das andere.“ Damit wandte Isada sich ab, ließ Caren einfach stehen und machte sich auf den Rückweg ins Haus.

Natürlich wollte sie mit ihrer Kleidung Aufsehen erregen. Sie wollte anders sein als die langweiligen Vampirinnen. Sie war in der Gothic-Szene schon mit weit weniger Stoff am Leib herumgelaufen und nicht einmal begrabscht worden. Und auch in ihrem Clan hatte es bisher keiner gewagt, sie unsittlich zu berühren. Sicher, das mochte an ihrer familiären Bindung zu einem der mächtigsten Vampire in Boston liegen. 

Aber selbst wenn. Es störte sie nicht, dass die Männer sie anglotzten. Von ihr aus konnten sie auch an sie denken und sich dabei einen runterholen.

Isada drehte sich nicht noch einmal um, um zu sehen, ob Caren ihr folgte. Ohne nach rechts und links zu blicken, stürmte sie ins Wohnzimmer. Erst dort blieb sie stehen und sah sich um. Vampire standen oder saßen in Grüppchen zusammen. Der Geräuschpegel war hoch, weil alle sich gleichzeitig unterhielten. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie noch eine Stunde hierbleiben musste, ehe es nicht mehr unhöflich war, sich zu entschuldigen.

Mori Alexio lächelte ihr zu. An seiner Seite stand Safar Winnar, ein Ephebe, den sie nur flüchtig kannte. Sie wollte nicht mit ihm sprechen, sich mit ihm abgeben. Suchend sah sie sich um. Der einzige Vampir, bei dem sie in Sicherheit wäre, war Pierrick. Aber ihn konnte sie nirgends entdecken. Sie blickte sich um, fand ihren Schwager jedoch nicht. Ihr Geist suchte die Umgebung ab. Seine dominante Anwesenheit hätte sie spielend ausmachen können, wenn er da gewesen wäre. Enttäuscht drehte sie sich um und stand ihrem Vater gegenüber.

„Isada, Liebes“, erklärte Mori Alexio überaus freundlich. „Schau, wen ich hier gefunden habe.“

Safar war der einzige Sohn von Mori Dale, der mit Pierrick zusammenarbeitete. Ihr Vater hatte ihr bereits angekündigt, dass er ihr einige Vampire vorstellen würde, die er sich als zukünftigen Schwiegersohn vorstellen konnte. Aber doch nicht einen Holzkopf wie Safar, dachte Isada verzweifelt. Sie kannte ihn nur flüchtig. In seinem maßgeschneiderten Anzug mit der dunkelblauen Krawatte sah er sicher gut aus, wenn man auf glattgebügelte langweilige Typen stand.

Isada rang sich ein Lächeln ab. „Hallo Safar.“

Der Vampir musterte sie von oben bis unten. Ihr Vater murmelte: „Dann lass ich euch Jungvolk ein wenig allein.“ Er grinste vielsagend und ging.

„Isada“, schnurrte Safar und ließ seinen Blick über ihren Körper gleiten. Ihm schien zu gefallen, was er sah, denn seine Augen glühten eine Spur intensiver. Isada wollte das nicht sehen und drehte den Kopf. Niemand schien ihr zu Hilfe kommen zu wollen. Seufzend ergab sie sich ihrem Schicksal.

„Hat mein Vater dich gebeten, mich etwas näher anzuschauen?“, fragte sie spitz.

„Du bist ganz schön kratzbürstig, aber das gefällt mir.“ Er entblößte dabei eine Reihe perfekter Zähne. „Mein Vater hat einen guten Job und ein gewisses Ansehen im Clan.“

„Und du?“, fuhr sie ihn an.

Gelassen zuckte er mit den Schultern. „Die Schwägerin des Soyas wäre eine hübsche Partie, um meine Position zu festigen. Und ich glaube, wir könnten zusammen eine Menge Spaß haben.“ Er grinste sie anzüglich an.

Isada wurde schlecht. Wusste ihr Vater eigentlich, was er ihr antat? Er verkaufte sie wie ein Stück Vieh. War sie ihm nicht mehr wert? Sie wollte einen Mann, der sie mochte, sie achtete und ihr ihre Freiheiten ließ.

„Vielleicht sollten wir uns ein wenig näher kennenlernen?“

Isada rang um Fassung. Sie wollte nicht. Safar Winnar war ihr unsympathisch. Aber wenn sie ihn jetzt einfach abblitzen ließ, würde sie ihrem Vater nur eine Steilvorlage bieten, die Ketten, mit denen er sie gefangen hielt, noch enger zu ziehen. Das wollte sie um jeden Preis vermeiden. So schob sie ihre Hand in seine Armbeuge und ließ sich von ihm fortführen. Wohin, war ihr egal.


* * *


Es war bereits nach drei Uhr, als Pierrick das Haus der Familie Hogben betrat. Er hatte noch einen Abstecher zu Darius’ Anwesen gemacht, um mit Virus zu sprechen. Der Vampir hatte bisher nicht die Zeit gefunden, sich um den Laptop zu kümmern und ihm auch keine Hoffnungen machen können, dass sich das in absehbarer Zeit änderte. Dafür hatte er ihm aber den Namen einer Computerspezialistin genannt: Isada Er hatte überhaupt nicht gewusst, dass sie gleich zwei Masterabschlüsse in Computer Science besaß. Also war er zu ihr nach Hause gefahren, um sie um Hilfe zu bitten, blieb aber vor verschlossenen Türen stehen. Erst hatte er überlegt zu warten. Dann war ihm Zaks Feier zu seinem zweihundertsten Geburtstag wieder eingefallen. Sicher wollte Alexio sich dieses Ereignis nicht entgehen lassen. Also hoffte Pierrick, Isada dort ebenfalls anzutreffen.

Er war schnell nach Hause gefahren, hatte sich umgezogen und kam – mit einer Stunde Verspätung – auf der Geburtstagsfeier an.

Pierrick mochte diese Partys nicht sonderlich, aber da Zak seinen runden Geburtstag so groß feierte, war es als Soya seine Pflicht, dem ihm direkt unterstellten Mori seine Aufwartung zu machen.

Pierrick betrat den offenen Wohnbereich, in dem sich schon etliche Vampire tummelten. Er blickte sich um und sah allseits bekannte Gesichter. Suchend ließ er seinen Blick über die Menge schweifen und stellte wohlwollend fest, dass auch Caren gekommen war. Sie befand sich bei einer Gruppe von Vampirinnen, die förmlich an ihren Lippen zu kleben schienen. Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht, als er seiner Samera zusah, wie sie sich mit den anderen Frauen unterhielt und dabei zu amüsieren schien. So entspannt hatte er sie schon lange nicht mehr gesehen. Ob es an der Party lag, die ihren tristen Alltag unterbrach, oder daran, dass sie gestern getrunken hatte, vermochte er nicht zu sagen. Sie sah atemberaubend schön aus in der weinroten, schulterfreien Abendrobe.

Er überlegte gerade, wann sie sich das letzte Mal für ihn so hübsch gemacht hatte, als sein Blick bei einer anderen Vampirin hängenblieb. Für einen Moment musste er um Fassung ringen, ehe er sich wieder unter Kontrolle hatte. Was hatte seinen Schwiegervater dazu veranlasst, Isada in so einem Kleid herzubringen? Das Kleid betonte ihre atemberaubenden Kurven und entblößte Isadas schlanke Beine. Jeder Mann musste sich unwillkürlich vorstellen, wie es sich anfühlen würde, von ihnen umschlungen zu werden. Pierrick schloss für einen kurzen Moment die Augen, um der Erregung, die in ihm aufwallte, Herr zu werden. Er konnte nicht steif, mit glühenden Augen und ausgefahrenen Fänge durch die Geburtstagsgesellschaft marschieren. Ein zweiter Blick auf Isada, deren Oberteil raffiniert geschnürt war und ihren wunderbaren prallen Brüsten zu einem vollen Dekolletee verhalf, gab ihm fast den Rest. Dankbar für die Ablenkung wandte er sich seinen Gastgebern Zak und Marena zu, die in diesem Augenblick herbeigeeilt kamen, um ihn zu begrüßen.

„Soya.“

Pierrick lächelte die Vampirin an, ergriff ihre behandschuhte Hand und hauchte einen Kuss darauf. „Wie wundervoll du wieder aussiehst, Marena.“

Wie ein kleines Kind errötete sie und blickte verlegen zur Seite.

Dann war Zak, das Geburtstagskind, an der Reihe. Pierrick reichte dem deutlich kleineren Vampir die Hand und schlug ihm kameradschaftlich auf die Schulter. „Mein Freund, möge deine Gesundheit viele weitere Jahrhunderte andauern und der Schoß deiner Frau fruchtbar werden“, begrüßte er den Vampir mit den traditionellen Glückwünschen. Wie auch er selbst, sehnten sich etliche Vampirpaare nach Kindern. Die Hogbens hatten zwar bereits einen Sohn, aber jede weitere Empfängnis wäre ein Segen für sie.

In ihrem Volk gab es viel zu wenige Kinder. Jede Schwangerschaft brachte eine große Gefahr für Mutter und Kind mit sich. Dennoch war es das größte Geschenk, das man einem Vampir wünschen konnte.

„Ich danke dir, Soya“, sagte Zak ehrerbietig. „Es ist eine große Ehre für uns, dass du gekommen bist.“

Abgelenkt nickte Pierrick, der aus dem Augenwinkel verfolgte, wie Isada mit Dales Sohn Safar fortging. Der Vampir war kein Ephebe mehr, hatte seinen Platz im Clan jedoch noch nicht so recht gefunden. Es fehlte ihm an Reife und Charakterstärke. Die Dominanz, die seinem Vater zu eigen war und die Gründlichkeit, mit der dieser seinem Alltagsgeschäft nachging, gefielen Pierrick sehr. An Safar hatte er diese Eigenschaften leider nicht weitergegeben.

Was machte Isada bei ihm? Ihr Gesicht war angespannt, aber es sah auch nicht so aus, als ob Safar sie zu etwas nötigte.

„Die Feier ist grandios organisiert“, erklärte Pierrick der Gastgeberin, ohne sie direkt anzublicken. „Leider werde ich heute nicht so lange bleiben können. Ich habe noch ein paar Verpflichtungen. Deshalb werde ich mich schon jetzt von euch verabschieden.“

„Selbstverständlich. Vielen Dank, dass du trotz deines straffen Zeitplans die Zeit gefunden hast, an unserem Fest teilzunehmen.“

„Ich bleibe auch noch einen Augenblick, um ein paar Moris zu begrüßen.“

Begeistert nickte Marena. „Bleib, so lange du möchtest.“

Zak griff nach der Hand seiner Frau und bedeutete ihr still zu sein, ehe er sich mit einem letzten Kopfnicken von Pierrick verabschiedete und seine Samera mit sich fortzog, um die nächsten ankommenden Gäste zu begrüßen.

Pierrick wandte sich ab und suchte Isada. Er musste mit ihr sprechen und sie dann von dieser Veranstaltung fortbringen, bevor einer der männlichen Vampire die Kontrolle verlor und über sie herfiel. Isada war jedoch verschwunden – ebenso wie Safar. Im Stillen fluchte er und bemühte sich ruhig zu bleiben und nicht wie ein eifersüchtiger Narr durch den Raum zu rennen, um sie zu finden.

Er schlenderte zu einer Gruppe männlicher Vampire, schüttelte auch dort einige Hände, ehe er mit einer Entschuldigung weiterging.

Drei Gruppen später war er immer noch keinen Schritt weiter. Weder Alexio hatte er gefunden, noch Isada und Safar. Mit grimmigem Blick wandte er sich der Terrassentür zu und überlegte, ob sie sich vielleicht in den Garten abgesetzt hatten für ein heimliches Stelldichein. Daran wollte er überhaupt nicht denken.

„Alle begrüßt du, nur mich nicht“, hörte er eine vertraute Stimme hinter sich.

Caren. Langsam drehte er sich zu ihr um. Sie hatte die Lippen schmollend verzogen, aber ein vergnügter Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Wie schön sie doch ist, schoss es ihm durch den Kopf, und etwas krampfte sich in seiner Brust zusammen.

„Nur dich würde ich so begrüßen“, erklärte er, schloss sie in seine Arme und küsste sie direkt auf den Mund. Schon lange hatte Caren ihm gegenüber keine Zärtlichkeiten zugelassen. Hier in der Öffentlichkeit konnte sie ihn nicht so einfach von sich schieben. Er überlegte, ob er seine Zunge in ihren Mund gleiten lassen und den Kuss noch ein wenig intensiver auskosten sollte. Sie würde ihn gewähren lassen, das wusste er. Aber er wollte sein Glück nicht überstrapazieren, und so entschied er sich dagegen und gab sie frei. Caren warf ihm einen strengen Blick zu, ehe sie eine Haarsträhne hinter das Ohr schob. Ihre Lippen waren von seinem Kuss geschwollen, und am liebsten hätte er seinen Mund gleich wieder auf ihren gedrückt.

Hinter ihm hörte er eine Vampirin verzückt aufseufzen. Wenn diese nur wüsste, wie sein Privatleben tatsächlich aussah, wäre sie bestimmt nicht mehr so angetan von der kleinen Showeinlage.

„Soll ich euch einen Raum besorgen, wo ihr ungestört seid?“, bot Natalio, der Spross der Gastgeber, an. Pierrick sah den Schrecken, der sich in Carens Gesicht widerspiegelte und den sie verzweifelt zu verbergen versuchte.

„Nicht nötig, Natalio“, erklärte er laut. „Meine Samera und ich haben ein eigenes Haus.“ Dann drehte er sich zu Caren um. „Möchtest du mich begleiten, oder soll ich dich deinen Freundinnen überlassen?“

Er hörte Caren erleichtert neben sich aufseufzen und wusste, dass sie nicht mitkommen würde. Enttäuschung breitete sich in ihm aus, und er wusste, dass der Moment, in dem die alte Caren durchgeschimmert hatte, vorbei war. Er sah es in ihren Augen.

„Geh du nur“, sagte sie sanft, berührte kurz seinen Arm und wandte sich den Vampirinnen zu.

Pierrick sah Caren noch einen Augenblick hinterher, ehe er weiterging. Er begrüßte weitere Vampire und tauschte mit ihnen Belanglosigkeiten aus.

„Pierrick.“ Er gestattete nur wenigen Leuten, ihn in der Öffentlichkeit ohne seinen Titel anzureden. Sein Schwiegervater gehörte zu den Wenigen. Außerdem würde die Unterhaltung, die er gleich mit ihm führen wollte, sowieso eher persönlicher Natur sein.

„Alexio“, begrüßte er seinen Schwiegervater und verzichtete ebenfalls auf dessen Titel. „Ich freue mich sehr, dich zu sehen.“

Alexio deutete eine knappe Verbeugung an und blickte Pierrick interessiert an. „Kann ich dir bei etwas behilflich sein?“

„In der Tat“, erklärte Pierrick, fasste seinen Schwiegervater am Arm und führte ihn etwas abseits, wo sie ungestört reden konnten.

„Was gibt es?“ Alexio wirkte auf das Äußerste gespannt, und Pierrick wusste, der Vampir würde alles in seiner Macht Stehende tun, um ihm zu gefallen.

„Ich brauche Isadas Hilfe bei einem technischen Problem.“

„Aber natürlich“, ereiferte Alexio sich.

„Allerdings eilt die Zeit, und es ist wichtig für unseren Clan. Ich brauche ihre Hilfe noch heute Nacht.“

Alexios Augen wurden immer größer.

„Ich darf dir leider nicht sagen, worum es geht, und auch Isada wird zur Geheimhaltung verpflichtet sein. Du sollst aber wissen, dass der Rat dir für dein Einverständnis und Isada für ihre Hilfe äußerst dankbar sein wird.“

„Das ist alles kein Problem. Ich werde sie sofort suchen, damit du mit ihr aufbrechen kannst. Wenn wir unserem Clan in irgendeiner Weise dienen können, sind wir selbstverständlich dazu bereit. Unser privates Vergnügen kann warten, wenn es um eine wichtige Sache geht.“

„Danke dir, Alexio. Mach dir keine Umstände. Genieße die Party. Ich werde Isada suchen und sie vor Morgengrauen sicher nach Hause bringen.“

„Soya.“ Alexio überschlug sich fast mit Förmlichkeiten. „Du weißt, dass ich dir vorbehaltlos meine Tochter anvertraue.“

Darauf erwiderte Pierrick nichts. Würde Alexio es auch so sehen, wenn er wüsste, wie es um seine Ehe mit Caren stand? Es ging hier zwar gerade nicht um Caren, aber dennoch war sie auch seine Tochter, und bei ihr hatte er auf ganzer Linie versagt.

Pierrick verabschiedete sich und hatte es nun eilig, Isada zu finden.

Noch immer war die Party in vollem Gange und die Räumlichkeiten mit vielen Gästen gefüllt. Pierrick schloss die Augen und konzentrierte sich. Viele Gerüche lagen in der Luft. In dem Wirrwarr an Düften suchte er nach einer ganz speziellen Kombination. Honig und Birne – Isadas unverwechselbares Aroma.

Schnell fand er sie. Sie konnte nicht weit weg sein. Er öffnete die Augen, noch immer ihren Duft in der Nase, und folgte der Spur.

Wo auch immer sie und Safar steckten, es war Zeit, dass er ihre Zweisamkeit störte. Die Genugtuung darüber beunruhigte ihn weit mehr, als er sich eingestehen wollte.


* * *


Isada ließ sich von Safar durch die Räume führen. Er schien sich im Haus der Hogbens auszukennen. Sie begegneten immer weniger Vampiren. Eine leise warnende Stimme riet ihr, auf der Hut zu sein.

Der Vampir führte sie in ein weiteres Zimmer. Es war die Bibliothek. Fasziniert bestaunte Isada die mit Büchern vollgestopften deckenhohen Regale. Nur mit einer Leiter konnte man die oberen Reihen erreichen. Im hinteren Teil befanden sich gemütliche Sessel und eine gebogene Stehlampe, die sicher ein heimeliges Licht warf, bei dem man wunderbar lesen konnte.

Das laute Klicken der Tür, die ins Schloss fiel, ließ Isada herumfahren. Safar hatte die große Flügeltür geschlossen und kam auf sie zu.

„Warum hast du mich hierher gebracht? Was willst du von mir?“

Safar grinste sie breit an. „Ich dachte, wir lernen uns ganz in Ruhe etwas näher kennen.“

Langsam kam er auf sie zu. Das ungute Gefühl wurde stärker. Sie fühlte sich nicht wohl, mit ihm allein zu sein und verschränkte die Arme vor der Brust. 

Er kam immer näher und blieb dicht vor ihr stehen. Instinktiv wich Isada zurück, bis sie gegen einen Sessel stieß und nicht weiter zurückweichen konnte.

Safar war ihr gefolgt und grinste sie nun hämisch an. „Lernen wir uns doch ein wenig näher kennen“, wiederholte er.

„Lass das!“ Sie versuchte ihm auszuweichen, als er seine Hand ausstreckte und ihr damit über die Wange strich.

Er lachte kehlig, unterbrach die Berührung jedoch nicht. Im Gegenteil, er ließ seine Hand an ihrer Wange verharren und schob sich noch näher an sie heran.

„Dein Vater hat sehr deutlich gemacht, dass er an einer Verbindung mit meiner Familie interessiert wäre.“

Isada atmete erleichtert aus, als Safar endlich seine Hand wegnahm. Aber noch immer war er ihr viel zu nahe. Sie spürte die männliche Präsenz, die sie unheilverkündend einhüllte. Sie überlegte einen Moment, ob sie ihren Vater zu Hilfe rufen sollte. Er war ihr Rinoka, und dadurch hatte sie eine ganz spezielle, geistige Verbindung zu ihm. Doch würde er ihr helfen? Schließlich hatte er gewollt, dass sie mit Safar fortging. Machte sie alles nur noch schlimmer, wenn sie nach ihm rief und er sie in dieser intimen Situation vorfand? Hatte sie dann ihr Schicksal besiegelt und musste Safar heiraten? Dieses Risiko würde sie nicht eingehen. Isada presste die Lippen fest aufeinander und entschied sich, die Situation durchzustehen. Lieber ertrug sie dieses Scheusal heute Abend als ein Leben lang.

„Ich mag es, wie du riechst.“ Er leckte sich über die Lippen, als ob er sie schmecken würde. „Und ich stelle mir vor, wie es wäre, von deinem Blut zu kosten.“

Isada schloss die Augen, um der Situation zu entfliehen. Ihr war schlecht.

Safar schob seine Hand in ihren Nacken und zog Isada näher an sich heran, überschritt noch einmal ihre persönliche Distanzgrenze. Isada keuchte entsetzt auf, doch Safars Griff war unnachgiebig.

„Lass mich los!“, stieß sie angewidert hervor und stemmte die Hände gegen seine Brust.

„Ich mag es, wenn du dich wehrst“, lachte er und umfing sie nun auch mit der anderen Hand, die besitzergreifend auf ihrem Rücken landete.

„Das wirst du bereuen.“

„Und was willst du tun?“ Er ließ ihr ein klein wenig mehr Freiraum. 

Isada ging ihre Möglichkeiten durch. Sie musste von hier fort. So viel stand fest. Safar wurde immer aufdringlicher und wenn er wirklich handgreiflich werden würde, hätte sie nicht viele Optionen, sich zu wehren. Um genau zu sein, eine einzige, und das war die Verbindung zu ihrem Rinoka. Ihr Verhältnis zu ihrem Vater war jedoch mehr als nur ein wenig angespannt, deshalb wollte sie diese Möglichkeit nur ungern nutzen.

„Ich mag es, wenn Frauen sich etwas zieren. Das macht mich besonders scharf.“

Isada blickte ihn nicht an. Sie wollte sein anzügliches Grinsen nicht sehen. Es reichte ihr, dass sie seine Stimme hörte.

„Wenn du mir gehörst und ich über dich bestimmen darf, wirst du dich nicht mehr so freizügig kleiden und jeden Mann um den Verstand bringen. Jeder, der dich sieht, möchte dich am liebsten auf den nächsten Tisch setzen und sich zwischen deine Beine schieben.“

Mit einer schnellen Drehung wollte sie ihm entkommen, doch er musste es geahnt haben und umfing nun ihre Taille. Während er sie an den Sessel drängte, berührten ihre Brüste seinen Oberkörper. An ihrem Bauch spürte sie seine Erektion.

„Lass mich gehen, Safar“, erklärte sie mit so viel Selbstbewusstsein, wie es ihr möglich war. „Ich werde niemandem von diesem Zwischenfall erzählen.“

„Nein, Isada. Ich werde dich nicht gehen lassen. Ein Wort zu deinem Vater, und ich werde ihm sagen, wie du mich bezirzt hast, mich angefleht hast, es dir zu besorgen. Was denkst du, wem dein Vater Glauben schenken wird? Schau dich nur an, wie du herumläufst, wie ein billiges Flittchen, eine Ancilla.“

Isada schluckte. Das war einfach nicht fair. Tränen traten ihr in die Augen, nicht, weil Safars Worte sie verletzt hatten, sondern weil sie befürchtete, dass ihr Vater sich auf seine Seite stellen würde.

„Er wird mir sicher recht geben, dass du dringend die strenge Führung eines Homen benötigst“, fuhr Safar fort. Seine Hand fuhr ihre Seite entlang hinauf und legte sich auf ihre Brust. Durch den Stoff ihres Kleides knetete er sie leicht.

In Isada rebellierte alles. Sie wollte nicht. Nicht hier, nicht mit Safar. Der Kerl widerte sie an.

„Na los, wehre dich“, spornte er sie an. „Das macht mich noch viel geiler.“

Sie roch bereits seine Erregung, sah an seinen glühenden Augen und den ausgefahrenen Fängen, wie sehr ihm dieses perfide Spiel gefiel.

„Du wärst nicht die Erste, die ich gegen ihren Willen nehme. Aber du wirst diejenige sein, die ich immer und immer wieder erniedrigen werde.“

„Was für ein perverses Arschloch bist du eigentlich?“, spie sie ihm entgegen.

Safar lachte auf und während seine Hand noch immer ihre Brust knetete, fuhr die andere an ihrem Oberschenkel entlang und tastete sich unter ihren Rock. Sie versuchte, sich aus seinem Griff zu lösen, aber sie war zwischen dem schweren Sessel und dem Vampir gefangen. Das Einzige, was sie erreichte, war, dass sie sich an ihm rieb. Isada gab ihren Widerstand auf und wandte den Kopf ab. Sie konnte nur beten, dass sie das Ganze unverletzt und halbwegs heil überstand. Eine Träne kullerte über ihre Wange, und sie schloss die Augen. Sie wollte den Triumph, dass er gewonnen hatte, nicht in seinem Blick sehen. Sie wollte überhaupt nichts sehen. Sie spürte, wie er über ihren Slip fuhr und wollte vor Scham im Boden versinken. Es fühlte sich so falsch an, und dennoch schüttelte sie den halbherzigen Gedanken, ihren Vater um Hilfe zu bitten, ab.

Mit einem lauten Krachen flog die Tür auf. Die Luft um sie herum vibrierte vor aufgeladener Dominanz und purer Macht. Sie riss die Augen auf und erstarrte. Im Türrahmen stand Pierrick. Nichts erinnerte mehr an den zivilisierten Vampir. Die Augen glühten beängstigend, seine Fänge waren deutlich ausgefahren. Seine übermächtige Aura erfüllte den ganzen Raum. Isada konnte kaum atmen. War Safar schon beängstigend gewesen, versetzte Pierricks Anblick sie in nackte Panik.

Safar musste es ebenso ergehen. Schnell trat er einen Schritt zurück.

Isadas Rock rutschte wieder nach unten. Ohne Safars Körper, der sie festgehalten hatte, sank sie zu Boden und blieb dort sitzen.

Langsam kam Pierrick näher. Isada schlug die Hände vors Gesicht. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Jeden Moment konnte Pierrick sich wie ein Wirbelsturm auf sie stürzen, und es würde nichts von ihr übrigbleiben, rein gar nichts. Sie konnte doch überhaupt nichts für diese Situation. Warum war er denn so furchtbar wütend?

Safar wich weiter zurück. Von seiner vorherigen Überlegenheit war keine Spur mehr zu bemerken.

„Rühr. Sie. Nie. Wieder. An!“, knurrte Pierrick leise.

Safar nickte eilig.

„Raus!“, brüllte der Soya, und Safar flüchtete, so schnell es ihm möglich war.

Isada traute sich immer noch nicht, sich zu rühren. Sie spürte, wie Pierrick auf sie zukam und neben ihr in die Hocke ging. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Isada konnte sie einfach nicht mehr zurückhalten.

„Hat er dich verletzt?“ Pierricks Stimme klang immer noch viel zu tief, aber sanft.

Isada schüttelte den Kopf. Noch immer konnte sie die Situation nicht vollkommen erfassen. Was wollte Pierrick von ihr? Er setzte sich neben sie, lehnte sich mit dem Rücken an den Sessel und zog Isada in seine Arme. Dort lag sie, an seine breite Brust gebettet und weinte hemmungslos. Liebevoll strich ihr Pierrick über das Haar, murmelte beruhigende Worte. Der Heulkrampf ließ ihren Körper erbeben, und sie krallte sich fester an Pierricks Hemd.

„Es ist alles in Ordnung“, erklärte er ihr und küsste sie auf den Scheitel. Immer und immer wieder. Sie spürte die sanften Schwingungen, die er aussandte, die in ihr Bewusstsein eindrangen und sie ruhiger werden ließen. Die Tränen versiegten. Ihren Platz in Pierricks Armen wollte sie trotzdem noch nicht aufgeben. Sie fühlte sich unendlich geborgen. Bei ihm war sie in Sicherheit. Er würde ihr kein Haar krümmen. Sie schloss die Augen und sog seinen unverwechselbaren Duft tief ein, wollte ihn sich einprägen und nie wieder vergessen, so als könnte bereits die Erinnerung daran alle Gefahren fernhalten. Er roch männlich und herb, und noch immer lag der schwere Geruch seiner Dominanz im Raum.

„Danke“, flüsterte Isada schließlich kaum hörbar.

Als stumme Antwort fuhr er ihr über das Haar, verweilte auf ihrem Hinterkopf und küsste sie erneut auf die Stirn. Ewig verweilten seine Lippen an diesem Ort, und Isada schloss die Augen. Wenn es nach ihr ginge, könnte sie die ganze Nacht mit ihm hier sitzend verbringen.

„Er wird dich nie, nie wieder anfassen. Das verspreche ich dir“, versicherte Pierrick ihr noch einmal.

Isada nickte stumm.

„Wir sollten jetzt gehen.“

„Wohin?“ Sie wollte sich nicht vom ihm lösen und bedauerte es, dass er den Körperkontakt abbrach.

Mit einem Satz war er auf den Beinen, reichte ihr die Hände und zog sie hoch.

Isada wandte den Kopf ab. Sie wollte nicht zurück auf die Party gehen, wollte Safar nicht noch einmal begegnen, ebenso wenig wie ihrem Vater, von dem sie sich verraten fühlte.

„Nicht ich sollte hier stehen, sondern dein Vater. Warum hast du ihn nicht gerufen?“

Fest presste sie die Lippen zusammen und schwieg.

„Ich brauche deine Hilfe. Mit deinem Vater ist bereits alles geklärt. Fühlst du dich dazu in der Lage?“, fragte er weniger vorwurfsvoll, sondern nun ehrlich besorgt.

Isada blickte ihm direkt ins Gesicht. Er sah aus wie immer, der weltgewandte, unnahbare Soya. An die Naturgewalt von eben erinnerte nichts mehr.

„Wobei kann ich dir schon helfen?“

Jetzt war es Pierrick, der etwas verlegen schien. „Virus sagte, du hast einen Abschluss in Computer Science und wärst ein Genie, wenn es um Sicherheitssysteme geht. Wir haben einen Laptop gefunden, der vermutlich den Gen Guards gehört, und ich brauche deine Hilfe, um das Sicherheitssystem zu umgehen.“

Isadas Augen wurden immer größer.

„Das muss aber unter uns bleiben“, schob Pierrick eilig hinterher.

Langsam nickte Isada.

„Woher habt ihr den Laptop?“

„In der Nacht, als ich dich nach Hause gefahren habe, sind die Gen Guards in den LDC-Tower eingestiegen. Dort befindet sich ein Serverraum, in dem alle Videos der öffentlichen Überwachungskameras von ganz Boston gespeichert werden.“

„Und was hat der Laptop damit zu tun?“

Pierrick zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Virus ist es nicht gelungen, dessen Sicherheitssystem zu umgehen. Wir erhoffen uns einen Hinweis auf die Vampire, die hinter den Gen Guards stecken. Alleine konnten Rave und Vario die Operation niemals durchführen.“

Einerseits war Isada mehr als erleichtert, dass es Virus nicht gelungen war, ihren Laptop zu hacken, andererseits hatte sie keine Ahnung, wie sie ihr Sicherheitssystem umgehen konnte, ohne sich selbst zu verraten.

„Fühlst du dich dazu wirklich in der Lage?“ Pierrick musterte sie besorgt.

Isada reckte das Kinn nach oben und streckte ihren Rücken durch. „Mir geht es wunderbar. Ich freue mich auf eine Herausforderung.“ Es gelang ihr sogar, ein ernst gemeintes Lächeln zustande zu bringen.

„Okay, dann lass uns auf direktem Weg verschwinden. Virus wartet bereits auf uns.“

Kapitel 6


Das Anwesen lag im Dunkeln, als Pierrick und Isada Darius’ Villa erreichten. Isada war noch nie hier gewesen und staunte über die beeindruckende Schönheit des Hauses.

„Warst du schon einmal hier?“

Isada schüttelte den Kopf. „Ich weiß nur, dass hier die Krieger trainiert werden.“

Pierrick grinste sie an, als er in die unterirdische Garage abbog und seinen Mercedes dort parkte. Er gab Isada ein Zeichen, ihm zu folgen und führte sie auf direktem Weg zum Fahrstuhl. Mit einem Schmunzeln registrierte er ihre verblüffte Miene, als der Aufzug sie noch weiter in die Tiefe brachte. Die Türen öffneten sich, und der sterile, taghell beleuchtete Flur lag vor ihnen.

„Willkommen in Darius’ Festung, dem Herzstück unseres Clans.“

Mit großen Augen folgte Isada ihm.

Pierrick verlangsamte sein Tempo, als er merkte, dass Isada so sehr in die Betrachtung ihrer Umgebung vertieft war, dass sie nicht mehr Schritt hielt. Er führte sie geradewegs zur Kommandozentrale, wo sich im angrenzenden Raum Virus’ Technikraum befand. Sie erreichten die Tür, und er hielt kurz inne.

„Alles, was du jetzt sehen wirst, unterliegt strengster Geheimhaltung. Hast du mich verstanden?“

Isada blickte ihn an und nickte ernst.

Er zögerte einen Moment. Wenn er die Tür aufstieß und Isada in seine Welt mitnahm, gab es für sie kein Zurück mehr. Sie war noch so jung, so unschuldig und unerfahren. Konnte er ihr das wirklich zumuten? Innerlich fluchte er, weil er wusste, dass er keine Wahl hatte. Isada war fast doppelt so alt wie Virus, und der junge Vampir steckte das Ganze erstaunlich gut weg, beruhigte er sein Gewissen.

Virus nahm Pierrick die Entscheidung ab, indem er die Tür von innen öffnete. Er breitete die Arme aus und grinste Isada mit seinem jugendlichen Charme an: „Cool, dass du da bist. Endlich jemand, der Ahnung von dem hat, womit ich mich den ganzen Tag herumschlage.“

Mit Bauchgrummeln sah Pierrick zu, wie der junge Vampir Isada in die Arme nahm und sie kurz drückte.

„Komm herein“, lud Virus sie mit einem Grinsen in sein Reich.

Pierrick folgte den beiden. Er hätte es nicht für möglich gehalten, aber Isadas Augen wurden noch eine Spur größer, als sie Virus’ Einrichtung bestaunte.

„Ist es das, was ich denke?“, fragte sie und blickte ungläubig auf den übergroßen Bildschirm an der Wand.

„Ja, das ist es.“ Mit Schwung setzte sich Virus auf seinen Stuhl, drehte sich einmal um die eigene Achse und zog sich an den Schreibtisch heran.

„Zieh deine Jacke aus, dann zeige ich dir alles“, rief Virus unbekümmert und deutete auf einen zweiten Stuhl mit Rollen.

Isada zögerte und warf Pierrick einen hilfesuchenden Blick zu. Ihre Kleidung hatte heute schon für genug Furore gesorgt, und wenn er ehrlich war, war es ihm lieber, wenn niemand mehr Isada in diesem aufregenden Kleid sah. Kein Mann wäre gegen ihre Reize immun. Vielleicht Darius und Jendrael, aber auch nur, weil sie ihre Seelengefährtinnen gefunden hatten.

„Behalte die Jacke an, bis ich dir etwas Vernünftiges zum Anziehen geholt habe“, erklärte er schroff und wandte sich zum Gehen.

Aus dem Augenwinkel sah er, wie Isada sich gehorsam auf den zweiten Stuhl setzte und interessiert Virus’ Ausführungen lauschte. Die Jacke behielt sie an.

Zufrieden machte er sich auf den Weg zu Sam, um von ihr ein paar Klamotten zu borgen.

Er kam jedoch nicht weit. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, stand er Darius gegenüber.

„Hast du sie mitgebracht?“, fragte dieser und spähte auf die geschlossene Tür.

„Ja, sie ist bei Virus.“

„Na, dann bin ich mal gespannt, was Isada kann. Ich habe überhaupt nicht gewusst, dass du auch ein solches Computergenie in der Familie hast.“

„Dann sind wir schon zu zweit“, murmelte Pierrick. „Sag mal, könnte mir Sam eine Jeans und einen Pullover leihen?“

Entgeistert blickte Darius ihn an und brach in schallendes Gelächter aus.

„Nicht für mich, für Isada.“ Pierrick wusste, dass Darius sich damit nicht zufriedengeben würde, und so fügte er erklärend hinzu: „Wir kommen direkt von einer Party, und sie würde sich in einfacher Kleidung deutlich wohler fühlen.“

„Ich denke, Sam wird etwas finden. Komm mit, ich begleite dich zu ihr.“

Darüber war Pierrick froh. Er wusste wohl, dass Sam und Darius im Seitenflügel ihre Zimmer hatten, doch war er noch nie dort gewesen. Die Schlaf- und Wohnräume gehörten zu den Privatgemächern, und so nahe stand Pierrick weder Sam noch seinem Anführer.

„Du siehst aus, als würde dir ein kleiner Kampf gut tun“, sagte Darius und musterte seinen Gast mit scharfem Blick.

Pierrick antwortete nicht. Darius hatte den Nagel auf dem Kopf getroffen. Das Tier saß noch immer dicht unter der Oberfläche und verlangte mit Nachdruck, herausgelassen zu werden.

„Ich werde Sam bitten, Isada die Kleidung zu bringen. Du und ich, wir suchen die Trainingshalle auf. Was hältst du von diesem Vorschlag?“

Pierrick nickte dankbar.

„Schwert oder Dolch?“, wollte der Anführer wissen.

Pierrick war gut im Umgang mit beidem, doch er bevorzugte die kleinere Waffe. „Dolch“, entschied er und freute sich schon jetzt auf den Übungskampf. Sein letzter Kampf lag viel zu lange zurück, und ein ebenbürtiger Gegner wie Darius war eine Seltenheit. Diese Gelegenheit musste er unbedingt ergreifen.


* * *


Isada kam aus dem Staunen überhaupt nicht mehr heraus. Ungläubig sah sie Virus zu, der ihr mit einer kindlichen Begeisterung ein Schmuckstück nach dem anderen vorführte.

„Wo bekommt man so einen Prozessor her? Der muss ein Vermögen gekostet haben“, wollte Isada wissen und beneidete Virus mit jeder Faser ihres Herzens dafür.

„Man muss die richtigen Leute kennen und das nötige Kleingeld haben“, gab er augenzwinkernd zu. „Darius hat sich als äußerst großzügig erwiesen.“

„Jetzt mal im Ernst, du arbeitest mit den Soyas richtig zusammen?“ Isada bewunderte ihren alten Freund ungemein. Er hatte es geschafft und seine Leidenschaft zum Beruf gemacht. Mit einem Förderer, der über unermesslichen Reichtum verfügte, saßen sie hier umgeben von Spielzeugen mit einem Gesamtpreis, der sie schwindeln ließ. 

Ein klein wenig stolz nickte Virus.

„Du hast gesagt, er habe dich engagiert, in seinem Haus ein paar technische Geräte zu installieren. Ich hatte keine Ahnung, dass du so richtig mit den Soyas zusammenarbeitest.“

„Die Arbeit hier ist großartig, wobei ich ab und zu jemanden zum Fachsimpeln vermisse. Die Soyas wissen diese Sachen überhaupt nicht zu schätzen“, gab Virus zögernd zu. „Und wie du siehst, benötige ich auch etwas Hilfe. Ich bin sehr froh, dass Pierrick dich gefragt hat. Du arbeitest in erster Linie für ihn, nicht für den Rat.“

„Ich habe schon verstanden.“ Sie versuchte nicht beleidigt zu klingen, auch wenn sie sich so fühlte. Virus mochte es als achter Sohn eines Moris nicht einfach gehabt haben, sich in so eine vorteilhafte Position zu bringen, und sie wusste, dass er während seines Studiums hart gebüffelt hatte. Sein entscheidender Vorteil war, dass er sich als Mann nur seinem Familienoberhaupt und den Soyas unterwerfen musste. Sie dagegen wäre ein Leben lang an einen Rinoka gebunden und ihm auf Gedeih und Verderben ausgeliefert.

Wenn sie an so ein Scheusal wie Safar dachte, lief es ihr eiskalt den Rücken hinab. Sie musste eine Möglichkeit finden, ihren Vater umzustimmen, ihm irgendwie klarmachen, dass es besser war, wenn sie nicht heiratete. Sie wollte sich ihren Homen selbst aussuchen, wollte auf einen Vampir warten, der es schaffte, ihr Herz höher schlagen zu lassen und ihr weiche Knie bescherte.

„Erde an Isada“, rief Virus und schnippte mit den Fingern vor ihrem Gesicht.

Augenblicklich verbannte Isada ihre Kleinmädchenträume – denn nichts anderes waren sie – in die hintersten Winkel ihres Seins und richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf Virus.

„Pierrick meinte, du brauchst Hilfe bei einem Laptop.“

„Genau das habe ich dir gerade lang und breit erklärt“, erwiderte Virus und fiel dabei vor Lachen fast vom Stuhl.

Verlegen grinste Isada ihn an.

Die Tür hinter ihnen öffnete sich mit einem leichten Quietschen. Gleichzeitig drehten sie sich um, und Isada erblickte eine hochgewachsene Vampirin mit schulterlangen braunen Haaren, gekleidet in eine schwarze Jeans und eine dunkelblaue Trainingsjacke. Auf ihrem Arm hielt sie ein Kleiderbündel.

Isada wusste sofort, wer die Frau war, die da vor ihr stand. Samantha Wesley, die Samera ihres Anführers. Ehemals Detective bei der Bostoner Mordkommission. Jeder im Clan kannte ihre Geschichte. Isada war ihr nur ein einziges Mal begegnet, als sie mit ihrer Schwester im Fiftyfive gewesen war. Die Mis Sam und Arnika waren damals dort gewesen. Bedauerlicherweise hatte Isada kaum die Zeit gehabt, mehr als zwei Sätze mit ihr zu wechseln, ehe Caren sie in eines der Abteile geschleppt hatte. Sie, Isada, gehörte nicht der Elite an, das tat nur ihre Schwester.

„Hi Sam“, begrüßte Virus die Besucherin wie eine alte Freundin.

Sie nickte Virus zu und wandte sich an Isada. „Hallo Isada.“

Isada erhob sich, sie wusste nicht so recht, wie sie sich gegenüber der Mi verhalten sollte. Sollte sie einfach zurückgrüßen, ihr die Hand geben oder gar einen Knicks machen? Wie sprach sie die Vampirin korrekt an?

„Ich bin Sam“, sagte sie freundlich und nahm Isada die Entscheidung ab, indem sie ihr einfach die Hand hinstreckte.

Ehrfürchtig ergriff Isada die Hand. „Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen.“

„Ganz meinerseits.“

Sam wirkte so natürlich, so ungekünstelt. Ganz anders als ihre Schwester Caren und damit die einzige Mi, die sie näher kannte. Schließlich gab es derzeit auch nur drei Mis: Caren, Sam und die schwangere Arnika Collister.

„Ich habe dir etwas mitgebracht.“ Sam streckte ihr die Kleidung entgegen. „Ich hoffe, sie passen einigermaßen. Du bist etwas kleiner als ich.“

„Vielen Dank.“ Isada nahm das Bündel in Empfang und drückte es an ihre Brust.

„Die Krieger sind gerade mit ihrem Training fertig und befinden sich in den Duschen und den Umkleideräumen. Aber du kannst dich nebenan in der Besprechungszentrale umziehen. Ich warte davor und sorge dafür, dass dich keiner stört.“

Dankbar nahm Isada das Angebot an und folgte der Vampirin nach nebenan.

„Ich weiß, es ist nicht wirklich einladend hier, aber zum Umziehen müsste es genügen“, meinte Sam und ließ ihren Blick durch den kahlen Raum gleiten. Die Einrichtung bestand aus einem kreisrunden Tisch, um den ein Dutzend metallener Stühle standen.

Isada legte die Kleidung auf dem Tisch ab. „Ich will hier ja nicht einziehen“, erklärte sie schulterzuckend.

Sam grinste sie an, nickte ihr zu und schloss hinter sich die Tür.

Isada schälte sich endlich aus ihrer Jacke und löste die Verschnürung des barocken Kleides. Es fiel zu ihren Füßen in sich zusammen. Nur noch mit einem knappen Höschen bekleidet, schlüpfte sie aus den Schuhen, griff nach der Jeans und zog sie sich über die Hüften. Es gelang ihr gerade so, den Knopf zu schließen. An den Oberschenkeln saß der Stoff eng wie eine zweite Haut, und um den Po herum spannte die Hose leicht. Dafür war sie viel zu lang. Sam war nicht nur ein ganzes Stück größer als sie, sie war auch deutlich schlanker. Isada bückte sich und schlug die Hosenbeine um, bis ihre Füße zum Vorschein kamen. Dann angelte sie nach dem Pullover und zog ihn über den Kopf. Sie war froh, dass er nicht so kurz war und die Problemzonen an ihrer zu breiten Hüfte kaschierte. Sie zog die Haarnadeln und die künstlichen Haarsträhnen aus ihren Haaren, schüttelte sie und band sie sich zu einem Zopf im Nacken zusammen. Schließlich bückte sie sich, hob das Kleid auf und überlegte, was sie damit tun sollte. Sie würde es keinesfalls ein weiteres Mal anziehen. Also konnte sie es auch Sam in die Hand drücken, damit sie es entsorgte. Sie stieg wieder in ihre Stiefeletten, die überraschend gut zu ihrem jetzigen Outfit passten. Nur die schwarz umrandeten Augen und die dunkelvioletten Lippen erinnerten noch an das Partyoutfit. Aber lieber hatte sie etwas zu viel Make-up im Gesicht, als vollkommen ohne Schminke herumzulaufen. Ohne die Schutzschicht in ihrem Gesicht würde sie sich nur nackt und verletzlich fühlen.

Isada griff nach ihrem Mantel und ging zur Tür.

Wie versprochen wartete Sam davor.

„Kannst du das Kleid für mich wegwerfen?“, fragte Isada und reichte Sam den Traum aus violett-schwarzem Gothic-Kleid.

Mit hochgezogenen Augenbrauen sah Sam erst Isada, dann das Kleid an. „Gern“, murmelte sie schließlich, ohne weitere Fragen zu stellen. „Den Weg kennst du ja.“ Sie deutete auf die Tür zu Virus’ Computerzimmer.

Dankbar nickte Isada und schlüpfte in den Computerraum.

„Ich bin bereit. Erzähl mir alles, was du über den Laptop weißt.“ Isada ließ sich wieder auf dem Stuhl nieder, zog die Beine an und lauschte Virus’ Ausführungen.

Er hatte ganze Arbeit geleistet und war der Lösung des Problems schon ziemlich nahe gekommen, ohne es zu wissen. Nur ein kleiner Schubs in die richtige Richtung, und er würde das Sicherheitssystem umgehen.

„Ich kann es natürlich versuchen“, erklärte Isada, als Virus geendet hatte. „Aber versprechen kann ich nichts.“

„Wenn du es nicht schaffst, dann niemand“, sagte er überzeugt und machte ihr Platz, damit sie an den Laptop herankam.

Isada betrachtete das metallene Gerät und überlegte, wie sie nun am besten vorgehen sollte, ohne dass Virus Verdacht schöpfte.

„Ich denke“, Isada strich über die Tastatur, „ich werde dazu sicherlich mehrere Tage brauchen. Gibt es einen Ort, wo ich ungestört arbeiten kann?“

Nachdenklich schüttelte Virus den Kopf. „Ich denke nicht, dass es gut ist, den Laptop von hier zu entfernen. Das ist viel zu gefährlich. Wenn die Gen Guards davon erfahren, bist du ihre Zielscheibe. Du könntest doch hier arbeiten.“

„Dann würde ich vorschlagen, du suchst dir für die nächsten Tage eine andere Beschäftigung“, gab Isada eingeschnappt zurück. „Ich kann mich jedenfalls nicht konzentrieren, wenn hier ständig jemand ein- und ausgeht. Du vielleicht?“ Sie machte eine unwirsche Bewegung durch den Raum und blickte Virus fragend an.

„Ich gebe dir ja recht“, gab Virus schließlich zu.

Gerade wollte sie ein weiteres Mal ansetzen, als sie innehielt und den Schritten lauschte, die sich der Tür näherten.

„Darius.“ Virus drehte sich mit seinem Stuhl einmal um die eigene Achse. „Und Pierrick.“

Virus’ Vermutung wurde bestätigt, als die Tür aufschwang und der Anführer und der Soya den Raum betraten.

„Wie weit seid ihr gekommen?“, fragte Pierrick. Sein Blick glitt zwischen Isada und Virus hin und her.

„Das wird auf jeden Fall eine harte Nuss. Dafür brauche ich mehrere Tage“, gab Isada zögernd zu.

„Und einen Raum, von wo aus sie ungestört arbeiten kann“, fügte Virus hinzu.

„Einen Raum?“ Darius dachte nach. „Das wird schwierig – zumindest hier unten.“

„Ich brauche einfach einen leistungsstarken Computer, mit dem ich den Laptop verbinden kann. Es gibt da ein paar Programme, die ich über die Festplatte laufen lassen möchte und wenn das nicht klappt, arbeite ich gerade an einem speziellen Programm, das nur noch nicht ganz fertig ist und …“

Darius hob die Hand und bedeutete Isada still zu sein. „Davon verstehe ich nichts, und es ist mir auch egal. Du brauchst einen Computer und einen Raum.“

„Ich nehme ihn auch mit nach Hause“, schlug Isada vorsichtig vor.

„Nein!“ Pierrick funkelte sie wütend an. „Das ist zu gefährlich. Euer Haus ist nicht gesichert. Wenn einer der Gen Guards mitbekommt, dass wir den Laptop haben, bist du zu Hause nicht mehr sicher.“ Der Soya wandte sich an Virus. „Wie lange dauert es, so ein Ding“, er zeigte auf Virus' Monitor und Rechner, „zu beschaffen?“

„Ich kenne ein paar Leute in der Stadt. Bis morgen Abend habe ich dir etwas Funktionstüchtiges zusammengestellt. Allerdings wird das nicht gerade günstig, wenn du etwas Vergleichbares haben möchtest.“

Isada hielt die Luft an.

„Kümmere dich darum und schaffe die Dinge in mein Haus. Isada wird von dort aus arbeiten.“

Nach Luft schnappend starrte sie Pierrick an. Sie sollte nicht nur einen Supercomputer bekommen, sie sollte auch noch bei Pierrick arbeiten? „Hat Caren auch nichts dagegen?“, erkundigte sie sich vorsichtig.

Pierrick musterte sie eingehend, und Isada wünschte sich, sie hätte nichts gesagt. „Caren wird das egal sein“, erklärte er ruhig. „Wenn ihr beide noch etwas zu besprechen habt, dann tut das jetzt. Bald wird der Tag anbrechen, und ich habe deinem Vater versprochen, dich vor Sonnenaufgang zu Hause abzusetzen.“

„Ich bin nicht mehr so empfindlich gegen das Sonnenlicht.“

Pierrick warf ihr einen warnenden Blick zu, und sie verstummte augenblicklich. Es war nicht gut, ihm in Gegenwart anderer zu widersprechen. So wandte sie sich Virus zu, um noch ein paar Dinge bezüglich ihrer Anforderungen an den Supercomputer mit ihm zu besprechen.


* * * 


Eine halbe Stunde später saß Pierrick mit Isada in seinem Auto und fuhr durch das nächtliche Boston. 

Zeitlich würden sie es bequem vor Sonnenaufgang nach Readville schaffen.

Er warf einen Blick zu Isada hinüber, die desinteressiert den nächtlichen Verkehr betrachtete. Pierrick konnte sich ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen, als er an ihren ungläubigen Gesichtsausdruck dachte, wie sie zusammen mit Virus die Einzelheiten für den Computer erörtert hatten. Die Stange Geld, die das Gerät kosten würde, tat ihm nicht weh. Selbst um Isada für einen einzigen Auftrag zu gewinnen, hätte er das Sümmchen locker gemacht. Sein Plan war jedoch, Isada dazu zu bewegen, auf Dauer für ihn zu arbeiten, und mit diesem Computer konnte er sie vielleicht ködern. Dass sie eine Vampirin war und er bisher nur männliche Vampire in seinem Team hatte, störte ihn nicht. Was ihm dagegen Sorge bereitete, war die Anziehungskraft, die sie auf ihn ausübte und die Tatsache, dass sie Carens Schwester war. Das war auch der Grund, warum er sie nicht gleich gefragt hatte, ob sie sich vorstellen konnte, fest für ihn zu arbeiten. Er war sich nicht sicher, wie lange er ihren Anblick ertragen würde. Schon jetzt fiel es ihm schwer, seine Sinne beisammen zu halten. Und wenn er nun in den nächsten Tagen feststellte, dass es mit ihr im Haus nicht ging, könnte er die Zusammenarbeit einfach beenden, ohne sich vor jemandem rechtfertigen zu müssen.

Er wechselte die Spur, um einen viel zu langsamen Motorradfahrer zu überholen.

Die Jeans und der Pullover, die Sam ihr gegeben hatte, standen ihr tausend Mal besser als das aufreizende Kleid, das sie davor getragen hatte. Dass Sam es für Isada entsorgen sollte, hatte er wohlwollend zur Kenntnis genommen, wobei die Jeans ihren wohlgeformten Hintern und die hübschen Beine nicht weniger betonten als das gewagte Kleid. Wenn es nach ihm ging, trüge sie nur noch weite Pullover und unförmige Hosen.

Verstohlen riskierte er noch einen Blick.

Isada sah abgekämpft aus. Wie sie ihren Kopf an das Fenster lehnte und sehnsüchtig nach draußen blickte, wirkte sie verletzlich, fast wie ein Kind. Sie war auch fast noch ein Kind! Noch war sie keine hundert Jahre alt, noch gehörte sie zu den Epheben. Sicher, bei den Vampirinnen, die stets von einem Rinoka unter Kontrolle gehalten wurden, waren die ersten hundert Jahre nicht so wichtig und prägend wie bei den männlichen Vampiren. Es gab etliche Frauen, die bereits als Blutkinder verheiratet wurden und ihr erstes Kind noch vor der Renovation gebaren.

„Ich möchte dir danken“, unterbrach Isada plötzlich die Stille.

Pierrick zuckte zusammen. „Wofür?“, fragte er viel zu schroff.

„Für dein Einschreiten auf der Party.“ Sie blickte ihn nicht an und sah noch immer wie gebannt aus dem Fenster.

Erneut brodelte die Wut in ihm. Der Kampf mit Darius hatte ihm gut getan, um die angestaute Energie loszuwerden. Aber nun kochten die Emotionen in seinem Inneren wieder hoch, und das Tier in ihm wartete nur darauf, die Gelegenheit zu nutzen und auszubrechen. Wenn er so weitermachte, würde er wieder den halben Tag in seinem Keller im Fitnessraum verbringen.

„Das musst du nicht.“ Er schwieg kurz, dann fügte er hinzu. „Kein Vampir hat das Recht, so etwas mit dir zu tun. Ich verstehe nur nicht, warum du nicht deinen Vater gerufen hast. Wozu hast du denn eine direkte Verbindung zu deinem Rinoka?“

Er hatte die Frage schon einmal gestellt, und Isada war ihm eine Antwort schuldig geblieben. Auch jetzt reagierte sie nicht, starrte nur weiterhin auf den Verkehr. Fast hätte er das leichte Schulterzucken übersehen.

Ein tiefes Knurren stieg in seiner Brust auf, und es kostete ihn alle Mühe, es niederzukämpfen.

„Mir gefällt nicht, dass du das Ganze hinnimmst, als wäre es nicht der Rede wert“, knurrte er.

„Ach ja, und was soll ich deiner Meinung nach tun? Ich bin leider weder ein männlicher, dominanter Vampir, noch habe ich einen so einflussreichen Rinoka, dass sich alle vor ihm fürchten.“ Isada presste die Lippen fest zusammen, und er sah, dass ihre Augen feucht waren. Die Sache setzte ihr mehr zu, als er bis dahin gedacht hatte.

„Du musst lernen, dich zu verteidigen“, stieß er hervor.

Isada wirkte kraftlos. „Und wer soll mir das beibringen? Du etwa?“

Sie sah nun noch verletzlicher und kindlicher aus, als sie die Beine an ihren Körper zog.

Am liebsten hätte er auf der Stelle das Auto angehalten, sie in die Arme genommen und getröstet. Doch genau das versagte er sich. Ihre Nähe war für seine Selbstbeherrschung gefährlich. Er umklammerte das Lenkrad fester und musste sich ermahnen aufzupassen, sonst würde es unter seinen Fingern zerbrechen wie Kristallglas, das auf Steinboden fiel.

Spöttisch fügte sie noch hinzu: „Zukünftig laufe ich dann mit einem Schwert herum. Das schreckt die Vampire sicherlich ab.“

„Ich werde dir den Umgang mit einem Dolch beibringen“, hörte er sich sagen, ehe er richtig begriff, was er gerade tat. „Den kannst du dir mit einem Oberschenkelgurt ans Bein binden.“

Isada starrte ihn mit offenem Mund an, und er war mindestens so überrascht wie sie.

Was hatte ihn geritten, Isada dieses Angebot zu machen? Reichte es nicht, dass sie die nächsten Tage ständig in seinem Haus sein würde und er vorhatte, sie damit noch weiter an sich zu binden? Er verfluchte seine zweideutigen Gedanken. Er wollte keine Verbindung mit Isada eingehen, er war mit Caren verheiratet. Isada wollte er lediglich einen Job anbieten.

„Das würdest du wirklich tun?“, hauchte sie.

Jetzt konnte er nicht mehr zurück und je mehr er es sich überlegte, umso besser gefiel ihm die Idee. Er würde Isada den Umgang mit dem Dolch beibringen. Die Waffe war für eine Frau ideal. Isada würde sich sicher geschickt anstellen, und er würde sich durchaus besser fühlen, wenn er wüsste, dass so etwas wie heute Nacht nie wieder geschehen konnte.

„Natürlich“, bekräftigte er seine Entscheidung noch einmal.

Er war froh, dass er endlich Readville erreichte. Noch zwei Blocks, dann hatten sie das Haus erreicht, in dem Isada mit ihrem Vater lebte.

„Da wären wir“, verkündete er, als er direkt vor dem Haus anhielt.

„Danke schön fürs Heimbringen“, murmelte Isada und öffnete die Wagentür.

„Kommst du alleine klar?“, vergewisserte er sich noch einmal, war aber froh, als sie nickte. „Ich melde mich morgen.“

Sie nickte noch einmal. „Schönen Gruß an Caren.“

Damit warf sie die Autotür hinter sich zu und eilte die Stufen hinauf. Pierrick wartete, bis sie hineingegangen war, dann zückte er sein Handy.

„Ich brauche zwei Leute für eine Personenüberwachung“, erklärte er dem Vampir am anderen Ende.

„Moment“, murmelte dieser. „Ich kann dir Allerd Olfson und Blagden Sigmond anbieten. Zwei meiner besten Männer.“

„Wunderbar. Schick mir sofort einen von ihnen an folgende Adresse.“ Er nannte ihm Isadas Anschrift. „Es geht um Isada Dearing, die Tochter des Hauses. Ich möchte, dass sie rund um die Uhr bewacht wird. Ihr darf kein Haar gekrümmt werden.“

„Selbstverständlich.“

Pierrick legte auf. Er blickte noch einmal auf das kleine Reihenhäuschen, in dem Isada verschwunden war. Sollte er auf die Personenschützer warten? Nein, bisher ahnte noch niemand, wie wichtig Isada für den Clan war. Noch war sie in Sicherheit. Er drückte das Gaspedal durch. Als er weiter Richtung Hingham brauste, hoffte er einen klaren Kopf zu bekommen. Isada setzte ihm gehörig zu. Er kannte sie ihr ganzes Leben, hatte sie aufwachsen sehen, sogar die Renovation bei ihr durchgeführt. Sie war immer Carens kleine Schwester gewesen. Doch irgendetwas war mit ihr geschehen. Das nette kleine Mädchen hatte sich in eine äußerst attraktive – heiß, korrigierte er sich – äußerst heiße, sexy Frau verwandelt. Er musste sich zurückhalten. Irgendwann würden sich diese Gefühle wieder legen – zumindest hoffte er das.


* * *


Isada lief die Stufen zur Haustür hinauf. In ihrer Hand hatte sie bereits den Haustürschlüssel. Pierrick fuhr nicht wie erwartet los, sondern wartete. Ungeduldig steckte sie den Schlüssel ins Schloss, was nicht gleich beim ersten Mal gelang. Dann endlich konnte sie ihn drehen, und die Tür öffnete sich. Schnell schlüpfte sie hinein und schloss erleichtert ab. Sie war noch immer ganz durcheinander von dieser Nacht, in der so unheimlich viel passiert war. Pierrick würde ihr den Umgang mit dem Dolch beibringen. Ungläubig schüttelte sie den Kopf und eilte in ihr Zimmer hinauf.

Kaum dort angekommen, riss sie die Schranktür auf. Sie musste Mirosh unbedingt berichten, was mit dem Laptop geschehen war und Entwarnung geben.

Sie wartete, bis das Handy Empfang hatte und wollte gerade den Messenger öffnen, als das Telefon klingelte und Miroshs Namen anzeigte.

„Hallo?“, meldete sie sich verwundert.

„Ich stehe unten vor der Tür. Kannst du für einen Moment rauskommen?“

„Klar.“ Isada legte auf. Gut, dass sie noch die Schuhe anhatte. Sie eilte die Treppen hinunter und riss die Tür auf. Von Pierricks Auto war zum Glück weit und breit nichts mehr zu sehen.

Auf der gegenüberliegenden Seite trat eine Gestalt aus dem Schatten eines Baumes. Mirosh.

Nervös sah sie sich um, ob jemand sie beobachtete und eilte dann zu ihm.

„Was machst du hier?“ Wenn sie jemand zusammen mit Mirosh sah und irgendwann herauskam, dass einer von ihnen zu den Gen Guards gehörte, hatte auch der andere ein Problem.

„Ich muss mit dir reden.“

„Hier? Wenn uns jemand sieht? Warum konntest du nicht am Telefon mit mir reden?“

„Wenn sie das Telefon anzapfen? Das ist zu gefährlich.“

Isada verschränkte die Arme vor der Brust. „In mein Telefonnetz hackt sich niemand ein. Das habe ich mehrfach gesichert.“

Mirosh schien ihr nicht zu glauben.

„Also, was willst du? Ich muss rein.“ Sie deutete in Richtung Haustür.

„Als der Soya dich von der Party mitgenommen hat, habe ich schon das Schlimmste befürchtet.“

„Ich auch“, gab Isada zu. „Sie haben den Laptop, aber es nicht geschafft, ihn zu knacken. Dafür brauchen sie mich.“ Sie reckte den Kopf und schaute Mirosh geradewegs in die Augen. „Ich werde einen Weg finden, alle belastenden Daten zu vernichten, ohne dass sie Verdacht schöpfen.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739448350
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (April)
Schlagworte
Gefährte Urban-Fantasy Clan Fantasy Romance Seelenverbindung Liebe Vampir Seelengefährte Urban Fantasy

Autor

  • Melissa David (Autor:in)

Ich schreibe Bücher, die dein Herz berühren und dich in fantastische Welten abtauchen lassen.
Melissa David wurde 1984 in einem historischen Städtchen in Bayern geboren. Lange bevor sie schrieb, hatte sie den Kopf schon voller Geschichten. Seit 2015 ist sie als Selfpublisherin unterwegs.
Der enge Kontakt zu ihren Lesern ist ihr eine Herzensangelegenheit, die sie über Facebook, ihren Blog und den zweiwöchentlichen Newsletter pflegt.
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Titel: Kruento - Der Aufräumer