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Kruento - Der Diplomat

von Melissa David (Autor:in)
404 Seiten
Reihe: Kruento, Band 2

Zusammenfassung

Ein Nachtclub, ein Undercoverjob und Geheimnisse, die Arnikas Leben für immer verändern

Der Journalistin Arnika ist es gelungen, einen Job als Kellnerin im Club Fiftyfive zu ergattern. Ihr Ziel ist es eine Story über den Inhaber des Nachtclubs zu schreiben, denn Jendrael Collister ist nicht nur ein erfolgreicher Geschäftsmann, sondern auch einer der begehrtesten Junggesellen Bostons.
Verzweifelt setzt Arnika alles daran, in den VIP-Bereich des Clubs zu gelangen. Als es ihr endlich gelingt, betritt sie damit die Welt der Kruento.
Der Journalistin Arnika ist es gelungen, einen Job als Kellnerin im Club Fiftyfive zu ergattern. Ihr Ziel ist es eine Story über den Inhaber des Nachtclubs zu schreiben, denn Jendrael Collister ist nicht nur ein erfolgreicher Geschäftsmann, sondern auch einer der begehrtesten Junggesellen Bostons.

Jedes Buch ist in sich abgeschlossen.

Die Reihe im Überblick
Kruento - Heimatlos (Novelle)
Kruento - Der Anführer (Band 1)
Kruento - Der Diplomat (Band 2)
Kruento - Der Aufräumer (Band 3)
Kruento - Der Krieger (Band 4)
Kruento - Der Schleuser (Band 5)
Kruento - Der Informant (Band 6)

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Klappentext


Der Journalistin Arnika ist es gelungen, einen Job als Kellnerin im Club Fiftyfive zu ergattern. Ihr Ziel ist es eine Story über den Inhaber des Nachtclubs zu schreiben, denn Jendrael Collister ist nicht nur ein erfolgreicher Geschäftsmann, sondern auch einer der begehrtesten Junggesellen Bostons.

Verzweifelt setzt Arnika alles daran, in den VIP-Bereich des Clubs zu gelangen. Als es ihr endlich gelingt, betritt sie damit die Welt der Kruento.

Je näher sie Jendrael kommt, desto schwerer fällt es ihr, eine Titelstory über ihn zu schreiben. Schließlich muss Arnika sich entscheiden - nicht nur ob sie Jendrael verrät, sondern auch, wie ihr zukünftiges Leben aussehen wird.

Impressum


E-Book

1. Auflage Dezember 2015

202-346-01

Melissa David

Mühlweg 48a

90518 Altdorf

Blog: www.mel-david.de 

E-Mail: melissa@mel-david.de 



Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss

www.juliane-schneeweiss.de

Bildmaterial: © Depositphotos.com


Lektorat, Korrektorat:

Jana Oltersdorff



Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form bedürfen der Einwilligung der Autorin.

Personen und Handlungen sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Kruento




Der Diplomat

Band 2


von

Melissa David

Vorwort

Lieber Leser,


dieses Buch enthält ein Glossar, das sich im Anschluss der Geschichte befindet. In diesem Glossar werden unbekannte Begriffe erklärt. Wenn du das Glossar vorab lesen möchtest, bitte hier klicken.

Im diesem Buch habe ich es so gehandhabt, dass ich Begriffe beim ersten Auftauchen ins Glossar verlinkt habe. In der Regel ist dieser unterstrichen. Beim Daraufklicken kommst du direkt zur Erklärung. Mit „zurück“ gelangst du dann wieder zur aktuellen Textstelle.

Ich hoffe, dir ist das Glossar eine Hilfe, um die Welt der Kruento besser zu verstehen. Solltest du technische Probleme haben, kannst du dich gerne unter melissa@mel-david.de an mich wenden.

Du möchtest noch tiefer in die Welt von Kruento eintauchen? Auf meinem Blog findest du spannende Artikel mit Hintergrundinformationen über die Kruento.


Nun wünsche ich dir viel Spaß beim Lesen. Mache dich bereit und tauche ein in die Welt der Kruento.


Deine Melissa David

Kapitel 1


Arnika verfluchte den Tag, an dem sie dem Plan ihres Bosses zugestimmt hatte. Ihre Füße schmerzten in den schwindelerregend hohen High Heels. Die Arme konnte sie kaum noch bewegen. Sie biss die Zähne zusammen und stellte das Tablett auf dem Tresen ab.

„Alles klar?“, fragte Yoola über den Lärm des Nachtclubs hinweg und stellte ihr drei Tequila Sunrise auf das Tablett. Die Discobeleuchtung tauchte die Getränke für einen Moment in ein seltsam grünes Licht.

Arnika nickte dem Barkeeper zu.

Drei Gläser auf dem Tablett zu balancieren, während der Laden brechend voll war, erforderte bereits ihre ganze Konzentration. Es war so warm, dass ihre Bluse unangenehm am Rücken klebte. Kein Wunder, dass die anderen Kellnerinnen nur ein weinrotes Top trugen, auf dem an der Brust das Logo des Clubs und darunter ihr Name prangte. Arnika hoffte, dass sie nach ihrem ersten Tag auch in diese luftige Arbeitsuniform schlüpfen konnte.

In diesem Moment tauchte Inka neben Arnika auf. „Maximal drei Gläser“, wies sie Yoola an und deutete auf Arnikas Tablett.

Dieser nickte der Blondine kurz zu, ehe er ihre Serviertasse mit zwei Daiquiris, einem Manhattan, zwei Fiftyfive und einem Caipirinha belud.

„Du schlägst dich für den ersten Abend ganz gut.“ Inka lächelte ihr zu, drehte sich um und verschwand mit ihrem voll beladenen Tablett in der Menge.

Arnika blickte der Chefservicekraft hinterher, die mit Leichtigkeit die Gläser durch die feiernde Meute manövrierte.

Um keinen Preis der Welt würde sie zugeben, dass dieser Abend sie vollkommen überforderte. Abermals biss sie die Zähne fest zusammen, um den Schmerz in den Armen ertragen zu können, griff nach dem Tablett und machte sich auf den Weg durch die feiernden Clubbesucher, die zu einem schnellen Beat tanzten.

Der Kunde, der die Getränke bestellt hatte, saß natürlich am anderen Ende des Raumes. Arnika seufzte innerlich und zwängte sich an einigen tuschelnden Mädchen vorbei, deren Röcke nur knapp den Po bedeckten.

Wie konnte man hier nur freiwillig arbeiten? Der Job war anstrengend, die Arbeitszeiten unverschämt lang, und ihre Beine brachten sie um. Würde nicht so viel davon abhängen, hätte sie schon längst hingeschmissen. Und je länger sie hier war, umso weniger verstand sie die lange Schlange an Bewerberinnen, die unbedingt in dem angesagten Club arbeiten wollten. Zugegeben, sie hätte nie damit gerechnet, den heiß begehrten Job zu ergattern, nicht bei der Konkurrenz und dem, was andere an Erfahrung mitbrachten. Der unbeugsame Wunsch, es ihrer Familie zu zeigen und allein in Boston zu bestehen, hielt sie davon ab, das Handtuch zu werfen. Sie würde es schaffen – irgendwie.

Ein Typ griff nach ihrem Arm und schrie ihr „Zwei Fiftyfive, Tisch siebenund…“ ins Ohr. Bevor sie sich zu ihm umdrehen konnte, war der Kerl schon wieder zwischen den Gästen untergetaucht. Nervös blickte Arnika sich um und sah zu ihrer Erleichterung, wie der Typ sich an Tisch siebenundzwanzig niederließ. Im Geiste machte sie sich eine Notiz.

Der Cocktail Fiftyfive war das Markenzeichen des Clubs, und Arnika wusste nicht, wie oft sie diesen heute Abend schon serviert hatte.

Mühsam setzte sie ihren Weg fort und war kurz darauf an ihrem Ziel. Den Kerl am Nebentisch, der ihr einen Zettel mit seiner Handynummer zugesteckt hatte und ihr immer wieder zuzwinkerte, ignorierte sie. Stattdessen servierte sie die bestellten Cocktails und nickte dem einzigen Mann am Tisch zu, der ihr scherzhaft eine Kusshand zuwarf. Dieser Clubbesucher hatte, wie alle anderen Kunden auch, seinen Tisch vor Monaten gebucht. Sie lächelte zurück und hielt ihm ihr Bestellgerät hin. Er drückte seinen Daumen auf das Display. Arnika war froh, dass die Getränke am Ende des Abends direkt an der Kasse abgerechnet wurden und sie somit nichts mit der Rechnung zu tun haben würde.

Sie drehte sich um und ließ ihren Blick über die Gäste schweifen. Kaum dass der Club geöffnet hatte, war es hier brechend voll geworden.

Arnika ging ein paar Schritte weiter und nahm die Bestellung für Tisch siebenundzwanzig im System auf. Noch einmal sah sie sich um, ob jemand in ihrem Bereich einen Getränkewunsch hatte. Dank Inka umfasste ihr Zuständigkeitsbereich lediglich acht Tische. Die eingearbeiteten Mädchen hatten bis zu zwanzig Tische zu betreuen und am heutigen Abend, dank ihr, sogar ein paar mehr.

Ihr Rückweg führte am Rand der Tanzfläche vorbei. Inzwischen war die Bühne, auf der gerade zwei der Tänzerinnen ihre Show abzogen, nach oben ausgefahren. Die eine war eine rassige Latinaschönheit. Die Rothaarige besaß etwas weniger Kurven, hatte jedoch unglaublich lange Beine, die sie in diesem Moment um die Tanzstange schlang.

Arnika kam an der Treppe vorbei, die von zwei bulligen Kerlen in Schwarz bewacht wurde. Pide und Cev sorgten dafür, dass niemand Unbefugtes die dritte Ebene betrat.

Sie spähte hinauf und erblickte auf dem oberen Drittel der Treppe einen Mann und eine Frau, die dort stehen geblieben waren. Die Glücklichen, dachte sie, denn dort oben hatten nur ausgesuchte Personen Zutritt. Am Ende der Treppe befand sich eine Plattform, mehr konnte sie nicht erkennen, da die komplette Ebene mit verspiegelten Glasscheiben abgeschirmt war. Immer wieder tauchte das Discolicht die Scheiben in buntes Licht. Einen Blick hindurchzuwerfen, war jedoch unmöglich.

Pide lächelte ihr freundlich zu, und sie blickte schnell fort, da sie nicht wollte, dass er ihr allzu offenkundiges Interesse an der oberen Ebene bemerkte. Arnika ging zwei Schritte weiter und schielte noch einmal hinauf.

Der Mann auf der Treppe drehte sich in diesem Moment herum, und Arnika stockte der Atem. Er war es. Die eine Hand steckte lässig in der Hosentasche seines hellgrauen Anzugs. Die andere war um die Mitte einer brünetten Frau geschlungen. Die Welt schien einen Augenblick stehenzubleiben, während Arnika das Prachtexemplar von Mann anstarrte. Die Bilder, die sie bisher in den Klatschspalten von ihm zu sehen bekommen hatte, vermochten ihm nicht annähernd gerecht zu werden. Was wäre ein Foto und eine halbe Seite Text über ihn wert? Ihr Herz schlug schneller. Gerade strich er sich durch das dunkelblonde kurze Haar. Das unwiderstehliche Lächeln, das er seiner Begleiterin schenkte, machte ihn nur noch attraktiver. Selbst auf die Entfernung strahlte er etwas aus, das Arnika unwillkürlich in seinen Bann zog. Noch nie hatte sie einen Mann gesehen, den eine so anziehende Präsenz umgab.

Sie musste sich zusammenreißen. Ihre Hände umklammerten das Tablett, das sie an ihre Brust drückte, so fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Dann wandte sie sich ab. Sie durfte ihr Ziel nicht aus den Augen verlieren. Bei all dem hier ging es lediglich um einen Artikel. Das Letzte, was sie brauchen konnte, war, den Kopf zu verlieren.

Jendrael Collister, der sagenumwobene Playboy, der ein Geheimnis aus seinem Leben und seinem Umfeld machte, sämtlichen Fotografen gekonnt aus dem Weg ging und immer dort in Boston auftauchte, wo Macht und Geld zu finden waren. Obwohl sie gründlich recherchiert hatte und einiges über ihn wusste, waren ihre Informationen sehr dürftig. Er war Inhaber des Clubs Fiftyfive und diverser anderer Geschäfte. Es gab keine Interviews, Fotos oder pikante Details aus seinem Privatleben. Wenn er in der Öffentlichkeit auftauchte, war immer eine andere Schönheit an seiner Seite: Models, Filmstars und hin und wieder auch unbekannte Mädchen. Mit Durchschnittsfrauen schien er sich jedoch nicht abzugeben.

Arnikas Neugier siegte, und sie blickte erneut nach oben. Gerade beugte der Discobesitzer sich zu seiner Begleitung hinab, die gut zehn Zentimeter kleiner war als er, und flüsterte ihr etwas ins Ohr, woraufhin die Frau in schallendes Gelächter ausbrach.

Dann schob er die Frau weiter nach oben, drehte sich am Ende der Treppe noch einmal um, ließ seinen Blick über die Menge gleiten und sah direkt in ihre Richtung. Plötzlich hielt er inne.

Arnika bekam kaum noch Luft. Das war doch nicht möglich. Ihre Knie wurden weich. Sie wollte und konnte ihren Blick nicht abwenden. Seine Augen schienen sie festzuhalten und sich tief in ihr Innerstes zu bohren.

Ihr schwindelte. Der Club verschwamm vor ihr, sie taumelte. Sofort war Cev an ihrer Seite, um sie zu stützen.

„Die Luft hier drinnen kann manchmal etwas stickig sein“, meinte er mit tiefer Stimme.

Arnika machte sich schnell von ihm los. Sie wollte nicht schwach wirken. Schnell sah sie sich um und atmete erleichtert auf, dass niemand ihr Missgeschick mitbekommen hatte.

„Mir geht es gut. Alles okay“, erklärte sie hastig und drückte das leere Tablett schützend an ihre Brust.

„Vielleicht ist es besser, du setzt dich einen Moment hin“, schlug Pide vor und deutete auf die Tür, auf der in weißen Lettern ‚Privat‘ stand.

Arnika schüttelte den Kopf.

„Danke! Alles bestens. Ich muss weitermachen.“

Sie eilte davon und hoffte, dass keiner der beiden Inka von ihrem kleinen Zusammenbruch erzählen würde. Schließlich war sie hier auf Probe angestellt, und sie wollte, nein, sie musste diesen Job unbedingt behalten. Sie wollte sich durch die paar Sekunden Schwäche nicht ihre ganze Arbeit zunichtemachen.

Auf dem Weg zur Bar, wo Yoola mit den Cocktails auf sie wartete, kreisten ihre Gedanken um ihren neuen Chef. Hatte er wirklich sie angesehen? Im Prinzip war es egal, es war nur eine Frage der Zeit, bis sie hinter sein Geheimnis kam. Etwas anderes blieb ihr nicht übrig. Alle erfolgreichen Männer hatten ein kleines, schmutziges Geheimnis. Man musste nur tief genug graben.

„Gab es Probleme, weil du so lange bei der Security warst?“, erkundigte Yoola sich.

Arnika verneinte, griff schnell nach der nächsten Serviertasse und balancierte die drei Gläser abermals durch die Menschenmenge.


* * *


Gelangweilt blickte Jendrael auf die Frau zu seiner Linken, die ihren vollen Busen aufreizend an seinem Arm rieb. Er war durstig, das war der einzige Grund, warum er im Fiftyfive aufgetaucht war. Seine Angestellten hatten alles unter Kontrolle und brauchten seine Hilfe nicht.

Sein Schädel pochte unaufhörlich, ein Zeichen, dass er viel zu lange kein Blut mehr zu sich genommen hatte. Die schrille Stimme seiner Begleiterin drang zu ihm durch. Sie plapperte irgendetwas Unsinniges, Belangloses. Abwesend lächelte er sie an, damit er wenigstens den Eindruck erweckte, bei der Sache zu sein. Zielstrebig schob er sie auf die Metalltreppe zu, vorbei an Cev und Pide.

Der beißende Gestank nach Schweiß und Alkohol verflüchtigte sich, ebenso wie der hämmernde Beat, der den Herzschlag der Menschen und das Rauschen ihres Blutes übertönte. Seine Begleiterin blieb mitten auf der Treppe stehen, zog an seinem Arm und deutete auf die Bühne, die sich ein ganzes Stück unter ihnen befand. Dort rekelten sich gerade zwei seiner Tänzerinnen an einer Stange. Sie waren umringt von dutzenden, grölenden Männern. Etwas Ungewöhnliches konnte er an dem Bild, das sich ihm bot, nicht finden. Um die Tanzfläche herum standen weiße Ledercouches, welche durch die einseitig offene Form einem angebissenen Donut ähnelten. In der Mitte befand sich jeweils ein kleiner Holztisch, auf dem ein Eiskübel und die Getränkekarte zu finden waren. Doch auch hier fand er nichts Auffälliges. Während in der ersten Ebene, im öffentlichen Teil seines Clubs, Selbstbedienung herrschte und nur zwei Bottle-Catcher die Gläser und Flaschen wieder einsammelten, waren in der zweiten Ebene, wo die gehobene Gesellschaft feierte, eine Handvoll Kellnerinnen damit beschäftigt, Snacks und vor allem Getränke an die Tische zu bringen. Kein freier Sitzplatz war mehr zu finden – wie an jedem Abend. Eigentlich sollte ihm das eine gewisse Befriedigung verschaffen, doch nichts als Leere breitete sich in seinem Inneren aus.

Die Frau an seiner Seite drehte sich gerade zu ihm um. „Ich war noch nie hier oben“, erklärte sie ihm strahlend.

Jendrael reagierte nicht darauf. Er wusste nicht einmal ihren Namen. Cathleen, Cathrin, Catharina, … Es interessierte ihn nicht. Er hatte sie ausgewählt, weil ihm ihre braunen Haare gefielen und er nach der Nahrungsaufnahme noch etwas Gesellschaft gebrauchen konnte. Die unechten und viel zu langen Wimpern entsprachen absolut nicht seinem Geschmack. Davon abgesehen war sie aber recht hübsch. Und sie war einfach gestrickt. Er war kurz in ihrem Kopf gewesen und hatte festgestellt, dass sie ein williges Opfer abgab. Es würde ihn kaum Anstrengung kosten, ihre Erinnerungen an den Abend zu manipulieren.

Jendrael beugte sich zu der Frau hinunter. „Es wird mir eine Ehre sein, dir die dritte Ebene zu zeigen. Allerdings würde ich mit dir gerne in mein Büro gehen. Da sind wir ungestört.“ Er wusste, dass er für die Frau lockend und einladend klang, als ob er das nötig gehabt hätte.

Die Brünette warf die langen Haare in den Nacken und lachte laut und schrill.

Bestimmt schob er sie die Treppe hinauf. Ein letztes Mal ließ er seinen Blick über die Tanzenden schweifen und hielt inne, als er katzengrünen Augen begegnete. Eine junge Frau, Ende zwanzig, stand am Fuß der Treppe und blickte zu ihm hinauf. Sie trug eine Bluse des Clubs und musste die neue Kellnerin sein, von der Abeline ihm berichtet hatte. Ihre langen, schlanken Beine steckten in engen Jeans. Sie strich sich gedankenverloren eine Strähne des blonden Haares hinter das Ohr. Jendrael konnte seine Augen nicht von ihr abwenden. Er sah, wie ihr die Beine wegknickten und Cev sie stützte. Mit aller Anstrengung biss er die Zähne zusammen, kämpfte gegen das Ausfahren seiner Eckzähne an, die sich aus seinem Kiefer schieben wollten. Er verkrampfte sich. Der Drang, sie zu berühren, überkam ihn aus so heiterem Himmel, dass er um ein Haar über die Brüstung gesprungen wäre und Cev beiseite gestoßen hätte.

Er musste sie besitzen. Diese Gefühle waren so falsch wie die Wimpern seiner Begleitung. Mit aller Kraft drängte er die ungebetenen Regungen fort. Sie war eines seiner Mädchen und damit für ihn tabu, wie alle seine Bediensteten. Seine eigenen Regeln galten auch für ihn, und bisher hatte er nie Schwierigkeiten gehabt, sich daran zu halten. Was war an diesem Mädchen anders?

Die neue Servicekraft drückte das Tablett eng an die Brust und redete mit Cev und Pide. Er versuchte zu lauschen, der Geräuschpegel überstieg aber die Möglichkeiten seines ausgezeichneten Gehörs.

Dann drehte sie sich um und ging davon.

Jendrael verlor sie in der Menge aus den Augen. Er atmete tief ein und erhaschte ihren Geruch. Rose und Jasmin und ihr ganz eigener Duft, der ihn an Mandeln erinnerte. Das Gefühl, etwas verloren zu haben, machte sich in seiner Brust breit. Es wurde immer größer und fraß sich tief in sein Herz.

„Und wo ist nun dein Büro?“, fragte die Frau, die sich suchend in seinem Arm umdrehte.

Jendrael strich sich mit der Zunge über die Unterlippe. Er war durstig. Vermutlich vernebelte der Hunger sein Gehirn. Genau, das war es.

„Komm mit. Wir müssen auf die andere Seite.“

Sie hakte sich bei ihm unter und stolzierte neben ihm her, vorbei an der leeren Bar, hinter der ein Vampir namens Colan Dienst hatte.

Jendrael schüttelte den Kopf, als dieser ihn fragend ansah und wissen wollte, ob er der Frau einen Drink bringen sollte.

Auf der gegenüberliegenden Seite befanden sich die offenen Sitzgruppen vor der Glasfront, durch die man einen wunderbaren Blick über die erste Ebene hatte. Weiter vorne lagen diverse kleinere Separees, deren Fenster in Richtung zweiter Ebene ausgerichtet waren. Jendrael wollte mit der Frau weder den öffentlichen Bereich noch die kleinen abgetrennten Räume aufsuchen und schob sie deshalb an allem vorbei. Die Tür zum letzten Separee stand offen. Gregorio und Rosario Garcia Martinez saßen darin.

Buenas noches“, grüßte der Soya. Zumindest Gregorio beherrschte seine Muttersprache, schließlich war er im heutigen Spanien zur Welt gekommen. Seine Brüder Manila und Rosario jedoch waren bereits hier in Boston geboren.

Hola, Soya.“ Rosarios Spanisch klang ebenso Amerikanisch wie sein eigenes.

Jendrael blieb stehen. Gerne wollte er so schnell wie möglich mit seiner Beute in seinem Büro verschwinden, aber ein paar Minuten Zeit war er den Brüdern schuldig.

„Alles zu eurer Zufriedenheit?“, wollte Jendrael wissen.

„Bestens, gracias.“

„Ihr wisst, dass ihr euch jederzeit in den unteren Ebenen bedienen dürft.“

„Das hat Rosario schon getan, mir ist gerade nicht danach“, erklärte Gregorio.

„Ihr habt ja überhaupt nichts zu trinken“, rief Jendraels Begleiterin in diesem Moment entsetzt.

Nein, wegen ihrer Intelligenz hatte er sie bestimmt nicht mit nach oben genommen. Aber wer wollte schon mit ihr reden?

„Aber, tía buena, wir bekommen unsere Getränke gleich“, erklärte Gregorio liebenswürdig und schenkte der Brünetten ein Lächeln.

„Ach so. Na dann …“

Die junge Frau ließ sich problemlos mit der Ausrede abspeisen.

„Vielleicht sehen wir uns später wieder, ansonsten bis bald.“ Jendrael nickte den Brüdern zu und schob das Mädchen weiter. Sie drehte sich noch einmal um und winkte den Männern kokett zu.

„Waren das Freunde von dir?“, wollte sie wissen und schmiegte sich in seinen Arm.

„So etwas Ähnliches.“

„Ich fand sie sehr nett.“

„Hmm …“

„Vor allem gefällt mir die italienische Sprache.“

Jendrael verzichtete, sie darauf hinzuweisen, dass es sich um Spanisch handelte. Sie erreichten den Flur, von dem zur linken Seite drei Türen abgingen. Hinter der ersten Tür befand sich ein kleiner Raum, der als Abstellkammer genutzt wurde. Daneben lag das Büro von Abeline, die als Geschäftsführerin fungierte. Seit sie die Aufgabe übernommen hatte, war der Club noch bekannter und beliebter geworden. Sie war eine gute Wahl gewesen, und sein Freund Whot war immer noch froh, dass seine Schwester eine sinnvolle Aufgabe gefunden hatte, bei der sie sich austoben konnte und nicht ihre ganze Zeit und Energie in Shopping und diverse andere Nichtigkeiten investierte.

Hinter der letzten Tür verbarg sich sein Büro, sein Rückzugsort. Wann immer ihm der Trubel im Club zu viel wurde, zog er sich hierher zurück. Und manchmal benutzte er die Abgeschiedenheit auch, um – so wie jetzt – mit einer Frau ungestört zu sein. Seine Räume waren besonders schallgeschützt, so dass auch vampirische Ohren vergebens lauschten. Die Kleine konnte also schreien, wie sie wollte. Niemand würde sie hören.

Jendrael öffnete die Bürotür und ließ seiner Begleitung den Vortritt.

Zögernd trat sie über die Schwelle und blieb überwältigt stehen. „Wow, wie abgefahren ist das denn?“ Beeindruckt starrte die junge Frau die Fensterfront an, die mit ihren verglasten Rundbögen einen zauberhaften Ausblick über das nächtliche Boston bot. Die Krönung war die gläserne Kuppel über ihnen, durch die man das sternenübersäte Firmament bewundern konnte.

Die Tür fiel ins Schloss. Jendrael trat näher an die Frau heran. Er packte sie am Arm, während er mit der anderen Hand das lange Haar beiseiteschob und ihren Nacken entblößte. Seine Fänge schossen beim Anblick ihres verletzlichen Halses hervor, das Wasser lief ihm im Mund zusammen.

„Du musst sehr reich sein, wenn du dir so ein Büro leisten kannst.“

Er stöhnte innerlich auf, wünschte sich, sie möge einfach ihren Mund halten. Mit der Zunge strich er über seine Lippen, um sie anzufeuchten. Dann beugte er sich über sie und hauchte ihr einen Kuss in die Halsbeuge.

„Wollen wir uns nicht setzen?“ Ihr Geplapper ging ihm auf die Nerven.

„Halt einfach den Mund“, stieß er undeutlich hervor. Sie wollte sich umdrehen, doch er hielt sie fest. „Genieß den Ausblick“, flüsterte er in ihr Ohr und küsste sie auf die empfindliche Stelle dahinter.

„Wirklich wunder…“, weiter kam sie nicht.

Blitzschnell gruben sich seine Zähne in ihren Hals. Er bemerkte, wie sie sich für eine Sekunde versteifte, dann jedoch nachgab und in seinen Armen dahinschmolz.

Er trank gierig von ihr, spürte, wie sie ihn stärkte und dabei immer mehr an eigener Kraft verlor. Ihr Lebenssaft schmeckte süß auf seiner Zunge. Langsam wanderte seine rechte Hand an ihrem Körper hinab, schob sich zwischen ihre Beine. Sie stöhnte willig in seinem Arm. Oh ja, sie war bereit. Ihr Slip war bereits nass. Er merkte, wie das frische Blut, das nun in seinem Körper pulsierte, direkt in seine Lenden schoss. Während er seine Zähne aus ihrem Fleisch zog und mit der Zunge über die Wunden strich, die sich sofort zu schließen begannen, überlegte er, wo er sie am besten nehmen sollte. Er konnte ihr das Höschen ausziehen, den Rock hochschieben und sie direkt auf dem geräumigen Teakholzschreibtisch vögeln. Oder er stellte sie davor und drang von hinten in sie ein. Egal, er wollte sie nur schreien hören.

„Mein Gott“, murmelte die junge Frau in seinen Armen benommen und lehnte sich Halt suchend mit dem Rücken an ihn.

Er glitt mit seiner Hand in ihr Höschen, fand dort noch mehr Nässe und drang mit einem Finger in sie ein.

Sein Schwanz war steinhart. Er wollte endlich in ihr sein. Ohne Rücksicht auf sie zu nehmen, hob er sie einfach hoch und stand in der nächsten Sekunde vor seinem Tisch. Die Frau saß breitbeinig vor ihm auf der Tischkante und stöhnte willig. Sie hatte nicht einmal ihren Ortswechsel bemerkt. Er hatte keine Lust, ihr das Höschen auszuziehen, sondern riss einfach daran. Der feine Stoff gab sofort nach.

„Deine Augen“, murmelte sie fassungslos und wollte ihn ein wenig von sich fort drücken.

Erbarmungslos nahm er von ihrem Mund Besitz. Er wusste, dass seine Augen glühten. Er war erregt.

Die Frau hatte ihren Einwand längst vergessen und gab sich ganz seinen Berührungen hin. Ihre Schreie hallten wie Musik in seinen Ohren. Seine Gespielin sah ihn aus ihren langweiligen blauen Augen an. Die Farbe stimmte nicht. In seinem Geist tauchten die katzengrünen Augen der blonden Kellnerin auf, und er bildete sich ein, einen Hauch von Rose, Jasmin und Mandeln wahrzunehmen. Augenblicklich war die Begierde verschwunden. Seine Hand noch immer am Reißverschluss seiner Anzughose, ging er einen Schritt zurück.

Die braunhaarige Schönheit lag entblößt auf seinem Schreibtisch, klimperte mit ihren falschen Wimpern und starrte ihn an. Zumindest hielt sie den Mund und verschonte ihn mit ihrem sinnlosen Geplapper.

Er besann sich, verdrängte die Gedanken an die Frau, die für ihn tabu war und überlegte, ob er sein Intermezzo beenden oder da weitermachen sollte, wo er gerade aufgehört hatte. Es gelüstete ihn nicht mehr danach, sich zwischen ihre Beine zu drängen und wild in sie zu stoßen.

Jendrael hatte seine Entscheidung getroffen.

Mit Leichtigkeit drang er stattdessen in ihren Geist ein, pflanzte ihr einige Bilder an den Tanz mit einem aufregenden Mann in der zweiten Ebene ein und schickte sie anschließend wieder auf die Tanzfläche zurück. Anstandslos zupfte sie ihr Kleid zurecht und ging, ohne sich von ihm zu verabschieden. Schließlich konnte sie sich nicht mehr an ihn erinnern und würde auch nie wissen, dass sie hier oben gewesen war.

Kapitel 2


Ganze drei Tage arbeitete Arnika nun schon hier im Club, und noch immer war sie Jendrael Collister keinen Schritt näher gekommen als an ihrem ersten Abend. Seitdem hatte er sich nicht mehr blicken lassen. Arnika war allein im Aufenthaltsraum. Sie hängte ihre Jacke in den Spind. Die anderen Mädchen vom Service befanden sich bereits im Gästebereich, während die Tänzerinnen für gewöhnlich noch nicht so früh am Nachmittag erscheinen mussten.

Inka stand in der Tür. Arnikas Vorgesetzte trug ihre blonden Haare auf einer Seite abrasiert und auf der anderen Seite zu einem frechen Bob geschnitten. Ein Piercing zierte ihre Unterlippe. Trotz ihrer manchmal verrückten Art war Inka immer freundlich und irgendwie bodenständig.

Gerade verschränkte sie die Arme vor der Brust: „Da bist du ja. Ich habe dich schon gesucht. Nachdem schon alle da sind, werden wir gleich anfangen.“

„Klar, ich komme sofort.“ Arnika schloss die Tür zu ihrem Spind.

„Nicht in Turnschuhen“, meinte Inka kopfschüttelnd.

Arnika blickte an sich hinab. Sie trug ein weißes, langärmeliges Shirt, eine bequeme Jeans und Turnschuhe. Die letzten Tage war ihre Kleidung bei der nachmittäglichen Besprechung kein Problem gewesen.

„Wir werden heute eine Trainingseinheit machen. Alle Mädchen. Abeline ist da und möchte eure Fortschritte sehen.“

Arnika seufzte. Sie hatte sich darauf eingestellt, erst in einer Stunde mit dem Training zu beginnen und ihre bequemen Schuhe gegen Pumps zu tauschen, um Orangen durch die Gegend zu tragen. Dass sie heute gleich damit anfangen sollten …

„Keine Sorge, du hast dich ordentlich entwickelt“, meinte Inka augenzwinkernd.

Genau das war ein Grund, warum Arnika sie so mochte. Sie verstand es, die Mädchen immer wieder neu zu motivieren und noch mehr aus sich herauszuholen, ohne sie dabei zu überfordern.

„Ich komme gleich.“ Arnika öffnete ihren Spind erneut und holte ihre High Heels heraus.

Während Inka wieder verschwand, tauschte Arnika die Turnschuhe gegen ihre hohen Absatzschuhe aus. Gerade als sie fertig war, läutete ihr Handy. Eilig kramte sie in ihrer Handtasche und zog das Mobiltelefon hervor. Auf dem Display stand ein ihr wohlbekannter Name. Frank Schuster, ihr Boss. Sie konnte ihn unmöglich ignorieren.

„Hallo“, meldete sie sich und versuchte, leise zu sprechen.

„Na endlich“, schimpfte er ins Telefon. „Du hältst es wohl auch nicht für nötig, dich bei mir zu melden.“

„Tut mir leid“, entschuldigte sie sich kleinlaut.

„Also, wie sieht es bei dir aus?“

„Ich bin noch immer im Club. Collister habe ich noch nicht kennengelernt, aber das kann sich nur noch um ein paar Tage handeln.“

Er schnaubte. „Schon irgendwelche Fotos gemacht?“

„Ich kann im Moment nicht reden. Befinde mich gerade im Club. Wir haben jetzt Lauftraining, und die Chefin wird zuschauen.“

„Dann stell dich verdammt noch mal gut an!“, wies er sie an.

„Das werde ich.“ Arnika verdrehte die Augen. Natürlich würde sie ihr Bestes geben. Sie war doch nicht auf den Kopf gefallen.

„Und melde dich die Tage.“

„Ja.“ Noch ehe sie eine Verabschiedung murmeln konnte, war die Leitung unterbrochen.

Auch gut. Eilig stellte sie ihr Telefon auf lautlos und verstaute es wieder. Dann machte sie sich auf den Weg in den Gästebereich der zweiten Ebene.

Die anderen Mädchen waren bereits damit beschäftigt, ihre Runden zu drehen. Über ihnen waren – ungewöhnlich für den Nachmittag – sämtliche Scheinwerfer an. Doch dann erblickte Arnika zwei Techniker. Einer von ihnen stand auf einer Leiter und schraubte die kaputten Birnen heraus, während der andere ihm diese abnahm und die neuen reichte. Das erklärte natürlich die auffällige Beleuchtung. An der Bar verglich Yoola gerade die Lieferpapiere mit seiner Bestellung. Auf dem Tresen stand ein einzelnes Tablett, das mit Orangen bestückt war.

Eilig griff sich Arnika das Serviertablett und eilte zum ersten Tisch. In den leeren Kübel, der am Abend mit Eis gefüllt wurde, legte sie die erste Frucht und ging dann zum nächsten weiter. Von Tisch zu Tisch wurde es schwieriger, das Tablett auszubalancieren, weil die Orangen hin und her rollten. Trotz allem schlug sich Arnika ihrer Ansicht nach wirklich gut. Die anderen Mädchen waren deutlich schneller als sie, aber sie merkte, dass ihr die Übung leichter fiel als am ersten Tag.

Inka saß zusammen mit der Chefin des Fiftyfive, Abeline, auf Barhockern am Tresen. Während die beiden Frauen sich leise unterhielten, sahen sie den Servicekräften zu. Hin und wieder machte sich Inka eine Notiz.

Arnika schielte immer wieder zu den beiden hinüber. Heimlich musterte sie ihre Chefin. Hochgewachsen, schlank und mit wunderbaren Kurven an den richtigen Stellen, konnte sie jedem Model Konkurrenz machen. Die rötlichen Haare hatte sie zu einem losen Dutt zusammen gesteckt, so dass ihre asiatischen Gesichtszüge noch besser zur Geltung kamen. Etwas umgab die Frau, das sie einfach ungemein anziehend machte.

Arnika riss ihren Blick los und richtete ihre Aufmerksamkeit auf den nächsten Kübel, um von dort eine der Orangen abzuholen.

„Lilly, nicht so verkrampft. Lächle ein wenig“, rief Inka einem der Mädchen zu. „Ja, genau so.“

Arnika warf einen Blick auf Lilly, mit der sie am vergangenen Abend das erste Mal zusammengearbeitet hatte. Sie sah aus wie immer. Die knallroten, schulterlangen Haare trug sie offen, die unglaublich blauen Augen strahlten aus einem freundlich lächelnden Gesicht.

„Okay, Mädels. Macht diese Runde noch zu Ende, dann habt ihr euch eine kleine Pause verdient, bevor es an die Abendvorbereitungen geht.“

Arnika stöhnte innerlich auf. Soeben hatte sie eine neue Runde angefangen. Das hieß, noch einmal alle Orangen verteilen und wieder einsammeln.

Etwas veränderte sich. Es war nicht wirklich greifbar, aber die Stimmung im Club hatte umgeschlagen. Arnika drehte ihren Kopf.

Er.

Sie erstarrte eine Sekunde und musste sich zusammenreißen, um wie gewohnt weiter zu machen. Er stand auf der obersten Treppenstufe zur dritten Ebene und blickte zu ihnen herab. Dabei sah er noch besser aus als vor drei Tagen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich unwillkürlich, fast wäre sie gestolpert. Gerade noch rechtzeitig konnte sie sich mit einer Hand an einem Tisch abstützen und ihr Gleichgewicht wiederfinden. Verdammt.

„Pass doch auf!“, rief ein anderes Mädchen, in das Arnika fast hineingelaufen wäre.

„Tut mir leid“, entschuldigte sie sich schnell und blickte erneut zur Treppe hinauf. Diese war leer. Enttäuscht, aber irgendwie auch erleichtert, atmete Arnika aus. Das Lauftraining ging reibungslos weiter.

„Das war wirklich gut, Mädchen!“, erklärte Abeline schließlich, als die meisten Mädchen bereits ihr Training beendet hatten. „Ich bin sehr zufrieden mit euch.“ Abeline wandte sich an Inka, die neben ihr stand, und wechselte noch ein paar Worte mit ihr, ehe sie Richtung Treppe hinauf in ihr Büro ging.

„Die Qualitätskontrolle ist beendet. Wer fertig ist, darf sich flache Schuhe holen. Zehn Minuten Pause, dann will ich euch wiedersehen.“

Inkas Worte wurden mit großer Freude aufgenommen. Alle außer Arnika waren schon fertig und gingen in die Aufenthaltsräume, um dort ihre Schuhe zu wechseln.

Arnika hatte noch drei Orangen vor sich. Bis auf Inka und Yoola, die sich unterhielten und gerade herzhaft lachten, war niemand mehr da. Arnika war gerade dabei, die letzten zwei Orangen einzusammeln, als sie mit ihrem Absatz irgendwo hängen blieb. Sie schwankte, hatte Mühe, das Tablett zu halten und als sie schon glaubte, es wieder unter Kontrolle zu haben, knickte sie mit dem anderen Fuß um und verlor endgültig das Gleichgewicht. Die Orangen purzelten auf den Boden und rollten in alle Himmelsrichtungen davon, das Tablett schepperte auf den Fliesen, als Arnika stürzte. Gerade noch rechtzeitig riss sie die Hände hoch, um sich abzufangen, ehe sie auf der Nase landete und ihr Gesicht Bekanntschaft mit dem Boden machte.

„So ein Mist“, schimpfte sie und rappelte sich wieder auf, griff das Tablett neben sich und sammelte die verstreuten Orangen ein.

Eilig stapelte sie eine nach der anderen auf das runde Plastik. Eine Frucht war unter einen der kleinen Tische gerollt, also bückte sie sich und holte sie hervor. Am Boden, auf allen Vieren, blickte sie sich um und sah noch eine Orange. Sie lag keinen Meter von ihr entfernt, direkt vor zwei schicken, schwarzen Schuhen. Erschrocken hielt sie inne und blickte den Träger des Schuhpaares von unten an. Die Schuhe gehörten keinem Geringeren als ihrem neuen Chef Jendrael Collister höchstpersönlich. Die Röte schoss ihr in die Wangen, und sie senkte schnell den Kopf, damit er es nicht sah.

„Tut mir leid!“, murmelte sie, inzwischen hochrot und griff nach der Orange. Gleichzeitig bückte er sich und wollte nach der Frucht greifen.

Arnika ließ das Stück Obst los, als hätte sie glühende Kohle in der Hand. Schnell zog sie sich zurück und rappelte sich hoch. Ihr Chef richtete sich ebenfalls auf.

„Das ist Arnika, unsere Neue“, erklärte Abeline in diesem Moment spitz und trat an die Seite des Clubinhabers.

Wo kam Abeline so plötzlich her? Hatte sie ihr Missgeschick ebenfalls gesehen? Das konnte doch nicht wahr sein. Arnika hoffte inständig, dass sie dieser Patzer nicht den Job kostete. Wenn sie das vermasselte, konnte sie Frank Schuster nicht mehr unter die Augen treten. Nein, das durfte nicht geschehen. Sie musste alles daran setzen, um mehr über den Mann vor sich zu erfahren. Reiß dich zusammen, Arnika!, ermahnte sie sich selbst.

„Freut mich. Ich bin Jendrael“, stellte er sich vor und hielt ihr die aufgesammelte Orange hin.

Kurz stutzte sie, doch dann fiel ihr wieder ein, was ihr Inka am ersten Abend erklärt hatte: „Wir sind alle wie eine große Familie.“ Dass diese Regelung sogar den Chef mit einschloss, überraschte sie sehr.

„D… Danke“, stotterte sie etwas hilflos und nahm die Frucht entgegen, darauf bedacht, ihn nicht zu berühren.

Seine eisblauen Augen musterten sie kühl. Es fühlte sich an, als blicke er ihr tief in die Seele, als könne er alle Geheimnisse, allein mit diesem einen Blick ergründen. Die Atmosphäre war seltsam schwer, erdrückend.

„Ein ungewöhnlicher Name. Woher kommt er?“, fragte Jendrael und wandte seine Augen keine Sekunde von ihr ab.

„Ich … Arnika … ist …“ Sie holte noch einmal tief Luft und erklärte: „Arnica chamissonis ist eine Blume. Meine Mutter hat mich nach einer Blume benannt.“

Es sollte nicht wie ein Vorwurf klingen, und doch war es einer. Spätestens als sie in die Schule gekommen war, hatte sie den Namen gehasst. Hätte sich ihre Mutter nicht Rose, Margerite, Jasmin oder Iris aussuchen können? Nein, es musste ausgerechnet Arnika sein. Eine hässliche gelbe Blume, die in Vorgärten oder auf Wiesen wuchs und in der Medizin bekannter war als im Namenslexikon.

„Arnika. Ein besonderer Name.“

Ein seltsames Kribbeln durchlief ihren Körper, als Jendrael Collister ihren Namen das erste Mal aussprach. Aus seinem Mund hörte es sich fast wie eine Liebkosung an. Ihre Kehle war plötzlich trocken, und sie starrte atemlos auf seine schwarzen Schuhe. Sie war sicher, wenn sie ihm jetzt in die Augen blicken würde, wäre es aus mit ihrer Selbstbeherrschung. Dann würde sie vergessen, was ihr Ziel war, würde sich nicht mehr erinnern können, warum sie hergekommen war.

„Danke“, hauchte sie atemlos und biss sich auf die Lippe, bis es schmerzte. Zumindest verhinderte sie so, dass ein weiteres Wort ihren Mund verließ und sie sich noch tiefer in die Misere ritt. Sie schmeckte Blut und fuhr mit der Zunge darüber, um den Blutstropfen aufzulecken.

Jendrael Collister murmelte eine unverständliche Entschuldigung, packte Abeline am Arm und zog sie überstürzt mit sich fort.

Arnika blieb zurück. Verdammt! Hatte sie nun alles verbockt? Sie hatte sich angestellt wie ein unbeholfener Teenager. Sie unterdrückte die aufsteigenden Tränen, sammelte die letzte Orange ein und stellte das Tablett zu den anderen auf den Tresen.

„Na, den Chef kennengelernt?“, fragte Yoola unbekümmert.

Arnika warf ihm einen verzweifelten Blick zu. „Ich hoffe, er bleibt mein Chef.“

Yoola lachte auf.

„Frag mal Inka, wie ihre erste Woche hier verlaufen ist.“ Er warf der jungen Frau, die soeben aus dem Lager gekommen war und seine letzten Worte gehört haben musste, ein schalkhaftes Grinsen zu.

„Du musst nicht alte Geschichten wieder aufwärmen“, schimpfte sie und kniff Yoola in die Wange. „Wenn du Arnika auch nur ein weiteres Wort verrätst, erzähle ich ihr all deine schmutzigen Geheimnisse.“ Ihre Warnung war nicht wirklich ernstzunehmen, doch Yoola verstummte und zuckte mit den Schultern.

„Ab mit dir. Die Pause ist gleich vorbei“, schickte Inka sie nun in den Aufenthaltsraum, um dort in bequeme Schuhe zu schlüpfen.

Das ließ sich Arnika nicht ein weiteres Mal sagen.

Der Raum war voller als gewöhnlich. Inzwischen waren die zwei Tänzerinnen für die erste Schicht eingetroffen. Arnika nickte Chloe und Oliv grüßend zu, ehe die zwei an ihr vorbei aus dem Raum huschten. Einige Mädchen saßen an einem Tisch zusammen und unterhielten sich. Als Arnika zu ihrem Spind ging, verstummten sie. Etwas verunsichert ging Arnika an ihnen vorbei.

„Ich habe gesehen, wie du ihn angeschmachtet hast.“ Emma funkelte sie an.

Arnika blieb stehen und drehte sich zu der Kollegin um, die mit ihrem runden Gesicht und den grünen Augen stets die Männerwelt verzauberte.

„Und?“, fragte Arnika und vermutete, dass das nur der Anfang war.

Emma verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust. „Du hast keine Chancen bei ihm.“ Eine Welle von Missgunst und Verachtung schwappte zu ihr herüber. Zwei weitere Mädchen hatten sich hinter Emma gestellt.

Arnika griff nach dem Anhänger ihrer Kette, dem Bostoner Wappen, und betrachtete Emma nachdenklich. Sie wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Einerseits war ihr Jendrael als Person egal, andererseits würde sie alles daran setzen, um näher an ihn heranzukommen. Aber das konnte sie ihren Kolleginnen natürlich schlecht sagen.

„Emma will damit nur sagen, dass Jendrael keines von uns Mädchen jemals eines zweiten Blickes gewürdigt hat“, versuchte Lilly die Situation zu entschärfen.

„Okay“, meinte Arnika gelassener, als sie sich fühlte und ließ ihren Blick von Emma zu Lilly und wieder zurückwandern.

„Wir werden dich beobachten.“ Emma zog wartend eine perfekt nachgezogene Augenbraue nach oben.

„Tut das.“ Damit schob Arnika sich endgültig an ihnen vorbei zu ihrem Spind und holte ihre Schuhe heraus. Es tat gut, aus den engen High Heels zu schlüpfen. Sie bewegte die Zehen ein wenig, ehe sie die Turnschuhe anzog.

Hoffentlich merkte keiner, wie aufgewühlt sie war. Verstohlen sah sie sich um. Die Mädchen hatten sich wieder an den Tisch zurückgezogen. Jendrael Collister sah verdammt gut aus, daran bestand überhaupt kein Zweifel. Doch sie wollte mit Sicherheit nichts von ihrem Chef, zumindest nichts Sexuelles. Ihr Interesse an ihm bestand lediglich darin, einen Artikel über den geheimnisvollen Geschäftsmann zu schreiben. Aber das Problem an sich ließ sich nicht wegdiskutieren. Wenn Emma wirklich recht hatte und Jendrael tatsächlich einen großen Bogen um seine Angestellten machte, würde es mächtig schwer werden, an ihn heranzukommen. Hatte sie sich mit diesem Job alle Möglichkeiten verbaut? Auf einer der zahlreichen öffentlichen Veranstaltungen als Journalistin aufzutauchen, wäre allerdings auch keinen Deut besser, und zurück konnte sie nun auch nicht mehr. Deshalb musste sie sich zusammenreißen und das Beste daraus machen. Irgendetwas würde sie doch über Jendrael Collister herausfinden, das einen Artikel wert war. Sie brauchte eine gute Story. Irgendwie musste ihr das gelingen.

Arnika machte die Metalltür zu und schloss für einen Moment die Augen. Erst einmal musste sie sehen, wie sie den Abend und die Nacht überlebte.


* * *


Nach einem freien Tag begann Arnikas Schicht heute erst um Mitternacht. Es war Freitagabend, und der Club war zum Bersten gefüllt. Sie kam kaum hinterher, die Bestellungen aufzunehmen und die Getränke an die Tische zu bringen. Inka lief an ihr vorbei und warf ihr ein aufmunterndes Lächeln zu.

„Du schlägst dich gut“, rief sie ihr im Vorbeigehen zu.

Arnika lächelte dankbar zurück. Inkas Worte bauten sie auf.

Nach drei Stunden taten ihr die Füße weh, die Arme schmerzten. Sie konnte nur inständig hoffen, dass sie sich bald an diese körperliche Anstrengung gewöhnte. Das Kellnern an sich machte ihr Spaß – natürlich nicht so sehr wie das Schreiben, aber als Abwechslung war es ganz nett.

Wie bereits tausendmal zuvor an diesem Abend fiel ihr Blick zur Treppe, die hinauf in die dritte Ebene führte. Am Aufgang waren wieder zwei Sicherheitsleute postiert. Arnika sah die hell erleuchteten Stufen hinauf. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, ehe es in doppelter Geschwindigkeit weiter schlug. Dort oben stand er und sah auf die feiernden Massen hinab. Diesmal war er allein. Arnika beeilte sich, neue Cocktails und eine Flasche teuren Champagner auf ihr Tablett zu laden. Wieder glitt ihr Blick hinauf, ehe sie ihm den Rücken zukehren musste. Er stand noch immer dort. In dem Gewühle konnte er sie unmöglich erkennen, und doch fühlte sie sich beobachtet.

„Auf, auf, die Gäste warten!“, schrie ihr Eric, der Barkeeper, zu.

Eilig griff Arnika ihr Tablett und steuerte die Tische an, um die Bestellungen abzuliefern. Zuletzt kam sie an einen Tisch mit vier Männern. Sie mochten um die fünfzig sein und gehörten zu den älteren Gästen dieses Abends. Der Mann mit der Glatze hielt ihr die leere Champagnerflasche hin, und Arnika legte die neue in den Kühler. Die Gläser waren alle noch gefüllt, sodass sie nicht nachschenken musste. Sie hielt ihm ihr Bestellgerät hin, und er drückte seinen Finger darauf.

„Möchtest du dich nicht etwas zu uns setzen?“, fragte einer der Kerle. Auf seiner anderen Seite saß eine knapp bekleidete Blondine, die schon ziemlich viel getrunken haben musste, so dümmlich, wie sie grinste.

„Danke, aber ich muss arbeiten“, erklärte sie freundlich und trat eilig den Rückzug an.

„Schade!“, hörte sie den Kerl hinter ihrem Rücken zu seinen Freunden sagen. „Die Kleine ist echt niedlich. Wenn sie sich nicht so zieren würde, könnte man eine ganze Menge Spaß mit ihr haben.“

Arnika lächelte scheu und überlegte, wie sie auf die Anmache reagieren sollte. Inka hatte ihr zwar geraten, auf solche Unverschämtheiten nicht einzugehen, aber wenn das ihrem Trinkgeld zugutekam, wäre sie gerne dazu bereit. Sie hatte ohnehin schon ein schlechtes Gewissen, weil das Trinkgeld des Abends immer zu gleichen Teilen an die Mädchen ging, die für den Tisch verantwortlich waren. Und da sie noch nicht so gut in ihrem Job war, fiel auch das Trinkgeld ihrer Kolleginnen dementsprechend aus.

„Ich bekomme Ärger, wenn ich mich zu euch Hübschen setze“, erklärte sie und klimperte mit den Augen. „Auch wenn ich nichts lieber täte als genau das.“ Sie warf dem Kerl eine Kusshand zu, ehe sie sich schnell abwandte. Ganz konnte sie ihre Angst vor einem Übergriff nicht abschütteln. Bisher hatte sie es immer vermieden, die Männer zu ermutigen. Sie blickte sich um und war etwas erleichtert, als sie einen der Security-Männer erblickte. Pide stand am Fuße der Treppe und sah mit unbewegter Miene über die Köpfe der meisten Feiernden hinweg.

Arnika runzelte leicht die Stirn, als sie Jendrael Collister erblickte. Er stand noch immer ans Geländer gelehnt und sah herab. Augenblicklich beschleunigte sich ihr Puls. Warum verunsicherte er sie so? Sie hatte noch nie Angst vor Männern gehabt. Aber Angst war es auch nicht. Er hatte etwas an sich, das sie magisch anzog. Sie musste auf sich aufpassen, sonst könnte er ihr und ihrem Plan gefährlich werden. So lange sie keine Gefühle zuließ, konnte sie ihre Vorteile ausspielen. Sie musste ihn näher kennenlernen, sich mit ihm unterhalten. Aber er hielt sie bestimmt für ein Dummchen, nachdem sie gestolpert war und ihm ihre Orangen vor die Füße geschmissen hatte. Wirklich ärgerlich. Hoffentlich bekam sie noch einmal die Chance, sich ihm in einem besseren Licht zu präsentieren.

Bis es soweit war, konzentrierte sie sich darauf, in die dritte Ebene zu kommen. Sie hatte es bereits erfolglos über Inka versucht, die als eine der Wenigen hin und wieder dort arbeitete. Die sonst so offene und freundliche Inka schwieg sich aus, als ob sich dort oben ein Staatsgeheimnis verbergen würde. Yoola war ebenso unkooperativ gewesen.

Zumindest hatte sie etwas über das Gebäude erfahren. Es gab fünf Eingänge. Jeweils einen für die unteren beiden Ebenen, einen für das Personal, einen Liefereingang und einen, der direkt in die obere Etage führte. So konnten Gäste von oben kommen und gehen, ohne gesehen zu werden.

Schon einige Male hatte Arnika beobachtet, wie Männer und Frauen die Treppe in die zweite Ebene herunter kamen und in Begleitung wieder hinaufgingen. Manchmal kam die Begleitung zurück, manchmal auch nicht. Irgendwie ergab das alles keinen Sinn.

Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie dran bleiben musste. Irgendwann würde sich ihre Hartnäckigkeit auszahlen. Sie würde ihre Story über Jendrael Collister bekommen und das Geheimnis des erfolgreichen Geschäftsmannes aufdecken. Dann musste ihr Boss, Frank Schuster, sein Versprechen einlösen und sie fest einstellen, und zwar nicht für die Klatschspalte, für die sie im Moment als freie Journalistin arbeitete, sondern mit einem festen Gehalt und guten Aufträgen. Aber das sollte nur der Anfang sein. Sie träumte davon, eines Tages für eine richtig große Zeitung zu schreiben. Doch bis dahin war es noch ein sehr weiter Weg.

Arnika schob sich eine Locke hinter das Ohr und blickte wieder nach oben. Er war verschwunden.

Etwas enttäuscht kehrte sie zur Bar zurück, nahm die nächsten Getränke in Empfang und verteilte diese. Es lagen noch einige Stunden harte Arbeit vor ihr, ehe der Club allmählich beginnen würde, sich zu leeren.

Kapitel 3


Fünf Tage war es nun her, dass er ihr das erste Mal gegenüber gestanden hatte. Sie hatte unglaublich sexy ausgesehen in dem einfarbigen Shirt und der engen Jeans, dazu die High Heels. Ihr Po hatte verführerisch hin und her gewackelt, als sie mit ihrem wiegenden Schritt von Tisch zu Tisch gelaufen war, die Orangen austeilte und wieder einsammelte. Dann war sie gestürzt, hatte sich aber zum Glück nicht wehgetan. Er erinnerte sich nur zu gut an den erstaunten Blick, den sie ihm aus diesen unglaublich grünen Augen zugeworfen hatte. Eine Strähne hatte sich aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst und war ihr frech ins Gesicht gefallen. Er hatte das Bedürfnis unterdrücken müssen, sich die Strähne um den Finger zu wickeln. Er wollte seine Nase in ihrem Haar vergraben und ihren Duft inhalieren.

Sie schien irgendwie anders zu sein, hatte etwas an sich, das ihn gnadenlos anzog. Arnika. Allein ihr Name war schon etwas Besonderes. Als sie sich berührt hatten, war es wie ein elektrischer Schlag gewesen. Das Prickeln hatte sich durch seinen ganzen Körper gezogen, und er war augenblicklich hart geworden. Das war ihm noch nie passiert. Sie mochte hübsch sein, aber er hatte schon viele attraktive Frauen in seinem Bett gehabt, und bei keiner hatte er bisher so auf eine harmlose Berührung reagiert.

Nun saß er mit den anderen acht Soyas im größten separaten Abteil, das die dritte Ebene zu bieten hatte, und blickte durch die getönte Fensterscheibe hinunter. Während der Ekklesia-Rat tagte, beobachtete er Arnika, wie sie sich mit ihrem Tablett durch die Menge kämpfte. Inka war total begeistert gewesen, wie schnell sich die junge Frau entwickelte, und selbst Abeline musste eingestehen, dass sie ein guter Griff war.

„Was meinst du dazu, Jendrael?“ Widerwillig kehrte er in die Realität zurück und blickte die Männer an, die mit ihm zusammen auf dem Rundsofa saßen.

Er selbst hatte darauf bestanden, den Rat einzuberufen, und so waren alle Soyas Darius’ Einladung gefolgt und bei ihm im Club erschienen.

„Tut mir leid, was sagtest du gerade?“, fragte er nach.

Der irritierte Blick, den Darius mit seiner Frau Sam austauschte, entging ihm nicht. „Ich fragte dich gerade, ob du neue Informationen aus New York hast“, wiederholte Darius.

Langsam schüttelte Jendrael den Kopf. Über seine Kontakte hatte er rein gar nichts herausgefunden.

Im vergangenen Herbst hatte die große Schlacht stattgefunden, die sie fast verloren hätten. Nur durch Robs Eingreifen war es ihnen gelungen, die New Yorker in die Flucht zu schlagen. Seitdem war es sehr still um Radim, den Dominus des New Yorker Clans, geworden. Sicher, er hatte seine besten Krieger verloren und war dadurch empfindlich angeschlagen. Aber keiner rechnete damit, dass er so einfach aufgab. Hinter den Kulissen schmiedete er vermutlich schon seinen nächsten Rachefeldzug gegen die Bostoner.

„Das heißt, er ist vorerst tatsächlich von der Bildfläche verschwunden“, schlussfolgerte Darius.

„Vermutlich, aber wir sollten nicht unvorsichtig sein. Irgendwann wird er sich erholen und zu einem erneuten Schlag ausholen“, gab Sam zu bedenken.

Jendrael mochte Darius’ Samera Sam sehr. Obwohl sie kein Mitglied des Rats war, war sie inzwischen bei jeder Besprechung dabei. Einst war sie Polizistin gewesen, hatte ihren Job jedoch aufgegeben, als bekannt wurde, dass sie ein Blutkind war. Er erinnerte sich noch gut an ihr erstes Zusammentreffen, den Abend, als sie in den Clan eingeführt worden war. Und er erinnerte sich daran, wie tatkräftig sie bei der Aufklärung, wie ihr Dominus gestorben war, mitgeholfen hatte. Als es zur finalen Schlacht kam, hatte sie eisern neben Darius gestanden und tapfer an seiner Seite gekämpft. Sie war eine ungewöhnlich starke und mutige Frau, und aus diesem Grund passte sie so gut zu seinem besten Freund. Er gönnte es Darius von ganzem Herzen, dass er eine Seelengefährtin gefunden hatte, die ihn so wunderbar ergänzte. In jedem Blick, in jeder Berührung, die sie austauschten, konnte man die Liebe sehen, die die beiden miteinander verband. Es war ein Wunder, dass einer aus ihren Reihen seine Seelengefährtin gefunden hatte. Es war so selten und einmalig, dass er bisher nur ein einziges Mal davon gehört hatte, aber auch das lag mehrere Jahrzehnte zurück.

Ein Stachel bohrte sich in Jendraels Herz. Im letzten halben Jahr hatte er beobachten können, welche Wandlung in Darius stattgefunden hatte. Er war noch stärker geworden, entschlossener, aber auch mitfühlender.

Mit einem Mal war da wieder diese Leere, diese Trostlosigkeit in ihm und wollte ihn verschlingen.

„Ich werde ihn im Auge behalten“, bot sich Lucio an, der seine geschäftlichen Bemühungen in New York verstärkt hatte und damit Radims Schwäche gnadenlos ausnutzte.

„Ich weiß nicht, ob das ausreichen wird“, überlegte Jendrael.

„Wir haben doch Bethou dort“, mischte sich Pierrick ein.

„Bethou und Etina erwarten ihr erstes Kind. Ich wollte es eigentlich erst ansprechen, wenn wir den jetzigen Punkt abgehandelt haben. Aber nachdem wir nun schon beim Thema sind: Er wünscht sich nichts sehnlicher, als wieder nach Boston zurückzukehren.“ Darius warf einen liebevollen Blick auf seine Frau. „Und ich kann ihn nur zu gut verstehen.“ Er sah wieder in die Männerrunde. „Ich habe ihm zugesichert, einen neuen Schleuser zu suchen, der seine Arbeit übernehmen wird. So lange wird er noch in New York bleiben.“

Geräuschvoll atmete Lucio ein. Alle schwiegen und überlegten, wen sie an Bethous Stelle entsenden konnten.

„Nol vielleicht“, schlug Pierrick vor.

Jendrael schüttelte entschieden den Kopf. „Nol ist mein Security-Chef. Auf ihn kann ich derzeit nicht verzichten.“

Betretenes Schweigen breitete sich aus. Niemand schien Vorschläge zu haben. Der Posten des Schleusers war eine undankbare Aufgabe. Nicht nur, dass er nach New York geschickt wurde und sich mit Radim und seiner Truppe herumärgern musste. Es war gefährlich, die clanlosen Vampire zu empfangen und sie so lange unterzubringen, bis sich ein Clan bereit erklärte, sie aufzunehmen. Um manche rissen sich die Dominus’, andere wiederum wollte keiner haben. Am Ende blieb dem Schleuser manchmal nichts anderes übrig, als die unerwünschten Flüchtlinge zu eliminieren. Es war wirklich kein beneidenswerter Job, und auch Jendrael fiel niemand ein, dem er diese Aufgabe aufbürden wollte.

„Ich werde nach New York gehen!“

Alle Augen richteten sich auf Thor, der bis dahin geschwiegen hatte.

„Du willst als Schleuser arbeiten?“, hakte Lucio ungläubig nach.

Thor zuckte mit den Schultern.

„Warum nicht?“, überlegte Darius laut.

„Ich finde Thor auch bestens geeignet“, stimmte Jendrael zu. Der dunkelhäutige Vampir besaß keine Familie und keine näheren Angehörigen. Somit konnte er sich ganz auf die Schleuseraufgaben konzentrieren. Er war ein guter Kämpfer und ein sehr dominanter Vampir dazu. Niemand würde sich mit ihm anlegen. Auch Radim würde es sich gut überlegen, sich Thor in den Weg zu stellen. Darüber hinaus war er ein Ratsmitglied und würde auf diesem Posten Ekklesia noch mehr stärken. Je länger Jendrael darüber nachdachte, desto mehr gefiel ihm diese Option.

Den anderen Soyas schien es ähnlich zu gehen. Gregorio und Arek tauschten sich kurz über die Vorteile aus, die es mit sich bringen würde, wenn Thor sie in New York vertrat.

Ein wenig beneidete Jendrael den anderen Soya. Thor würde Boston verlassen können, sich einer neuen interessanten Aufgabe stellen. Er sehnte sich ebenfalls nach Veränderung, wusste jedoch, dass er momentan seinen Clan nicht im Stich lassen konnte. Die Zeiten waren unstet, und seine Kontakte, sowohl zu den anderen Clans als auch zu den Menschen, erleichterten ihnen so manches. Er konnte jetzt nicht alle Zelte abbrechen und verschwinden. Er wurde hier zu sehr gebraucht.

Sein Blick glitt hinunter zur zweiten Ebene. Er entdeckte Arnika sofort. Er fand sie immer sofort. Ihre blonden Haare und ihre zierliche Statur stachen ihm förmlich ins Auge. Schon den ganzen Abend verfolgte er sie, wie sie zwischen den blinkenden Lichtern und der bunten Gästeschar hin und her lief.

„Dann stimmen wir doch ab. Hat noch jemand einen Gegenvorschlag?“, fragte Darius in die Runde.

Keiner rührte sich.

„Wer ist dafür, dass Thor den Posten als Schleuser in New York übernimmt?“

Alle außer Sam, die nicht stimmberechtigt war, und Thor hoben die Hand.

„Und darüber hinaus finde ich es gut, wenn Thor als Soya und Mitglied dieses Rats die Aufgabe eigenverantwortlich übernimmt und alle nötigen Befugnisse hat. Natürlich kann er jederzeit mit uns Rücksprache halten, muss aber nicht jede Entscheidung mit uns abklären.“

Jendrael sah Darius verwundert an. Immer öfter brachte sein Freund Einwürfe, die nicht nur durchdacht, sondern auch äußerst diplomatisch vorgetragen waren. Wenn er so weiter machte, lief ihm Darius den Rang des führenden Diplomaten ab.

„Ich finde, er sollte zumindest mit einem von uns im Austausch stehen“, warf Arek ein.

„Dann mit Darius“, schlug Prosper vor.

Darius schüttelte entschieden den Kopf. „Jendrael ist unser Diplomat. Er hat einen guten Überblick über die anderen Clans und pflegt diese Kontakte. Damit ist er immer auf dem Laufenden. Er wäre viel sinnvoller als ich. Außerdem bin ich mit den claninternen Angelegenheiten genug beschäftigt.“

„Dann eben Jendrael.“ Prosper trommelte mit den Fingern rhythmisch auf den Tisch.

„Jemand dagegen?“, fragte Darius. Keine Reaktionen. „Wer ist dafür?“

Alle hoben die Hand und signalisierten ihre Zustimmung. Wenn doch alle Themen so einfach und einstimmig beschlossen werden könnten.

Wieder fanden Jendraels Augen in der Menge die Frau, die so wunderbar nach Rose, Jasmin und Mandel duftete.

„Was gibt es sonst noch?“

„Bei Agees’ Samera Adoracia wird in den nächsten Wochen die Geburt anstehen. Hoffen wir das Beste für die Mutter und das Kind.“

Eine bedrückende Stille breitete sich aus. Jeder von ihnen wusste, dass Adoracia vor zwanzig Jahren bereits ihr erstes Kind verloren hatte. Aber zumindest hatte die Vampirin es überlebt. Nur ein Jahr später war die Geburt bei einer anderen Vampirin nicht gut ausgegangen. Sowohl die Mutter als auch der Säugling hatten es nicht geschafft. So stark und unverwundbar das Vampirvolk nach der Wandlung war, so hoch war die Sterblichkeitsrate bei der Geburt und der Renovation.

Jendrael sah, wie Arnika nach zwei Cocktails griff, die ihr der Barmann Eric hingestellt hatte. Vor seinem inneren Auge sah er sie mit leicht fülligeren Gesichtszügen. Ihr Bauchumfang ließ unweigerlich erkennen, dass sie guter Hoffnung war. Erschrocken blinzelte er. Seine Fantasie spielte einen üblen Streich mit ihm. So weit würde es nie kommen. Es stand derzeit nicht zur Diskussion, seine eigenen Regeln für diese Kellnerin zu brechen. Davon abgesehen, sorgte er stets dafür, dass keine Frau von ihm schwanger wurde und wenn es eines Tages soweit war, dann würde er eine Vampirin erwählen. Momentan mochte er die sterblichen Frauen bevorzugen, doch ihm war durchaus klar, wie kurz und vergänglich ihr Leben war. Er gehörte nicht zu denen, die sich für kurze Zeit auf jemanden einlassen und dann ewig davon zehren konnten. Noch weniger war er jemand, der leichtfertig ein Leben nach dem anderen leben konnte.

„Wir werden an sie denken“, sagte Sam und legte ihrem Mann eine Hand auf den Unterarm.

Sichtlich betroffen schluckte Darius und wandte sich abermals an die Soyas. „Noch etwas?“

Gregorio schüttelte den Kopf.

„Ich bin hungrig“, verkündete Prosper. Seine Augen leuchteten bereits eine Spur intensiver als gewöhnlich.

Jendrael hatte allen zu Beginn das Angebot gemacht, später noch zu bleiben und sich in der unteren Ebene nach Nahrung umzusehen.

„Soyas, dann erkläre ich die Ekklesia-Sitzung für beendet. Ich wünsche euch allen noch einen schönen Abend“, schloss Darius die Sitzung.

Gemurmel wurde laut. Gregorio und Lucio unterhielten sich leise, während sie aufstanden. Thor schlüpfte eilig an ihnen vorbei und verließ als erster das Separee.

Pierrick zog sein Handy hervor und fing an zu telefonieren. Darius drehte sich zu Sam um, beugte den Kopf leicht und sprach leise mit ihr. Prosper hatte es eilig, ein Stockwerk tiefer zu gelangen, nickte Jendrael, dem Gastgeber, zum Abschied zu und verschwand. Kurz darauf folgte Arek, der heute erstaunlich still gewesen war. Er entschuldigte sich, dass seine Klasse auf ihn wartete und er zum nächtlichen Unterricht musste. Seit etwa einem halben Jahr bildete Darius neue Krieger aus, und Arek unterstützte ihn tatkräftig dabei.

Es dauerte nicht lange, bis der Raum sich geleert hatte. Jendrael wandte sich wieder der Fensterscheibe zu und blickte hinunter.

Arnika unterhielt sich gerade mit einer Gruppe junger Männer. Einer von ihnen besaß sogar die Frechheit, Arnika an den Hintern zu fassen. Wut flammte in ihm auf. Er merkte, wie seine Fänge hinausdrängten. Er schloss die Augen und konzentrierte sich. Arnika kam bestens alleine klar, versuchte er sich einzureden. Als er seine Gefühle halbwegs wieder unter Kontrolle gebracht hatte, öffnete er die Lider und sah Arnika, wie sie ein paar Tische weiter gegangen war und eine Bestellung entgegennahm. Sie lächelte gerade einen Mann freundlich an. Er schluckte erneut. Es missfiel ihm, wie sie mit anderen Männern redete.

„Geh du schon mal vor. Yoola ist vorne an der Bar“, bat Darius seine Frau. Sam sah Jendrael prüfend an und verabschiedete sich mit einem Nicken.

Nun waren nur noch er und Darius übrig. Jendrael seufzte innerlich und wappnete sich gegen das, was unausweichlich kommen würde.

„Schieß los! Was ist mit dir?“, wollte Darius wissen. „Du bist heute so unkonzentriert. Das kenne ich nicht von dir.“

Jendrael konnte seinem besten Freund nicht böse sein, dass dieser mit der Tür ins Haus fiel. Darius meinte es nur gut. Er machte sich ernsthafte Gedanken um ihn. Jendrael war ihm wohl eine Antwort schuldig.

„Ich bin momentan etwas übermüdet. Habe die letzten Tage nicht sonderlich gut geschlafen.“ Das war zwar nicht die Ursache für seine Unkonzentriertheit, aber auch keine Lüge.

Darius betrachtete ihn nachdenklich. „Du weißt, dass wir Freunde sind. Ich und auch Sam, wir sind für dich da.“

„Danke, ich weiß das wirklich zu schätzen.“

Darius erhob sich und legte ihm beim Vorbeigehen eine Hand auf die Schulter. „Pass auf dich auf, alter Freund. Du weißt, wie sehr wir dich brauchen.“

Dann war er allein. Während Darius zu seiner Frau ging, würde er, Jendrael, nur wieder Hirngespinsten mit katzengrünen Augen und seidigen, blonden Haaren hinterherjagen.


* * *


Die Tage vergingen wie im Flug und ehe Arnika es sich versah, arbeitete sie bereits seit zwei Wochen im Club. Langsam bekam sie Routine. Die abendlichen Aufgaben erledigte sie schnell und zuverlässig, und auch das Kellnern machte ihr zunehmend Spaß. Sie lernte, wie sie professionell und freundlich mit den Kunden umging, was sich bei ihrem Trinkgeld durchaus bemerkbar machte.

Jendrael hatte sie seit der peinlichen Aktion mit den Orangen nicht mehr gesehen, die letzte Woche nicht einmal mehr aus der Ferne. Zufällig hatte sie gehört, wie Inka und Abeline über ihren Chef redeten und Abeline sagte, dass er sich seit Tagen nicht mehr im Fiftyfive hatte blicken lassen. Zum einem war das natürlich gut, weil das bedeutete, dass er ihr nicht aus dem Weg ging, zum anderen kam sie allerdings so auch keinen Schritt weiter.

Deswegen hatte sie beschlossen, sich einem anderen Projekt zu widmen, dem eigentlichen Grund, warum sie nach Boston gekommen war.

Sie war früh dran, als sie an diesem Abend den Club betrat. Da sie die zweite Schicht hatte, musste sie erst um Mitternacht beginnen. Allerdings hatte sie am frühen Abend einige Erledigungen gemacht, und der Rückweg zu ihrer kleinen Wohnung war zu weit, als dass es sich lohnen würde. Deshalb hatte sie beschlossen, gleich zum Fiftyfive zu fahren. Die Zeit, bis ihre Schicht begann, konnte sie zum Telefonieren nutzen; dafür eignete sich der Club ebenso gut wie ihr Zuhause. Jetzt, kurz vor Mitternacht, waren die Pausenzeiten vorbei, und die Leute für die zweite Schicht würden so früh nicht kommen. Sie wäre also im Aufenthaltsraum ungestört.

Als sie vor dem Club ankam, war die Schlange für die erste Ebene ellenlang, und auch vor dem Eingang für die zweite Ebene hatte sich eine große Menschentraube gebildet, die darauf wartete, hineingelassen zu werden. Arnika ging um den Club herum und betrat das Gebäude durch einen Hintereingang, der direkt ins Treppenhaus führte. Sie eilte die Stufen in den ersten Stock zum Aufenthaltsraum hinauf, während ihre Hand die Umhängetasche umklammerte, in der sich ihr Schatz befand. Seit über einem Monat hatte sie alles versucht, um an alte Telefonbücher von Boston zu kommen. Der Verlag, der diese früher herausgebracht hatte, war vor zehn Jahren Pleite gegangen, das Archiv war aufgelöst worden. Schon seit Wochen versuchte Arnika nun ihr Glück bei Antiquaren, Flohmärkten und in Trödelläden. Auf einem Abendflohmarkt war sie heute fündig geworden und nannte nun ein sechsundzwanzig Jahre altes Telefonbuch ihr Eigen.

Sie öffnete die Tür zum Aufenthaltsraum, der wie erwartet leer war. Wunderbar. Eilig zog sie ihre Jacke aus und hängte sie in ihren Spind. Darunter trug sie nur das weinrote Top mit dem Clublogo und ihrem Namen. Dazu hatte sie für heute einen Minirock gewählt. Ihre Beine steckten in einer Netzstrumpfhose, später würden Stiefel ihr Outfit komplettieren. Am Tisch angekommen, holte sie das Telefonbuch, Notizblock und Stift sowie ihr Handy hervor. Es war genau wie mit einem guten Artikel. Die Vorbereitung war das Allerwichtigste. Im Prinzip machte sie gerade nichts Anderes.

Sie schlug die Seite auf, auf der sämtliche Hotels und Motels verzeichnet waren und seufzte, als sie eine Seite nach der anderen umblätterte. Das würde viel Arbeit bedeuten, um erst einmal herauszufinden, welche der Übernachtungsmöglichkeiten heute noch existierten.

Arnika hatte bereits drei Telefonnummern mit mäßigem Erfolg angerufen. Entweder war niemand ans Telefon gegangen, oder man konnte ihr nicht weiterhelfen. Plötzlich betrat Inka den Pausenraum und marschierte zu einem Stuhl. Erschöpft ließ sie sich, mit einer Flasche Cola in der Hand, Arnika gegenüber nieder.

„Heute ist die Hölle los. Ich brauche jetzt endlich eine Pause“, stöhnte sie und nahm einen großen Schluck des braunen Getränks. Dann blickte sie auf die Uhr, die über der Tür hing, und runzelte die Stirn. „Was machst du eigentlich schon hier? Deine Schicht beginnt doch erst in einer halben Stunde.“

„Ich war unterwegs, nach Hause fahren hat sich nicht mehr gelohnt“, erklärte Arnika und drehte ihren Stift in der Hand.

„Ach so.“ Neugierig lehnte Inka sich über den Tisch, um einen Blick auf das zu erhaschen, was Arnika vor sich liegen hatte. „Was treibst du denn da?“

„Ich suche ein Motel.“ Eilig schlug sie das Telefonbuch zu.

Inkas Interesse war geweckt. „Wofür brauchst du ein Motel? Ich dachte, du hast ein Zimmer.“

„Ja.“ Arnika ließ ihr Handy in der Umhängetasche verschwinden. Während sie einen Moment abgelenkt war, griff Inka nach dem Buch. Die Jahreszahl, die in weißen, großen Buchstaben vorne drauf stand, war nicht zu übersehen.

„Du, das ist über fünfundzwanzig Jahre alt. Da wirst du die Hälfte nicht mehr erreichen.“

„Ich weiß.“ Arnika seufzte und wollte sich das Telefonbuch zurückholen, doch Inka hielt es fest.

„Warum machst du das?“

Sie sahen sich stumm an. Inka abwartend und fordernd, Arnika unentschlossen.

„Ich bin nach Boston gekommen, weil ich meinen Vater suche“, erklärte sie schließlich.

„Vater?“ Inka schien etwas irritiert. „Hast du nicht erzählt, dass deine Eltern in Louisiana leben?“

Arnika starrte auf das Telefonbuch, als ob dort die Antwort stände. „Ja.“

„Und?“ bohrte Inka weiter.

Arnika seufzte. Sie mochte Inka, wusste aber nicht so recht, ob sie ihr das alles anvertrauen konnte. Hilfesuchend griff Arnika nach ihrem Kettenanhänger, einem kreisrunden billigen Souvenir, auf dem das Wappen von Boston abgebildet war.

„Meine Eltern leben in Leesville, Louisiana. Irgendwann habe ich herausgefunden, dass mein Vater nicht mein leiblicher Vater ist. In meiner Geburtsurkunde stand nicht sein Name, es stand überhaupt kein Name darin. Also habe ich meine Mutter zur Rede gestellt.“

Arnika machte eine Pause, drehte den Anhänger zwischen ihren Fingern hin und her.

„Sie hat meinen Vater in Boston kennengelernt.“

„Und weiter?“

Arnika lächelte traurig vor sich hin, ehe sie fortfuhr: „Er war laut meiner Mutter ein großer dunkelhaariger Mann. Ausländer. Sehr charmant und unglaublich gutaussehend. Eine einzige Nacht hat sie mit ihm in seinem Motelzimmer verbracht. Danach hat sie ihn nie mehr gesehen. Als sie feststellte, dass sie schwanger war, war sie bereits auf dem Weg nach Louisiana.“

„Und jetzt suchst du deinen leiblichen Vater“, schlussfolgerte Inka.

Arnika nickte matt. „Ja, aber die Suche gleicht der nach einer Nadel im Heuhaufen. Ich habe nicht mehr als seinen Vornamen und die vage Erinnerung meiner Mutter.“

„Wie heißt er denn?“

„Thees.“

Inka runzelte nachdenklich die Stirn. „Thees. Und du denkst, du hast damit Erfolg?“

Hilflos zuckte Arnika mit den Schultern. „Mir fällt keine Alternative ein.“

Arnika fixierte das Telefonbuch. „Ich werde einfach die Motels nacheinander anrufen. Wenn es sie heute noch gibt, werde ich vorbeigehen. Vielleicht finden sie in ihren alten Unterlagen etwas.“

„Das kann ewig dauern. Kann deine Mutter dir bei der Suche nicht behilflich sein? Ein Stadtteil, einfach etwas Konkretes?“

Arnika schüttelte bedauernd den Kopf. „Sie will mir nicht wirklich helfen. Außerdem behauptet sie, sich an nichts mehr erinnern zu können.“ Bewusst verschwieg sie Inka, dass ihr ihre Mutter etwas von türkisfarbenen Vorhängen und gelben Sternen erzählt hatte. Das war gewesen, bevor ihr Vater erfuhr, dass sie nun wusste, dass er nicht ihr Erzeuger war. Phil Backster war vehement dagegen gewesen, dass sie nach ihrem leiblichen Vater suchte. Ihre Mutter hatte sich auf seine Seite geschlagen, wie sie es immer machte. Dies nahm sie ihrer Mutter wohl am meisten übel. Aber Arnika konnte nicht so tun, als ob alles so wie immer wäre. Sie wollte nicht länger die Tochter aus gutem Hause sein, die eine ganz passable Partie abgab.

Also war sie aufgebrochen, ganz alleine, und war nach Boston gereist – fest entschlossen, es sich selbst und ihren Eltern zu beweisen. Sie hatte einen Job, liebte den Journalismus über alles und wollte damit ihren Lebensunterhalt bestreiten. Und sie würde ihren Vater finden, egal was es kostete und wie lange sie dafür brauchte. Aufgeben war keine Option.

Frustriert schnippte Arnika den Stift über den Tisch. Er rollte einige Zentimeter und blieb liegen. Beide Frauen starrten darauf.

„Deswegen wolltest du diesen Job so unbedingt haben, oder?“

Arnika zuckte kaum merklich zusammen. Was sollte sie sagen? Die Wahrheit konnte sie Inka schlecht anvertrauen.

„Man kann sich hier keine goldene Nase verdienen, aber das Gehalt ist für einen Kellnerjob echt okay, und das Trinkgeld ist auch ansehnlich. Große Sprünge schafft man damit hier in Boston nicht. Aber wer sparsam ist, kann davon leben.“

„Danke für deine aufbauenden Worte.“ Arnika griff nach ihrem Stift und stapelte Notizbüchlein und Handy auf dem Telefonbuch.

„Da bist du ja. Wir suchen dich schon.“ Außer Atem kam Laura, eine der langjährigen Kellnerinnen, herein.

„Was brauchst du denn, Laura?“, wollte Inka gelassen wissen.

„Abeline sucht den ganzen Laden nach dir ab und ist schon ziemlich aufgebracht.“

„Abeline?“ Inka klang belustigt. „Das kann ich mir jetzt nicht wirklich vorstellen.“

Laura zuckte mit den Schultern. „Und warum hat sie dann Emma, Doori und mich losgeschickt, nach dir zu suchen? Jedenfalls weißt du jetzt Bescheid.“ Laura verschwand wieder.

Inka trank in großen Schlucken ihre Cola aus. „So ein mieses Miststück“, schimpfte sie und stand auf. „Tut mir leid, Arnika. Wir reden ein anderes Mal weiter. Vielleicht habe ich bis dahin einen Geistesblitz.“

Arnika setzte gerade an, um noch etwas zu sagen, als eine Männerstimme von der Tür her fragte: „Wer ist ein mieses Miststück?“

Jendrael lehnte, lässig an der Tür. Das Grau seines Anzugs stand ihm einfach ausgezeichnet. Dazu hatte er ein blaues Hemd gewählt, das er am Hals offen trug. Die Farbe unterstrich das Eisblau seiner Augen noch mehr. Er sah einfach unglaublich sexy aus. Arnikas Kehle war plötzlich staubtrocken.

„Abeline lässt im ganzen Club nach mir suchen, weil sie mich nicht finden kann. Kannst du dir das vorstellen?“ In Inkas Stimme lag ein gewisser Vorwurf.

„Und deswegen beschimpfst du sie als Miststück?“ Er zog eine Augenbraue fragend nach oben, und Arnika war froh, dass er nicht sie, sondern Inka anblickte.

Inka ging in Abwehrhaltung und verschränkte die Arme vor der Brust. „Du weißt genauso gut wie ich, dass sie mich überall finden würde. Was treibst du eigentlich hier? Erst lässt du dich tagelang nicht blicken, und dann tauchst du plötzlich hier auf?“

„Wenn ich mich recht erinnere, gehört mir dieser Club“, erklärte Jendrael gelassen.

„Hm … aber ich wüsste nicht, wann ich dich zuletzt im Pausenraum deiner Servicekräfte gesehen habe.“

„Es gibt immer ein erstes Mal.“ Er verzog keine Miene. Doch etwas blitzte in seinen Augen auf. Gefährlich.

„Hast du Abeline schon gesprochen?“, wollte Inka wissen.

Jendrael schüttelte mit dem Kopf und meinte vielsagend: „Nein, aber sie ist in der zweiten Ebene an der Bar und wartet auf dich.“

„Vielen Dank für die Rückendeckung, Chef.“ Damit schlängelte Inka sich an ihm vorbei, winkte Arnika zum Abschied kurz zu und verschwand.

„Als ob du sie nötig hättest“, rief Jendrael ihr amüsiert hinterher.

Sie waren allein. Erinnerte er sich überhaupt noch an sie? Sicher. Sie hatte ja schließlich einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Vermutlich hatte sie alles verdorben mit ihrer blöden Aktion, ihm die Orangen vor die Füße zu schmeißen.

„Wie geht es dir?“

Arnika blinzelte irritiert. Panisch überlegte sie, was sie ihm antworten sollte.

Jendrael stieß sich vom Türrahmen ab und schlenderte auf sie zu. Er lehnte sich neben sie an die Tischkante und blickte auf sie hinab.

„Wie geht es deinen Orangen?“

Arnika konnte nicht verhindern, dass ihr die Röte in die Wangen schoss. Ihre Hoffnung, er möge sich nicht mehr an sie erinnern, verpuffte. „Besser“, murmelte sie verlegen.

Er lächelte sie an, und Arnika schmolz innerlich dahin. Was hatte dieser Mann nur an sich? Würde er jetzt mit dem Finger schnippen, sie wäre ihm überallhin gefolgt.

„Ich habe mich ziemlich doof angestellt“, murmelte sie verlegen und senkte beschämt den Kopf.

„Das kann vorkommen. Immerhin waren es nur Orangen und keine Gläser.“ Sie konnte nicht anders, musste ihn anblicken und begegnete seinen eisblauen Augen, die wie gefrorenes Wasser schimmerten und sie verschmitzt anblickten. Fasziniert betrachtete sie sein schönes Gesicht, die gerade lange Nase, die hohen Wangenknochen und das ausgeprägte, männliche Kinn.

Arnika erschrak, als Jendraels Hand vorschoss und nach etwas griff. Es war das Telefonbuch, das vor ihr auf dem Tisch gelegen hatte.

„Ist das nicht ein wenig alt?“ Er hörte sich an, als ob er ein Kind tadelte, und genauso fühlte sich Arnika in diesem Moment auch.

Sie sprang auf, riss ihm das Buch aus der Hand und packte es eilig in ihre Tasche. „Das gehört mir. Ist privat“, wich sie ihm aus, hastete an ihm vorbei zu ihrem Spind. Sie riss die Tür auf, holte die schwarzen Overknee-Stiefel heraus und zog diese an. Als sie sich wieder umdrehte, blickte Jendrael Collister sie mit zusammengekniffenen Augen an. Seine Iriden schienen noch eine Spur eisblauer zu sein und von innen heraus zu glühen. Vermutlich lag das an der Beleuchtung.

Sie lächelte ihn unverbindlich an und deutete mit ihrem Kopf in Richtung Tür. „Ich muss dann mal.“

„Viel Spaß.“ Jendrael trat einen Schritt zur Seite und machte ihr Platz.

Fluchtartig verließ Arnika den Raum und wagte es nicht, noch einmal zurückzublicken.

Kaum war sie allein, überkam sie Wut und Scham. Wie dämlich konnte man eigentlich sein, seine zweite Chance ebenso in den Sand zu setzen wie die erste? Sie hatte sich aufgeführt wie ein Schulmädchen, launisch und ungehobelt. Wo war die intelligente, wortgewandte Journalistin gewesen, für die sie sich immer gehalten hatte? Sie musste sich dringend etwas überlegen. So würde sie nie zu einer Story kommen.

Kapitel 4


Mit einem unguten Gefühl betrat Arnika das Gebäude in South Boston. Das Boston Today hatte die gesamte fünfte Etage angemietet, und genau dort wartete ihr Boss, Frank Schuster, auf sie. Die Aufzugtüren öffneten sich, und Arnika betrat das Großraumbüro, in dem geschäftiges Treiben herrschte. Ein Kollege rannte an ihr vorbei, drängte sich in den Aufzug und tippte etwas in sein Handy. Er schien sie überhaupt nicht wahrgenommen zu haben. Frauen und Männer saßen in Nischen vor ihren Computern, telefonierten, tippten oder starrten vor sich hin. Ein Mädchen kam ihr mit einem großen Stoß Zeitungen entgegen und lächelte sie schüchtern an.

Arnika streckte den Rücken durch, schob die Brust ein wenig vor und wappnete sich innerlich. Zielstrebig ging sie auf den Schreibtisch ganz am Ende des Ganges zu. Arnika kannte die Dame, die dort saß, nur flüchtig, wusste jedoch, dass sie die Sekretärin von Mr. Schuster war. Sie nannte ihren Namen und wartete darauf, dass sie in das durch Glaswände abgetrennte Büro gebeten wurde. Unruhig trat sie von einem Fuß auf den anderen und ließ ihren Blick über das Großraumbüro gleiten. Zwei Frauen, die eine saß auf ihrem Drehstuhl, während die andere am Schreibtisch lehnte, brachen in schallendes Gelächter aus. Gutmütig ließ der Kollege nebenan einen flapsigen Kommentar fallen, der mit weiteren Lachern quittiert wurde. Die Vorstellung, sie könnte ein Teil davon werden, ließ ihr Herz vor Freude hüpfen. Ein fester Job. Ein festes Einkommen. Ein Traum.

Schon jetzt konnte sie die Miete für das winzige Zimmer, das sie ihr Eigen nannte, kaum zahlen. Für neue Schuhe und hin und wieder ein Taxi reichte ihr Geld nicht, die letzten Ersparnisse waren schon lange aufgebraucht.

In diesem Moment huschte die Sekretärin zur Tür ihres Bosses. „Mr. Schuster wird Sie nun empfangen“, erklärte sie Arnika und wies sie ins Büro.

Arnika bedankte sich mit einem Nicken und ging hinein.

Frank Schuster thronte hinter einem überdimensionierten Schreibtisch. Als sie eintrat, sah er hoch.

„Ah, Ms. Backster. Wie nett, dass Sie es einrichten konnten“, meinte er zuckersüß. Er machte keine Anstalten aufzustehen und sie zu begrüßen, sondern deutete nur auf die Stühle vor sich.

Arnika kam näher und nahm Platz. Sie mochte ihren Boss nicht, aber er war der Einzige, der ihr eine Festanstellung in Aussicht gestellt hatte. Von einem Artikel hin und wieder konnte man einfach nicht leben.

Wortlos warf er ihr die Zeitung hin. Oben prangte das Logo des Boston Today mit dem Datum von morgen. Wer ist die Neue an seiner Seite?, lautete die reißerische Überschrift. Das Titelbild zeigte Jendrael Collister mit einer blonden Schönheit im Arm.

„Das hat mir gestern einer Ihrer Kollegen gebracht“, fuhr der Zeitungsverleger ruhig fort und bettete sein Kinn wartend auf seine Faust.

Mist.

„I… ich …“, begann Arnika stotternd, „… brauche noch etwas Zeit. Aber ich werde Ihnen eine Story liefern. Eine Titelstory. Ganz sicher.“

Frank Schuster räusperte sich geräuschvoll. Endlos verstrichen die Sekunden, ehe er erneut ansetzte. „Ms. Backster.“ Wieder eine lange Pause. „Es geht hier nicht um mich, sondern um Sie. Sie wollen eine Festanstellung. Dann liefern Sie. Ich möchte etwas sehen, sonst sind Sie raus.“

Arnika presste die Lippen fest zusammen und senkte den Kopf. Nein, das durfte einfach nicht passieren. Sie brauchte diesen Job. Von ihrem derzeitigen Gehalt konnte sie nie die Suche nach ihrem Vater finanzieren. Tränen brannten in ihren Augen, doch sie unterdrückte sie. Hier konnte sie nicht weinen, nicht jetzt.

„Ich werde Sie nicht enttäuschen“, stieß sie mit leicht zittriger Stimme hervor.

„Gut! Ich verlasse mich auf Sie.“ Mit einem Nicken bedeutete er ihr, dass sie gehen konnte.


* * *


Arnika wurde bereits von Zoe sehnsüchtig erwartet, als sie kurz vor Mitternacht die zweite Ebene betrat. „Endlich bist du da.“ Sie drückte Arnika das Bestellgerät in die Hand.

„Bin ich zu spät?“, fragte Arnika verwirrt.

„Nein, aber ich muss so furchtbar dringend auf die Toilette und da ich weiß, dass du jeden Moment kommst, wollte ich keines der anderen Mädchen fragen.“ Entschuldigend grinste das dunkelhaarige Mädchen, reichte Arnika ihr Tablett und richtete schnell seinen Pferdeschwanz.

„Kommst du klar?“ Ungeduldig trat sie von einem Bein aufs andere.

„Los, verschwinde!“

Zoe warf Arnika eine Kusshand zu und eilte in den hinteren Bereich des Clubs, wo sich die Personaltoiletten befanden.

Arnika blickte auf das kleine Display und verschaffte sich einen Überblick. Dann trat sie an die Bar und nahm von Kha, dem heutigen Barkeeper, die Bestellung für Tisch elf in Empfang.

„Pass auf, dass die Kerle nicht zu aufdringlich werden. Zoe hat sich schon beschwert. Aber ich glaube, die Security hat die Berufssöhne schon im Blick.“ Er stellte zwei Fiftyfives auf ihr Tablett und wandte sich der nächsten Bestellung zu.

„Danke für die Warnung.“ Sie stemmte das Tablett hoch und trug es durch die Menge. Heute hatte sie Glück und war für die vorderen Tische verantwortlich. So waren ihre Wege an diesem Abend nicht so weit.

Sarah, mit der sie bisher erst einmal zusammengearbeitet hatte, rauschte an ihr vorbei zur Bar und warf ihr ein Lächeln zur Begrüßung zu.

Die Kerle, die an Tisch elf saßen, waren – zumindest dem Aussehen nach – gerade erst volljährig geworden. Mit ihren Sonnenbrillen kamen sich die drei äußerst cool vor. Die Klamotten waren nicht von der Stange, ebenso wenig wie die Designerschuhe. Einer der Jungs hatte blonde Locken, die ihn irgendwie kindlich wirken ließen. Sein Kumpel trug eine Rolex am Handgelenk, und der dritte spielte grinsend an dem Goldkettchen, das um seinen Hals baumelte.

Arnika stellte die zwei bestellten Cocktails ab und nahm die leeren Gläser mit.

„Wer bezahlt?“, fragte sie und sah einen nach dem anderen an.

Goldlöckchen deutete auf den Rolex-Uhrenträger. Dieser schob seine Sonnenbrille noch oben und wartete, bis Arnika sich über den Kettentyp beugte und ihm das Lesegerät hinstreckte. Dämlich grinsend drückte Mr. Rolex seinen Finger auf das Display. Schnell trat sie den Rückzug an.

Kurz darauf hatte sie sich wieder bis zur Bar vorgekämpft und wartete auf die nächste Bestellung.

„Na, wie läuft’s?“, fragte ein Mann hinter ihr, der an der Bar saß.

Sie hasste es, von Gästen blöd von der Seite angemacht zu werden. Aber das gehörte nun einmal zu ihrem Job. Sie setzte ein Lächeln auf und hoffte, dass Kha bald mit ihren Getränken fertig war. Mit einer Entschuldigung konnte sie sich dann schnell verdrücken.

„Danke, gut.“ Sie drehte sich langsam um und erstarrte mitten in der Bewegung. Ihr Herz setzte für einige Sekunden aus, ehe es anschließend umso heftiger weiter schlug. Warum hatte sie seine Stimme nicht erkannt? Jendrael Collister saß lässig an der Bar und blickte sie mit seinen durchdringenden, eisblauen Augen an. Sie schluckte und strich sich nervös eine nicht vorhandene Strähne hinters Ohr. Dann griff sie, Halt suchend, nach ihrem Kettenanhänger. Er stach aus der Menge heraus wie ein einziger grüner Apfel unter lauter Orangen. Wie hatte sie ihn nur übersehen können?

„Kann ich dir etwas zu trinken bringen?“, fragte sie, weil ihr nichts Besseres einfiel.

Sein Lächeln führte dazu, dass sich sämtliche Nackenhaare bei ihr aufstellten, und es schien, dass sogar das Licht hier im Club plötzlich viel heller und viel intensiver wurde. „Danke nein, ich bin bereits versorgt.“ Er deute auf das halb geleerte Glas vor ihm.

Das war ihr doch tatsächlich entgangen.

„Komm, setz dich doch etwas zu mir. Kha wird noch einen Moment brauchen.“ Er klopfte auf den freien Hocker zwischen ihnen.

Es war den Kellnerinnen untersagt, sich unter die Gäste zu mischen. Gerade Abeline legte darauf besonders viel Wert. Bestimmt schüttelte Arnika mit dem Kopf. „Ich bin hier, um zu arbeiten, ich kann doch nicht …“

„Bitte!“

Hätte er darauf hingewiesen, dass es in Ordnung sei, da er schließlich ihr Chef war, hätte Arnika abgelehnt. Die einfache und aufrichtige Bitte, ein einzelnes Wort, ließ ihren Widerstand allerdings schmelzen.

„Okay!“ Sie setzte sich und schüttelte die Füße ein wenig aus.

Er stützte sich mit einem Arm am Tresen ab, während er sich zu ihr drehte und sie lange ansah.

„Warum bist du ausgerechnet in Boston gelandet? Warum ausgerechnet in meinem Club?“

Seine Frage verblüffte sie. Er war nicht betrunken, seine Augen blickten klar und nüchtern.

„Ich finde, Boston ist eine schöne Stadt“, log sie.

„Trägst du deswegen diese Kette?“

Arnikas Hand umfing den runden Anhänger. „Die ist nicht wertvoll“, verteidigte sie sich.

„Ich weiß. Diese Anhänger verkaufen sie an jeder Ecke als Souvenir. Sieht aus wie echtes Gold, ist aber billiger Schrott. Deswegen frage ich mich ja auch, warum du ausgerechnet das als Anhänger trägst. Die Kette dagegen sieht echt aus.“

Ihr Chef sah eindeutig zu viel. Arnika musste aufpassen, was sie von sich preisgab. Sie wollte etwas von ihm, also musste sie sein Vertrauen gewinnen. Das gelang ihr nur, wenn sie auch etwas von sich erzählte.

„Die Kette war ein Geschenk meines Vaters zum Schulabschluss“, begann sie. „Ich solle die Kette tragen, damit ich immer weiß, wohin ich gehöre. Den ursprünglichen Anhänger, einen Anker, habe ich verloren.“

Das war nicht die ganze Wahrheit. Tatsächlich hatte sie ihn ihrem Vater vor die Füße geworfen, als sie erfuhr, dass er nicht ihr Erzeuger war. Auf der Rückseite war In Liebe Mum und Dad eingraviert gewesen. An ihrem ersten Tag in Boston hatte sie in einem Touristenladen das Siegel von Boston mit einer Aufhängung gesehen und es gekauft. Sie hatte beschlossen, von nun an Boston zu ihrem neuen Zuhause und ihrem Anker zu machen. Außerdem erinnerte das Siegel sie an den Grund ihres Hierseins. Sie musste ihn finden, den Mann, der hier in Boston eine leidenschaftliche Nacht mit ihrer Mutter verbracht hatte.

Jendrael streckte seine Hand aus und nahm die kreisrunde Münze in die Hand, um sie besser betrachten zu können.

Arnika wagte kaum zu atmen. Er war viel zu nahe. Sein Handrücken berührte ihre nackte Haut am Schlüsselbein. Am liebsten hätte sie den Rückzug angetreten, doch sie besann sich und harrte in ihrer Position aus.

„Eine Frau wie du sollte etwas anderes um den Hals tragen“, meinte er schließlich, ließ ihre Kette los und wandte sich seinem Glas zu.

„Hier, Arnika, deine Cocktails.“ Arnika war froh über die Unterbrechung und hätte Kha vor Dankbarkeit küssen können.

„Ich muss dann wieder“, murmelte sie entschuldigend und wagte dabei nicht, Jendrael direkt anzusehen. Ihr Blick war starr auf seine Hände gerichtet, die verkrampft das Cocktailglas umklammert hielten. „Vielleicht können wir unsere Unterhaltung bald einmal fortführen.“ Sie biss sich auf die Lippe und hoffte, dass sie damit nicht all ihre bisherigen Bemühungen zunichte gemacht hatte.

„Gern.“ Er war ebenfalls aufgestanden. „Ich freu mich darauf.“ Schon wieder war er ihr viel zu nah. Sie spürte seinen Atem auf ihrem Haar. Kurz hielt er sie am Oberarm fest, während er sich an ihr vorbei schob und in der tanzenden Menge verschwand. Wie festgewachsen stand Arnika da und starrte ihm hinterher. Das beklemmende Gefühl, das sie immer in seiner Nähe verspürte, verschwand allmählich, und sie wurde wieder sie selbst. Ungläubig schüttelte sie den Kopf, wandte sich zur Bar um und stellte die Getränke auf ihr Tablett, um sie an die Tische zu bringen.

Die restliche Nacht ging sie immer wieder das Gespräch mit Jendrael durch, fragte sich zum wiederholten Male, was sie anders, besser hätte machen können. Eine Antwort darauf fand sie jedoch nicht.


* * *


„Darf ich fragen, was du hier treibst?“

Jendrael stand am Geländer und blickte hinunter auf die zweite Ebene. Er hielt es nicht für nötig, sich zu Abeline umzudrehen. Auch so hatte er aus dem Augenwinkel wahrgenommen, dass sie die Arme vor der Brust verschränkte und ihn wütend anstarrte.

„Ich stehe hier“, erklärte er und ließ sich nicht davon abbringen, die blonde Kellnerin mit den Augen zu verfolgen.

„Das sehe ich!“

„Möchtest du dich zu mir gesellen?“, lud er sie wenig freundlich ein und deutete auf den freien Platz neben ihm. Eigentlich hoffte er, dass Abeline das Angebot ausschlug. Ihm war nicht danach, sich mit ihr zu unterhalten. Viel lieber wäre er in den Umkleideraum der Kellnerinnen gestürmt, hätte Arnikas Spind ausgeräumt, die Sachen mit nach Hause genommen und in seinem öden Penthouse verstreut, nur um ihren Geruch ständig um sich zu haben. Er schloss für einige Sekunden die Augen, als Verlangen in ihm aufstieg, und kämpfte gegen die Empfindung an.

Abeline trat neben ihn. Sie wollte ihre Hand ausstrecken, ihn berühren, doch er trat einen Schritt zur Seite und machte so sehr deutlich klar, dass er dies nicht wollte.

„Was ist mit dir?“

„Nichts!“, wich er ihr aus und beobachtete missmutig, wie Arnika einige Gläser an einen Tisch mit drei viel zu jungen Kerlen brachte.

„So geht das nicht weiter. Seit Tagen gehst du mir aus dem Weg.“

„Der Club läuft doch auch ohne mich wunderbar.“

„Darum geht es doch nicht. Du verhältst dich sonderbar, und das fällt nicht nur mir, sondern auch allen anderen auf.“

Jendrael knurrte leise.

„Erst tauchst du im Aufenthaltsraum der Kellnerinnen auf, dort, wo sie sich umziehen, Jendrael!“

Er schwieg beharrlich.

„Dann sitzt du unten an der Bar und unterhältst dich mit Arnika.“

„Na und?“

„Findest du sie heiß?“, wollte Abeline wissen und klopfte mit ihren manikürten Fingernägeln gegen das Geländer.

Ja, verdammt, er wollte sie. Aber ginge es ihm wirklich nur um Sex, hätte er sich Arnika schon längst genommen. Ihn hungerte es jedoch nach mehr. Wonach genau, wusste er selbst nicht, und so konnte er Abeline keine zufriedenstellende Antwort geben.

„Jendrael, die Mädchen sind tabu. Das sind deine Regeln.“

Er blickte Abeline direkt an, sah ihr in die mandelförmigen Augen, welche die Farbe von flüssigem Karamell hatten.

„Alle Menschen, die hier im Club arbeiten, sind als Nahrungsquelle verboten. Ich halte mich daran.“ Jendrael zog eine Augenbraue nach oben, während er seine Geschäftsführerin eingehend musterte. Abeline hatte sich in den letzten Jahren als ein wahrer Glücksgriff herausgestellt. Sie mochte ihre Macken haben und manchmal etwas anstrengend sein, doch sie hatte viel Arbeit und Zeit ins Fiftyfive investiert. Und der Club profitierte davon.

Abeline seufzte und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Die rötliche Farbe hatte sie von ihrem Vater, einem Vampir, geerbt, während sie ihrer koreanischen Mutter den asiatischen Einschlag verdankte.

„Ich wollte dir doch überhaupt nichts unterstellen“, entschuldigte sie sich und lächelte ihn versöhnlich an.

Er kannte dieses Lächeln, kannte Abeline zu lange, als dass dies bei ihm Wirkung gezeigt hätte. „Natürlich.“ Anstatt sich weiter mit ihr zu beschäftigen, beobachtete er, wie Arnika sich über einen Tisch beugte, um einem Kunden den Fingerabdruck abzunehmen. Dabei hatte er einen exzellenten Blick auf ihren Po und ihre Oberschenkel. Zu seiner Freude war der kurze Minirock weit hoch gerutscht, jedoch ohne tatsächlich etwas zu entblößen.

„Soll ich das Mädchen entlassen?“, wollte Abeline herausfordernd wissen.

Jendrael ging nicht auf ihr Spielchen ein. „Wenn du ein Problem mit mir hast, nur zu. Wage es nur nicht, das an anderen auszulassen. Die Kleine macht einen hervorragenden Job.“

„Es wäre kein Problem. Ich würde ganz schnell Ersatz finden.“

„Nein!“ Jendrael hatte genug davon.

„Aber …“

„Die Diskussion ist beendet. Sie bleibt.“ Warnend sah er auf die zehn Zentimeter kleinere Frau hinab, die ihren hübschen rosa geschminkten Mund schmollend verzog.

„Wie du meinst.“ Sie ließ ihn stehen und stolzierte auf ihren hohen Stilettos, die ihre ohnehin langen Beine noch mehr betonten, die Treppe hinab. Dort ließ sie sich von Darwin, der gemeinsam mit Cev am Fuß der Treppe postiert war, die letzten Stufen hinunterhelfen. Kaum war sie unten angekommen, zog sie ihre Hand zurück. Jendrael wusste, dass Darwin schon lang um Abeline warb, diese jedoch jede Bemühung im Keim erstickte. Abeline war heiß. Für eine Frau relativ groß, schlank, aufregend gekleidet, hätte sie mit fast jedem Mann oder Vampir in seinem Club ins Bett steigen können. Und doch blieb sie immer kühl und distanziert, nur ihm gegenüber nicht. Wäre die Vampirin nicht die Schwester eines seiner besten Männer gewesen, hätte er sich aus privaten Gründen schon längst von ihr getrennt. Es war anstrengend, aber bisher war es ihm immer gelungen, ihre Beziehung auf einer professionellen, geschäftsmäßigen Ebene zu halten.

Und so wie mit ihr sollte er auch mit Arnika umgehen. Distanziert und sachlich. Vielleicht würde ihm das leichter fallen, wenn er sich im Esmerald abreagiert hatte.

Er tastete nach seinen Autoschlüsseln, die sich in seiner Hosentasche befanden. Eilig drehte er sich um und verließ den Club durch den Hinterausgang, wo sein roter Sportwagen parkte.


* * *


Younes Sawall saß in seinem Wagen und wartete darauf, dass seine Zielperson das Fiftyfive verließ. Seit Wochen beschattete er den Kruento. Es fiel ihm schwer stillzuhalten und nur zu beobachten. Aber er wusste, wofür er wartete. Es dürstete ihn nach dem Blut des Vampirs. Aber zuerst einmal sollte er am Leben bleiben, sollte leiden, so wie er selbst. Das würde er genießen. Er wollte ihm dabei zusehen, wie er trauerte. Ihn nur anzugreifen, war viel zu einfach, viel zu plump. Seine Vergeltung würde lange dauern und grausam sein.

Nur zu gut erinnerte er sich an den Tag, an dem Jendrael Collister seinen Mentor und besten Freund Leyton Hendersen getötet hatte. Mit dieser Tat hatte der Vampir Younes’ ganzes Leben zerstört. Nichts war mehr wie früher. Er war nun allein auf der Welt, war auf sich gestellt.

Jede Nacht träumte er davon, jeden Tag seit etwas mehr als einem halben Jahr. Kaum legte er sich zur Ruhe, bekam er Besuch von seinem toten Freund, der nach Rache verlangte. Das Problem war nur, es schien nichts zu geben, was diesem Vampir auch nur annähernd wichtig war. Mit gelangweilter Miene spazierte er durchs Leben, tauschte die Damen an seiner Seite wie andere ihre Unterwäsche. Einzig der Club schien ihm etwas zu bedeuten. Aber der war so gut bewacht, dass er eine Armee von Inimicus gebraucht hätte, um dort einzumarschieren.

Er blinzelte. Einmal. Zweimal.

„Eine Armee …“, murmelte er vor sich hin. Eilig griff er nach seinem kleinen Adressbüchlein, das er stets in der Innentasche seiner Jacke mit sich herumtrug, und blätterte die Seiten durch. Siebzehn Namen waren darin verzeichnet. Siebzehn Wesen seiner Art. Warum gab es nur so wenige von ihnen? Sie sollten mehr sein, sollten den Vampiren zahlenmäßig ebenbürtig sein.

Younes packte das kleine Buch wieder fort, starrte abermals hinüber zu diesem Club, während er mit den Fingern auf das Lenkrad des alten Wagens trommelte.

Sein Magen knurrte, verlangte lautstark nach etwas Essbarem. Das Herumsitzen machte ihn immer unglaublich hungrig. Er griff nach der Cola, die er sich bei einem Schnellimbiss gekauft hatte und trank den Becher leer. Dann suchte er in seinem Rucksack nach seinem Essen. Als er an das saftige Steak dachte, das er erstanden hatte, lief ihm bereits das Wasser im Mund zusammen. Bei Natalie konnte er seinen heimlichen Gelüsten nicht frönen. Seine Freundin würde ihn für vollkommen verrückt halten. Umso mehr freute er sich nun auf sein mitgebrachtes Mahl. Er packte das Stück Fleisch aus und biss herzhaft hinein. Es war genauso, wie er es liebte. Kaum Fett, gut abgehangen und noch saftig genug, dass er das Blut schmecken konnte. Gerade Rindfleisch liebte er über alles. Erneut biss er in das rosafarbene Fleisch und griff nach einem Taschentuch, um sich das Blut, das an seinem Kinn herunterlief, wegzuwischen.

Die Hälfte hatte er bereits verschlungen, als er bemerkte, wie jemand den Club verließ.

Schnell griff er nach dem Fernglas und sah Jendrael Collister, der mit eiligen Schritten zu seiner roten Dodge Viper lief, einstieg und den Motor aufheulen ließ, ehe er vom Privatgelände fuhr. Hastig legte Younes das Fleisch beiseite. Noch kauend dreht er den Zündschlüssel herum und fuhr dem schnittigen Sportwagen hinterher. Gegen dieses Gefährt war sein fahrbarer Untersatz eine verrostete Schüssel. Aber der klapprige Mercury erfüllte seinen Zweck und solange das Ding noch fuhr, würde er sein Geld für sinnvollere Dinge ausgeben.

Unauffällig versuchte Younes, dem roten Sportwagen durch das nächtliche Boston zu folgen. Er wollte nicht zu dicht auffahren, musste jedoch aufpassen, dass er in der Dunkelheit sein Zielobjekt nicht aus den Augen verlor.

Dem Vampir schien es nicht in den Sinn zu kommen, dass ihn jemand beschattete. Zügig fuhr er zum Esmerald, einem teuren und angesehenen Bordell, dessen Besitzer niemand anderes als Jendrael Collister selbst war. Anschließend würde er, wie immer, wenn er hier abstieg, direkt in seine Wohnung fahren und diese bis zum nächsten Abend nicht mehr verlassen.

Younes unterdrückte den Drang, auf den Boden seines Autos zu spucken. Diese blutsaugenden Monster ekelten ihn einfach nur an. Sie scheffelten unendlich viel Geld und warfen dann damit um sich, als wäre es nichts wert. Wenn man Jahrhunderte lebte, war es schließlich nicht schwer, ein Vermögen anzusammeln. Die Umstände, in denen er selbst aufgewachsen war, waren nicht einfach gewesen. Sein Vater starb kurz nach seiner Zeugung, und seine Mutter hatte Mühe, sich selbst und ein Kind durchzubringen. Als er gerade in die Schule gekommen war, zog ein Mann bei ihnen zu Hause ein. Er blieb jedoch nicht lange, ebenso wenig wie die Kerle, die danach kamen. Als seine Mutter starb, war es für ihn wie eine Befreiung gewesen. Endlich musste er auf niemanden mehr Rücksicht nehmen. Das darauffolgende halbe Jahr war das schönste in seinem Leben gewesen. Dann hatte seine Verwandlung begonnen und wenn Leyton ihn nicht gefunden hätte, wäre er elendig krepiert.

Younes hatte gegenüber dem mehrstöckigen Gebäude geparkt. Sollte er sich noch länger an die Fersen des Vampirs hängen, oder konnte er die angebrochene Nacht sinnvoller nutzen? Er angelte nach seiner angefangenen Mahlzeit und kaute an dem Rindfleisch.

Er glaubte kaum, dass er in dieser Nacht etwas Spektakuläres verpassen würde. Younes schob sich das letzte Stück Steak in den Mund und kramte nach seinem Adressbüchlein. Wenn er siebzehn Namen hatte, wie viele hatten die anderen Inimicus auf ihrer Adressliste? Wie viele von ihnen gab es wohl in den Vereinigten Staaten? Wären sie zusammen stark genug, es gegen die Vampire aufzunehmen? Nicht die verzweifelten Versuche, die jungen Epheben zu töten, sondern sich an die ganz großen, an die alten Vampire heranzuwagen? Sie mussten ihre Frauen töten, ihre Kinder. Nur so konnten sie diese verhassten Blutsauger ausrotten.

Mit einem zufriedenen Lächeln startete er erneut den Motor. Er würde nach Hause fahren, ein paar Stunden schlafen und noch einmal gründlich über die Situation nachdenken. Und wenn er am nächsten Tag die Aktion immer noch gut fand, würde er einige Anrufe tätigen.

Kapitel 5


Er gestand es sich nicht gerne ein, aber Abeline hatte den Nagel ziemlich genau auf den Kopf getroffen. Seine Mitarbeiter im Club waren für sexuelle Abenteuer und als Blutwirte verboten. Das galt auch für Arnika. Er hatte kein Recht, ihr Leben durch eine Affäre mit ihm, zu zerstören, und mehr würde sie für ihn nie sein können. Am meisten ärgerte ihn, dass er nicht auf Abeline sauer war, sondern auf sich selbst.

Die LaGrange Street war nicht mehr weit entfernt. Davon abgesehen, dass er sich schon ewig nicht mehr im Esmerald hatte blicken lassen, würden ihm etwas Blut und Sex helfen, einen klaren Kopf zu bekommen. Er bog ab und fuhr in die Tiefgarage, die den gut zahlenden Gästen des Etablissements zur Verfügung stand, um ungesehen das Freudenhaus zu betreten.

Er grüßte die zwei Männer vom Sicherheitspersonal. Im Gegensatz zum Fiftyfive und zum Skyline, einem weiteren, nicht ganz so angesagten Nachtclub, bestanden die Sicherheitsleute nicht aus Vampiren, sondern waren Angestellte einer gut ausgebildeten Firma. Die Wachleute waren dafür verantwortlich, dass der Abschaum der Straße vor der Tür blieb, und schritten bei Übergriffen auf die Mädchen ein.

Mit dem Aufzug fuhr er nach oben, verzichtete in der Garderobe darauf, sich zu entkleiden und betrat in Anzug und Hemd den Barraum. Dies war das Zentrum des Bordells. Alle Mädchen, die gerade keine Freier bedienten, hielten sich dort auf, um auf Kunden zu warten. Im Unterschied zu vielen anderen Häusern waren die Damen fest angestellt und bekamen zusätzlich pro Klient, je nach Aufwand und Wunsch der Herren, einen gewissen Bonus.

Madeline, eine dunkelhaarige Schönheit mit langen Beinen und einer beachtlichen Oberweite, sah ihn zuerst. Allison stand hinter der Bar und mixte gerade einige Cocktails. Sie strahlte ihn an, als sie ihn erkannte. Avery ließ den Mann, mit dem sie sich unterhalten hatte, stehen und ging auf ihn zu.

„Jendrael“, begrüßte sie ihn und hakte sich bei ihm unter. „Wir haben dich lange nicht gesehen. Geht es dir gut?“

„Danke, Av“, meinte er und ließ sich von ihr zu einer Sitzgruppe mit roten Lederbezügen führen.

„Möchtest du etwas zu trinken? Ach, ich habe vergessen, du trinkst ja nie etwas hier“, zwitscherte sie und ließ sich auf der Lehne seines Sessels nieder.

Jendrael lehnte sich zurück. Vor dem Vergnügen kam die Arbeit. „Ich würde gerne zuerst mit Mary sprechen“, erklärte er und lächelte Avery entschuldigend an.

„Aber natürlich.“ Verständnisvoll strich Avery über seinen Hemdkragen.

Heute war sie ihm etwas zu aufdringlich. Er war froh, als er Mary erblickte, die trotz ihres Alters immer noch eine Schönheit war. Im Gegensatz zu vielen anderen Frauen alterte sie in Würde, und auch wenn ihr Gesicht inzwischen von Falten übersät, die Haut an vielen Stellen nicht mehr ganz so straff und das blonde Haar ergraut war, strahlte sie von innen heraus.

„Jendrael. Wie schön, dich zu sehen“, begrüßte sie ihn erfreut.

Er wollte sich erheben, doch schon beugte sich Av extra weit nach vorne, um ihm so einen ungehinderten Blick in ihren BH zu gestatten. Entschlossen schob er sie beiseite und stand auf.

„Ich hoffe, du hast später noch etwas Zeit mitgebracht.“ Sie klimperte mit ihren viel zu langen, künstlichen Wimpern.

„Wir werden sehen“, meinte er ausweichend und streckte Mary zur Begrüßung beide Hände entgegen. Vorsichtig zog er sie an sich und küsste sie auf beide Wangen. Die Menschenfrau wurde immer zerbrechlicher. „Mary, du siehst gut aus.“

„Ein Charmeur wie eh und je.“ Ihre sonst so wachen braunen Augen wirkten müde, strahlten aber vor Zuneigung. „Möchtest du mich in mein Büro begleiten?“

„Ja, bitte.“ Er wollte ungestört mit Mary reden und von ihr auf den neuesten Stand gebracht werden. Dabei waren ein Dutzend neugieriger Zuhörer hinderlich.

Marys Büro befand sich gleich nebenan. Es war ein geräumiges Zimmer. Die Rokokomöbel passten hervorragend zu den geblümten, schweren Vorhängen. Überall im Raum verteilt standen kitschige kleine Porzellanfiguren, die Mary seit Jahren sammelte. Er hatte ihr einmal eine Flamencotänzerin mitgebracht, die noch heute einen Ehrenplatz auf ihrem Schreibtisch einnahm.

Sie lud ihn ein, auf dem Sofa Platz zu nehmen, und setzte sich ihm gegenüber in einen der Sessel.

„Wie geht es dir, Jendrael?“, wollte sie wissen und betrachtete ihn.

Mary war einer der wenigen Menschen, vor denen er sich nicht verstellen konnte und dies auch gar nicht musste. Sie kannte ihn, wusste über ihn Bescheid und hatte ihn wegen dem, was er war, nie verurteilt.

„Unkraut vergeht nicht, ebenso wenig wie ich“, erklärte er ausweichend.

„Du warst lange nicht hier.“ Sie kniff die Augen zusammen, um ihn besser sehen zu können. Er wusste, dass sie gerade auf die Entfernung ziemlich unscharf sah. Sie besaß auch eine Brille, trug diese jedoch äußerst sporadisch.

„Ich weiß. Es tut mir leid. Das Esmerald ist bei dir in guten Händen. Und du wüsstest, wo ich zu finden bin, wenn du mich gebraucht hättest.“

„Ja“, sagte sie schlicht, erhob sich, ging zum Schreibtisch hinüber und kehrte mit einer Mappe zurück, die sie Jendrael reichte. Er blätterte sie kurz durch.

Der Hauptbestandteil war eine Liste mit Namen. Rot eingefärbt waren Neukunden. Er warf einen kurzen Blick darauf und entdeckte nichts Ungewöhnliches. Viele bekannte Namen waren zu finden, Politiker ebenso wie Kirchenleute. Das Esmerald war für seine Verschwiegenheit bekannt. Kein einziger Name war jemals hinausgesickert, und so sollte es auch bleiben.

„Eine Finanzübersicht findest du auf der letzten Seite.“

Jendrael schüttelte den Kopf. „Ich vertraue dir, das weißt du. Alles wird seine Richtigkeit haben. Gab es irgendwelche Vorkommnisse?“

„Zwei Übergriffe, aber das Team hat schnell eingegriffen, und die Männer wurden des Clubs verwiesen. Victoria hat uns verlassen. Sie hat einen Mann kennengelernt und ist von ihm schwanger geworden.“

„Das freut mich für sie.“ Jendraels Anteilnahme war echt.

„Wir haben bereits eine Neue. Beth heißt sie“, fuhr Mary fort. Das wunderte ihn nicht. Sie hatten nie Probleme, eine Nachfolgerin zu finden, deswegen war es auch nicht schlimm, wenn eines der Mädchen beschloss, das Etablissement zu verlassen.

„Ich stelle sie dir gerne vor, wenn du noch bleiben möchtest.“

Unschlüssig überlegte er, schüttelte dann aber den Kopf. Es stand ihm nicht nach einer Neuen. Eigentlich hatte er den festen Vorsatz gehabt, sich hier ein wenig abzureagieren, doch jetzt fehlte ihm die Motivation.

„Die Mädchen freuen sich auf dich.“

Das wusste er. Jendrael rang innerlich mit sich. „Ich werde bleiben. Etwas Hunger habe ich auch mitgebracht“, entschied er sich.

Mary lächelte, kannte sie doch seine Präferenzen. „Brook und Eve sind im blauen Zimmer und bereiten dort alles für heute Abend vor. Vielleicht möchtest du ihnen etwas Gesellschaft leisten.“

Brook war eine rassige Brasilianerin und Eve eine kurvige Blondine, die es ausgezeichnet verstand, mit ihrem Mund umzugehen.

Jendrael erhob sich und streckte Mary die Hände hin. „Ich danke dir.“ Er zog die zierliche Dame an sich und küsste sie auf die Stirn.

Wehmut stand in ihren Augen, als sie ihre Hand auf seine Wange legte. „Pass auf dich auf. Und lass mich nicht wieder so lange auf dich warten.“

Er nickte. Dann verließ er sie.

Er kannte den Weg ins blaue Zimmer gut. Im gemächlichen Tempo schritt er die Stufen hinauf und folgte dem heimelig beleuchteten Gang. An der letzten Tür hielt er an und klopfte.

„Ja?“, ertönte eine erstaunte Frauenstimme.

Er trat ein. Der Raum war in kühles blaues Licht getaucht. Nicht umsonst trug das Zimmer diesen Namen. In der Mitte dominierte ein riesiges Bett. Eve war gerade damit beschäftigt, dutzende kleine Kerzen aufzustellen. Sie trug schwarze Spitzenunterwäsche, während Brook ganz in weiß gekleidet war.

„Jendrael“, kam es erfreut von der Brasilianerin, als sie sich vom Bett erhob, wo sie gerade die großen Kissen aufgeschüttelt hatte, und auf ihn zuging.

„Brook.“ Er ließ sich von ihr umarmen und küssen.

Von der anderen Seite drängte sich Eve an ihn.

„Hat Mary dich zu uns geschickt?“, wollte sie wissen und öffnete einen Kopf an seinem Hemd, ehe sie ihre Hand hineingleiten ließ und seine nackte Brust streichelte.

„Ja.“ Er zog Eve näher zu sich, umfing ihren Hintern mit einer Hand und tauschte mit ihr einen hitzigen Zungenkuss.

Brook löste inzwischen seine Krawatte und half ihm dabei, das Jackett abzustreifen. Dann machte sie sich an seinem Hemd zu schaffen.

„Komm mit!“ Eve nahm seine Hand und zog ihn zum Bett.

Jendrael ließ sich in die kühlen, himmelblauen Seidenlaken sinken.

„Was hättest du gerne?“, fragte Brook und kroch auf allen Vieren zu ihm. Ihm war nicht nach Reden. Er zog die Brasilianerin neben sich, befreite ihren Busen aus dem viel zu kurzen Minikleid und vergrub sein Gesicht zwischen ihren Brüsten.

Eve nestelte zur gleichen Zeit an seiner Hose und befreite sein halbsteifes Glied. Während sich die blonde Frau mit Lippen und Zunge über ihn hermachte und ihr Bestes gab, um ihn vollkommen hart werden zu lassen, arbeitete er sich von Brooks Brüsten mit kleinen Knabbereien und Küssen zu ihrem Hals hoch.

Bleib ruhig!, schickte er ihr einen mentalen Befehl. Es dauerte nur Sekunden, bis seine Fänge ausgefahren waren und sich in ihrem Hals vergruben. Die Brasilianerin zuckte kurz zusammen, stöhnte dann auf und drängte sich an ihn.

Gierig trank er von ihr und labte sich an ihrem Lebenssaft. Eve bekam von all dem nichts mit. Noch immer bearbeitete sie seine Erektion mit dem Mund. Es würde nicht mehr lange dauern, dann würde er kommen. Er stöhnte auf, seine Lippen noch immer an Brooks Hals. Mit der Zunge strich er über die Löcher, die sich augenblicklich schlossen. Brook war weiter in seinem mentalen Befehl gefangen und rührte sich nicht. Er sank in die Kissen zurück und genoss das wunderbare Gefühl, von einer Könnerin verwöhnt zu werden.

Wie es sich wohl mit Arnika anfühlen würde? Würde sie ihn auch in den Mund nehmen? Er verkrampfte sich. Eve bemerkte dies sofort und wollte den Kopf heben. Er hielt sie fest und drückte sie wieder auf seine Mitte hinab. Sie verstand und machte weiter. Doch seine Leidenschaft kühlte immer mehr ab. Er war hier, bei Frauen, die ihr Metier verstanden, Profis in den Künsten der Liebe waren. Trotzdem war er in Gedanken bei einer kleinen Kellnerin, die erst seit ein paar Wochen bei ihm im Club arbeitete. Was hatte sie nur an sich, dass sie es schaffte, all seine Bemühungen nach Ablenkung zunichte zu machen? Er hatte gehofft, Zerstreuung zu finden. In diesem Augenblick wurde ihm jedoch klar, dass er hier weg musste.

„Eve.“ Sanft strich er mit der Hand über den Kopf der Blondine.

„Ja?“ Sie hob den Kopf und blickte ihn an.

Behutsam zog er sie zu sich hoch, bettete sie an seine freie Seite und küsste sie zärtlich auf die Stirn, ehe er ihr Erinnerungen an einen befriedigenden Liebesakt einpflanzte. Dann wandte er sich Brook zu, flüsterte ihr die gleichen Gedanken ein und erhob sich vom Bett. Schnell war er wieder angekleidet und verließ fluchtartig den Raum. Er wollte niemandem begegnen, und so stahl er sich heimlich aus dem Esmerald fort.


* * *


Die kalte Nachtluft klärte seine Gedanken, und noch bevor er sein Auto erreicht hatte, war ihm klar, dass er in seinem derzeitigen Zustand weder nach Hause noch in den Club zurückkehren konnte. Er musste sich abreagieren und seine aufgestauten Gefühle loswerden. Er sehnte sich danach, an seine Grenzen zu gehen, sich auszupowern. Dafür war sein Freund Darius die richtige Anlaufstelle. Vielleicht konnte er sich beim Training der jungen Vampire einklinken. So brauste er durch die nächtlichen Straßen von Boston und kam schließlich an sein Ziel. Seit Virus seinen Wohnsitz auf das Anwesen verlegt hatte, gab es viele technische Veränderungen. Die Pforte mit Sprechanlage und Kamera konnte nun auch von den unteren Wohnräumen gesteuert werden. Nicht nur die Sicherheitsmaßnahmen hatten sich verändert. Darius hatte in moderne Computertechnik investiert, hatte Überwachungsgeräte angeschafft, und – zur großen Verwunderung aller – besaß der Soya seit kurzem auch ein Handy und nutzte es sogar.

Das große Tor öffnete sich automatisch. Jendrael hielt nicht vor dem Haus an, sondern fuhr direkt in die unterirdische Garage. Zwei der Gästeparkplätze waren belegt. Auf dem einem parkte Virus’ alte Klapperkiste, auf dem anderen stand ein nagelneuer, silberner Mercedes. Jendrael tippte auf Arek, der eine Vorliebe für deutsche Autos hatte. Er schlenderte zum Aufzug, der ihn in die Tiefe brachte. Von dort machte er sich auf den Weg zum Trainingsraum.

Darius kam ihm entgegen. „Jendrael“, grüßte er, blieb jedoch stehen und musterte seinen Freund aufmerksam. „Ist etwas passiert?“

Jendrael schüttelte den Kopf. „Alles okay. Ich wollte nur bei den Epheben vorbeischauen, vielleicht etwas mittrainieren.“

„Das Training ist schon vorbei. Arek duscht noch, dann will auch er nach Hause. Weißt du eigentlich, wie spät es ist?“

Jendrael blickte auf die Uhr und stellte fest, dass bald der Tag anbrechen würde. Verdammt! Sicher war Darius gerade auf dem Weg ins Bett gewesen.

„Vielleicht ein anderes Mal.“ Er hatte sich bereits umgedreht und war drei Schritte gelaufen, als Darius seine Hand auf Jendraels Schulter legte und ihn so zum Anhalten zwang.

„Komm mit! Du siehst aus, als ob du einen Kampf bräuchtest.“

Jendrael blinzelte und starrte Darius hinterher, der schon vorausgegangen war. Schließlich folgte er ihm.

In der Trainingshalle angekommen, ging Darius zu einem Schrank und warf Jendrael eine Trainingshose zu.

„Hier, zieh dich um. Ich hole die Waffen.“

Ein paar Minuten später betrat Jendrael, nur mit der Hose bekleidet, die Halle. Sie war ein wenig zu kurz und reichte ihm nur bis zum Schienbein. An den Hüften saß sie etwas zu locker, hielt aber. Für seine Zwecke würde es reichen.

Darius warf ihm ein Schwert zu. „Willst du auch reden oder nur kämpfen?“, wollte er wissen.

„Kämpfen.“ Jendrael ging in Stellung und wartete, bis Darius den ersten Angriff ausführte. Das war die Einladung, die er gebraucht hatte. Wie ein Besessener drosch er nun auf Darius ein, der Schlag um Schlag parierte. Sein Freund war schon immer der bessere Kämpfer gewesen und gerade in letzter Zeit, wo Darius regelmäßig mit den Epheben trainierte, konnte Jendrael nicht mehr mit ihm mithalten. Es war dringend notwendig, dass er öfter herkam, um wieder fit zu werden.

Nach einiger Zeit merkte Jendrael, wie die ersehnte Erschöpfung einsetzte. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn und bahnte sich seinen Weg in kleinen Rinnsalen über seine Brust.

„Genug?“

Jendrael schüttelte den Kopf und ging abermals auf Darius los. Erneut drehten sie sich mit enormer Geschwindigkeit im Kreis. Sie belauerten einander, schossen aufeinander zu und trennten sich wieder.

Jendrael spürte den Luftzug, als sich die Tür öffnete und ihm eine weibliche Brise in seine Nase wehte. Sams unverwechselbarer Geruch. Auch Darius richtete sich in diesem Moment auf und drehte sich zu seiner Frau um.

„Ich habe mitbekommen, dass du angekommen bist, bin aber etwas enttäuscht, dass du dich hier mit meinem Homen vergnügst, während ich auf Unterhaltung warte“, schalt sie ihn augenzwinkernd.

Jendrael grinste Sam an. Seine Glieder waren müde, seinem Verstand ging es ähnlich.

„Gib mir ein paar Minuten. Nach einer Dusche bin ich ganz für dich da.“

Darius räusperte sich vernehmlich. Er fühlte sich wohl von seiner Frau übergangen. Sam ging auf Darius zu, küsste ihn auf die Wange und schmiegte sich an seinen verschwitzten Körper.

„Du weißt, wo die Duschen sind. Handtücher findest du auch dort“, erklärte Darius schroff.

Seit Darius sich mit Sam verbunden hatte, war er nicht mehr so besitzergreifend. Noch vor einem halben Jahr hätte ihn sein Freund bei diesem Geplänkel zu einem Kampf auf Leben und Tod herausgefordert.

„Ich werde auch duschen gehen“, hörte er Darius zu seiner Frau sagen. „Möchtest du mich begleiten, Shilla?“

Jendrael sah, wie Sam unentschlossen zu ihm blickte. Er winkte ab. „Wir reden ein anderes Mal miteinander. Ich habe euch schon lange genug aufgehalten“, meinte er. In der Tat hatte er ein äußerst schlechtes Gewissen.

Das Paar strahlte sich an und verließ gemeinsam die Halle. Jendrael blieb allein zurück. Und da war sie wieder, diese Leere, mit der er nicht umgehen konnte und die ihn verzehrte. Missmutig schlich er zu den Duschen und versuchte, mit dem Schweiß auch das innere Chaos fortzuspülen.


* * *


Arnika stieg aus dem Bus. Schweren Herzens hatte sie vor gut einer Stunde ihre Ohrringe zum Pfandleiher gebracht. Nun besaß sie nur noch ihre Goldkette, und von dieser würde sie sich nicht trennen können. Ihr Herz blutete allein bei der Erinnerung daran, wie der dicke Pfandleiher mit einer Zigarette im Mundwinkel ihre zierlichen Ohrstecker in seine großen Pranken genommen hatte und missbilligend darauf starrte. Sie waren aus echtem Gold, keine billigen Imitate. Viel Geld hatte sie jedoch dafür nicht bekommen. Zumindest reichte es für den Bus und für das Essen der nächsten Tage, allerdings nicht für die Miete. Die Zeit, bis sie ihren Lohn aus dem Fiftyfive bekam, musste sie irgendwie überbrücken. Und wann sie die Ohrringe wieder auslösen konnte, wusste sie auch noch nicht. Es musste ihr einfach vor Ablauf der Frist gelingen, einen Artikel zu schreiben.

Arnika ging die Straße entlang. Nicht weit von hier entfernt lag ein Motel, das sie an diesem Tag aufsuchen wollte. Die vergangene Woche hatte sie jeden Vormittag damit verbracht, sämtliche Telefonnummern in dem alten Telefonbuch anzurufen, um zu erfahren, ob es die Unterkünfte überhaupt noch gab. Etwa die Hälfte hatte inzwischen dicht gemacht. Von denen, die noch existierten, hatte etwa ein Drittel neue Betreiber. Es war einfach frustrierend.

Arnika bog um eine Ecke und erblickte das zweistöckige, langgezogene Gebäude. Der große Parkplatz vor dem Haus war fast leer. Die, die hier wohnten, waren entweder unterwegs, oder das Motel war nicht sonderlich gut besucht. Als Arnika sich die dringend renovierungsbedürftige Fassade ansah, kam sie zu dem Entschluss, dass Letzteres wohl eher der Fall war. Ein Fenster im ersten Stock war eingeschlagen und nur notdürftig von innen mit Pappe repariert worden. Auf der Pylone stand in weißen Buchstaben auf blauem Hintergrund Blue Salvador. Die Fassade war in einem verblassten Blau gestrichen. Von türkisen Vorhängen und gelben Sternen fehlte jede Spur, was nach sechsundzwanzig Jahren nicht sonderlich verwunderlich war. Trotzdem wollte Arnika es an der Rezeption versuchen.

Sie lief über den verwaisten Parkplatz. Die Rezeption war ebenso verlassen. Erst nach mehrmaligem Klingeln kam ein dicker Mann aus einem Hinterzimmer geschlurft. Sein Alter konnte Arnika schlecht schätzen. Zu einer grauen Jogginghose, die am linken Knie ein Loch hatte, trug er über seinem gewaltigen Bauch nur ein Feinrippunterhemd. Die mit Motorenöl beschmierten Hände – zumindest roch es so – wischte er sich notdürftig an der Hose ab.

„Stundenzimmer gibt es hier nicht“, erklärte er, ohne sie zu Wort kommen zu lassen und entblößte dabei ein ungepflegtes Gebiss, in dem mehrere Zähne fehlten. „Aber Sie sehen nicht so aus, als ob Sie von der Sorte wären.“ Arnika wollte gerade ansetzen und ihr Anliegen vorbringen, als er weiter redete: „Die Zimmer werden wochenweise vermietet. Die Miete ist im Voraus fällig. Bar. Die Preise stehen hier oben.“ Er deutete über sich, wo auf einer Tafel die aktuellen Preise mit Kreide angeschrieben waren.

„Tut mir leid, ich bin nicht hier, um ein Zimmer zu buchen.“

Der Mann verzog das Gesicht.

„Ich bin auf der Suche nach einem Mann. Thees.“

„Ich glaube kaum, dass der bei mir wohnt“, meinte der Kerl und strich sich mit dem Zeigefinger über die Nase, die anschließend ein schwarzer Schmierer zierte.

„Nicht jetzt. Vor sechsundzwanzig Jahren. Im Herbst …“

„Süße“, unterbrach er sie und lehnte sich über den Tresen zu ihr herüber.

Arnika wich zurück, als sie seinen Geruch, eine Mischung aus Motorenöl und Alkohol, wahrnahm.

„Vor sechsundzwanzig Jahren war ich noch in Kalifornien.“

Auch hier schien sie nicht wirklich weiter zu kommen. „Aber vielleicht haben Sie noch Aufzeichnungen aus dieser Zeit?“ Bittend sah sie den Mann an.

Dieser schüttelte nur den Kopf. „Bedaure.“

„Trotzdem danke für die Auskunft“, verabschiedete sie sich und beeilte sich, aus dem Gebäude an die frische Luft zu kommen. Dort atmete sie erst einmal tief durch und überlegte, was ihre nächsten Schritte waren. Etwas weiter die Straße runter erblickte sie ein weiteres Motel. Das stand zwar nicht auf ihrer Liste, aber wenn sie schon einmal hier war, konnte sie auch gleich hinlaufen. Als sie jedoch näher kam, sah sie, dass dieses Gebäude relativ neu war und der Kette Knights Inn angehörte. Die bekannte Hotelkette hatte erst Anfang der neunziger Jahre hier in der Gegend Einzug gehalten und kam damit nicht infrage. So kehrte Arnika um und machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Wieder einige Dollar umsonst für eine nutzlose Fahrt ausgegeben.

Kapitel 6


Arnika ließ sich nicht entmutigen und klapperte in den darauffolgenden Tagen mehrere Motels ab. Ihr Presseausweis half ihr dabei, dass sie bei einem Motel sogar ins Archiv gelassen wurde. Fast ihren ganzen freien Tag verbrachte sie dort zwischen Ordnern und Zettel, fand aber nichts Nennenswertes. Völlig erschöpft fiel sie abends ins Bett.

Der nächste Morgen hätte nicht katastrophaler sein können. Ihr Vermieter war bei ihr aufgetaucht und hatte sie abgemahnt. Wenn sie nicht bis nächste Woche die letzten Monatsmieten zahlte, würde sie auf der Straße sitzen. Verzweifelt hatte sie ihn um Aufschub gebeten, war mit ihrer Bitte jedoch auf taube Ohren gestoßen. Ihr Gehalt würde nicht rechtzeitig da sein und selbst wenn, würde es die ausstehenden Mietkosten nicht komplett decken können. Sie hatte keinen blassen Schimmer, wie sie so viel Geld auftreiben sollte. Den Mut, Abeline zu fragen, ob sie nicht nur ihr Gehalt früher, sondern auch einen Vorschuss haben konnte, brachte sie einfach nicht auf.

Arnikas Arbeitstag hatte eben begonnen. Es gab viel zu tun. Für die zweite Ebene waren neue Tische angekommen, die in der Tischplatte eine integrierte Menükarte hatten. Da die Tische ziemlich schwer waren, halfen Eric und Yoola den Fahrern beim Ausladen. Arnika und Doori wischten die Tische ab, während Inka die Getränkekarte des Fiftyfive einprogrammierte. Sie waren nun schon seit einer Stunde beschäftigt, und da die Lieferung etwas zu spät angekommen war, hingen sie im Zeitplan hinterher. Bis der Club öffnete, mussten sie fertig sein.

Inka stieß einen leisen Fluch aus. Mit der Programmierung schien etwas nicht zu funktionieren.

„Kann ich dir helfen, Inka?“, wollte Arnika wissen.

Die Angesprochene schüttelte den Kopf. „Ich habe nur einen Fehler gemacht. Jetzt muss ich alles wieder löschen und noch einmal beginnen.“

Abeline tauchte auf. Sie trug ein aufsehenerregendes, schwarzes Neckholderkleid und dazu passende Riemchenpumps. Haare und Make-up saßen wie immer perfekt, und Arnika fragte sich nicht zum ersten Mal, wie die Geschäftsführerin es schaffte, stets so gut auszusehen.

„Wer hat diesen Tisch sauber gemacht?“, verlangte Abeline zu wissen und deutete auf den Tisch, den Arnika vor wenigen Minuten für fertig erklärt hatte.

„Das war ich“, meldete sie sich.

„Und so sollen wir ihn unseren Gästen hinstellen?“, regte die Geschäftsführerin sich auf. „Da sind noch Schlieren.“

Arnika warf Inka einen fragenden Blick zu, die hilflos die Augen verdrehte. Die Tischplatte musste nach dem Programmieren noch einmal sauber gemacht werden, deshalb hatte sie keinen Wert auf Perfektion gelegt.

„Ich muss die Tische noch programmieren. Danach haben sie wieder Fingerabdrücke und müssen sowieso nochmal gewischt werden“, erklärte Inka, wurde aber von Abeline konsequent ignoriert.

„Schaffst du es nicht einmal, einen Tisch ordentlich abzuwischen? Komm her und mach das richtig!“ Welche Laus war denn Abeline über die Leber gelaufen?

Arnika griff nach dem Wischlappen und machte sich erneut an die Arbeit, während Abeline ihr penibel über die Schultern blickte.

„Hier auch noch.“

Innerlich stöhnte Arnika auf, kam jedoch Abelines Anweisungen schweigend nach. Wenn ihre Chefin so schlechte Laune hatte, wollte sie sich lieber nicht mit ihr anlegen.

„Der Tisch ist auch nicht in Ordnung“, bemerkte Abeline in diesem Moment.

Als Arnika fertig war, machte sie beim nächsten Tisch weiter.

„Und diese beiden Tische passen auch noch nicht.“ Sie versuchte ihrer Chefin nicht einmal zu erklären, dass Doori diese Tische sauber gemacht hatte, sondern putzte die Tischplatte blitzblank.

„Na, geht doch!“, meinte Abeline mit einer hochgezogenen Augenbraue. „Warum nicht gleich so?“

Arnika presste die Lippen aufeinander. Sie durfte sich keinen Ärger mit ihrer Chefin einhandeln, dafür stand zu viel auf dem Spiel. Wenn sie diesen Job verlor, hatte sie überhaupt keine Chance mehr, an Jendrael heranzukommen.

„Kannst du auch irgendetwas richtig machen? Oder bist du nur für die Männerwelt hübsch anzusehen?“, setzte Abeline noch eins drauf.

Arnika griff an ihre Kette und hielt sich an dem Anhänger fest, der sie daran erinnerte, warum sie nach Boston gekommen war und wieso sie diesen Job behalten musste.

In diesem Moment wandte sich Abelines Kopf der Eingangstür zu. Plötzlich schien sie es sehr eilig zu haben. „Ich muss noch die Lieferungen überprüfen“, verkündete sie und verschwand.

Fragend blickte Arnika zu Inka, die ebenso ratlos war wie sie selbst.

„Was war das bitte?“, fragte Arnika und strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr.

Inka fuchtelte mit der Hand wild vor ihrem Hals hin und her und gab ihr so zu verstehen, dass sie still sein sollte. Arnika verstand nicht warum, ließ es jedoch auf sich beruhen und wandte sich gerade dem nächsten Tisch zu, als ein Mann durch die Tür kam.

Jendrael Collister betrat die zweite Ebene, nicht wie die letzten Male von oben, sondern durch den Haupteingang.

Arnika verschluckte sich an ihrem eigenen Speichel und musste heftig husten.

„Alles okay?“, fragte er. Sie nickte eifrig und erstarrte, als er ins Licht trat. Die Wangen waren eingefallen, und unter den Augen befanden sich große dunkle Schatten. Er wirkte unkonzentriert, zumindest huschten seine Pupillen rastlos hin und her. Das Haar war verstrubbelt, so als wäre er vor kurzem mit der Hand hindurchgefahren. Sah er so aus, wenn er morgens aus dem Bett stieg? Arnika schluckte. Die Zunge klebte ihr am Gaumen, so trocken war ihr Mund plötzlich.

Auch Inka hatte ihren Chef entdeckt und stand langsam auf.

„Jendrael?“, fragte sie vorsichtig.

Dieser hob den Kopf, und ein gequältes Lächeln huschte über sein Gesicht.

„Geht es dir gut?“

Er nickte abwesend.

„Du siehst miserabel aus.“ Sie eilte auf ihn zu, nahm ihn beim Arm und flüsterte ihm etwas zu, woraufhin er den Kopf schüttelte.

Arnika beneidete Inka, die das Vorrecht hatte, als langjährige Mitarbeiterin Jendrael so nahe kommen zu dürfen. Sie wollte ihn auch berühren, ihm über das Gesicht streichen und all die Sorgen, die sich in seinen Gesichtszügen abzeichneten, wegwischen.

Wiederum griff sie an ihre Kette und ließ das runde Medaillon durch ihre Finger gleiten. Sie musste an ihre Träume denken. Dieser Mann war bedeutungslos. Sie durfte keine Gefühle für ihn entwickeln. Schließlich hatte sie vor, ihn zu hintergehen und auf ganzer Ebene zu enttäuschen.

Arnika spürte seinen Blick auf sich ruhen und senkte die Lider. Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen. Seine bohrenden Blicke, bei denen sie jedes Mal das Gefühl hatte, er blickte bis in ihr Innerstes, verunsicherten sie zutiefst. Und dann war da noch dieses Kribbeln tief in ihrer Magengegend, das sich verstärkte, wenn er sie beobachtete. Schützend legte sie beide Hände auf ihre Brust und wandte sich ab.

Sie hörte, wie Jendrael leise mit Inka sprach. Inka schien das, was er sagte, nicht so recht zu gefallen. Ihrem Tonfall nach widersprach sie ihm, allerdings war Jendrael nicht bereit einzulenken.

„Du weißt, wo du mich findest, wenn du mich brauchen solltest. Du darfst es dir jederzeit anders überlegen“, sagte sie laut und ging zurück zu ihren Tischen, die noch immer auf die Programmierung der Karte warteten.

Jendrael schlich an ihnen vorbei, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen.

Arnika konnte nicht anders, als ihm hinterher zu starren. Was war mit ihm geschehen? Vor einigen Tagen war er ein kräftiger, aufrecht gehender Mann gewesen, jetzt wirkte er gebrochen, gealtert, verletzt. Sie wollte ihm helfen, wusste jedoch nicht wie.

Sie sah zu Inka hinüber, die nur betreten den Kopf schüttelte und erneut eine Geste machte, die Arnika anwies weiterzumachen. Sie blickte auf die Uhr und wischte die restlichen Tische ab. Die Zeit rannte heute nur so dahin und wenn sie vor dem Öffnen noch eine kurze Pause einlegen wollte, musste sie sich sputen.


* * *


Jendrael fühlte sich an diesem Nachmittag erbärmlich. Er hatte am Tag nur wenige Stunden Schlaf gefunden. Dann hatte er wieder von Arnika geträumt, wie sie sich in zerwühlten Laken räkelte. Steinhart war er aufgewacht und hatte sich selbst Erleichterung verschafft.

Seine Laune war mies, als er sich auf den Weg in den Club machte, und es wurde auch dort nicht besser. Heute sollten jedoch die neuen Tische ankommen, und deswegen wollte er vorbeischauen. Inka war so besorgt um ihn gewesen, dass sie ihm sogar ihr Blut angeboten hatte. Als Chefin seiner Servicekräfte gehörte sie zu einem ausgewählten Kreis Menschen, die von der Existenz der Kruento wussten. Aber die Mädchen aus seinem Club waren tabu. Das musste er nur wie ein Mantra wiederholen, vielleicht würde es dann endlich in seinen Verstand vordringen und dieses brennende Verlangen nach der blonden Kellnerin abkühlen.

Er fuhr sich mit der Hand über die müden Augen und blickte hinab in die zweite Ebene, wo die Mädchen eilig die Tische auf ihre Plätze stellten. Er hatte es nicht über sich gebracht, in sein Arbeitszimmer zu gehen, sondern war in eines der abgegrenzten Abteile geflohen, von wo aus er Arnika beobachten konnte. Diese Frau trieb ihn in den Wahnsinn. Was hatte sie nur an sich, das ihn so in ihren Bann zog? Mit jeder Faser seines Körpers lechzte er nach ihr. Es war auch nicht so, dass er großen Hunger hatte. Seine letzte Nahrungsaufnahme lag nur wenige Stunden zurück. Vielmehr mangelte es ihm an Schlaf.

Er wollte sie verführen, sein Verlangen nach ihr stillen. Genau darin bestand das Problem. Er begehrte nicht nur ihren Körper, er wollte auch in ihren Geist eindringen und ihre Seele streicheln, wenn sie vor Wonne und Lust unter ihm dahinschmolz. Er wollte fühlen, wie sie ihn begehrte und wie auch sie sich nach ihm verzehrte. Er wollte ihr zeigen, wie sehr er für sie brannte, wie dringend er sie brauchte.

Verzweifelt fuhr er sich durch die kurzen, blonden Haare. Ihr Körper war ihm jedoch nicht genug. Er wollte von ihr trinken, ihren süßen Lebenssaft kosten. Doch das würde er nie zulassen. Mit ihrem Geschmack in seinen Erinnerungen würde er sich nicht mehr zurückhalten können. Er würde über sie herfallen, sie besitzen wollen und wenn er dann von ihren Blut trank, würde er sie auf alle Zeit zu seiner Amica machen. Sie wäre ein Schatten ihrer selbst, ein abhängiger Junkie, der ihm so lange ihr Blut im Austausch gegen sexuelle Befriedigung anbot, bis sie dafür zu schwach wäre. Schließlich würde sie an Blutverlust sterben. Nein, das würde er ihr nie antun!

Die Tür zu seinem Abteil wurde aufgeschoben. Abeline trat zögerlich ein.

„Jendrael?“, fragte sie vorsichtig.

„Verschwinde!“ Er hatte keine Lust auf eine Diskussion mit ihr und legte alle Autorität, die er als Soya besaß, in dieses Wort.

Abeline zuckte zusammen und beeilte sich fortzukommen.

Wieder blickte er nach unten und sah, wie Arnika Inka einen Eimer reichte, mit ihr sprach und dann auflachte. Sie war so bezaubernd, so schön.

Die Mädchen waren nun fertig und eilten hinaus in den Aufenthaltsraum. In einer halben Stunde öffnete die zweite Ebene.

Langsam erhob er sich und ging in sein Büro, wo er den Rest der Nacht verbringen wollte.


* * *


„Ich bin schon jetzt platt, und die Schicht hat noch nicht einmal begonnen“, stellte Doori fest, während sie in ihrem Spind kramte. „Kommt jemand mit raus zum Rauchen?“

Sämtliche Mädchen nickten und kramten nach ihren Zigaretten.

Arnika ließ sich auf einen Stuhl fallen und schüttelte den Kopf. „Ich will nur ein paar Minuten sitzen.“

„Du, Inka?“ Doori sah sie fragend an.

Inka verneinte ebenfalls und trank einen großen Schluck aus ihrer Colaflasche. Doori zuckte mit den Schultern und verschwand mit den anderen Mädchen.

„Wie weit bist du denn mit deiner Recherche?“, wollte Inka wissen und spielte mit der Flaschenkapsel.

Arnika zuckte zusammen. War sie aufgeflogen? Was wusste Inka von ihrem Auftrag?

„Wie meinst du das?“

„Du wolltest doch nach deinem Vater suchen und hast deswegen herumtelefoniert.“

Erleichtert atmete Arnika auf. „Ach so, das.“

„Klingt nicht sonderlich gut.“

„Frag nicht, wie viele Telefonate ich in den letzten Tagen geführt habe.“ Sie verdreht genervt die Augen. „Es ist wirklich mühsam. Gestern war ich den ganzen Tag unterwegs und habe einige Motels besucht. Es ist aber echt schwierig, wenn man nicht mehr Anhaltspunkte hat.“

„Und mit dem Namen wirst du auch nicht wirklich weiter kommen sein, oder?“

„Nein. Nach über sechsundzwanzig Jahren auch nicht verwunderlich.“

„Das ist echt doof.“ Inka schraubte den Deckel auf ihre Flasche und stellte sie auf den Tisch.

„Reden wir von etwas Anderem“, schlug Arnika vor.

Inka grinste sie an. „Was willst du denn wissen?“

„Jendrael sah heute nicht besonders gut aus.“

Inka seufzte. „Offen gestanden mache ich mir auch Sorgen um ihn. So habe ich ihn noch nie gesehen.“

Arnika überlegte einen Moment, wie sie geschickt das Thema auf etwas lenken konnte, was sie sehr interessierte, natürlich aus rein beruflichen Gründen, wie sie sich selbst versicherte.

„Hat Jendrael eine Freundin?“

Inka blickte sie erst irritiert, dann abweisend an.

„Versteh mich nicht falsch“, fügte Arnika hastig hinzu. „Er sieht nur so aus, als ob er an Liebeskummer leidet.“ Sie hoffte, bei Inka den richtigen Nerv getroffen zu haben.

„Ich habe keine Ahnung. Er lässt nicht mit sich reden.“ Inka klang frustriert. „Er kann manchmal so dickköpfig sein. Liebeskummer … nein, das glaube ich nicht. Welche Frau würde ihn schon verschmähen? Und nein, er hat keine Freundin, zumindest weiß ich von keiner.“ Sie hielt einen Moment inne, starrte Arnika an, ohne sie bewusst wahrzunehmen. „Aber jetzt wo du es sagst … Vielleicht ist der Ansatz doch nicht so verkehrt. Wie auch immer, wir werden ihm da nicht helfen können.“ Sie verstummte.

„Ich weiß ja nicht, was in der dritten Ebene so abgeht, aber dort oben müssen doch ein paar hübsche Damen sein.“

„Ja schon, aber nicht so, wie du denkst. Ich kann mir nicht vorstellen …“ Inka schüttelte entschieden den Kopf.

Arnika überlegte, ob sie noch einen Vorstoß wagen sollte. „Was geht dort oben vor sich, Inka? Drogen? Prostitution?“

„Stopp! Keine Unterstellungen“, unterbrach Inka sie schnell.

„Dort oben gibt es ein Geheimnis. Warum sonst darf niemand hinauf? Selbst dem Personal wird der Zutritt verweigert.“

Inka stand auf und funkelte Arnika an. „Lass das! Misch dich nicht in Dinge ein, die dich nichts angehen. In der dritten Ebene hast du nichts verloren. Nicht umsonst ist der Zutritt verboten. Aber ich versichere dir, dort geht alles legal zu.“

Arnika dachte darüber nach, noch einmal einen draufzusetzen, besann sich jedoch. Sie kam mit Inka gut aus und wollte die Freundschaft nicht aufs Spiel setzen. Vielleicht brauchte sie Inkas Verbindung nach oben irgendwann dringender als im Moment.

Inka stand auf, ging zu ihrem Spind und holte ihre Arbeitskleidung heraus. „Du solltest dich auch fertig machen.“

Arnika würde heute in der zweiten Ebene bleiben, während Inka ihren Dienst in der dritten Ebene antrat.

Doori kam in diesem Moment gemeinsam mit Sarah zurück. Die beiden Mädchen lachten gerade über etwas, das ihnen Yoola zurief, der auf dem Weg zur Bar war.

Arnika erhob sich, um schnell ihr T-Shirt, Jeans und Turnschuhe gegen Top, Hotpants und Stiefel zu tauschen. Sie beeilte sich, in die Sachen hineinzuschlüpfen, ehe die anderen Mädchen zurückkamen und sich in dem Raum drängten, um sich für ihre Schicht umzuziehen.

Kapitel 7


Die digitale Menükarte in den Tischen funktionierte einwandfrei. Es war nur sehr anstrengend, jedem Kunden immer wieder zu erklären, wie die Bestellfunktion zu benutzen war.

Arnika blies sich eine Locke aus der Stirn, während sie mit einem voll beladenen Tablett auf einen Tisch zusteuerte. Ihr war danach gewesen, die Haare nach oben zu stecken, doch schon jetzt bereute sie es, da sich ihre Frisur langsam zu lösen begann. Auch die Hotpants waren keine gute Idee gewesen. Sie hatte schon drei Kunden ermahnen müssen, die ihr an den Hintern griffen. Dann doch lieber der Minirock.

Sie lächelte die zwei Männer an, zu denen die Bestellung gehörte und stellte die Cocktails auf den Tisch. Dann hielt sie einem von ihnen ihr Bestellgerät vor die Nase. Dieser schüttelte den Kopf und deutete auf seinen Kumpel, der mit seinem Glanzanzug etwas fehl am Platz wirkte. Auffordernd lächelte sie ihn an und streckte ihm das Gerät entgegen.

Der Kerl machte keine Anstalten, seinen Fingerabdruck abzugeben und klopfte stattdessen auf den freien Platz neben sich. „Setzt du dich ein wenig zu uns?“

Der Typ hatte ein Glas zu viel getrunken. Noch immer freundlich bleibend verneinte Arnika und hielt ihm abwartend das Gerät hin. Doch er ignorierte es weiter, umfasste stattdessen ihr Bein und strich über die Rückseite bis zu ihrem Po hinauf. Arnika wich instinktiv einen Schritt zurück und prallte gegen den anderen Kerl, der ihr den Weg versperrte.

„Du willst doch nicht einfach so verschwinden“, brüllte er ihr viel zu laut ins Ohr und umfing sie an der Taille. Arnika schrak zusammen, keuchte auf und blickte sich verzweifelt nach Nol oder einem anderen Security-Mann um. Es war niemand zu sehen.

Ein Knurren neben ihr. Im selben Moment wurden die Männer von ihr fortgezogen. Der Anzugträger landete unsanft auf den Polstern. Seinem Freund erging es nicht so gut. Ihr Retter hatte ihn an sich gezogen und ihm seine Faust in den Magen gerammt. Er krümmte sich vor Schmerzen. Kein Geringerer als ihr Chef, Jendrael Collister, war ihr zur Hilfe geeilt.

„Lass deine dreckigen Finger bei dir. Hast du mich verstanden?“ Seine Stimme klang rau und seltsam befremdlich.

Arnika zuckte zusammen. Warum war Jendrael so wütend? Seine Augen sahen aus, als ob sie von innen heraus glühten. Aber das lag sicher nur an den wechselnden, farbigen Lichtstrahlen, die über sein Gesicht jagten.

Nol tauchte neben ihr auf und nahm Jendrael den Typ ab, während Cev sich den Anzugträger schnappte und ihn unsanft hinausbegleitete. Nol redete auf Jendrael ein, der betreten den Kopf schüttelte. Den zweiten Kerl hielt der Security-Mann dabei unbarmherzig fest. Arnika trat näher. Sie wollte sich bei Jendrael bedanken, doch der war urplötzlich in der Menge verschwunden.

„Wir werden uns um die zwei Kerle kümmern“, versprach Nol ihr und lächelte ihr aufmunternd zu. „Bei dir alles okay?“

Sie nickte. „Danke.“

Nol schob den Typ gerade an ihr vorbei, als ihr einfiel, dass die beiden noch nicht den Empfang der Cocktails bestätigt hatten.

„Ich werde dafür sorgen, dass die Rechnung am Ausgang stimmt. Du kannst hier abräumen.“ Er zeigte in Richtung des Tisches, auf dem noch immer die zwei unberührten Cocktails standen.

Arnika nickte und wartete, bis Nol außer Sichtweite war, ehe sie die vollen und leeren Gläser auf ihr Tablett stellte und zurück zur Bar trug. Sie hatte gerade alles am Tresen abgestellt, als sie von der Seite angesprochen wurde.

„Alles okay mit dir?“

Sie blickte in Jendraels eisblaue Augen und bemühte sich um ein Lächeln. Der Schreck war ihr gehörig in die Glieder gefahren. Es war ihr erster Übergriff dieser Art gewesen. Bei anderen Mädchen hatte sie so etwas schon öfter mitbekommen. Jedoch war noch nie ihr Chef persönlich eingeschritten. „Klar.“

Er beugte sich zu ihr vor, damit er nicht so brüllen musste. „Hat er dir wehgetan?“

Arnika schüttelte den Kopf. Es war ihr etwas unangenehm, wie er sie anstarrte. „Mir geht es gut.“

„Der Kerl hat dich angefasst“, stieß er heftig hervor.

„Es ist nichts passiert. Du warst doch gleich da. Und Nol und Cev sind auch sofort aufgetaucht. Alles okay. So etwas passiert immer wieder.“ Warum versuchte sie jetzt, die Situation herunterzuspielen? Um ihn zu beruhigen?

„Ich möchte nur, dass dir nichts passiert.“

Arnika schluckte. Sie war unsicher, wie sie auf seine Worte reagieren sollte. Einerseits fühlte sie sich geschmeichelt. Es schien, als ob er die Worte wirklich ehrlich meinte. Andererseits wollte sie professionell bleiben, und das bedeutete, Distanz zu wahren. Nur so konnte sie ihre Überlegenheit ausspielen.

„Vielleicht solltest du mich in der dritten Ebene einsetzen, wenn es hier zu gefährlich für mich ist.“ Herausfordernd sah sie ihn an.

Er schien einen Moment zu überlegen und presste die Lippen fest zusammen.

„Hier, deine Cocktails“, meinte Yoola und stellte ihr zwei Gläser hin. „Für Tisch sieben.“

Arnika ärgerte sich, dass Yoola ausgerechnet in diesem Moment kommen musste und das Gespräch so abrupt beendete. Sie sah Jendrael an, wie er sich innerlich zurückzog. Arnika ahnte, dass sie ihre Chance, in die geheime Ebene eingelassen zu werden, soeben verspielt hatte.

„Das geht nicht“, erklärte er ihr steif, berührte kurz ihre nackte Schulter und murmelte dann eilig eine Entschuldigung, ehe er im Gedränge verschwand.

„Das war auch nicht ernst gemeint“, rief sie ihm hinterher, war sich jedoch sicher, dass er sie nicht mehr verstand.

Sie seufzte. Jendrael Collister verwirrte sie maßlos, und das nützte ihrem Plan kein bisschen.


* * *


Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend setzte sich Arnika in das kleine Café, in dem sie sich mit Frank Schuster treffen wollte. Da das Wetter heute unbeständig war, hatte sie sich in das Innere verzogen und sich gefreut, ganz hinten, etwas abseits, einen freien Platz gefunden zu haben.

„Was darf ich bringen?“, fragte eine kaugummikauende Servicekraft. Sie war so jung, dass sie vermutlich hauptberuflich studierte und sich hier nebenher ihr Studium finanzierte.

„Ein Glas Wasser bitte.“

Kauend nickte die Kellnerin, kritzelte etwas auf ihren Block und verschwand.

Unruhig rutschte Arnika auf ihrem Stuhl hin und her. Noch immer wusste sie nicht, ob sie das Richtige tat. Es fühlte sich an wie Hochverrat. Die Fotos, die sich in einem Umschlag in ihrer Tasche befanden, zeigten lediglich die zweite Ebene. Weder Jendraels privates Büro noch die dritte Ebene hatte sie bisher zu Gesicht bekommen. Zeit, um weiter nachzugrübeln, hatte sie nicht, denn in diesem Moment sah sie Frank Schuster, der sich suchend im Café umblickte. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er sie entdeckte und direkt auf sie zusteuerte.

„Ms. Backster.“ Zur Begrüßung ergriff er ihre Hand und schüttelte sie. Dabei drückte er so heftig zu, dass ihre Finger anschließend schmerzten.

Er schlüpfte aus seiner Jacke und hängte diese über die Stuhllehne, ehe er sich Arnika gegenüber setzte und seinen Stuhl zurechtzog. „Ich bin sehr gespannt, was Sie für mich haben.“ Er grinste breit. „Ich wusste, dass ich mich auf Sie verlassen kann.“

Die Kellnerin brachte Arnika das Wasser. Bevor sie ihn nach seinem Getränkewunsch fragen konnte, orderte er im Befehlston einen Cappuccino.

„Mein Angebot steht noch immer“, nahm er den Faden wieder auf. „Sie bringen mir eine Titelstory und bekommen dafür einen festen Job in der Redaktion.“

Das, was sie heute hatte, war für die Anstellung noch nicht genug. Aber sie war auf einem guten Weg. Sie würde es schaffen. Bis zu einem geregelten Einkommen war es dann nicht mehr weit.

„Die dritte Ebene ist ziemlich gut abgesperrt. Ich arbeite aber gerade daran, dass mich eine Servicekraft mit nach oben nimmt“, begann Arnika noch etwas zögerlich.

„So, der Herr, Ihr Cappuccino“, wurden sie von der Kellnerin unterbrochen, als sie die Tasse unsanft auf dem Tisch abstellte, sodass der Schaum überschwappte.

Unwirsch machte der Zeitungsredakteur eine Handbewegung und scheuchte die Bedienung fort.

„Ms. Backster. Ich habe Ihnen einen Umschlag mitgebracht, allerdings nur, wenn ich etwas zu sehen bekomme.“

Arnika nickte. Sie brauchte das Geld, dringend.

„Die Bilder sind von der zweiten Ebene und den Personalräumen. Die digitalen Bilder und Artikel befinden sich auf dem Stick.“ Sie holte den Umschlag aus ihrer Tasche und schob ihm diesen über den Tisch. Schnell versteckte sie die Hände wieder unter dem Tisch, damit ihr Boss nicht mitbekam, wie sehr diese zitterten. Es setzte ihr doch mehr als gedacht zu, das Fiftyfive so zu verraten.

Frank Schuster öffnete den Umschlag, zog die Bilder heraus und sah sie kurz durch. Stirnrunzelnd betrachtete er die nicht ganz scharfen Fotografien.

„Handyfotos“, meinte er abwertend. „Nicht das, auf was ich gehofft habe, aber für den Anfang nicht schlecht.“

Die Fotos zeigten einige prominente Gäste, die sich in der zweiten Ebene, teilweise sehr ausschweifend, vergnügten. Dass sie es damit nicht auf die Titelseite schaffen würde, war ihr klar.

Langsam griff er in die Innentasche und zog einen Umschlag heraus.

„Zweihundert“, erklärte er und hielt ihn zwischen Zeige- und Mittelfinger fest. „Den Rest können Sie auch behalten. Betrachten Sie es als Vorschuss.“ Dann überreichte er ihr großzügig das Geld. „Ich setze große Hoffnungen in Sie. Ich möchte, dass Sie das Geheimnis um Mr. Collister aufdecken. Finden Sie den Dreck am Stecken, den auch er haben muss.“

Eifrig nickte Arnika und griff nach dem Umschlag, den sie schnell in ihrer Tasche verschwinden ließ. Zu gerne hätte sie nachgeschaut, wie viel Geld er ihr zugesteckt hatte. Doch das würde sie erst tun, wenn er gegangen war.

„Sie sind ein hübsches Mädchen“, erklärte er ihr. „Machen Sie Collister schöne Augen. Er steht auf Frauen wie Sie.“

Arnika schluckte. Ihr Chef war heiß, keine Frage. Aber es war sicher keine gute Idee, sich auf ihn einzulassen, nicht, wenn ihre Gefühle jedes Mal so in Aufruhr gerieten, wenn er sie nur anblickte.

„Ich arbeite daran, in die dritte Ebene zu kommen“, versicherte Arnika ihrem Boss.

„Wie Sie meinen“, erklärte dieser achselzuckend. „Es ist Ihre Story. Wie Sie das machen, ist mir egal. Mich interessiert nur das Ergebnis. Aber denken Sie daran, was für Sie auf dem Spiel steht.“

„Ja“, murmelte Arnika nur.

„In spätestens drei Wochen erwarte ich von Ihnen den nächsten Bericht, und dann will ich mehr als ein paar Fotos von einem öffentlichen Club.“

„In die zweite Ebene muss man sich teuer einkaufen“, erinnerte sie ihn. „Es ist nicht so, dass dort jeder hineinkommt.“

„Natürlich.“ Er räusperte sich, dann winkte er der Servicekraft und bezahlte seinen Cappuccino. Anschließend verabschiedete er sich knapp und verließ das Café.

Arnika griff in ihre Tasche, zog den Briefumschlag heraus und riss ihn eilig auf. Mehrere Hundertdollarscheine fielen ihr in die Hand. Sie zog hörbar die Luft ein. Das war mehr als der doppelte Lohn, den sie für die Fotos und den Artikel bekommen hatte. Frank Schuster musste von ihr wirklich überzeugt sein, wenn er ihr einen so großzügigen Vorschuss gab. Das bedeutete nun allerdings auch, dass sie in Zugzwang war. Sie musste etwas liefern, musste unbedingt in die dritte Ebene kommen. Sie würde erfahren, was dort oben hinter verschlossenen Türen vor sich ging. Arnika wollte nicht daran denken, dass ein Bericht Jendrael Kopf und Kragen kosten könnte. Entschieden schob sie diese Gedanken von sich fort.

„Ich würde auch gerne zahlen“, rief sie der Kellnerin zu, die ihr zunickte und den Kaugummi von einer Seite ihres Mundes zur anderen wandern ließ.

Wie auf heißen Kohlen saß Arnika da und wartete, bis die Bedienung endlich zurückkam.

Dann schlüpfte sie in ihren Trenchcoat und machte sich auf den Nachhauseweg. Als erstes würde sie ihre Mietschulden begleichen, und ein wenig würde auch noch übrig bleiben. Geld für den Bus, damit sie nicht ewig zu den Motels in den Randbezirken laufen musste.


* * *


Im Fiftyfive brach eine größere Schlägerei aus. Das Security-Team hatte alle Hände voll zu tun, bis alle Störenfriede unter Kontrolle waren. Einige Gäste wurden genötigt, das Fiftyfive zu verlassen. Dadurch verlief Arnikas Schicht an diesem Abend etwas ruhiger. Gegen Mitternacht erschien Eric, damit Yoola in seine wohlverdiente Pause gehen konnte. Die Gäste waren mit Getränken gut versorgt, so dass die Mädchen ein wenig Luft hatten.

„Würdest du kurz meine Tische übernehmen, dann könnte ich schnell auf die Toilette gehen?“, fragte Arnika ihre Kollegin Sarah. Diese nickte verständnisvoll.

Arnika legte ihr Gerät auf das Tablett und verschwand hinter der Tür, die in den Personalbereich führte. Keine fünf Minuten später war sie wieder da.

Sarah war gerade unterwegs, um eine Bestellung abzuliefern. Arnika wollte gerade die Tür hinter sich zuziehen, als Eric ihr zurief: „Könntest du noch kurz in den Keller gehen und mir neuen Wodka holen?“

„Wollte das nicht Yoola noch machen?“, fragte Arnika verdutzt.

„Ja, das wollte er. Zurück kam er allerdings nicht, und ich habe wirklich nur noch eine halbe Flasche. Die reicht nicht mehr, bis er aus seiner Pause kommt.“ Genervt hob Eric die verbliebene Flasche hoch, um Arnika seine Not zu verdeutlichen.

„Gut, ich bring dir deinen Wodka.“ Arnika ging zurück in das spärlich beleuchtete Treppenhaus und eilte die Treppen in den Keller hinab.

Seltsam. Warum brannte hier unten Licht? War Yoola doch in den Keller gegangen und hatte den Wodka womöglich mit in den Pausenraum geschleppt? Egal, sie würde jetzt nicht erst hochlaufen, um nachzusehen und dann noch einmal hier herunterkommen.

Der Schlüssel zum Getränkelager hing für gewöhnlich an einem Haken am Türrahmen. Jetzt jedoch steckte er im Schloss. Ein seltsames Gefühl beschlich Arnika, als sie langsam die Tür aufschob und in den ebenfalls hell erleuchteten ersten Vorratsraum eintrat. Sie musste unbedingt mit Yoola ein ernstes Wörtchen reden. Wenn Abeline von seiner Nachlässigkeit erfuhr, konnte er sich auf etwas gefasst machen.

Arnika hatte schon die Wodkaflaschen in der Hand und wollte soeben den Rückweg antreten, als sie ein Stöhnen hörte. Yoola. Das war eindeutig Yoola. Eine schreckliche Vorahnung erfasste sie. War ihm etwas zugestoßen? War er verletzt? Vielleicht brauchte er Hilfe und war nicht mehr in der Lage, sich bemerkbar zu machen? Eilig ging sie zum zweiten Lagerraum hinüber, der nur mit einer Schiebetür verschlossen war. Sie schob die Tür auf und erstarrte. Klirrend fielen die Flaschen zu Boden und zerbrachen. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Sie stieß einen spitzen Schrei aus und schlug ihre Hände vor den Mund, um das Geräusch zu dämpfen. Eine Welle von Übelkeit überkam sie, als sie das Blut sah, das Abelines Kinn hinabrann. Ihre Augen glühten, als sie den Kopf hob. Aber am schlimmsten waren die langen Eckzähne, die sie soeben aus Yoolas Hals zog.

Abeline knurrte und starrte sie an, während das Blut weiter aus Yoolas Halswunde sickerte. Dann beugte sie sich wieder über ihn.

Arnika zwang sich, Luft zu holen, auch wenn ihre Lungen das verweigerten. Angsterfüllt drehte sie sich um, stolperte fast und rannte, als wären ihr sämtliche Höllenhunde auf den Fersen, die Treppen hinauf.

Zu wem sollte sie flüchten, wer konnte sie vor Abeline beschützen? Die Polizei, sie musste die Polizei verständigen. Jendrael, schoss es ihr durch den Kopf. Wusste er, dass Abeline ein Monster war? Sie hatte jedoch keine Ahnung, wo er sich im Moment befand, und noch viel weniger wusste sie, wo sein Büro lag. Aber Inka wusste es.

Arnika erklomm das erste Stockwerk und blickte sich hastig um, ob sie verfolgt wurde. Sie sah nichts, war sich aber nicht sicher und raste weiter. Das zweite Stockwerk. Sie hastete an der Tür vorbei, die zurück in die zweite Ebene führte und bückte sich unter der Absperrkette hindurch, an der ein Schild mit „Zutritt verboten!“ hing. Es war ihr egal, dass sie nicht in die dritte Ebene durfte. Sie musste zu Inka. Das war ein Notfall, und dafür würde jeder Verständnis haben. Jendrael musste informiert werden.

Sie sah bereits die rettende Tür, als sie glaubte, hinter sich ein Geräusch zu hören. Schnell eilte sie weiter und riss an der Türklinke.

Ihr stiegen vor Erleichterung die Tränen in die Augen, als sie Inka sah. Die Bar befand sich wie in der zweiten Ebene direkt neben der Tür.

„Arnika?“, rief Inka erschrocken.

Arnika schluchzte auf und fiel Inka um den Hals.

„Du siehst aus, als hättest du den Leibhaftigen gesehen. Beruhige dich doch.“ Sacht streichelte sie Arnika über den Rücken.

Doch Arnika konnte sich nicht beruhigen. „Das habe ich. Das habe ich, glaub mir“, stammelte sie. „Abeline …“ Weiter kam sie nicht, da sie erneut schluchzen musste.

„Was ist mit Abeline?“, wollte Inka wissen, schien aber doch irgendwie erleichtert zu sein. „Komm, ich begleite dich nach unten.“

Heftig schüttelte sie den Kopf. „Nein, nicht. Ich muss zu Jendrael. Abeline hat … hat Yoola umgebracht. Unten im Getränkekeller. Sie ist … kein Mensch.“

Inka war noch immer die Ruhe in Person.

„Du musst mir glauben, Inka, bitte.“ Arnika war verzweifelt. Sie hatte dies alles wirklich gesehen.

„Komm, setze dich, beruhige dich erst mal, und dann erzählst du mir alles.“

Sie führte Arnika zu der erstbesten Sitzgelegenheit, ging zurück zur Bar und schenkte ihr ein Glas mit Hochprozentigem ein.

„Hier trink das, ich telefoniere noch schnell.“

Zitternd nahm Arnika das Glas entgegen und stürzte den Inhalt in einem Zug hinunter. Mit der Hand wischte sie die Tränen beiseite. Dann war Inka auch schon wieder bei ihr, setzte sich neben sie und legte ihr einen Arm um die Schulter. „So, und nun erzähl mal der Reihe nach, was du gesehen hast.“

Der Alkohol sorgte dafür, dass sie sich etwas entspannen konnte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739447834
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (März)
Schlagworte
Gefährte Urban-Fantasy Clan Fantasy Romance Seelenverbindung Liebe Vampir Seelengefährte Urban Fantasy

Autor

  • Melissa David (Autor:in)

Ich schreibe Bücher, die dein Herz berühren und dich in fantastische Welten abtauchen lassen.
Melissa David wurde 1984 in einem historischen Städtchen in Bayern geboren. Lange bevor sie schrieb, hatte sie den Kopf schon voller Geschichten. Seit 2015 ist sie als Selfpublisherin unterwegs.
Der enge Kontakt zu ihren Lesern ist ihr eine Herzensangelegenheit, die sie über Facebook, ihren Blog und den zweiwöchentlichen Newsletter pflegt.
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Titel: Kruento - Der Diplomat