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Cheetah Manor - Das Geheimnis des Panthers

von Melissa David (Autor:in)
340 Seiten
Reihe: Cheetah Manor, Band 2

Zusammenfassung

"„Du kannst sie nicht wie einen Vogel in einen goldenen Käfig stecken. Sie ist ein Raubtier, sie muss frei sein und die Chance haben, sich auszuprobieren.“

Rayna, die Jüngste der Morgan-Geschwister, ist froh, den heimtückischen Angriff auf Cheetah Manor überlebt zu haben. Dennoch gelingt es ihr nicht ganz, in den Alltag zurückzufinden. Als sie dann auch noch erfährt, dass ihr ältester Bruder sie heimlich überwacht, flieht sie vor ihm. Um zu verhindern, dass ihre Familie sie zurückholt, schließt sie sich Ethan Washington, Anwalt und bester Freund ihres großen Bruders, heimlich an und folgt ihm ins Ausland. Dabei ahnt sie nicht, dass auch Ethan seine Geheimnisse hat und er gerade dabei ist, den Mörder ihres jüngsten Bruders zu jagen.
Die Fortsetzung der packenden Gestaltwandlergeschichte voller Magie und Geheimnisse.

Jedes Buch ist in sich abgeschlossen.

Die abgeschlossene Reihe im Überblick
Cheetah Manor - Das Erbe (Band 1)
Cheetah Manor - Das Geheimnis des Panthers (Band 2)
Cheetah Manor - Der Schwur der Indianerin (Band 3)

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum



E-Book

1. Auflage November 2017

220-346-01

Melissa David

c/o Papyrus Autoren-Club 

Pettenkoferstr. 16-18 

10247 Berlin 

Blog: www.mel-david.de 

E-Mail: melissa@mel-david.de 



Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss

www.juliane-schneeweiss.de

Bildmaterial:

© Depositphotos.com

© Shutterstock.com



Lektorat, Korrektorat: Lektorat Bücherseele, Natalie Röllig

www.lektorat-buecherseele.de 




Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form bedürfen der Einwilligung der Autorin.

Personen und Handlungen sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Klappentext


„Du kannst sie nicht wie einen Vogel in einen goldenen Käfig stecken. Sie ist ein Raubtier, sie muss frei sein und die Chance haben, sich auszuprobieren.“


Rayna, die Jüngste der Morgan-Geschwister, ist froh, den heimtückischen Angriff auf Cheetah Manor überlebt zu haben. Dennoch gelingt es ihr nicht ganz, in den Alltag zurückzufinden. Als sie dann auch noch erfährt, dass ihr ältester Bruder sie heimlich überwacht, flieht sie vor ihm. Um zu verhindern, dass ihre Familie sie zurückholt, schließt sie sich Ethan Washington, Anwalt und bester Freund ihres großen Bruders, heimlich an und folgt ihm ins Ausland. Dabei ahnt sie nicht, dass auch Ethan seine Geheimnisse hat und er gerade dabei ist, den Mörder ihres jüngsten Bruders zu jagen.


Die Fortsetzung der packenden Gestaltwandlergeschichte voller Magie und Geheimnisse.

Cheetah Manor



Das Geheimnis des Panthers

Band 2


von

Melissa David

Prolog


„Du hast was?“ Völlig entgeistert starrte Ethan Washington seinen Mandanten, Vertrauten und besten Freund an. Er musste sich beherrschen, ruhig zu bleiben.

Darren winkte lässig ab. „Reg dich nicht auf. Ich habe alles unter Kontrolle.“

„Und was sagt Rayna dazu, dass du diesen Typen engagiert hast, damit er mit ihr ausgeht?“

„Sie wird es nie erfahren.“

Ethan verdrehte die Augen. Seiner Meinung nach war Rayna in einem Alter, in dem man ihr die Freunde nicht mehr aussuchen musste.

„Wenn sie sich mit Jungs treffen will, dann mit solchen, die ich kontrollieren kann und die nicht auf dumme Gedanken kommen.“

Ethan schüttelte den Kopf. „Sie ist deine Schwester und sie ist volljährig.“

„Meine Aufgabe ist es, auf sie aufzupassen.“

„Und das hältst du für den richtigen Weg?“

„Ja. Und du bist der Letzte, mit dem ich darüber diskutieren möchte. Als mein Anwalt stehst du unter Schweigepflicht“, beendete Darren das Gespräch.

Ethan überlegte einen Moment, ob er widersprechen sollte, entschied sich jedoch, keine Konfrontation mit Darren einzugehen. Das war eine Familienangelegenheit und so nahe er der Familie auch stand – er war kein Teil von ihr.

„Können wir jetzt über die Dinge sprechen, wegen denen du gekommen bist?“, wollte Darren ungeduldig wissen.

Ethan richtete sich in seinem Sessel auf. Jetzt ging es ums Geschäft. Ein Thema, bei dem er ruhig und sachlich bleiben konnte. „Selbstverständlich.“

Darren lehnte sich in seinem Stuhl zurück, legte die Arme auf die Lehnen und sah ihn aufmerksam an. „Was hast du herausgefunden?“

„Es ist leichter, einem Floh das Tanzen beizubringen, als mehr über diesen Ring herauszufinden.“ 

Darrens Miene verdüsterte sich.

„Ich werde heute Abend eine Party besuchen, bei der ich Lenore Winnett treffe. Wenn sich jemand mit Schmuck auskennt, dann sie.“

„Hoffen wir, dass du erfolgreich sein wirst.“

Ethan erhob sich, schloss einen Knopf seines Sakkos und griff nach seiner Aktentasche. „Unabhängig davon werde ich nach Deutschland reisen.“ Für ihn war es wichtig, den Ort in Augenschein zu nehmen und die Unterlagen der Behörden einzusehen. Von hier aus waren ihm die Hände gebunden, aber in Deutschland könnte er etwas ausrichten.

„Hältst du das wirklich für eine gute Idee?“

„Ich bin alt genug, um auf mich aufzupassen, Darren“, wies er seinen Freund zurecht.

„Ich möchte nur, dass du vorsichtig bist.“

„Das bin ich immer.“ Er nickte Darren zum Abschied zu und verließ das Arbeitszimmer.

Kapitel 1


Rayna blickte auf ihr mit Armreifen behangenes Handgelenk. Sie hatte die Hände auf den abgenutzten Bistrotisch gelegt, die Finger verkrampft ineinander verschränkt. Ihr gegenüber saß Dave auf einer Bank, deren hässliches rotes Kunstleder an mehreren Stellen aufgerissen war. Der Diner war in die Jahre gekommen. Warum hatte sie sich eigentlich so herausgeputzt? Für dieses blöde Restaurant hätten es auch ein einfaches T-Shirt und eine Bluejeans getan. Stattdessen saß sie hier in ihrer engen schwarzen Jeans und dem Neckholdertop mit den Glitzerpailletten, das sie sich von ihrer besten Freundin Alice geliehen hatte. Sie war definitiv viel zu overdressed.

„Wie kommst du mit deiner Hausarbeit voran?“, fragte Dave und zog geräuschvoll an seinem Strohhalm.

„Ganz gut“, wich ihm Rayna gelangweilt aus. Sie wollte nicht über die Hausarbeit sprechen. Seit zwei Stunden drehten sich ihre Gespräche um Professoren, Mitstudenten und andere Uni-Themen. Es war Samstagabend, und sie wollte Spaß haben, feiern.

Dave war bereits im letzten Semester und stand kurz vor seinem Abschluss. Im Gegensatz zu ihr als Neuling war er auf die richtig coolen Partys eingeladen. Das wusste sie von Erzählungen und Fotos, die in den sozialen Netzwerken verbreitet wurden. Dave war eigentlich kein Kind von Traurigkeit, denn zumindest auf den Bildern – die ihn so ganz nebenbei mit diversen Mädchen zeigten – konnte er Spaß haben. Deswegen verstand es Rayna überhaupt nicht, warum er sie hierhergebracht hatte.

Die ehemals roten Vorhänge des Diners waren verblichen, die Sitzgelegenheiten an etlichen Stellen aufgerissen und nur notdürftig geflickt. Die einzige Kellnerin in diesem Laden stand gerade in ihr Handy vertieft hinter der Theke und kümmerte sich nicht um die Gäste. Zeit dazu hatte sie, denn schließlich war hier kaum etwas los. Außer ihnen saß am Nebentisch noch ein älteres Ehepaar. Am Tresen hockte ein weiterer Mann, der ein Bier trank und das Footballspiel im Fernsehen verfolgte.

Frustriert griff Rayna nach ihrer Coke, ignorierte das Klimpern ihrer Armreife und nahm einen großen Schluck.

„Ich finde es so schön, dass wir uns endlich in Ruhe unterhalten können“, beteuerte Dave und schenkte ihr ein warmes Lächeln.

Ruhe. Ja, Ruhe hatten sie hier definitiv. Nach ihrem Geschmack eindeutig zu viel. Rayna wollte nicht unhöflich sein, und so zwang sie sich dazu, ihn unverbindlich anzulächeln. Sie mochte Dave, sie mochte ihn wirklich. Er betreute in seinem letzten Semester die Neueinsteiger im Bereich Betriebswirtschaft und machte das ziemlich gut. Er war nett, durch den Leichtathletik-Sport äußerst durchtrainiert, freundlich, zuvorkommend und hatte etwas im Kopf. Er würde sein Betriebswirtschaftsstudium beenden und dann in das Papierverarbeitungsunternehmen seiner Familie einsteigen. Sein Leben schien ebenso vorgeplant zu sein wie ihres. Doch im Gegensatz zu ihr sah es bei ihm nicht so aus, als störte er sich daran.

„Hast du mitbekommen, wie weit ich beim letzten Wettkampf gesprungen bin?“

Rayna schüttelte den Kopf und hörte kaum zu, als Dave von seinem Triumph berichtete.

Sie dachte an die unbeschwerte Zeit am Anfang ihres Studiums zurück. Damals hatte sie Dave super gefunden. Mit großen Augen hatte sie zu ihm aufgesehen, ihm zugehört, wie er von der Universität, den Eigenheiten der Professoren und dem Alltag auf dem Campus berichtet hatte. Er führte sie durch die Bibliothek und stellte ihr die Männer vom Sicherheitsdienst vor. Nicht nur sie, auch die anderen Erststudentinnen himmelten ihn an. Dave blieb nett, aber distanziert. Dann sprach er sie immer öfter an. Zuerst unverbindlich, dann häufiger, bis er sie letzte Woche um ein Date bat. Rayna war im siebten Himmel gewesen – zumindest bis sie den Diner betreten hatten. Noch immer kam sie sich vor wie im falschen Film. Wo war der Dave von den Bildern hin, der ein Mädchen im Arm hielt und ihr mit einem Cocktail zuprostete? Lag es an ihr? Empfand er sie als zu langweilig, zu jung? Mit ihren knapp zwanzig Jahren konnte sie ihm nicht zu alt sein. Sie wusste aber, sie hatte sich im letzten halben Jahr verändert. Natürlich war sie erwachsener geworden, aber seit sie nur knapp dem Tod von der Schippe gesprungen war, sah sie vieles anders. Damals entzog ihr ein auf Cheetah Manor vergrabenes Amulett die Lebensenergie, und wenn Darren sie nicht nach Hause geholt hätte, wäre sie tatsächlich gestorben. Seitdem fühlte sich das Leben nicht mehr so unbeschwert an. Sie dachte über viele Dinge nach, war in sich gekehrter und ruhiger geworden. Immer wieder ertappte sie sich dabei, dass sie sich ernsthaft fragte, worin der Sinn des Lebens bestand. Nie zuvor hatte sie ihren vorgezeichneten Lebensweg infrage gestellt. Wie auch zuvor ihre Brüder, Darren und Eric, studierte sie an der Loyola University Betriebswirtschaftslehre. Was sie mit diesem Wissen einmal anfangen wollte, wusste sie nicht. Darren leitete die Baumwollplantage, während sich Eric um die Weberei kümmerte. Was blieb da noch für sie übrig?

„Ich bin mal eben auf der Toilette.“ Eilig erhob sich Dave und verschwand.

Perplex sah ihm Rayna nach. War sie so eine schlechte Gesprächspartnerin? Sie lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte in die Dunkelheit hinaus. Vor dem Gebäude war es ruhig. Ein Auto verließ gerade im gemächlichen Tempo den Parkplatz. Rayna ließ ihren Blick durch den Diner gleiten. Das ältere Ehepaar war verschwunden. Die gelangweilte Kellnerin sammelte gerade das benutzte Geschirr am Nebentisch ein und trug es fort.

Daves Handy auf dem Tisch vibrierte. Das Display schaltete sich ein, und die neue Kurznachricht wurde sichtbar. Rayna wollte nicht spionieren. Daves Handy ging sie überhaupt nichts an. Aber ihr Blick glitt unwillkürlich über das beleuchtete Display. Im ersten Moment ergaben die Worte keinen Sinn.

Bring sie auf andere Gedanken und sei nett zu ihr. Aber denk daran, deine Finger bei dir zu behalten. Darren.

Sekundenlang saß Rayna einfach nur da, starrte das Handy an, dessen Bildschirm längst wieder schwarz war. Eine gähnende Leere breitete sich in ihr aus, betäubte alle anderen Gefühle. Vermutlich war das gut so, denn wenn sie vor Wut geschäumt hätte, wüsste sie nicht, ob sie die Gepardin zurückdrängen könnte. Eine Frage schwebte über allem, eine Frage, auf die sie einfach keine Antwort fand. Wie konnte Darren ihr so etwas antun?

Mit welchem Recht hatte er mit Dave Kontakt aufgenommen? Mit welchem Recht mischte sich ihr Bruder in ihr Leben ein? Darren war schon immer ein Kontrollfreak gewesen, deswegen war sie so froh, jetzt in New Orleans zu leben. Als sich andeutete, dass er häufiger vorbeischauen würde, hatte sie ihm kurzerhand Campusverbot erteilt, woran er sich zu ihrer Überraschung auch gehalten hatte.

Dave kam zurück. Er setzte sich ihr gegenüber und sah sie nachdenklich an: „Alles okay bei dir?“

„Nein“, sagte Rayna ruhig und stand auf. War er mit ihr nur ausgegangen, weil Darren es so wollte?

„Kann ich dir helfen?“, bereitwillig sprang Dave auf und beeilte sich, den Tisch zu umrunden.

Rayna hielt ihn mit einer Handbewegung zurück. „Du setzt dich hin und bleibst hier.“ Ihre Worte waren schärfer als beabsichtigt, aber zumindest zeigten sie Wirkung. Dave ließ sich brav auf seinen Stuhl nieder und blickte sie mit großen Augen an.

„Was habe ich getan?“, fragte er kleinlaut.

„Ich werde jetzt gehen, und ich möchte, dass du mich nie, nie wieder ansprichst. Haben wir uns verstanden?“

Dave schien absolut nicht zu kapieren, was hier los war. Aber das war Rayna egal. Spätestens wenn er seine Handynachricht las, konnte er eins und eins zusammenzählen.

Hoch erhobenen Hauptes verließ Rayna den Diner. Bis zum Campus war es knapp ein Kilometer. Trotz des schwülen Abends begann sie zu frösteln und verschränkte die Arme vor der Brust. Glücklicherweise hatte sie flache Schuhe angezogen, sonst wäre der Fußmarsch äußerst schmerzhaft geworden.

Die lähmende Fassungslosigkeit verwandelte sich in Wut. Rayna ballte die Hände zu Fäusten. Ihre Fingernägel gruben sich tief in ihre Handballen. Der Schmerz half, die Kontrolle über das Tier zu behalten, das dicht unter ihrer Haut saß. Es wollte in die Freiheit entlassen werden. Wie gerne hätte sie sich jetzt in einen Gepard verwandelt, wäre durch die Sümpfe von Cheetah Manor gestreift, um ihren Frust abzubauen. Sie wollte die Krallen ausfahren, an einer der alten Eichen wetzen oder so schnell sie ihre Beine trugen, durch das Unterholz rennen, bis ihre Lungen brannten. Stattdessen war sie in New Orleans in ihrem menschlichen Körper gefangen. Sich hier zu verwandeln, wäre viel zu gefährlich. Ein tierisch klingendes Knurren konnte sie allerdings nicht unterdrücken.

Zum Glück war die Gegend menschenleer.

Die Wut auf Darren wuchs. Wie konnte er so etwas tun? Er mochte ihr Bruder sein und sie beschützen wollen, aber es stand ihm nicht zu, sich so in ihr Leben einzumischen und ihre Freunde auszusuchen. Das Schlimmste an allem war, dass Dave auch noch mitgespielt hatte. Mit ihm war sie definitiv fertig. Sollte er sich doch weiter mit seinen Party-Tussis amüsieren. Bei ihr brauchte er nicht mehr aufzutauchen.

Tränen brannten in ihren Augen. Sie wollte nicht weinen, nicht hier auf der Straße. So biss sie die Zähne zusammen und marschierte weiter.

Kapitel 2


Die Tränen überkamen sie, als sie mit zittrigen Fingern die Eingangstür aufschloss. Glücklicherweise kam ihr keiner ihrer Kommilitonen entgegen. Es war schließlich Wochenende. Die meisten Studenten waren entweder nach Hause zu ihren Familien gefahren oder bereits auf ihren abendlichen Streifzügen. Alle schienen Spaß zu haben, alle außer ihr.

War Alice noch da? Ihre Mitbewohnerin wollte auf eine Party gehen. Schluchzend stieß Rayna die Tür zu ihrem Zimmer auf.

„Ich bin gleich fertig“, hörte sie die vergnügte Stimme ihrer Freundin.

Die Badezimmertür ging auf, und sie stand Alice gegenüber. Ihre dunklen Locken hatte sie bereits fein säuberlich nach oben gesteckt, und das grüne Minikleid, das sie letzte Woche gekauft hatte, saß wie angegossen. Fröhlich strahlte sie, als sie jedoch Rayna erblickte, wurde ihr Gesichtsausdruck ernst.

„Was machst du hier?“, stieß sie verblüfft hervor, kam langsam auf sie zu und schloss sie in die Arme. „Was ist passiert?“

Rayna barg den Kopf an der Schulter ihrer besten Freundin und schluchzte laut.

Beruhigend strich ihr Alice über den Rücken. „Sch… sch…“, murmelte sie ihr ins Ohr.

Rayna weinte. Es tat gut, sich nicht mehr zurückhalten zu müssen. Mit Alice konnte sie fast alles teilen. Was auch immer sie für Probleme hatte, stets hörte ihre beste Freundin ihr geduldig zu. Oder manchmal, wie auch jetzt, benötigte sie keine Worte, um ihr Trost zu spenden. Es dauerte einige Zeit, bis Rayna ruhiger wurde.

„So, und jetzt erzählst du mir, was passiert ist“, forderte Alice sie auf. Bestimmt schob sie Rayna zu ihrem Bett. Sie setzten sich nebeneinander mit dem Rücken zur Wand.

„Also, was ist passiert? Hat dich Dave versetzt?“

Rayna schüttelte den Kopf und griff dankbar nach dem Papiertaschentuch, das Alice ihr reichte. Geräuschvoll putzte sie sich die Nase, zerknüllte das Taschentuch in der Hand und wischte sich mit dem Handrücken über die tränennassen Wangen.

„Darren hat Dave damit beauftragt, mit mir auszugehen“, brach es aus Rayna hervor.

„Oh!“, machte Alice ein wenig überrascht.

Rayna schniefte. „Der Abend war eine einzige Katastrophe. Zuerst der Diner und dann auch noch Darren, der sich überall einmischt.“

Alice legte den Kopf leicht schief, wie sie es immer tat, wenn sie aufmerksam zuhörte. „Diner?“

„Dave hat mich in einen Diner gebracht.“

„Nun ja, aber zumindest kann man sich da in Ruhe unterhalten“, warf Alice ein.

Rayna zog fragend eine Augenbraue nach oben. „Auf welcher Seite stehst du eigentlich?“

„Auf deiner natürlich.“ Beleidigt verzog Alice den Mund.

„Ich habe mich auf eine Party gefreut“, erklärte Rayna. Alice, die mit ihr die Klamotten ausgesucht und ihr sogar das Neckholdertop geliehen hatte, sollte das eigentlich wissen.

Die Wut hatte sich inzwischen in Enttäuschung verwandelt. Sie fühlte sich von Darren und Dave verraten. Es schmerzte einfach nur unheimlich.

Alice zögerte einen Moment, dann legte sie einen Arm um Rayna und zog sie näher an sich. „Männer sind alles Arschlöcher, egal ob sie Brüder sind oder nicht.“

Trotz der Tränen, die sich erneut in ihre Augen stahlen, musste Rayna lachen. Es tat gut, eine Freundin wie Alice zu haben, mit der sie reden konnte. Rayna fühlte sich schon ein kleines bisschen besser.

Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihre Zweisamkeit.

„Moment“, rief Alice laut und fügte flüsternd hinzu, während sie aus dem Bett kletterte: „Ich sage Marc schnell ab.“

Rayna griff nach dem Arm ihrer Freundin und hielt sie auf. „Nein!“ Entschieden schüttelte sie den Kopf. Sie wollte nicht, dass Alice wegen ihr die Party sausen ließ. Sie freute sich schon seit zwei Wochen darauf, mit Marc, einem der Quarterbacks, ein Date zu haben. „Ich möchte, dass du gehst.“

Alice zögerte. „Bist du sicher?“

„Verschwinde endlich!“ Weinen und sich bemitleiden konnte sie auch allein. Somit musste sie zumindest kein schlechtes Gewissen haben, dass Alice wegen ihr ein Date verpasste.

Alice drückte Rayna noch einmal fest an sich, dann stand sie auf, schlüpfte in ihre Ballerinas, griff ihr Täschchen und winkte Rayna noch einmal zu. „Ich danke dir. Machs gut. Und wenn was ist, ruf an.“

Damit war Alice weg. Sie öffnete die Tür nur einen Spaltbreit und huschte hindurch. Rayna war Alice dankbar, dass Marc sie nicht in diesem Zustand sah. Auch wenn sie allen Grund dazu hatte, hier völlig verheult herumzusitzen, wäre es ihr mehr als nur peinlich gewesen.

Vor der Tür war Gekicher zu hören, dann Schritte, die sich entfernten.

Rayna legte den Kopf gegen die Wand und schloss die Augen. Sie war müde. Eine ganze Weile saß sie einfach nur da, genoss die Stille. Sie fühlte sich leer und ausgebrannt und war zum Weinen einfach zu erschöpft.

Die Titelmelodie vom letzten Bond-Film schrillte durch den Raum. Überrascht hob Rayna den Kopf. Das war Alice’ Handy. Hatte sie es vergessen? Suchend sah sie sich um. Ihre Freundin musste es in der Eile liegen gelassen haben. Schnell rutschte Rayna vom Bett und folgte der nervtötenden Melodie bis ins Bad. Auf dem Waschbecken lag das Telefon, dort, wo Alice es vermutlich abgelegt hatte. Big Brother stand auf dem Display. Wer bitte war Big Brother? Rayna kannte Alice, seit sie mit dem Studium angefangen hatte. Sie hatten keine Geheimnisse voreinander, was in dem kleinen Zimmer auch kaum möglich war. Bis auf die Sache mit dem Cheetah wusste Alice alles von ihr, und Rayna war bisher davon ausgegangen, auch alles über ihre Freundin zu wissen. Aber Big Brother sagte ihr absolut nichts, denn Alice hatte keinen Bruder. Nur eine ältere Schwester, die aber nicht hier lebte.

Entschlossen griff Rayna nach dem Telefon und nahm das Gespräch an. „Ja?“, meldete sie sich.

„Dave ist aufgeflogen. Der Idiot hat es vermasselt. Ist Rayna schon bei dir angekommen? Sie wird am Boden zerstört sein und eine gute Freundin brauchen.“ Es folgte eine kurze Pause. „Alice?“

Raynas Augen weiteten sich entsetzt. Die Stimme kannte sie. Sehr gut sogar. Darren! Hastig legte sie auf und warf das Telefon zurück auf den Waschtisch. Sprachlos starrte sie das Gerät an, als könnte es etwas dafür, dass Darren am anderen Ende gewesen war. Sie stand sekundenlang einfach nur da. Ganz langsam rieselte die Erkenntnis durch, dass nicht nur Dave, sondern auch ihre beste Freundin Alice sie betrogen hatte. Hinter ihrem Rücken hatte ihre Zimmernachbarin gemeinsame Sache mit ihrem Bruder gemacht. Wie lange ging das schon so? Wie lange kontrollierte Darren ihr Leben? Erst seit dem Vorfall mit dem Amulett oder bereits davor? Rayna wusste nicht, ob sie darauf wirklich eine Antwort haben wollte.

Ihre rechte Hand überzog sich mit Fell, und ihre Fingernägel verwandelten sich in Krallen. Rayna gelang es gerade noch so, die Verwandlung zu unterdrücken. Sie musste etwas tun. So konnte es nicht weitergehen.

Rayna traf eine Entscheidung.

Es war genug. Sie war nicht bereit, sich länger kontrollieren zu lassen, wollte ausbrechen, frei sein. Es war an der Zeit, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Schwungvoll machte sie auf dem Absatz kehrt, stürmte zurück in ihr Zimmer und riss den Kleiderschrank auf. Sie wollte Spaß haben, den Ärger mit Darren, Dave und Alice hinter sich lassen.

Das schwarze Spaghettikleid, das sie aus einer Laune heraus gekauft hatte, fiel ihr in die Hände. Es war so knapp geschnitten, dass es gerade so über den Po reichte. Ihre langen schlanken Beine kamen damit ebenso gut zur Geltung wie ihre Brüste. Dave hatte in ihrem Leben nichts mehr zu suchen, Alice war feiern und Darren zu weit weg, um sie aufzuhalten. Niemand würde ihr in die Quere kommen, wenn sie diese Nacht zu ihrer Nacht machte.

Sie zog die Jeans aus und zerrte das Top herunter. Die Unterwäsche folgte. Einen BH konnte sie unter diesem Kleid ohnehin nicht tragen, und ohne Höschen fühlte sie sich noch verruchter. Sie war wild entschlossen, endlich etwas zu erleben. Es war längst überfällig. Sie musste beginnen zu leben.

Das Kleid schmiegte sich wie eine zweite Haut an ihren Körper. Eilig erneuerte sie das verschmierte Make-up und trug eine Spur mehr auf, als sie es für gewöhnlich tat. Dann schlüpfte sie in ihre High Heels. Rayna warf noch einen prüfenden Blick in den Spiegel. Die Frau, die ihr entgegenblickte, kam ihr seltsam fremd vor. Eine Unbekannte. Sie lächelte ihrem Spiegelbild zu, zog aus ihrem Portemonnaie einen Geldschein heraus. Für das Taxi in die Innenstadt reichte es, und viel mehr würde sie heute Nacht nicht brauchen, beschloss Rayna. Dort, wo sie hinging, verkehrten Männer. Männer mit Geld, die Frauen wie sie einluden. Sie wollte sich beweisen, dass sich die Männerwelt auch ohne das Zutun ihres Bruders für sie interessierte. Adieu Langeweile. Adieu Uni-Partys. Heute Nacht eroberte sie New Orleans. Sie wollte Spaß haben, und sie würde die Leute, mit denen sie verkehrte, selbst aussuchen. Endlich begann sie, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Kapitel 3


Da es vor dem Club immer so voll war, hatte Rayna den Taxifahrer gebeten, sie etwas früher aussteigen zu lassen. So musste sie zwei Straßen laufen, nur um dann zu erkennen, dass die Schlange vor dem Nachtclub noch länger war als erwartet. Doch das Taxi war bereits weitergefahren. Rayna stellte sich an und wartete. Immer mehr Menschen standen hinter ihr. Am Eingang schien es kaum voranzugehen.

„So etwas Blödes“, regte sich ein dünnes Mädchen lautstark auf, das ein paar Meter hinter ihr stand. „Ist der Club wegen Überfüllung geschlossen?“

Ihre Begleiter versuchten sie zu beruhigen. Schließlich marschierte die Gruppe davon.

Rayna sah sich unsicher um. Immer wieder verließen entnervte Wartende die Schlange. Rayna rutschte zwar weiter nach vorne, war aber noch immer weit vom Eingang entfernt.

Langsam stiegen Zweifel in ihr auf. Wie dumm war sie eigentlich? Das Geld, das von der Taxifahrt übrig geblieben war, reichte gerade noch für den Eintritt in den Club, jedoch nicht mehr für die Rückfahrt mit dem Taxi. Weder Busse noch Straßenbahnen fuhren um diese Uhrzeit. Rayna hatte absolut keine Lust, durch das nächtliche New Orleans zu laufen. Also verharrte sie weiter in der Schlange und hoffte darauf, dass es endlich weiterging. Gelangweilt blickte sie sich um. Die meisten waren zu zweit oder in größeren Gruppen hier und unterhielten sich. Rayna verschränkte schützend die Arme vor der Brust und trat von einem auf den anderen Fuß. Sie fühlte sich unwohl hier, so ganz allein. Niemand, den sie kannte, niemand, mit dem sie sich unterhalten konnte, um wenigstens die Zeit zu vertreiben.

„Hi“, sprach sie plötzlich jemand von hinten an.

Rayna drehte sich erschrocken um. Hinter ihr stand eine Frau, ein wenig älter als sie selbst. Lange dunkle Haare fielen ihr über die Schultern. Sie überragte Rayna um einen ganzen Kopf. Die dicken dunkelrot geschminkten Lippen zogen Raynas ganze Aufmerksamkeit auf sich.

„Sorry. Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich bin Beatrice.“ Der dunkelrote Mund verzog sich zu einem Lächeln. „Bist du allein hier?“

Raynas Blick huschte nach rechts und links. Niemand schien sie zu beobachten. Langsam nickte sie.

„Echt schade, dass der Club schon voll ist. Aber die Nacht ist noch jung. Hast du Lust, mit ein paar Mädchen auf eine richtig coole Party zu gehen?“

Vorsichtig blickte sich Rayna um. Wer war die Frau? Was wollte sie von ihr?

„Nicht so ein lahmer Schuppen wie hier. Eine anständige Party mit erwachsenen Männern, die richtig Kohle haben.“

Rayna zögerte. Aber schließlich war sie hergekommen, um Spaß zu haben, zu feiern, zu trinken und um Männer kennenzulernen. Richtige Männer, keine Milchgesichter. Je länger sie über das Angebot nachdachte, umso verlockender erschien es ihr. Aber konnte sie der Frau trauen?

„Was kostet der Spaß?“, erkundigte sich Rayna, konnte ihr Interesse nicht ganz verbergen.

Beatrice lächelte. „Hast du schon etwas von der Starlight-Agentur gehört?“

Rayna nickte. Alice hatte ihr davon erzählt. Dort konnte man hübsche Mädchen für Partys oder Empfänge buchen. Rayna hatte nur nicht gedacht, dass die Agentur die Mädchen vor den Clubs einsammelte.

Beatrice reichte ihr eine Visitenkarte. „Ich bringe dich kostenlos auf eine Party. Die Getränke dort sind teuer, aber wenn du den Männern ein paar Freiheiten zugestehst, werden sie gerne bereit sein, dich einzuladen.“

Freiheiten? War es nicht genau das, was sie wollte? Fremden Männern ein paar Freiheiten zugestehen? Endlich etwas wagen? Nun, sie war nicht die Geübteste darin, aber es sollte doch nicht so schwer sein, angetrunkene Männer um den Finger zu wickeln. Sicher fand sie dort einen netten Kerl, mit dem sie sich amüsieren konnte.

Rayna ließ den Blick abwechselnd zwischen Beatrice und dem Club hin und her schweifen. Die Chancen, dass sich die Türen öffneten und die Türsteher sie einließen, standen gleich null. Der nächste Club war mindestens eine halbe Meile entfernt. Beatrice sah vertrauenserweckend aus, die Visitenkarte wirkte echt und von der Starlight-Agentur hatte sie nur Gutes gehört.

„Na, was ist? Die Mädels dort drüben kommen auch mit.“ Beatrice deutete mit einem Kopfnicken zur Seite. Dort standen drei junge Frauen etwas abseits und unterhielten sich aufgeregt.

Jetzt musste sich Rayna entscheiden. War sie bereit, ein Risiko einzugehen?

Sie lächelte Beatrice an. „Danke für die Einladung. Ich freue mich auf die Party.“

Die erwiderte das Lächeln. „Wunderbar. Dann los!“

Rayna trat aus der Schlange und folgte Beatrice, die sie zu den anderen führte.

„Ist es weit?“, fragte sie skeptisch und befürchtete, dass sie einen längeren Fußmarsch in den High Heels nicht überstehen würde.

Beatrice drehte sich im Laufen zu ihr um. „Nicht wirklich, aber wir werden abgeholt.“

Rayna blieb keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, denn sie erreichten die anderen Mädchen.

„Meine Damen“, verkündete Beatrice strahlend. „Darf ich euch miteinander bekannt machen.“ Sie deutete auf das Mädchen neben sich.

„Thordis?“

Verneinend schüttelte die Blonde mit den kinnlangen Haaren den Kopf. „Tamara.“

„Tamara“, wiederholte Beatrice und lächelte die Blonde entschuldigend an. „Carolin“, fuhr sie fort und deutete auf eine hübsche Afroamerikanerin. „Mia.“ Die langbeinige Brünette nickte.

„Und wie heißt du?“

„Rayna.“

„Wunderbar, dann kennen wir uns jetzt.“ Beatrice klatschte in die Hände. „Lasst uns fahren!“

Rayna wollte sich gerade nach einem Taxi umsehen, zumindest hatte sie damit gerechnet, dass sie so von hier fortkommen würden, als eine schwarze Stretchlimousine neben ihnen hielt. Beatrice öffnete die Tür und winkte die Mädchen zu sich. Mit großen Augen drängten sie näher. Carolin machte den Anfang, dann folgten Mia, Tamara und schließlich Rayna. Beatrice war die Letzte und zog die Tür hinter sich zu. 

Rayna und die anderen staunten nicht schlecht. Sie saßen auf einer langgezogenen Lederbank, die mehr einer gemütlichen Couch glich. Ihnen gegenüber befand sich eine Minibar.

„Bevor es richtig losgeht, benötige ich noch eine Unterschrift von euch.“ Sie reichte jeder von ihnen ein paar Papiere. Das Licht in der Limousine ließ zu wünschen übrig. Das Logo der Agentur war gut lesbar, aber bei dem klein geschriebenen Text verschwammen die Buchstaben vor Raynas Augen.

„Bitte tragt euren Namen ein und unterschreibt. Es geht nur darum, dass die Agentur für nichts, was ihr auf der Party tut, verantwortlich gemacht werden kann.“

Carolin griff als Erste nach dem Kugelschreiber, trug ihren Namen ein, setzte ihre Unterschrift darunter und reichte die Papiere strahlend an Beatrice zurück. Mia und Tamara folgten Carolins Beispiel. Rayna versuchte zwar ein paar Zeilen zu lesen, gab aber schließlich auf. Nach ihrem Ermessen ging es wirklich nur um eine Absicherung der Agentur. Sie füllte das Formular aus und gab es zurück.

Die Mädchen plauderten entspannt und Rayna ließ sich davon anstecken.

Beatrice räumte die Papiere fort und öffnete die Minibar, um eine Flasche Champagner und Gläser zum Anstoßen zu holen.

Die Vorfreude auf die Party wuchs.

„Auf einen wunderbaren Abend.“

Sie prosteten sich zu, und Rayna nahm einen großen Schluck. Alles fühlte sich wie in einem Traum an. Zu schön, um wahr zu sein. Es war die beste Entscheidung des Abends, mit Beatrice mitzugehen. Rayna fühlte sich rundum wohl. Der Champagner schmeckte gut, war nicht zu herb und prickelte angenehm in der Kehle.

„Wo geht es denn hin?“, fragte Tamara neugierig.

„Auf eine Yacht“, erklärte Beatrice geheimnisvoll.

„Eine Yacht?“, quietschte Carolin vergnügt und hielt sich an Mia fest. Die beiden sahen sich an und brachen in lautes Gekicher aus.

Die Stimmung war ausgelassen. Nur zwei Gläser Champagner lang dauerte die Fahrt.

Dann hielt die Limousine an. Beatrice öffnete die Tür und kletterte als Erste ins Freie. Rayna folgte ihr. Eine kühle Brise schlug ihr entgegen und ließ sie einen Moment frösteln. Sie musste sich am Wagen festhalten, denn die Umgebung schwankte ein wenig. Vor sich sah Rayna das Meer. Nicht weit von ihnen lagen die ersten kleineren Boote, weiter hinten die Yachten.

In Raynas Bauch kribbelte es vor Vorfreude. Carolin hakte sich wie selbstverständlich bei ihr ein. Rayna war es ganz recht. Ihr war ein wenig schummrig. Die zwei Gläser Champagner in so kurzer Zeit waren wohl etwas viel gewesen. Dazu noch die High Heels. Da war es besser, sich an einer Freundin festhalten zu können.

„Auf, auf, meine Damen. Dort müssen wir hin“, spornte Beatrice die Mädchen an und scheuchte sie den Pier entlang.

Lachend und kichernd folgten sie Beatrice. Je weiter sie liefen, umso größer wurden die Schiffe.

„Dort ist die Aurelia“, erklärte Beatrice und deutete auf eine gigantisch hohe Yacht.

„Wow“, staunte Tamara. „Wie geil ist das denn?“

Rayna konnte Tamaras Begeisterung nur teilen. Sie war noch nie auf einem so großen Schiff gewesen. Als sie näher kamen, sah Rayna zwei schwarze Kerle, breit wie Schränke, auf der Gangway stehen. Beatrice hielt noch einmal an und drehte sich zu den Mädchen um. „Nur damit das klar ist. Ich bringe euch hinein. Dann seid ihr auf euch allein gestellt. Ihr seid alle alt genug und braucht keinen Babysitter mehr, oder?“

Rayna lachte mit den anderen zusammen. Wenn es nach ihr ging, konnte die Party beginnen. Sie hatte Lust zu feiern, zu tanzen und das ganze Chaos in ihrem Leben zu vergessen.

Beatrice betrat die Gangway und hielt direkt auf die zwei Kerle zu.

„Ich habe die Mädchen dabei“, erklärte sie und fuhr einem der Männer spielerisch über die Brust. Dieser ergriff ihren Arm so schnell, dass Rayna seinen Bewegungen nicht ganz folgen konnte.

„Pass auf, du Biest“, knurrte er Beatrice an, die ihre dunklen Haare in den Nacken warf und laut lachte.

Der Türsteher ließ Beatrice’ Hand los. Sie winkte die Mädchen hinter sich her. Rayna beeilte sich, an den Männern vorbeizugehen, die sie kommentarlos passieren ließen.

„Noch ein kleiner Tipp. Die älteren Herren sind die Spendabelsten“, sagte Beatrice, als sie das Deck betraten.

Dezente Musik aus dem Inneren war zu hören. Hier oben standen die Gäste – alle in eleganten Abendroben – an Stehtischen zusammen. Weiter hinten gab es auch ein paar Bistrosessel. 

Keiner schien von ihnen Notiz zu nehmen. Die Gäste unterhielten sich angeregt. Nur ein hagerer Mann, Ende fünfzig, mit schütterem, bereits ergrautem Haar kam auf sie zu. Er trug einen teuer aussehenden schwarzen Anzug und strahlte über das ganze Gesicht, als er zu ihnen trat.

„Darf ich euch unseren Gastgeber, Isaak, vorstellen.“

„Willkommen an Bord der Aurelia“, begrüßte er die Mädchen. „Ich suche für heute Abend noch eine Begleitung an meiner Seite. Möchte mir jemand Gesellschaft leisten? Gerne zeige ich euch das Schiff und auch meine privaten Räumlichkeiten unter Deck.“

Rayna schluckte und blickte betreten zu Boden. So viel Alkohol konnte sie überhaupt nicht trinken, dass sie diesen alten Kerl attraktiv fände. Der Typ war nicht nur viel zu alt, sondern sah halb verhungert aus mit den eingefallenen Wangen.

„Ich würde mich sehr freuen“, erklärte Carolin schüchtern und trat vor.

Isaak strahlte sie an, reichte ihr eine Hand und zog sie an sich. Carolin ließ es zu, dass er sie auf beide Wangen küsste und dann besitzergreifend seinen Arm um ihre Mitte schlang.

„Reizendes Mädchen. Wie ist dein Name?“

„Carolin.“

„Komm mit, wir besorgen dir erst mal etwas zu trinken.“ Isaak ging mit der jungen Frau fort.

„In der Kajüte ist mehr los als hier oben“, erklärte Beatrice und deutete auf eine Tür, die gerade von innen aufgeschoben wurde, als ein älteres Paar an Deck kam. „Na los!“

Mia, Tamara und Rayna sahen sich an, dann folgten sie Beatrice.

Kapitel 4


Ethan hätte beinahe alles dafür gegeben, den Abend auf der Couch zu verbringen. Die Kopfschmerzen hatten nicht nachgelassen, und auch die Schmerztabletten halfen nicht viel. Nur weil die Party wichtig war, um Lenore zu treffen, bevor er nach Deutschland reiste, ging er hin.

Er wusste, dass ihm der weiße Anzug hervorragend stand. Seine Haut wirkte dadurch noch dunkler, beinahe schwarz und verlieh ihm etwas Geheimnisvolles. Er würde auffallen heute Abend, und genau das war es, was er wollte.

Kurz vor Mitternacht parkte er seinen Lamborghini in der Nähe des Yachthafens. Seinen neuen Pick-up hatte er bewusst in der Garage gelassen. Hier ging es um Sehen und Gesehenwerden, und dieses Spiel beherrschte er ausgezeichnet, wenn es darauf ankam.

Die letzten Meter musste er zu Fuß zurücklegen.

In gemächlichem Tempo ging er den Anlegesteg entlang. Ganz hinten lag die Party-Yacht Aurelia. Er kannte den Weg. Zwei breit gebaute Männer, die ihm finster entgegenstarrten, versperrten die Gangway. Ethan griff in seine Innentasche und zog die Einladung heraus, die ihm eine ehemalige Kundin, die er bei ihrer Scheidung unterstützte, hatte zukommen lassen. Er wäre auch über den Yachtinhaber Isaak Newman an eine Einladung gekommen, aber die Beziehung zu diesem Mann ließ er äußerst ungern spielen. Newman war bekannt für seine ausufernden Partys, die Nähe zum Rotlichtmilieu und die eine oder andere Aktivität, die sich nicht mit dem Gesetz vereinbaren ließ. In der Vergangenheit hatte es der Geschäftsmann immer wieder geschafft, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen und mit einer weißen Weste zu glänzen. Ethan mochte solche Leute nicht, und Newman war ihm nicht geheuer. Um solche Menschen machte er lieber einen großen Bogen. Hin und wieder ließ sich ein Zusammentreffen auch in einer Stadt wie New Orleans nicht vermeiden.

Der Türsteher gab Ethan die Einladung zurück und trat zur Seite, sodass er die Gangway betreten konnte. Ethan holte noch einmal tief Luft, dann verließ er das Festland.

Auf dem Deck war verhältnismäßig wenig los. Einige wenige Grüppchen standen zusammen und unterhielten sich angeregt. Hin und wieder hörte man Gelächter. Die Stimmung war gut. Ethan hielt nach Lenore Winnett Ausschau, konnte sie jedoch nirgends entdecken. Er beschloss, an die Bar zu schlendern, und bestellte einen Whiskey. Auf einer Party ohne ein Getränk in der Hand zu sein, war wie Football spielen ohne Ball. Während er darauf wartete, sah er sich verstohlen um. Isaak Newman stand mit einer jungen Afroamerikanerin im Arm bei einer Gruppe Männern. Angewidert verzog er das Gesicht. Das Mädchen mochte gerade so volljährig sein.

Der Barkeeper stellte ihm den Whiskey hin und verlangte dafür einen horrenden Preis. Eigentlich war es eine Unverschämtheit, was er hier für einen mittelmäßigen Whiskey hinblättern musste. Grimmig zog er seine Geldbörse und machte sich eine Gedankennotiz, dass er die Auslagen Darren auf die Rechnung setzte.

Mit dem Glas in der Hand steuerte er auf die Tür zu, die unter Deck führte. Beiläufig nahm er einen Schluck. Die brennende Flüssigkeit rann seine Kehle hinab und breitete sich warm in seinem Körper aus. Ethan schüttelte sich. Das Gesöff schmeckte furchtbar und trug völlig zu Unrecht den Namen Whiskey. Aber da er das Glas ohnehin nicht austrinken wollte – schließlich musste er noch fahren – war ihm das egal.

Die Tür schwang auf, als er gerade nach der Klinke fassen wollte. Eilig trat er zurück, um einer Blondine den Weg frei zu machen, die am Arm eines älteren Herrn hing. Sie kicherte viel zu laut, sodass sich etliche Gäste zu ihnen umdrehten. Ihr glatzköpfiger Begleiter nickte Ethan grinsend zu und führte die schwankende Frau an ihm vorbei. Nachdenklich sah Ethan ihnen hinterher. Das Mädchen war hübsch. Warum hatte sie so etwas nötig? Was veranlasste sie, auf so eine Party zu gehen und sich von einem Mann abschleppen zu lassen, der locker ihr Vater sein könnte? Die Frau war erwachsen, und es gab kein Gesetz, das sie vor ihrer eigenen Blödheit schützte.

Ethan besann sich auf seine Mission und trat unter Deck. Es war stickig und die Musik nach seinem Geschmack etwas zu laut. An Stehtischen standen Menschen zusammen und unterhielten sich. Die kleineren Sitzgruppen daneben waren ebenfalls gut besetzt. Ethan erkannte einige Gesichter. Geschäftsmänner mit und ohne ihre Ehefrauen und die Dame, wegen der er hergekommen war. Lenore Winnett war eine Rarität auf ihrem Gebiet. Sie handelte mit Schmuck, gehörte zu den reichsten Frauen New Orleans und konnte jedem Mann das Wasser reichen. Die bereits ergrauten Haare waren zu einer kunstvollen Hochsteckfrisur zurechtgemacht. Ihr hochgewachsener schlanker Körper steckte in einer seidenen Abendrobe in dunklem Grün. An jeder anderen Frau hätte dieses Kleid völlig deplatziert gewirkt, nicht jedoch an Lenore. Würdevoll stand sie neben ihrem Begleiter, einem südländischen Kerl, der nicht viel älter aussah als die Blondine, der er eben begegnet war.

Lenore befand sich gerade im Gespräch mit einer Unternehmergattin, die Ethan nur vom Sehen kannte.

„Guten Abend, die Damen“, grüßte er höflich und trat zu den Frauen. Lenores Begleitung hielt sich so dezent im Hintergrund, dass er den Mann nicht ansprach.

„Ethan.“ Ein Lächeln huschte über Lenores Gesicht. Begeistert drehte sie sich zu ihrer Gesprächspartnerin um. „Ich muss dir unbedingt Ethan Washington vorstellen. Ethan, Luisa Portman. Ihr Mann ist in der Lebensmittelindustrie tätig.“

Ethan verbeugte sich leicht vor der rundlichen Frau und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. „Es ist mir eine Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen.“ Im Prinzip interessierte ihn die Frau absolut nicht, aber es konnte nicht schaden, Kontakte zu knüpfen. Wer wusste schon, wofür die eines Tages gut waren?

„In welcher Branche sind Sie tätig?“, erkundigte sich Mrs. Portman.

„Ich bin Anwalt.“

„Oh!“ Die Augenbrauen der Dame zuckten, als sie Ethan ein weiteres Mal musterte.

„Ein äußerst gut bezahlter Anwalt“, fügte Lenore schmunzelnd hinzu. „Die Kunden stehen bei ihm Schlange.“

„Nun, ich kann mich nicht beklagen“, wich Ethan geschickt aus. „Allerdings bringen viele Kunden auch viel Arbeit mit sich. Ich bin heute Abend geschäftlich hier.“ Er legte eine kleine Kunstpause ein, ehe er fortfuhr. „Ich brauche deine Hilfe für einen sehr wichtigen Mandanten.“

Lenore schlug gekünstelt die Lider nieder. Doch Ethan hatte das Blitzen in ihren Augen wahrgenommen. Ihre Neugier war geweckt.

„Du entschuldigst mich doch sicher einen Moment“, wandte sie sich an ihre Freundin. „Guido, leiste doch Luisa etwas Gesellschaft, während ich mich mit Ethan unterhalte.“

Lenore hakte sich bei ihm ein, und sie gingen ein paar Schritte. „Jetzt hast du mich aber ziemlich neugierig gemacht, mein Lieber.“

Ethan lächelte in sich hinein. Genau das war seine Absicht gewesen. Vorsichtig sah er sich um. Es waren eindeutig zu viele Menschen hier.

„Begleite mich doch an Deck. Dort finden wir sicher ein Plätzchen, wo wir uns ungestört unterhalten können.“

Lenore ließ sich anstandslos fortführen.

„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich vermuten, du möchtest ein Schäferstündchen mit mir abhalten“, scherzte sie.

„Aber Lenore …“ Ethan klang gespielt entrüstet. „… ich bin inzwischen über dreißig und damit für dich einfach zu alt.“

Lenore lachte. In ihren grünen Augen blitzte der Schalk vergnügt auf. „Auch ich werde nicht jünger.“

„Ach was“, schmeichelte ihr Ethan. „Du stehst in der Blüte des Lebens.“

„Charmeur!“ Spielerisch schlug ihn Lenore mit ihrem Ledertäschchen. „Für dich würde ich tatsächlich eine Ausnahme machen.“ Ihr Augenaufschlag war hollywoodreif.

„Ich bin gerührt“, entgegnete Ethan und seufzte tief.

Damit war das Thema erledigt. Auf Lenore wartete ein jugendlicher Begleiter, und Ethan hatte seinen Standpunkt, dass er an einem Techtelmechtel mit ihr nicht interessiert war, klargemacht.

Sie erreichten das Deck. Ethan führte Lenore an den Gästen vorbei und hielt erst an, als sie eine abgeschiedene Ecke erreichten. Die Musik war beinahe verstummt, und weit und breit war keiner der anderen Gäste zu sehen. An der Reling blieben sie schließlich stehen. Ethan stützte sich am Geländer ab und sah hinaus aufs tiefschwarze Wasser. In der Ferne konnte man die Lichter des Frachthafens erahnen.

„Du machst es aber wirklich spannend“, sagte Lenore. Sie brannte regelrecht darauf.

„Wie gesagt, es geht um einen geschätzten Mandanten. Ich vertraue auf deine Diskretion.“

Ethan sah aus dem Augenwinkel, wie Lenore eifrig nickte. Sie war nicht so erfolgreich, weil sie gerne plauderte. In erster Linie war Lenore Geschäftsfrau, und auf ihre Verschwiegenheit konnte man sich verlassen. Nur deshalb war Ethan bereit, ihr ein Foto zu geben. Er griff in die Innentasche seines Jacketts, wo er einen Abzug des Handyfotos aufbewahrte, und reichte es Lenore.

„Ich möchte wissen, wem dieser Ring gehört“, bat Ethan.

Lenore zog aus ihrer Handtasche eine Brille, setzte sie auf und betrachtete das Foto genauer. „Nun, das Schmuckstück ist mir nicht bekannt.“ Der unverbindliche Plauderton war einem ernsten geschäftsmäßigen Ton gewichen.

„Kannst du trotzdem herausfinden, wem er gehört?“

„Aber sicher. Er scheint sehr alt zu sein. Staaten oder Europa?“

Ethan zuckte mit den Schultern. Woher sollte er das wissen? Theoretisch war beides möglich. „Das Foto ist in Deutschland aufgenommen, was aber nicht unbedingt etwas zu bedeuten hat.“

Lenore nickte nachdenklich. „Ich habe ein paar Kontakte nach Europa, die ich für dich gerne spielen lassen kann. Darf ich das Foto behalten?“

„Selbstverständlich.“ Er hatte damit gerechnet. Auch wenn es ihn nicht glücklich machte, das Foto aus der Hand zu geben, stimmte er zu. „Ich weiß doch, dass es bei dir in sicheren Händen ist.“

Lenore lächelte, nahm die Brille ab und verstaute sie zusammen mit dem Bild in ihrer Handtasche.

„Ich werde sehen, was ich für dich tun kann. Wirst du mir etwas über deinen Auftraggeber verraten?“

Er schüttelte den Kopf. Es war besser, wenn sie nichts wusste. Das Bild, das er ihr mitgegeben hatte, war ohnehin schon ein Zugeständnis.

„Schade“, seufzte Lenore.

Er rechnete es ihr hoch an, dass sie nicht weiterbohrte.

„Bring mich zurück, mein Lieber!“, forderte sie ihn auf und hakte sich bei ihm ein.

Ethan tat ihr den Gefallen und führte sie zurück unter Deck.

Als sie erneut den stickigen Raum betraten, musste Ethan gegen einen Anflug von Übelkeit kämpfen. Er lieferte Lenore bei ihrem Begleiter ab und überlegte, ob er sich noch einen Schluck des Pseudo-Whiskeys gönnen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Wenn man sich lang genug in dieser stickigen Kajüte aufhielt, nahm man den beißenden Geruch nach Schweiß, Alkohol und verbrauchter Luft nicht mehr so intensiv wahr. Er tauschte mit Mrs. Portman und Lenore noch ein paar Belanglosigkeiten aus, dann verabschiedete er sich.

Er war fertig. Die restliche Nacht konnte er in seinem bequemen Bett verbringen. Leider allein, aber daran hatte er sich gewöhnt. Er umrundete weiträumig eine Gruppe, die größtenteils aus Politikern und wichtigen Geschäftsmännern bestand, auf deren Gespräche er heute Abend keine Lust hatte. Sein Blick fiel auf drei junge Frauen, die in der Nähe der Bar standen und lachten. Eine hochgewachsene dunkle Schönheit mit aufgespritzten Lippen und zwei blonde Mädchen, die eindeutig in sein Beuteschema passten. Die Vorstellung, eine der beiden für ein paar Stunden Spaß mit nach Hause zu nehmen, war äußerst verlockend. Er betrachtete die Frauen genauer. Eine hatte kinnlange Haare und trug zu einem ultrakurzen Minirock lediglich ein bauchfreies Top. Sie hatte ein hübsches Profil, aber die Hakennase war für seinen Geschmack zu groß. Die zweite – er sah sie leider nur von hinten – trug die Haare offen. Sie schien endlos lange Beine zu haben, die in schwarzen High Heels steckten. Die Beine gefielen ihm überaus gut. Sie war nicht besonders groß, aber durchaus sportlich. Das enge Spaghettiträgerkleid schmiegte sich an sie wie eine zweite Haut. Er überlegte gerade, ob er das Mädchen, auf einen Drink einladen sollte, als ihm ein anderer Mann zuvorkam.

Michael Fraser gehört eine Fitnessclub-Kette in der Stadt. Der Fitnessclub-Besitzer war ein Kraftsportler, wie er im Buche stand. Ethan beschloss, die Frau wäre die Mühe nicht wert, und besah sich noch einmal das Hakennasen-Mädchen. Aber die gefiel ihm nicht halb so gut wie die andere, die Fraser ausgesucht hatte. Er ärgerte sich ein wenig, dass er zu spät war, als sich die langbeinige Blondine umdrehte.

Ethan hielt mitten in der Bewegung inne.

„Nein!“, stammelte er fassungslos.

Unmöglich! Er musste sich getäuscht haben. Das konnte einfach nicht wahr sein. Er blinzelte, aber die heiße Braut, die an Frasers Arm hing, war niemand anderes als Rayna. Rayna Morgan, die kleine Schwester seines besten Freundes. Rayna, der sanftmütige Wirbelwind, den er hatte aufwachsen sehen. Rayna, die absolut heißeste Frau, die er seit Langem gesehen hatte. Mein Gott, was war nur mit ihr geschehen? Das brave, unschuldige Mädchen hatte sich in eine Nymphe verwandelt, die der Männerwelt gehörig den Kopf verdrehte. Inklusive ihm, und das war ganz und gar nicht gut.

Mit einem Mal kam Bewegung in Ethan. Er konnte Rayna nicht hierlassen, in einem Haifischbecken voller sexgeiler Männer. Fraser hin, Fraser her, er würde darauf bestehen, dass sie mit ihm die Party verließ. Was zum Teufel machte Rayna hier? Auf einer Aurelia-Party, die in der Geschäftswelt dafür bekannt war, dass es dort junge Mädchen gab, die bereit waren, für eine Nacht einem einsamen Mann das Bett zu wärmen?

Finster starrte er in Frasers Richtung. Er musste sich eine Strategie einfallen lassen, und zwar schnell.

„Verdammt!“, murmelte Ethan, als er sah, wie Rayna schwankte und sich vertrauensvoll an Frasers breite Schulter anlehnte.

Ethan ballte die Hände zu Fäusten, um nicht die Beherrschung zu verlieren, während es in seinem Kopf arbeitete. Er kannte zwei Herangehensweisen. Anschleichen oder Auflauern? Die zweite Variante würde zu lange dauern, also würde er sich anschleichen. Aufgeben kam in seinem Wortschatz nicht vor. Sein Jagdtrieb war geweckt. Das Tier in ihm streckte sich. Er freute sich darauf. Dumm nur, dass er am Ende trotzdem leer ausgehen würde.

Kapitel 5


Die Party war großartig, befand Rayna. Das Licht war zwar ein bisschen grell und das Boot schwankte ab und an ziemlich heftig, aber der Kerl, der ihr den Drink ausgab, konnte sich durchaus sehen lassen. Er war längst nicht so alt wie Isaak, und wenn man auf muskelbepackte Männer stand, war er genau der Richtige.

„Du wohnst hier in New Orleans? Wie kommt es, dass ich so eine Hübsche wie dich noch nicht gesehen habe?“

Vermutlich, weil du an meinem Bruder nicht vorbeigekommen bist, dachte Rayna. Sie grinste ihn an. Mathew? Maxim? Manuel? Sie konnte sich an seinen Namen nicht mehr erinnern. Vielleicht sollte sie aufhören zu trinken, aber die Cocktails hier schmeckten total gut.

„Hoppla!“ Als Rayna schwankte, griff er nach ihr und stützte sie.

Ihr Dauergrinsen blieb. „Das Boot schaukelt ganz schööön.“

„Oh ja.“

Er hatte so lustige Grübchen auf den Wangen, wenn er lächelte. Und die Muskeln. Rayna ließ es zu, dass er sie an sich zog. Er fühlte sich gut an, durchtrainiert und männlich. Versonnen fuhr sie über seinen Bizeps.

„Was machst du gleich noch mal?“, fragte sie und wusste nicht, ob sie schon darüber gesprochen hatten.

„Mir gehören die Fitness-Fraser-Clubs.“

„Wow!“, nuschelte Rayna und griff nach ihrem Cocktailglas, aus dem ein grüner Strohhalm ragte. Sie brauchte drei Anläufe, bis sie es schaffte, ihn in den Mund zu nehmen.

„Der Cocktail schmeckt echt total gut.“

Behutsam nahm ihr der Kerl das Glas ab, als sie versuchte, es zurück Richtung Tisch zu balancieren.

„Kann man hier auch irgendwo … hicks …“ Sie schlug sich eine Hand vor den Mund und kicherte.

„Möchtest du dich ein wenig setzen? Oben an Deck gibt es gemütliche Sessel“, schlug ihr Begleiter vor.

Rayna zog die Lippe zwischen die Zähne und dachte nach. Eigentlich wollte sie tanzen. Als sie sich umsah, stellte sie betrübt fest, dass die Tanzfläche leer war. Vielleicht war es doch keine so gute Idee. Trotzdem gefiel es ihr in der Kajüte. Der Beat der Musik ließ ihren Körper vibrieren und dazu der herrlich süße Cocktail. Aber den könnte sie auch mitnehmen. Das war also kein Argument. Ein bequemer Sessel dagegen schon. Doch dann fiel ihr ein, dass sie an diesem Abend auf Unterwäsche verzichtet hatte.

„Sitzen is nich gut.“ Oh Mann, schon wieder drehte sich alles um sie, sodass sie sich an dem Fitness-Typen festhalten musste.

„Warum denn nicht?“, hakte er freundlich nach.

„Ich hab keine Unterwäsche an.“ Dabei grinste sie ihn an, als wäre es die logischste Erklärung der Welt.

„Oh!“

Er schob sich noch etwas näher an sie ran. Rayna spürte die Wärme seines Körpers. War er der richtige Mann für ihre erste Nacht? Er roch gut, herb und männlich. Rayna erlaubte sich, ihren Kopf auf seine Brust zu legen, und seufzte zufrieden.

Seine Hände glitten über ihre nackte Schulter den Rücken hinab. Mit verhangenem Blick sah sie zu ihm auf.

„Was hältst du davon, wenn wir zu mir fahren? Ich habe einen Whirlpool. Dort könnten wir es uns gemütlich machen.“

Rayna wollte gerade antworten, als ein Räuspern hinter ihr sie unterbrach.

„Michael Fraser“, wurde ihr Begleiter angesprochen. Michael. Endlich hatte sie einen Namen zu diesem Prachtexemplar von Mann. War das ein Bekannter von Michael? Sie drehte sich zu der Stimme um und blinzelte ungläubig. Ihre Augen mussten ihr einen Streich spielen, denn vor ihr stand ein dunkelhäutiger Mann in einem schicken weißen Anzug, der ihr durchaus bekannt war.

Rayna kniff die Lider zusammen, aber der Kerl verschwand einfach nicht.

Irgendwie ergab das alles keinen Sinn. Was machte Ethan hier? Er durfte nicht hier sein. Sooft sie jedoch blinzelte, er verschwand einfach nicht.

„Ethan Washington.“ Die beiden Männer taxierten sich. „Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, aber wir waren gerade im Begriff zu gehen.“

„Ethan?“, krächzte Rayna, und ihre Kehle fühlte sich plötzlich viel zu trocken an.

Panik durchflutete sie. Hatte Darren herausbekommen, wo sie sich versteckte? Hatte Ethan ihren Bruder informiert?

„Du kennst ihn?“, fragte der Bodybuilder überrascht und legte besitzergreifend einen Arm um sie.

„Es tut mir leid, aber ich befürchte, du hast dir die Falsche ausgesucht.“

Die beiden Männer maßen sich mit Blicken. Ethan war ein wenig kleiner und auch nicht so breit gebaut, dafür sehniger und wendiger als der Fitnessclub-Besitzer.

„Du kannst mich mal“, stieß Michael verärgert hervor und wirbelte Rayna so schnell herum, dass sie das Gleichgewicht verlor und sich mit einem Aufschrei an ihn klammerte.

Ethan stellte sich ihnen in den Weg. Die Männer starrten sich finster an. Noch immer lag Michaels beschützender Arm um sie.

Ethan blieb ruhig. Abwechselnd blickte er Michael und Rayna an, schien unschlüssig.

Mit klopfendem Herzen verfolgte Rayna die Szene. Sie wollte nicht mit Ethan mitgehen. Viel lieber begleitete sie Michael heim. Sie mochte ihn. Außerdem hatte sie sich geschworen, Spaß zu haben. Sie wollte frei sein, ihre eigenen Entscheidungen treffen. Sie hatte es satt, wie ein Mädchen behandelt zu werden, sie wollte eine Frau sein. Wenn der Fitnessclub-Besitzer bereit war, sie mit sich zu nehmen, würde sie sein Angebot nicht ablehnen.

„Du kannst nicht mit ihm gehen, und das weißt du.“ Ethans Blick bohrte sich in sie.

Michael schob Rayna von Ethan fort. „Lass mich und meine Begleitung einfach in Ruhe, ich will hier keinen Streit mit dir anfangen.“

„Ich auch nicht“, erklärte Ethan. „Aber ich kann nicht zulassen, dass du mit ihr verschwindest.“

Michael hob drohend eine Faust in Ethans Richtung. „Ich weiß, warum ich dich noch nie leiden konnte und wir uns bisher aus dem Weg gegangen sind. Lass mich in Ruhe, oder du wirst es bereuen.“

„Hast du überhaupt eine Ahnung, wen du da vor dir hast?“

Rayna schnappte nach Luft. Das konnte Ethan nicht tun. Das würde er nicht tun. Er machte gerade alles kaputt. Seine Worte verunsicherten ihren Beschützer. Sie spürte, wie er sich verspannte.

Beruhigend strich Rayna über seinen Rücken oder hielt sich an ihm fest, das wusste sie nicht so genau. „Hör nicht auf ihn. Lass uns einfach verschwinden“, bat sie leise. Sie wollte das Weite suchen, weg von Ethan, der alles verderben konnte.

„Es ist mir egal. Sie will mit mir kommen“, zischte Michael und drückte Rayna fest an sich.

Rayna schnappte nach Luft.

„Das ist Rayna Morgan“, gab Ethan bereitwillig Auskunft.

Michael ließ sie los, als hätte er sich verbrannt, und wich eilig einen Schritt zurück. Rayna schwankte. Sofort war Ethan an ihrer Seite, um sie zu stützen.

„Scheiße“, fluchte Michael und fuhr sich aufgebracht durchs Haar. „Ich wollte nicht … ich wusste nicht …“, stammelte er betroffen.

„Michael“, jammerte Rayna, die merkte, dass der Kerl kurz davor war, sich aus dem Staub zu machen.

„Sorry, Süße. Du bist echt heiß, aber es leider auch nicht wert, sich wegen dir mit Darren anzulegen.“ Damit machte sich Michael eilig aus dem Staub.

„Scheißkerl!“, schimpfte Rayna vor sich hin. Sie war sauer auf ihn, dass er einfach so aufgab, sobald der Name ihres Bruders gefallen war, und das Weite suchte.

Als Ethan sie fortführte, wollte sich Rayna von ihm losmachen. „Lass mich!“

Eisern hielt er sie umklammert und zog sie einfach mit sich.

„Du hast mir den ganzen Abend verdorben“, warf sie ihm wütend vor.

„Nein, ich habe dir den Hintern gerettet. Hast du noch etwas dabei?“, fragte Ethan und sah sich suchend um.

„Ich geh nich mit dir mit!“, protestierte Rayna.

„Und ob du das tun wirst.“ Er war ihr ganz nahe, hatte leise in ihr Ohr gesprochen. Sein warmer Atem kitzelte sie.

„Ich muss mein’ Cocktail noch austrinken.“ Vielleicht hatte sie so eine Chance, Ethan zu entkommen.

„Du hast schon mehr als genug getrunken. Entweder du verlässt mit mir jetzt freiwillig dieses Schiff, oder ich schmeiße dich über die Schulter und trage dich raus.“

Rayna krallte sich in seinen Arm, dass es schmerzen musste, doch er gab keinen Laut von sich.

„Ich hasse dich!“, knurrte sie und erschrak selbst, als es sich verdächtig nach Tier anhörte.

„Beruhig dich“, flüsterte Ethan alarmiert und schob sich vor sie, sodass sie vor den Blicken der anderen Gäste geschützt war. „Hast du dich unter Kontrolle?“

Rayna spürte das Kratzen der Raubkatze unter der Haut. Vielleicht hatte sie tatsächlich ein wenig zu viel Alkohol getrunken. Sie drängte das Tier zurück.

„Alles okay.“ Sie machte sich von Ethan los und ging ein paar Schritte. Das dumme Schiff schwankte schon wieder bedrohlich. Komisch nur, dass die anderen Gäste davon nichts mitzubekommen schienen.

Ethan ergriff ihren Arm und stützte sie.

„Danke schön“, murmelte sie und ergab sich ihrem Schicksal.

„Ich bringe dich jetzt erst mal von hier fort.“

Rayna schwieg. Sie wollte, dass das Schwanken aufhörte, denn schon wieder begann sich alles zu drehen.

„Ist dir übel?“, erkundigte sich Ethan besorgt und schob Rayna durch die Menschenmenge.

Sie schüttelte den Kopf und krallte sich an seinem Arm fest. Fürsorglich zog er sie an sich. Rayna genoss seine Nähe und ließ den Kopf gegen Ethan sinken. Er riecht gut, war ihr letzter Gedanke, bevor sie das Deck erreichten und eine kühle Brise vom Meer zu ihnen wehte. Rayna fröstelte und kuschelte sich näher an Ethan.

Kapitel 6


Ethan war sauer. Unruhig strich das Tier in seinem Körper hin und her. Es kostete ihn einiges an Beherrschung, nach außen hin ruhig zu wirken. Nicht umsonst hatte er jahrelang an seiner Selbstkontrolle gearbeitet.

Am liebsten hätte er Rayna geschüttelt, bis sie wieder zur Vernunft kam. Wusste sie nicht, in welcher Gefahr sie schwebte? Sie konnte doch nicht einfach in einem so aufreizenden Outfit auf einer Party wie dieser auftauchen und damit rechnen, dass sie mit heiler Haut davonkam. Er war sauer auf Darren, dass er nicht besser auf seine Schwester aufpasste. Er war wütend auf die Kerle, die Rayna mit Blicken auszogen. Er war sauer auf Rayna, die betrunken in seinem Arm lag und die Ernsthaftigkeit der Situation nicht begriff. Und er war verdammt noch mal wütend auf sich selbst, weil sein Körper unmissverständlich auf Raynas Körper reagierte. Oh Gott, allein das Kleid, das seiner Fantasie nicht mehr wirklich viel Spielraum ließ. Ihre Anschmiegsamkeit, auch wenn sie auf ihren Alkoholkonsum zurückzuführen war, beflügelte sein Kopfkino. Immer wieder musste er sich vor Augen führen, dass es Rayna war, die sich kichernd an ihn schmiegte.

Er stieß die Tür auf und trat mit ihr hinaus. Kühle Luft wehte vom Meer zu ihnen. Rayna neben ihm schlotterte. Er lehnte sie vorsichtig gegen die Kajüte und zog sein Jackett aus, das er ihr fürsorglich über die Schultern hängte.

Raynas Augen klappten zu.

„Hey, wach bleiben.“ Er schüttelte sie leicht, legte wieder einen Arm um sie und führte sie weiter. Glücklicherweise blieben sie unbehelligt. Niemand nahm Anstoß an ihnen. Eigentlich furchtbar. Keiner der Gäste schien sich um Raynas Wohlergehen zu sorgen. Eine völlig betrunkene, willenlose Frau. Wenn sie in die falschen Hände geraten wäre … Er wollte sich das überhaupt nicht ausmalen. Schon allein deshalb nicht, weil es um ein Haar so weit gekommen wäre. Wäre er nicht zufällig da gewesen, hätte Fraser Rayna mitgenommen.

Sie erreichten die Gangway, und Ethans Griff um Rayna wurde etwas fester, damit sie nicht aus Versehen ins Meer stürzte. Mit einem Kopfnicken passierten sie die zwei Männer.

„Schönen Abend!“, rief ihm einer der beiden hinterher.

„Danke schön“, murmelte Ethan. Wenn er nur wüsste.

„Sind wir von Bord?“, nuschelte Rayna.

„Ja.“

Sie machte Anstalten, sich aus seiner Umarmung zu befreien, doch er ließ es nicht zu.

„Ich will weiterfeiern“, verkündete sie und blieb stehen.

Ethan schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. „Rayna, du bist betrunken.“

„Na und? Ich bin erwachsen und kann tun und lassen, was ich will.“

„Hm …“, brummte er und schob sie weiter.

Etwas widerwillig setzte sie sich in Bewegung. Immerhin.

„Das habe ich ernst gemeint“, beschwerte sich Rayna.

Ethan antwortete nicht. Mit logischen Argumenten würde er bei ihr nicht weiterkommen.

„Lass mich endlich los. Ich hab beschlossen, den Abend zu genießen.“ Sie machte sich von ihm los und schwankte ein paar Schritte, ehe sie sich zu ihm umdrehte. Er hielt sie an den Oberarmen fest, bevor sie das Gleichgewicht verlor. Wie ein Stein ließ sie sich gegen seine Brust plumpsen.

„Soll ich dir ein Geheimnis verraten?“ Sie kicherte.

Es fühlte sich so verdammt gut an, sie im Arm zu halten. Sie hatte die perfekte Größe. Ihr Kopf passte genau in seine Halsbeuge. „Hm …“, murmelte er, unsicher, ob er wirklich dieses Geheimnis erfahren wollte.

„Ich werde heute Nacht einen Kerl aufreißen.“

Ethan schluckte. Da stand er, mit einer äußerst willigen Frau im Arm, die ihm gerade …

„Ich will heute Nacht Sex haben“, präzisierte sie ihre Aussage.

Für eine halbe Sekunde dachte Ethan darüber nach, was geschehen würde, wenn er Rayna mit nach Hause nahm. Ihr biegsamer Körper in seinem Bett. Nein! Er verbot sich jeden weiteren Gedanken. Es war doch Rayna. Das musste er sich nur immer wieder vor Augen führen. Dennoch hielt es seinen Körper nicht davon ab, Blut in seine Lenden zu pumpen.

„Du bist zu betrunken, um weiterzufeiern. Verschiebe deine Abenteuer auf ein anderes Mal, wenn du nüchterner bist.“ Er führte sie weiter. Nur noch ein kleines Stück. Da vorne musste irgendwo sein Lamborghini parken.

„Ich bin nich betrunken. Die Welt schwankt nur ’n wenig. Das sind die Wellen.“

Es hatte einfach keinen Sinn. „Wir sind auf dem Festland. Hier schwankt absolut nichts mehr.“

Verblüfft, als würde Rayna ihre Umgebung zum ersten Mal sehen, blickte sie sich um. „Stimmt“, murmelte sie überrascht.

„Mein Wagen steht um die Ecke, ich fahr dich heim.“

Er spürte genau, wie sich Rayna in seinen Armen versteifte. Glücklicherweise blieb sie diesmal nicht stehen, sondern ließ sich von ihm weiterschieben.

„Heim?“, äffte ihn Rayna nach. „Wohin heim? Nach Cheetah Manor oder zum Campus? Weißt du was, ich verzichte drauf.“

„Nun sei doch vernünftig“, stöhnte er. Sie hatten den Lamborghini beinahe erreicht. „Mir ist egal, wo ich dich hinfahre, solange du nicht allein durch New Orleans streifst.“

„Ich will nich nach Hause.“ Eine dicke Träne rollte über Raynas Wange. Weitere folgten.

Mein Gott, sie fing doch jetzt nicht auch noch zu weinen an. Er war doch ohnehin schon verzweifelt. Wenn sie jetzt weinte, wäre er vollkommen mit der Situation überfordert. Er nahm sie tröstend in den Arm. Bereitwillig ließ Rayna das zu und schmiegte sich vertrauensvoll an ihn.

„Du kannst auch mit zu mir kommen“, bot er an und bereute es im selben Augenblick bereits. Das war keine gute Idee. Ganz und gar nicht.

„Danke“, schluchzte Rayna und krallte sich an seinem Hemd fest, das bereits durchnässt war von ihren Tränen.

„Komm!“ Ethan wollte doch nur diesen verdammten Wagen erreichen. „Wir sind gleich da.“ Er führte Rayna um ein parkendes Auto, entriegelte den Lamborghini und öffnete die Beifahrertür.

„Wow, is das deiner?“ Bewundernd strich Rayna über den dunkelblauen Lack des Flitzers.

„Ja.“ Damit hob er sie einfach hoch und setzte sie auf den Beifahrersitz. „Kannst du dich allein anschnallen?“

Rayna nickte, und er schloss die Tür hinter ihr. Während er um den Lamborghini ging, atmete er mehrere Male tief durch. Der Abend entwickelte sich zum absoluten Albtraum. Gerne wäre er jetzt ein paar Schritte gelaufen, um einen klaren Kopf zu bekommen. Doch es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu Rayna in den Sportwagen zu steigen.

Sie hatte den Kopf gegen die Fensterscheibe gelegt und die Augen geschlossen. Ethan startete den Motor und gab Gas. Schweigend fuhr er durch das nächtliche New Orleans. Immer wieder blickte er zu Rayna hinüber, die friedlich schlief. Wenn er jetzt nach rechts abbog, würde er zum Campus gelangen. Fuhr er weiter, käme er zu seiner Wohnung.

„Ich hab nachgedacht.“

Sein Blick huschte zu seiner Beifahrerin, die wohl doch nicht so tief und fest schlief, wie er angenommen hatte.

Verdammt! Er hatte die Ausfahrt verpasst. Dann also doch zu ihm. „So?“, murmelte er und konzentrierte sich auf die Straße, um an einem Kleintransporter vorbeizuziehen.

„Findest du mich attraktiv?“

Ihre Frage verblüffte ihn. Sie hatte die Augen geöffnet, sah ihn abwartend an. Sein Blick wanderte weiter, über ihre fast nackten Schultern, die festen Brüste, das viel zu enge Kleid und die unglaublich langen Beinen, die es ihm ohnehin angetan hatten. Plötzlich war es im Wagen viel zu heiß. Er schluckte und konzentrierte sich hastig auf die Fahrbahn.

„Bin ich hübsch?“, fragte sie noch einmal und rutschte etwas näher an ihn heran.

Das Auto war doch schon so viel zu eng. Da musste sie nicht noch näher rutschen. „Natürlich bist du das“, erklärte er unwirsch, weil er ihre Gefühle nicht verletzen wollte. Sie war nicht nur hübsch, sie war verdammt sexy. Aber das konnte er ihr natürlich nicht sagen. Schließlich war sie Darrens kleine Schwester.

Ihre Hand legte sich auf seinen Oberschenkel, verdammt nah zwischen seine Beine. Er biss die Zähne zusammen. „Rayna“, knurrte er warnend. Seine Selbstbeherrschung hing an einem seidenen Faden. Er musste sich auf den Verkehr konzentrieren. Er musste seine Wohnung erreichen und aus diesem viel zu engen Wagen herauskommen. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn.

„Willst du keinen Spaß mit mir haben?“

Seine Finger klammerten sich fester um das Lenkrad. Doch, das wollte er. Nein, das wollte er natürlich nicht! Solange sie ihre Hand dort hatte, konnte er nicht vernünftig denken. Womit verdiente er so eine Bestrafung? Er war doch auch nur ein Mann.

„Nimm deine Hand da weg!“, zischte er unfreundlich.

„Gefällt dir nich, was ich tu?“, fragte Rayna unschuldig.

Ethan hatte genug. Er griff nach ihrem Handgelenk und zog es von sich, als wäre es eine heiße Kartoffel.

Beleidigt verschränkte Rayna die Arme vor der Brust. Zumindest schwieg sie und brach nicht wieder in Tränen aus. Er ärgerte sich, dass er sich selbst um diese einmalige Chance brachte, aber wenn er Rayna gewähren ließ, würde es kein gutes Ende nehmen. Spätestens am nächsten Morgen würde sie ihn dafür hassen.

Verdammt, es war Rayna, die da neben ihm saß! Er versuchte sich Bilder von ihr ins Gedächtnis zu rufen, harmlose Bilder. Doch immer, wenn er neben sich schielte und einen Blick auf ihre phänomenalen Beine erhaschte, sah er sie zwischen zerwühlten Laken oder wie sie diese unendlich langen Beine um seine Mitte legte.

Erleichtert fuhr er in die Tiefgarage und parkte den Lamborghini neben seinem Pick-up. Er stieg aus, umrundete den Wagen und öffnete Rayna die Tür. Es dauerte ewig, bis sie ihre Beine auf den Boden setzte. Sie war leichenblass. Besorgt ging er vor ihr in die Hocke.

„Alles okay bei dir?“

„Mir is so übel.“

Ethan ahnte Schlimmes. Kurzerhand hob er sie hoch. Ihr Rock rutschte hoch, und er spürte ihren blanken Hintern unter seiner Hand. Ihm wurde noch heißer. Aber er hatte keine Zeit, sich mit Raynas Unterwäsche – oder präziser ausgedrückt, ihrer fehlenden Unterwäsche – auseinanderzusetzen. Er musste sie hinaufbringen, bevor ihr Magen vollkommen rebellierte.

Erschöpft ließ Rayna den Kopf gegen seine Schulter sinken. Hoffentlich schafften sie es noch bis nach oben. Mit schnellen Schritten steuerte er auf den Aufzug zu, drückte den Knopf zu seiner Wohnung, die unter dem Dach lag, und wartete ungeduldig darauf, dass sich der Lift endlich in Bewegung setzte.

Rayna stöhnte.

Ethans Blick war auf die Leuchtziffer gerichtet, die das Stockwerk anzeigte. Noch drei, zwei, eins. Ein Bling ertönte, und die Türen schoben sich auf. Mit ein paar langen Schritten durchquerte er den Flur. Eilig gab Ethan den Zahlencode ein, der seine Wohnungstür entriegelte, und drückte diese mit dem Rücken auf.

„Mir ist so übel“, jammerte sie noch einmal.

Er beeilte sich einzutreten. Mit dem Fuß stieß er die Tür zu, die krachend ins Schloss fiel. Ohne weiter Zeit zu verschwenden, steuerte er direkt das Bad an. Sie hatten es geschafft. Vorsichtig ließ er Rayna runter, die sich am Waschbecken festklammerte und verwirrt um sich blickte.

„Wo bin ich hier?“

„Im Bad.“

Mit ihren großen Augen sah sie ihn fragend an. Dann veränderte sich ihre Miene. Sie schwankte, schaffte es gerade noch zur Toilette und ließ sich davor nieder. Ethan war mit zwei Schritten bei ihr, öffnete den Toilettendeckel und streifte Rayna die Haare aus dem Gesicht. Keine Sekunde zu früh. Ihr Mageninhalt ergoss sich in die Porzellanschüssel.

Immer und immer wieder erbrach Rayna. Ethan konnte nichts anderes tun, als daneben zu stehen und ihre Haare zu halten.

Schließlich würgte sie nur noch. Er ließ sie einen Moment allein, um ein Glas Wasser zu holen. Während sie schon halb schlief, flößte er ihr ein wenig der Flüssigkeit ein. Dann hob er sie hoch und trug sie ins Schlafzimmer. Kaum hatte er sie auf dem Bett abgelegt und die High Heels von den Füßen gezogen, rollte sie sich zusammen und schlief augenblicklich ein.

Etwas unschlüssig saß Ethan neben ihr und schaute ihr beim Schlafen zu. Sie sah so wunderschön aus. Dieses Bild, Rayna in seinem Bett, würde sich, so lange er lebte, in sein Gedächtnis einbrennen. Ethan schloss die Augen und rang um Fassung. Er musste raus aus diesem Zimmer, sonst täte er Dinge, die er bereuen würde. Eilig stand er auf und schloss leise die Tür hinter sich. Sein Begleiter in dieser Nacht würde die Couch sein.

Kapitel 7


Rayna kuschelte sich in die warme Decke. Sie wollte nicht wach werden. Schon jetzt spürte sie das Pochen in ihrem Kopf und befürchtete, dass dieser explodierte, wenn sie die Lider öffnete. Das helle Tageslicht schien ihr jedoch direkt in die Augen, und sie blinzelte. Tatsächlich, ihr Schädel brummte noch mehr. Stöhnend zog sie die Decke über den Kopf, wurde eingehüllt von diesem unbekannten und gleichzeitig doch vertrauten Geruch, der ihr so gut gefiel.

Sie wollte weiterschlafen, sich dieser grausamen Welt entziehen, aber das Pochen in ihrem Kopf nahm zu, bis Rayna es einfach nicht mehr aushielt. Zuerst schlug sie die Decke beiseite. Dann linste sie vorsichtig zwischen zusammengekniffenen Lidern hindurch. Sie legte geblendet einen Arm über die Augen und wartete darauf, dass der Schmerz und die Übelkeit nachließen. Wo war sie hier? Vorsichtig, ja keine schnelle Bewegung machend, lugte sie an ihrem Arm vorbei und sah sich selbst in einem monströsen Spiegel, der über dem Bett hing. Perplex starrte sie sich an. Ihr Gehirn brauchte einige Augenblicke, bis ihr zwei Dinge klar wurden. Das war nicht ihr Zimmer, nicht ihr Bett. Und noch viel schlimmer, sie trug nichts als das Spaghettiträgerkleid, das über ihre Hüften gerutscht war und ihren nackten Unterleib entblößte.

Ruckartig setzte sie sich auf und bereute sofort die schnelle Bewegung, als ein stechender Schmerz sie zusammenzucken ließ. Sie hielt sich den Kopf und wartete darauf, dass das Pochen nachließ.

Es wurde ein wenig besser, allerdings nur so lange, wie sie sich nicht bewegte. Aber sie konnte doch nicht ewig unbeweglich sitzen bleiben. Wo war sie hier? Was machte sie in diesem fremden Bett? Den Schmerz, so gut es ging, ignorierend, sah sie sich um. Sie saß auf einem riesigen Kingsize-Bett mit einem Spiegel an der Decke. Ein großer Kleiderschrank zu ihrer Linken, ein Fenster ihr gegenüber, durch das die Sonne sie geweckt hatte. Zu ihrer Rechten zwei kleinere Kommoden, ein schwarzer Sessel neben der Tür. Alles sauber, alles aufgeräumt. Männlich.

Rayna kämpfte die aufkeimende Panik nieder, robbte zur Bettkante und schwang die Füße hinaus. Sie hatte nicht nur furchtbare Kopfschmerzen, sondern auch einen Filmriss. Ein Zustand, den sie in diesem Ausmaß noch nie erlebt hatte. Was war in der letzten Nacht geschehen? Sie konnte sich an absolut nichts erinnern. In wessen Wohnung war sie gelandet? Hatte sie … Sex gehabt? Irgendwie hatte sie sich ihr erstes Mal anders vorgestellt. Sie horchte in sich hinein. Klar, sie fühlte sich verschwitzt und klebrig, aber ansonsten unverändert.

Bevor noch jemand das Zimmer betreten konnte, stand sie eilig auf und zupfte ihr Kleid zurecht. So gut es mit dem kurzen Fetzen eben möglich war. Heute erschien ihr das Kleid viel zu knapp.

Angestrengt lauschte sie, hatte Angst davor, was sie am anderen Ende der Tür hören könnte. Es drangen jedoch keine verräterischen Geräusche an ihr Ohr. Nur das gleichmäßige Rauschen des Verkehrs.

Da es ihr an Mut fehlte, die Tür zu öffnen, trat sie ans Fenster. Ein überwältigender Ausblick auf New Orleans.

„Wow!“, entfuhr es ihr. Gebannt starrte sie über die Dächer der Großstadt. So hatte sie New Orleans noch nie gesehen.

Sie versuchte abzuschätzen, wo sie in etwa war, fand jedoch keinen Anhaltspunkt. Auch die Zimmereinrichtung gab keinen Aufschluss über den Besitzer. Es würde kein Weg daran vorbeiführen, das Zimmer zu verlassen und sich dem, was sich auf der anderen Seite befand, zu stellen.

Rayna zupfte noch einmal an ihrem viel zu kurzen Kleid. Ohne Unterwäsche fühlte sie sich furchtbar entblößt, nackt. Es war eine totale Schnapsidee gewesen, auf einen Slip zu verzichten.

Sich selbst Mut zusprechend öffnete sie vorsichtig die Tür und spähte hinaus. Eine modern eingerichtete, sonnendurchflutete Wohnung. Alles offen. Eine Hochglanzküche, ein massiver Esstisch aus Eiche mit lederbezogenen Stühlen. Eine gemütliche Ledercouch mit einer teuer aussehenden Heimkinoanlage, die jeden Technikfanatiker in Entzücken versetzt hätte. Die Einrichtung war eindeutig männlich. Keine Pflanzen, nichts Verspieltes. Die breite Fensterfront, die sich ihr gegenüber befand, ließ sie auf eine riesige Dachterrasse blicken. Zumindest schien der Kerl nicht verheiratet zu sein.

Die Wohnung war leer. In was hatte sie sich da nur hineingeritten?

Rayna trat näher an den Esstisch und fand dort eine Packung Schmerztabletten, ein Glas Wasser und einen Zettel. Ohne groß nachzudenken, griff sie nach dem Blister, ließ zwei Tabletten in die Hand fallen und spülte sie mit dem halben Glas Wasser hinunter. Sie konnte nur hoffen, dass die Medizin schnell ihre Wirkung entfaltete und diese furchtbaren Kopfschmerzen rasch verschwanden.

Erst dann ließ sich Rayna auf einen Stuhl nieder und griff nach dem Zettel.

Für deinen Kater. Ich bin eine Runde joggen und bringe Frühstück mit. Dann reden wir.

Na super. Keine Unterschrift. Und sie konnte sich absolut nicht erinnern, wie sie hergekommen war, geschweige denn mit wem. Wie schlimm hatte sie sich aufgeführt? Hatte sie mit dem Kerl Sex gehabt? Sosehr sie versuchte, sich zu erinnern, das Letzte, was sie wusste, war, dass sie sich auf diesem Party-Schiff befunden hatte. Aurelia. Was dann passiert war – nichts. Nur ein schwarzes Loch.

Reden? Worüber wollte der Kerl mit ihr reden? Würde er sie abservieren? Ihr erklären, dass die Nacht nett gewesen war, sie aber aus seinem Leben verschwinden sollte? Eine seltsame Leere überkam sie, und Rayna wusste nicht einmal, weshalb. Sie kannte den Typ nicht, und er bedeutete ihr auch absolut nichts.

Sollte sie hierbleiben und warten, bis er kam, oder konnte sie sich einfach aus dem Staub machen? Wo befand sie sich eigentlich? Und Geld hatte sie immer noch keins. Natürlich könnte sie die Schränke nach etwas Bargeld durchsuchen, aber wer auch immer der Kerl war, er verdiente es nicht, bestohlen zu werden. Etwas unschlüssig saß sie herum und wartete. Sie konnte nicht einfach so abhauen, musste wissen, was in der letzten Nacht geschehen war. Und sie brauchte dringend eine Dusche, um sich den Schmutz der vergangenen Nacht vom Körper zu waschen. Das Gefühl, dreckig zu sein, war so übermächtig, dass sie sich am liebsten auf der Stelle das Kleid vom Leib reißen wollte. Suchend sah sich Rayna um. Neben dem Schlafzimmer fand sie eine weitere Tür. Sie öffnete diese und entdeckte dahinter ein geräumiges Büro mit einem riesigen Aktenschrank. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, dort nach der Identität des Wohnungsbesitzers zu suchen. Nein, zuerst eine Dusche.

Mit dem zweiten Anlauf hatte sie Glück. Ein schickes Badezimmer mit einer herrlich einladenden Duschkabine lag vor ihr. Sie zögerte nicht lange, suchte in den Schränken nach einem Handtuch und Seife und streifte das Kleid ab.

Das warme Wasser war herrlich. Rayna rubbelte über ihre Haut, bis diese rosig glänzte. Aus Angst, ihr Gastgeber würde bald wieder zurückkehren, beeilte sie sich fertig zu werden und verließ schnell die Dusche. In ein Handtuch gewickelt stand sie wenig später im Schlafzimmer und suchte im Kleiderschrank nach etwas zum Anziehen. Der Kerl musste ziemlich viele Anzüge tragen, zumindest hing der Schrank voll davon. Schließlich entschied sie sich für ein T-Shirt, das mindestens so lang war wie ihr Kleid. In der Kommode fand sie Unterwäsche. Die Boxershorts waren aber viel zu weit. In die würde sie glatt zweimal reinpassen. Zum Glück wurde sie in der untersten Kommodenschublade fündig. Dort lag eine Trainingshose mit Kordel. Von der Länge her musste sie die Hosenbeine zwar etliche Male umstülpen, aber zugeknotet rutschte ihr die Hose zumindest nicht von der Hüfte.

Der Summer an der Wohnungstür sprang an, und mit einem Klack öffnete sich die Tür.

„Ich bin zurück!“, rief eine Männerstimme.

Völlig panisch hastete Rayna aus dem Schlafzimmer und erstarrte, als sie ihren Gastgeber sah. Das war der Mann, mit dem sie die Nacht verbracht hatte? Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt. Vor ihr stand Ethan. Ethan Washington, der beste Freund ihres Bruders. Der Anwalt der Familie. Er ging auf Cheetah Manor ein und aus, kannte sie, seit sie denken konnte. Jeder Fremde wäre besser gewesen. Warum ausgerechnet Ethan?

Kapitel 8


Ethan war zurück. Hoffentlich glaubte ihm Rayna, dass er gejoggt war. Wie jeden Morgen war er zum Waldrand gefahren und mit seinem Sportoutfit zwischen den Bäumen verschwunden. Natürlich war er durch das Unterholz gerannt, nur nicht so, wie sie annahm.

Sie kann damit umgehen, wisperte eine Stimme tief in seinem Inneren. Nein, das konnte sie nicht. Sie mochte selbst eine Gestaltwandlerin sein, aber sein Geheimnis blieb am besten das, was es war: ein Geheimnis. Lediglich Darren wusste davon, sonst niemand, und so sollte es auch bleiben.

Als Ethan seine Wohnung betrat, war er weder ausgepowert noch verschwitzt. Ganz so, als wäre er lediglich zum nächsten Supermarkt gefahren und hätte Einkäufe erledigt.

„Ich bin zurück!“, rief er, um sie vorzuwarnen. Er glaubte zwar nicht, dass sie noch im Bett lag, aber es war dennoch ein seltsames Gefühl, in seine Wohnung zurückzukehren und zu wissen, sie war da.

Rayna kam aus dem Schlafzimmer gehastet. Als sie ihn erblickte, erstarrte sie zu Eis.

Er schluckte. So hatte er sich den Empfang nicht vorgestellt. Sie blickte ihn an, als wäre er plötzlich grün anstatt braun im Gesicht.

Eigentlich hatte er sich gefreut, sie zu sehen. Sie trug eines seiner T-Shirts und die Jogginghose, die er ganz unten in der Schublade aufbewahrte, weil sie ihm eigentlich zu klein war. An ihr wirkte alles viel zu groß. Sein Kopfkino sprang an, und vor seinem inneren Auge manifestierte sich das Bild von Rayna, wie sie sich in seinem Bett rekelte.

„Wie ich sehe, geht es dir besser“, stellte Ethan nüchtern fest, um sich wieder auf den Boden der Tatsachen zu katapultieren. Hastig ging er an ihr vorbei in die Küche. Er musste sich bewegen, etwas tun. Dort stellte er die Papiertüte ab und begann die Einkäufe einzuräumen.

Noch immer sagte Rayna kein Wort.

„Ich habe Frühstück mitgebracht. Was hältst du von Pancakes?“ Er lächelte vor sich hin. Natürlich wusste er, dass Rayna Pancakes liebte. Viel zu oft hatte er schon mit ihr gemeinsam auf Cheetah Manor gefrühstückt. Doch jetzt hier in seiner Wohnung, war es anders, vollkommen anders.

„Rayna?“, fragte er noch einmal, da sie immer noch schwieg. Er ging auf sie zu, wollte sie berühren, sie in die Wirklichkeit zurückholen.

Der gehetzte Ausdruck auf ihrem Gesicht vertiefte sich. „Bleib weg!“ Sie wich zurück, schlang die Arme um sich, als bräuchte sie etwas, an dem sie sich festhalten konnte.

Ethan zwang sich, ihrem Wunsch nachzukommen und auf Abstand zu bleiben. Dabei sehnte er sich danach, sie in die Arme zu schließen, ihr Halt und Trost zu spenden.

„Ich … wir haben doch nicht … ich lag in deinem Bett“, stammelte Rayna ängstlich.

Ethans Kiefer mahlte, so fest biss er die Zähne zusammen. Warum war er eigentlich so sauer? Weil er in der vergangenen Nacht einen klaren Kopf behalten hatte? Weil er sich nicht das genommen hatte, wonach ihm verlangte? Weil sich Rayna an nichts erinnerte? Letzteres war bei ihrem Zustand gestern Nacht nicht wirklich verwunderlich.

„Beruhige dich. Es ist nichts passiert, also zumindest nicht zwischen uns.“

Erleichtert atmete Rayna aus und ließ sich auf einen Stuhl nieder. „Ich kann mich an absolut nichts erinnern“, gestand sie.

Ethan begann in einer Schüssel die Zutaten für die Pancakes zu mischen. „Du warst völlig betrunken.“

„Wie hast du mich gefunden? Hat Darren dich geschickt?“ Ein leichter Anflug von Panik schwang in ihrer Stimme mit.

„Nein.“ Ethan blickte nicht zu ihr auf. „Es war eher Zufall. Ich hatte etwas Geschäftliches auf der Aurelia zu erledigen.“ Er wollte nicht zu viel preisgeben. Rayna wusste nichts von dem Video oder von dem Mord an ihrem Bruder Brain. Für sie war es ein bedauerlicher Unfall gewesen, und so sollte es auch bleiben. Immer wieder ertappte er sich dabei, dass er Rayna beschützen wollte. Hatte Darren so auf ihn abgefärbt? Er kannte Rayna lange, sehr lange. Eigentlich seit er mit Darren befreundet war. Nur zu gut erinnerte er sich an den dunkelblonden Wirbelwind, der sie damals gewesen war. Sie hatte sich verändert, war erwachsen geworden. Gerade seit jenem Vorfall. Aus Unwissenheit hatte Sarah, Darrens jetzige Frau, ein Amulett mit nach Cheetah Manor gebracht, das die Lebensenergie der Gestaltwandler aussog. Rayna hätte es beinahe nicht überlebt. In letzter Minute war es Darren gelungen, sie zu retten.

Ethan wandte sich ab, holte eine Pfanne aus der Schublade und stellte sie auf den Herd. Dann griff er nach dem Öl und gab etwas hinein.

Er war nicht ganz unschuldig an der Situation gewesen. Noch heute machte er sich Vorwürfe deswegen. Schließlich war er es, der Rayna von Cheetah Manor zurück zum Campus gefahren hatte. Er hätte merken müssen, in welcher Verfassung sie war, hätte sie nicht allein lassen dürfen.

Er goss drei Teigkleckse in die Pfanne. Es zischte, und er schaltete die Temperatur niedriger.

Aurelia?“, fragte Rayna nachdenklich. „War das nicht diese Yacht?“

„An die erinnerst du dich also noch“, stellte er fest.

„Ja. Ich wollte in einen Club gehen, aber der war bereits voll. Dann kam …“ Sie überlegte kurz. „Beatrice von der Starlight-Agentur.“

Ethans Meine verfinsterte sich.

„Sie brachte mich und die anderen Mädchen auf die Yacht. An viel mehr kann ich mich nicht erinnern.“

„Ist vielleicht besser so“, murmelte Ethan vor sich hin und wendete die Pancakes.

„Habe ich mich schlimm aufgeführt?“

Er überlegte, was er ihr erzählen sollte. Dass sie mit Michael Fraser mitgehen wollte, dass sie ihn angebaggert, oder dass sie sich in seinem Bad übergeben hatte? „Ich habe dich mitgenommen, und da du nicht nach Hause wolltest, sind wir hierhergefahren.“ Es war zumindest keine Lüge. „Du im Bett, ich auf der Couch.“

Ein Schatten huschte über Raynas Gesicht. War sie ein wenig enttäuscht? Nein, er musste sich irren.

Er holte die Pancakes aus der Pfanne, legte sie auf einen Teller und goss die nächsten Teigkleckse hinein.

„Findest du es nicht etwas unverantwortlich, dich nachts allein in New Orleans herumzutreiben? Das hätte auch ganz schön schiefgehen können.“ Den Seitenhieb konnte er sich einfach nicht verkneifen.

Rayna blickte zu Boden. Oha, da hatte er wohl in ein Wespennest gestochen. Etwas musste vorgefallen sein. War sie vielleicht überhaupt nicht allein gewesen und hatte sich dann mit ihren Begleitern gestritten? Vielleicht mit ihrer Mitbewohnerin Alice?

Ganz in Ruhe briet er die Pancakes fertig. Dann stellte er sie zusammen mit zwei Tellern, Ahornsirup und einem Glas mit roten Früchten auf den Tisch. Mit zwei Tassen frischem Kaffee setzte er sich Rayna gegenüber.

Sie hatte noch immer kein Wort gesagt. Schweigend belud sie ihren Teller und gönnte sich eine große Portion Ahornsirup.

Er schaute ihr zu, wie sie die erste Gabel in den Mund steckte und vor Genuss die Augen verdrehte. „Die schmecken köstlich“, stöhnte sie. „Mindestens so gut wie die von Mary.“

Ethan grinste. Wenn das kein Lob war. Die Kochkünste der Haushälterin auf Cheetah Manor waren legendär.

Ethans Handy vibrierte. Er zog es hervor und sah auf das Display.

„Darren“, erklärte er, ehe er das Telefongespräch annahm.

„Was gibt es Wichtiges, dass du mich beim Frühstück stören musst?“

„Rayna ist verschwunden. Du musst sofort los und sie suchen“, erklärte ihm sein Freund am anderen Ende der Leitung.

„So, Rayna ist also verschwunden?“ Belustigt blickte er die Frau ihm gegenüber an, die heftig den Kopf schüttelte. Ihr Bruder sollte also nicht wissen, dass sie bei ihm war.

„Sie hat mitbekommen, dass Dave und Alice mir Bericht erstatten“ gestand Darren zerknirscht.

„Also ehrlich, dann wundert es mich nicht, dass sie abgehauen ist.“

„Du musst sie finden. Ich muss mit ihr reden!“

Ethan sah zu Rayna hinüber, die unruhig auf ihrem Stuhl hin und her rutschte.

„Hör zu! Ich bin nicht allein hier. Lass mich in Ruhe fertig frühstücken. Dann werde ich Rayna suchen und sie nach Cheetah Manor bringen“, versprach er seinem Freund.

„Danke dir. Entschuldigung für die Störung. Ich hoffe, die Kleine ist heiß.“

Ethan legte ohne Gruß auf. Ja, das war sie. Rayna war definitiv heiß, vor allem in seinen Klamotten. Aber das würde er schön für sich behalten.

Er legte das Telefon beiseite und sah Rayna an.

„Danke für den Aufschub.“

„Möchtest du nicht darüber reden?“, erkundigte er sich.

„Worüber?“ Sie glich einer verwundeten Antilope, die sich verzweifelt gegen ihren Angreifer zur Wehr setzte. Aber er war nicht der Jäger. „Darüber, dass Darren den Typ bezahlt hat, den ich nett fand, um mit mir auszugehen? Anstatt mit mir eine Party zu besuchen, hat er mich in einen langweiligen Diner geschleift.“ Rayna lachte freudlos auf. „Er hat auch Darrens Anweisungen befolgt und schön brav seine Finger bei sich gelassen. Weißt du, wie sich das anfühlt?“

Tränen sammelten sich in ihrem Augenwinkel, und Rayna versuchte verzweifelt sie wegzublinzeln. Hilflos saß Ethan da, wusste nicht, was er tun sollte.

„Und dann muss ich auch noch erfahren, dass sich meine beste Freundin heimlich und hinter meinem Rücken ebenfalls mit Darren austauscht. Ich fühle mich so …“ Sie brach ab und barg ihr Gesicht in ihren Händen.

Ethan wusste nicht, was er tun sollte. Er kam sich ebenso hilflos vor wie Rayna. Zögernd erhob er sich, ging um den Tisch herum. Dann stand er vor ihr. Was sollte er tun? Er konnte Raynas Frust nachvollziehen. Vermutlich hätte er anders reagiert als sie. Er wäre auf direktem Weg zu Darren gefahren und hätte ihm eine reingehauen. Und genau das war er gerade versucht zu tun. Darren war schuld, dass Rayna litt. Kein Mann hatte das Recht, sie zum Weinen zu bringen, egal ob es ihr Bruder war oder nicht. Er wollte Rayna beschützen. Vor der Welt, vor Männern wie Fraser und ganz besonders vor Darren. Was da in ihm keimte, waren alles andere als brüderliche Gefühle. Verdammt.

Hilflos strich er über Raynas Haar, wollte sie irgendwie trösten. Mit einem Seufzen schlang sie die Arme um seine Mitte und barg ihr Gesicht an seinem Bauch.

Ethan erstarrte. Rayna so dicht an sich zu spüren, hatte absolut nichts mehr mit Trösten zu tun. Wenn sie nur ein wenig tiefer ginge … Er hielt die Luft an, um keine falsche Bewegung zu machen.

Rayna dagegen schmiegte sich an ihn, weinte in sein T-Shirt.

Er musste die Bilder, die Gefühle verbannen. Es war der falsche Zeitpunkt, und er war der Falsche für sie. Sanft strich er über ihr Haar. Es fühlte sich wunderbar weich an, wie es durch seine Finger glitt.

Nach einer Ewigkeit löste sich Rayna von ihm. Eilig trat er zurück, wandte sich ab, damit sie durch die enge Hose nicht seine Bereitschaft mitbekam. In der Küche hatte er doch ein Päckchen Papiertaschentücher gesehen? Er fand sie und legte die Packung vor Rayna ab, während er sich auf die andere Seite des Tisches verkrümelte, um ein wenig Abstand zwischen sie zu bringen.

„Danke, dass du zugehört hast.“ Rayna schniefte in das Taschentuch und wischte sich anschließend mit dem Handrücken über die Augen. Dann lächelte sie ihn an.

Es traf ihn mitten ins Herz und er fühlte sich noch schuldiger als davor. Natürlich hatte er davon gewusst, dass Darren „auf Rayna aufpasste“. Auch wenn er Darrens Methoden nicht guthieß, unternommen hatte er dagegen nichts.

„Ich habe zu Darren gesagt, ich bringe dich später nach Cheetah Manor.“

Rayna blickte zur Seite. „Ich will nicht mit ihm reden.“

„Dann wird er herkommen, und ich weiß nicht, ob das so viel besser ist.“

Sie sah ihn wütend an. „Und was soll ich deiner Meinung nach tun? Ist es in Ordnung, wenn er jeden meiner Schritte von Dritten überwachen lässt? Ich glaube kaum, dass Dave und Alice die Einzigen sind.“

Nein, das waren sie nicht. Da waren noch der Chef vom Sicherheitspersonal und ein paar weitere Studenten, mit denen Rayna regelmäßig Kontakt hatte. Aber er würde nicht derjenige sein, der Rayna das sagte.

„Ich kann an der Uni niemandem mehr trauen. Bei jedem, den ich treffe, muss ich mich fragen, ob er von Darren angestiftet wurde.“

„Jetzt aber mal halblang, Rayna“, versuchte er sie zu beruhigen. „Darren mag seine Fehler haben, aber er tut es doch nur, um dich zu beschützen.“

„Wovor bitte muss er mich beschützen? Ich bin in New Orleans.“

Ethan biss sich auf die Innenseite seiner Wange, um nichts Falsches zu sagen. New Orleans war gefährlich. Die Stadt wimmelte von Chowilawu-Indianern. Und Brains Mörder wurde auch noch nicht gefasst. Solange er nicht herausfand, wer ihn umgebracht hatte, konnte Rayna durchaus in Gefahr schweben.

„Rayna, versuche ihn doch zu verstehen.“

Trotzig verschränkte sie die Arme vor der Brust. „Ich bin keine drei Jahre alt. Wovor auch immer Darren glaubt mich beschützen zu müssen, es rechtfertigt nicht, in meinem Leben zu schalten und walten, wie es ihm gerade passt.“

Ethan nickte. Er saß ziemlich in der Zwickmühle. Dabei verstand er Rayna, aber eben auch Darren, und wenn dieser seiner Schwester mehr erzählen würde, hätte auch Rayna Verständnis für sein Handeln.

„Bitte sag ihm nicht, dass ich bei dir war“, bat Rayna.

Er nickte, war erleichtert, dass sie von sich aus das Thema wechselte.

„Ich bin nächste Woche geschäftlich unterwegs. Wenn du möchtest, kannst du einen Schlüssel zu der Wohnung haben.“ Ethan hätte sich am liebsten geohrfeigt. Warum tat er so etwas? Allein die Vorstellung, sie würde während seiner Abwesenheit hier leben, in seinem Bett schlafen, trieb ihm den Schweiß auf die Stirn.

„Wo fährst du hin?“ Rayna klang ernsthaft interessiert.

„Nach Deutschland. Ich muss dort ein paar Nachforschungen anstellen.“ Er hätte ihr gerne erzählt, dass er nach dem Mann suchte, der Brain umgebracht hatte, damit sich so ein tragischer Unfall nicht noch einmal wiederholte. „Sarah hat mir angeboten, ein paar Tage in ihrem Haus zu wohnen. Wie du weißt, steht es noch immer leer.“

Rayna nickte.

„Und wann fliegst du los?“, wollte sie wissen.

„Morgen gegen acht.“

„Also gut.“ Sie sprang auf. „Fahr mich zum Campus, ich muss mich umziehen, bevor es nach Cheetah Manor geht.“

Verblüfft sah er sie an. Was für ein Sinneswandel. Die verzweifelte, eingeschüchterte junge Frau, die er bei seinem Eintreffen vorgefunden hatte, war binnen Sekunden einer lebenslustigen Rayna gewichen. So kannte er sie, und so mochte er sie noch mehr.

Er stand auf, um den Tisch abzuräumen.

Kapitel 9


Wenig später brachen sie Richtung Campus auf. Während Ethan im Auto wartete, zog sich Rayna schnell um. Alice war nicht da, und das war vielleicht auch gut so. Raynas Wut auf ihre Freundin hatte sich noch nicht gelegt, und sie wusste nicht so recht, wie sie mit ihr umgehen sollte. Etwas Abstand würde ihnen beiden guttun.

Sie hatte auch schon einen Plan, wie sie den Abstand bekommen würde, aber das musste vorerst ihr Geheimnis bleiben. Weder Darren noch Ethan würden ihre Idee gutheißen, und wenn sie davon erführen, würden sie alle Hebel in Bewegung setzen, sie aufzuhalten. Deswegen war es das Beste, sie vor vollendete Tatsachen zu stellen.

Sie legte ein wenig Make-up auf. Mit einer modischen Caprihose, einem ärmellosen Top und bequemen Sandalen kam sie schließlich zum Pick-up zurück. In Ethans T-Shirt und Hose hatte sie sich wohlgefühlt, viel zu wohl, aber nun in ihrer Kleidung war sie wieder Rayna. Eine erwachsene Frau, die das Leben selbst in die Hand nahm, kein verschüchtertes Mädchen, das ihren ersten Rausch inklusive Filmriss erlebt hatte.

Rayna griff nach ihrer Sonnenbrille und machte es sich auf dem Beifahrersitz gemütlich. Ethan lenkte den Pick-up durch New Orleans Richtung Cheetah Manor. Jeder hing seinen Gedanken nach. Er hatte die Musik aufgedreht. Sein Pick-up besaß eine Klimaanlage, ein Luxus, den ihr kleines Auto nicht hatte. Wenn Rayna nach Cheetah Manor fuhr, ließ sie die Fenster herunter, damit ihr der Fahrtwind ins Gesicht wehte und ihr ein klein wenig Abkühlung verschaffte. Dank der Klimaanlage war es auch so angenehm kühl.

„Was soll ich Darren erzählen, wo ich dich gefunden habe?“, fragte Ethan schließlich und schaltete das Radio aus.

Die Schonfrist und die Ruhe waren dahin. Ethan wollte reden. Gut.

Eigentlich hatte er es nicht verdient, dass sie sauer auf ihn war. Ganz im Gegenteil. Ethan hatte sich nicht nur gestern Abend, sondern auch heute Morgen rührend um sie gekümmert. Dennoch konnte sie das beklemmende Gefühl in ihrem Magen nicht abstellen. Lag es daran, dass er der beste Freund ihres Bruders war und damit schon von vornherein auf der falschen Seite stand? Oder weil er sie in ihrem schwachen Moment erlebt hatte – sowohl gestern Nacht als auch heute Morgen?

Rayna stützte den Ellenbogen seitlich an der Tür ab und bettete ihren Kopf darauf. „Erzähl einfach, dass du zum Campus gefahren bist und mich dort eingesammelt hast.“

„Und wo hast du die Nacht verbracht?“

„Bei einer Freundin.“

Rayna war nicht um Antworten verlegen. Jetzt konnte sie nur hoffen, dass Ethan mitspielte.

„Bist du sicher, es ist der richtige Weg, Darren zu belügen?“, fragte Ethan, ohne den Blick von der Fahrbahn zu wenden.

„Das ist mein Problem, und mir gegenüber war er auch nicht ehrlich. Es geht ihn nichts an, was ich treibe, und das werde ich ihm auch in aller Deutlichkeit sagen.“ Rayna holte tief Luft, bevor sie fortfuhr. „Du bist Anwalt, du beherrschst es ausgezeichnet, Leuten das Wort im Mund herumzudrehen.“ Sie hatte Ethan mehr als einmal in Aktion erlebt, und es war jedes Mal phänomenal gewesen. „Kann ich mich auf dich verlassen?“

„Ja, das kannst du“, erklärte er wenig begeistert.

„Ich danke dir.“ Das meinte sie wirklich so.

„Schon gut.“

„Nicht nur, weil du mir Rückendeckung gibst, auch dafür, dass ich heute Nacht bei dir schlafen durfte.“ Sie schluckte. „Und für das Angebot, einen Schlüssel zu deiner Wohnung zu bekommen.“

„Das Angebot steht noch immer.“

„Ich weiß, aber ich gehe nicht davon aus, dass ich es in Anspruch nehmen werde.“ Jetzt musste sie den Mund halten, sonst würde Ethan erahnen, was sie vorhatte. Das durfte nicht passieren. Sie musste ihn vor vollendete Tatsachen stellen, ihm keinen Ausweg lassen. Lächelnd legte sie den Kopf zurück auf die Lehne und schloss die Augen.

„Solltest du es dir anders überlegen, kannst du mich noch bis morgen früh erreichen.“

„Hm …“ , murmelte sie unverbindlich und war wild entschlossen, nicht auf sein Angebot einzugehen. Wenn alles nach Plan lief, wäre sie morgen früh ohnehin nicht mehr in der Stadt.

Kapitel 10


Zwanzig Minuten später fuhren sie die schmale von alten Eichen gesäumte Auffahrt entlang und erreichten schließlich das Hauptgebäude. Es bestand aus einem lang gezogenen Bau mit einem in weiß abgesetzten Vorbau, der von neoklassischen Säulen gestützt wurde. Ethan parkte direkt vor dem Haus.

Rayna stieg aus und sog tief die Luft ein. Es roch nach Cheetah Manor, so sauber und rein, ganz im Gegensatz zu dem Smog in der Stadt. Sie liebte die Baumwollplantage ihrer Familie. Hier war sie zu Hause, hier gehörte sie hin. Auch wenn sie auf Darren sauer war, sie freute sich darauf, Sarah und ihre Mutter zu sehen. Sicher waren sie bei dem schönen Wetter im Garten.

Rayna winkte Ethan ums Haus, der bereits im Begriff war, die Eingangsstufen hinaufzugehen.

„Sie sind bestimmt im Garten“, erklärte sie ihm und ging voran.

Tatsächlich, auf der Terrasse saßen Sarah, Darren und ihre Mutter Moira zusammen. Sie tranken Limonade und unterhielten sich angeregt.

„Rayna.“ Moira Morgan erhob sich überrascht und kam freudestrahlend auf sie zu. „Ich wusste überhaupt nicht, dass du heute kommen wolltest.“ Sie küsste ihre Tochter auf beide Wangen und drückte sie kurz an sich. Dann wandte sich Moira Ethan zu, während Sarah Rayna in Empfang nahm.

„Schön, dich zu sehen. Es tut mir so leid, was Darren da verzapft hat. Du musst wissen, ich hatte keine Ahnung“, flüsterte Sarah ihr eifrig zu, als sich die beiden Frauen umarmten.

„Ich weiß“, seufzte Rayna und blickte ihre Schwägerin an.

Darren trat hinter Sarah hervor. Rayna musste sich zusammenreißen. Die Gepardin wollte die Meinungsverschiedenheit mit einem Kampf aus dem Weg schaffen. Doch gegen ein ausgewachsenes Männchen war das Tier chancenlos und Rayna war nicht bereit, sich Darrens Wünschen unterzuordnen. Also würde sie ihren Streit auf menschliche Art lösen, und so strafte sie ihn mit Nichtachtung und ging ohne Begrüßung an ihm vorbei. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er ihr stirnrunzelnd nachblickte.

„Kommt, setzt euch!“, lud Moira sie ein. „Ich werde Mary bitten, noch etwas Limonade und zwei Gläser zu bringen.“ Geschäftig verschwand sie im Haus.

Rayna setzte sich neben Sarah und schloss für einen Moment die Augen, um den Duft von Cheetah Manor tief in sich aufzunehmen. Wie sehr würde sie die Plantage und alles, was dazugehörte, vermissen. Noch nie hatte sie eine so große Distanz zwischen sich und dem Ort gehabt, an dem die Gepardin verwurzelt war.

„Möchtest du mir erklären, wo du die Nacht verbracht hast?“, schnauzte Darren sie an, als ihre Mutter außer Hörweite war.

„Möchtest du mir erklären, warum du alle meine Freunde bestichst?“, blaffte sie zurück.

Darren verzog wütend das Gesicht und wandte sich dann an Ethan. „Wo war sie?“

Ethan zuckte etwas ratlos mit den Schultern. „Ich bin zum Campus gefahren und habe sie, wie du wünschtest, eingeladen und hergebracht.“

Darren starrte finster zu Rayna. Sie starrte finster zurück. Es war ihm anzusehen, wie auch sein Tier die Auseinandersetzung durch einen Kampf bereinigen wollte. Aber darauf würde sie sich nicht einlassen. Sie würde sich nicht von ihrem großen Bruder einschüchtern lassen. Wenn sie diesen Kampf austrugen, verlöre sie und wäre für immer das kleine schützenswerte Mädchen. Darren musste ein für alle Mal begreifen, dass sie nicht klein beigeben würde und dass sie erwachsen war. Sie würde kämpfen wie eine Raubkatze für ihre Jungen. Das lag ihr im Blut. Aber diesen Kampf würde sie verbal austragen, wie es Menschen für gewöhnlich taten.

„Ich möchte wissen, wo du gewesen bist.“

Rayna biss sich auf die Lippe, um ja keinen Ton zu sagen. Von ihr aus konnte er vor Ungewissheit verrückt werden.

„Sie hat bei einer Freundin geschlafen“, erklärte Ethan ruhig.

„Einer Freundin also. Kenne ich sie?“, richtete Darren das Wort abermals an Rayna.

Sie würde ihm nicht sagen, wo sie gewesen war. Sollte er doch jeden ihrer Freunde durchtelefonieren, niemand würde ihm Auskunft geben können, wo sie die Nacht verbracht hatte. Das erfüllte sie mit einer Spur von Stolz. „Selbst wenn ich unter der Brücke geschlafen hätte, es geht dich absolut nichts an, mit wem und wo ich meine Zeit verbringe.“

„Rayna, ich will dich doch nur schützen.“ Darren merkte wohl, dass er zu weit gegangen war, und versuchte eilig, die Wogen zu glätten.

„Ich mag deine kleine Schwester sein, aber ich bin keine siebzehn mehr. Hast du mitbekommen, dass ich studiere und mein eigenes Leben in New Orleans habe? Ich wasche meine Wäsche selbst, koche für mich und komme wunderbar allein klar.“

„Dagegen sagt doch keiner etwas“, schaltete sich nun auch Sarah in die Unterhaltung mit ein. „Was Darren getan hat, tat er nur, um dich zu schützen.“

„Mich zu schützen?“, blaffte Rayna nun ihre Schwägerin an. „Auf wessen Seite stehst du eigentlich?“

„Ich stehe auf keiner Seite“, verteidigte sich Sarah.

Rayna hob abwehrend die Hand. „Sprich nicht weiter. Ich bin alt genug, meine eigenen Entscheidungen zu treffen, und möchte nicht weiter mit euch darüber diskutieren.“

In diesem Moment kam Moira zurück, und die Unterhaltung war beendet.

„Ich freue mich so über deinen spontanen Besuch.“ Freudestrahlend blickte Moira ihre Tochter an. „Und du bist natürlich auch immer willkommen.“ Sie legte Ethan eine Hand auf die Schulter. „Gibt es einen bestimmten Grund für dein Kommen?“

Ethan lächelte Moira unverbindlich an. „Ich habe später noch etwas mit Darren zu besprechen, aber zuerst genieße ich ein wenig die Sonne.“

Alarmiert blickte Rayna auf.

„Nur ein Auftrag, an dem ich schon länger arbeite“, fügte Ethan hinzu.

Rayna entspannte sich.

Nur mit halbem Ohr folgte sie dem weiteren Gesprächsverlauf. Sarah berichtete von ihrem Job im Krankenhaus. Sie musste dort ein halbes Jahr arbeiten, um eine Zulassung als Ärztin zu bekommen. Danach war geplant, dass sie auf Cheetah Manor eine Praxis eröffnete, für die Bewohner von Cheetahville, die sie schon jetzt behandelte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739456362
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Juni)
Schlagworte
Panther Louisianne Magie Baumwolle Fantasy Gestaltwandler Gepard Freund Plantage Cheetah Liebesroman Liebe Romance Urban Fantasy

Autor

  • Melissa David (Autor:in)

Ich schreibe Bücher, die dein Herz berühren und dich in fantastische Welten abtauchen lassen.
Melissa David wurde 1984 in einem historischen Städtchen in Bayern geboren. Lange bevor sie schrieb, hatte sie den Kopf schon voller Geschichten. Seit 2015 ist sie als Selfpublisherin unterwegs.
Der enge Kontakt zu ihren Lesern ist ihr eine Herzensangelegenheit, die sie über Facebook, ihren Blog und den zweiwöchentlichen Newsletter pflegt.
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Titel: Cheetah Manor - Das Geheimnis des Panthers