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Cheetah Manor - Der Schwur der Indianerin

von Melissa David (Autor:in)
332 Seiten
Reihe: Cheetah Manor, Band 3

Zusammenfassung

"Ich weiß, was du bist. Du bist nicht willkommen auf Cheetah Manor, doch meiner Tochter zuliebe werde ich dich dort dulden.“

Nach dem Tod ihrer besten Freundin will die Indianerin Izusa für deren Tochter sorgen. Doch das gestaltet sich schwierig, denn Eric Morgan, der leibliche Vater des Kindes, beansprucht das Sorgerecht.
Kathlyn aufzugeben, ist für Izusa unmöglich, und so lässt sie sich auf einen ungewöhnlichen Deal ein. Sie zieht nach Cheetah Manor, was ein paar Unwegsamkeiten mit sich bringt, weil Chowilawu-Indianer die magisch geschützte Plantage eigentlich nicht betreten können.
Mit der Zeit muss Izusa feststellen, dass der unnahbare Webereibesitzer sie nicht so kalt lässt, wie es gut für sie wäre, und dass er auch beruflich die Antwort auf all ihre Träume wäre. Eine gemeinsame Zukunft kann es für sie unmöglich geben, außer sie entscheidet sich für ihn und gegen ihre Familie.

Jedes Buch ist in sich abgeschlossen.

Die abgeschlossene Reihe im Überblick
Cheetah Manor - Das Erbe (Band 1)
Cheetah Manor - Das Geheimnis des Panthers (Band 2)
Cheetah Manor - Der Schwur der Indianerin (Band 3)

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum



E-Book

1. Auflage 1. März 2019

230-346-01

Melissa David

c/o Papyrus Autoren-Club 

Pettenkoferstr. 16-18 

10247 Berlin 

Blog: www.mel-david.de 

E-Mail: melissa@mel-david.de 



Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss

www.juliane-schneeweiss.de

Bildmaterial:

© Depositphotos.com

© Shutterstock.com



Lektorat, Korrektorat: Lektorat Bücherseele, Natalie Röllig

www.lektorat-buecherseele.de 




Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form bedürfen der Einwilligung der Autorin.

Personen und Handlungen sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Klappentext


„Ich weiß, was du bist. Du bist nicht willkommen auf Cheetah Manor, doch meiner Tochter zuliebe werde ich dich dort dulden.“


Nach dem Tod ihrer besten Freundin will die Indianerin Izusa für deren Tochter sorgen. Doch das gestaltet sich schwierig, denn Eric Morgan, der leibliche Vater des Kindes, beansprucht das Sorgerecht.

Kathlyn aufzugeben, ist für Izusa unmöglich, und so lässt sie sich auf einen ungewöhnlichen Deal ein. Sie zieht nach Cheetah Manor, was ein paar Unwegsamkeiten mit sich bringt, weil Chowilawu-Indianer die magisch geschützte Plantage eigentlich nicht betreten können.

Mit der Zeit muss Izusa feststellen, dass der unnahbare Webereibesitzer sie nicht so kalt lässt, wie es gut für sie wäre, und dass er auch beruflich die Antwort auf all ihre Träume wäre. Eine gemeinsame Zukunft kann es für sie unmöglich geben, außer sie entscheidet sich für ihn und gegen ihre Familie.


Der Abschluss der packenden Gestaltwandlergeschichte vor der Kulisse einer Südstaatenplantage.

Cheetah Manor



Der Schwur der Indianerin

Band 3


von

Melissa David

Prolog


„Ich bin was?“ Völlig entgeistert starrte Eric Morgan seinen Anwalt, Freund und Schwager an. „Das ist nicht möglich!“, stammelte er.

Langsam blickte Ethan Washington von dem Schriftstück auf und legte es zurück auf Erics Schreibtisch. „Wenn es nach diesem Brief geht, bist du seit fünf Jahren Vater einer Tochter.“

Eric war fassungslos. Wie war das möglich? Wie konnte er ein Kind haben, ohne davon zu wissen? Es musste ein Irrtum vorliegen, anders konnte er sich diese Ungeheuerlichkeit nicht erklären.

„Das ist einfach nicht möglich“, wiederholte er tonlos und griff nach dem Schriftstück. Er musste sich vergewissern, dass wirklich er gemeint war. Dass sein Name auf dem Dokument stand. Er las seinen Namen, und es bestand kein Zweifel, dass der Brief an ihn adressiert war. Nachdenklich starrte er auf einen weiteren Namen.

Amber Perry.

Sollte er diese Person kennen? Er hatte gehofft, dass es bei ihm Klick machen würde. Sosehr er sich auch den Kopf zermarterte, ihm sagte der Name nichts.

Wie war Amber Perry also auf die Idee gekommen, ihn auf der Geburtsurkunde ihrer Tochter als Vater auszuweisen? Er musste ihr zugutehalten, dass sie bisher nie mit Forderungen auf ihn zugekommen war, aber das machte die Sache auch nicht besser. Es war unmöglich. Er konnte keine Tochter haben, und deshalb konnte er dieses Schreiben nicht so einfach hinnehmen.

Dass Amber Perry bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, bedauerte er zutiefst, aber dass er jetzt für ihre Tochter sorgen sollte, dieses Kind, von dem er nicht einmal wusste, ob es sein Fleisch und Blut war, widerstrebte ihm.

„Wer ist diese Frau?“, fragte Ethan.

Hilflos zuckte Eric mit den Schultern. „Woher soll ich das wissen? Ich kenne sie nicht.“

„Nun …“ Der Anwalt grinste ihn spitzbübisch an. „… wenn du eine Tochter hast, musst du dieser Frau zumindest körperlich sehr nahe gekommen sein.“

Eric würde sicher nicht mit dem Freund sein Liebesleben diskutieren. Das ging ihn nichts an. Er hatte eine ungestüme Zeit hinter sich. Während seines Studiums hatte er in New Orleans gelebt und war regelmäßig mit seinen Freunden um die Häuser gezogen. Natürlich hatte er die ein oder andere Frau abgeschleppt, aber es war nie etwas Ernstes gewesen. Keine hatte er länger als eine Woche gedatet. Keine war ihm so wichtig gewesen, dass er in Erwägung gezogen hätte, sie in die Nähe von Cheetah Manor zu lassen. Keiner hatte er sein Geheimnis anvertraut.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass …“ Er ließ den Satz unvollendet. Es auszusprechen, machte es real, und dazu war er noch nicht bereit.

„Zuerst werden wir einen Vaterschaftstest veranlassen“, schlug Ethan vor und war wieder in seinem Element als Anwalt.

Eric hoffte inständig, dass sich dadurch der Irrtum schnell aufklärte. Denn er war noch immer fest davon überzeugt, dass er kein Kind haben konnte. Das hätte er gewusst, er hätte es spüren müssen.

„Du bist immer noch der Meinung, dass dir jemand ein Kind anhängen möchte?“, vergewisserte sich Ethan noch einmal.

„Natürlich“, entgegnete Eric entrüstet. Auch wenn es etwas abwegig klang, war er sicher, dass ihn jemand finanziell ausnehmen wollte. Ein Kind war dazu ein perfekter Plan. Die Plantage war riesig, ihr Wert unbezahlbar. Die Weberei lief gut. Dafür hatte er in den vergangenen drei Jahren hart gearbeitet. Es ging ihnen so gut wie nie. Mit ihren Baumwollstoffen, die ganz ohne Chemie auskamen, hatten sie eine große Lücke im Markt gefunden. Inzwischen war die Baumwolldynastie Morgan nicht nur in der Gegend, sondern weit über die Grenzen Louisianas hinaus bekannt. Geld war also durchaus bei ihm zu holen, nur würde er das nicht kampflos herausrücken.

„Was ist …“ Ethan stockte, ehe er den Satz beendete. „Was ist, wenn sie doch deine Tochter ist?“

Wie vom Donner gerührt saß Eric da. Die Frage überrannte ihn dermaßen, dass er zuerst keinen klaren Gedanken fassen konnte. Ein Kind auf Cheetah Manor wäre wundervoll. Die ganze Familie freute sich auf den Familienzuwachs, doch nicht in seinem Haus. Er sollte in vier Monaten Onkel werden, und das war etwas völlig anderes, als selbst Vater zu sein.

„Du weißt, wann die ersten Anzeichen auftreten und was das im Leben eines Kindes anrichten kann.“

Wütend funkelte er Ethan an. Ja, Eric hatte es selbst durchgemacht, wusste sehr gut, was das bedeutete. Dennoch würde er nicht einem wildfremden Kind gestatten, sein Leben auf den Kopf zu stellen. Und wenn dieses Kind doch von ihm war? Der leise Zweifel war gesät, und sosehr er auch versuchte, ihn abzuschütteln, es wollte ihm einfach nicht gelingen.

„Glaubst du, ich könnte eine Tochter haben?“, fragte er mit belegter Stimme.

„Ich habe keine Ahnung“, gestand Ethan. „Aber ausschließen würde ich es nicht. Überlege dir, wie du damit umgehst, wenn Kathlyn tatsächlich dein Kind ist.“

Bei der Erwähnung ihres Namens regte sich der Gepard in ihm, stellte die Nackenhaare auf. Es wurde immer realer, greifbarer. „Wenn Kathlyn wirklich von mir ist, werde ich mich selbstverständlich zur Vaterschaft bekennen.“ Aber so weit würde es nicht kommen.

„Das reicht nicht. Früher oder später wird sie sich verwandeln, und dann braucht sie eine Umgebung, wo sie sicher ist und wo ihr jemand erklärt, was mit ihr geschieht.“

„Du meinst, ich soll sie nach Cheetah Manor holen?“ Allein die Vorstellung erschreckte ihn. Er hatte doch keine Ahnung von Kindern. Woher sollte er wissen, was ein fünfjähriges Mädchen überhaupt brauchte? Außerdem musste er arbeiten. Er müsste also jemanden aus dem Dorf anstellen, der sich um das Kind kümmerte. Welche Mutter war so unvernünftig und brachte ihr Kind in so eine ausweglose Position? Wie konnte Amber Perry es wagen, bei einem Autounfall zu sterben?

„Kannst du mir alles über diese Frau zukommen lassen?“ Er musste wissen, wer diese Person war. Vielleicht war sie nur eine Hochstaplerin, die ihren Tod vorgetäuscht hatte. Aber so richtig machte das alles keinen Sinn. Ethan kannte die besten Privatdetektive, und wenn es etwas über Amber Perry gab, würden sie es herausfinden.

„Natürlich, kein Problem.“ Ethan notierte den Namen in seinem Handy. „Ich schicke dir in den nächsten Tagen alles zu.“

„Danke“, murmelte Eric. „Wie lange wird der Vaterschaftstest dauern?“

Ethan winkte ab. „Das geht relativ flott. Ein paar Tage, bis wir die Genehmigung vom Gericht haben. Mit ein paar Scheinchen noch mal ein paar Tage, bis das Ergebnis da ist.“

„Perfekt.“ Sobald er etwas mehr über Amber Perry wusste, würden sich die nächsten Schritte ergeben.

„Kann ich dir noch anderweitig behilflich sein?“, erkundigte sich Ethan.

Eric verneinte. Die Zusammenarbeit zwischen ihm und Ethan war eng. Ethan vertrat Cheetah Manor in allen juristischen Belangen. Seit Ethan mit Rayna, seiner Schwester, verheiratet und ein Teil von Cheetah Manor geworden war, hatte sich ihre Freundschaft vertieft. Auch wenn Ethan schon immer irgendwie zur Familie gehört hatte, war er jetzt ein nicht wegzudenkender Teil davon.

„Hast du etwas von den Europäern gehört?“, fragte der Anwalt in diesem Moment.

Eric schüttelte bedauernd den Kopf. Die Frist lief morgen ab. Er hatte viel Zeit in die Beziehung nach Europa investiert, hatte hart mit dem bekannten Modekonzern verhandelt und hoffte inständig, dass sie das Angebot annehmen würden. Es wäre ein herber Verlust, wenn sie sich für die Konkurrenz entschieden. Ihm war klar, dass er nicht das günstigste Angebot gemacht hatte, aber bei ihnen wurden nur gute Produkte geliefert. Das Preis-Leistungs-Verhältnis war mehr als fair. Blieb nur die Frage, ob der Kunde auf Qualität setzte oder sich mit minderwertigen Stoffen der Chowilawu-Indianer zufriedengab.

„Gut, dann mache ich mich wieder auf den Weg.“

„Grüß Rayna von mir“, bat er abwesend. „Und …“ Der Gedanke kam ihm, als Ethan schon fast zur Tür hinaus war. „… behalte es bitte vorerst für dich. Ich will die Pferde nicht unnötig scheu machen.“

„Ich rede mit niemandem über meine Mandanten, auch nicht mit Rayna.“ Etwas eingeschnappt über die Unterstellung schloss Ethan seine Aktentasche.

Eric wusste, dass sein Schwager absolut verschwiegen war und seinen Job als Anwalt äußerst ernst nahm.

„Solltest du tatsächlich ein Kind haben, ist es deine Sache, wann du es deiner Familie sagst.“

Dazu würde es hoffentlich nie kommen. Dankbar nickte er. Auf Ethan war Verlass – wie immer.

Er wartete, bis sein Schwager gegangen war, und griff noch einmal nach dem Brief vom Gericht, der ihn so aus der Bahn geworfen hatte. Vater. Er. Kopfschüttelnd saß er da. Er konnte es einfach nicht glauben. Doch wenn dieses Kind seines war, würde er Himmel und Hölle in Bewegung setzen und für es da sein. Das stand außer Frage.

Nie hätte er es für möglich gehalten, noch vor Darren Vater zu werden. Darren, sein großer Bruder, der bei allem der Erste war, der immer die Nase vorn hatte. So war es schon immer gewesen. Eric hatte immer alles daran gesetzt, seinem großartigen Bruder nachzueifern und war in der Regel kläglich daran gescheitert. Besser wurde es erst, als er beschloss, nicht mit Darren die Plantage zu betreiben, sondern die Weberei zu leiten.

Darrens Kind würde in vier Monaten auf die Welt kommen. Sarah und er hatten warten wollen, bis sie ihre Anerkennung als Ärztin bekam. Danach hatte es allerdings noch ein halbes Jahr gedauert, bis sich endlich Nachwuchs ankündigte. Er freute sich ungemein für die beiden. Es war ein absolutes Wunschkind. Sarah war inzwischen nicht nur Ärztin, sondern hatte eine eigene Praxis in Cheetahville eröffnet, die sie auch nach der Geburt fortführen wollte. Es gab ja noch seine Mutter. Moira Morgan freute sich unheimlich auf ihr erstes Enkelkind und sprang gerne als Babysitter ein.

Eric erhob sich und trat ans Fenster. Sein Büro lag im ersten Stock. Unter ihm befand sich die Produktionshalle, und so drangen die vertrauten Geräusche der Maschinen zu ihm herauf. Nachdenklich blickte er über die Baumwollfelder. Die letzte Ernte war überaus reich ausgefallen, was ihnen nach den Problemen vom Vorjahr ausgesprochen gut getan hatte. Die jetzigen Pflanzen sahen gesund und kräftig aus und kündigten ein noch vielversprechenderes Jahr an.

Während Darren schon der neuen Ernte entgegenfieberte, musste er sich um die Produkte des letzten Jahres kümmern.

In Gedanken an seine Arbeit konnte er gut die privaten Probleme zur Seite schieben. Er fuhr sich durch das dichte braune Haar und schloss für einen Moment die Augen. Dem Gepard hätte es gefallen, jetzt durch das Unterholz zu streifen, doch Eric hatte Wichtigeres zu tun. Entschlossen drehte er sich um und kehrte zu seinem Schreibtisch zurück.

Kapitel 1


Müde schloss Izusa die Tür hinter sich. Sie legte die Handtasche und die Schlüssel auf die Ablage und zog ihren Mantel aus. Sie kam sich so unsagbar dumm vor. Tränen brannten in ihren Augen, als sie aus den Schuhen schlüpfte und barfuß die Küche betrat. Im Kühlschrank fand sie eine Flasche mit gekühltem Wasser. Den ganzen Tag war sie unterwegs gewesen, hatte keine Zeit gehabt zu trinken. Ihre Kehle brannte, so trocken war sie. Großzügig goss sie sich ein und leerte das Glas mit einem Zug. Nachdem sie das Trinkglas noch einmal zur Hälfte gefüllt hatte, ließ sie sich auf den Küchenstuhl sinken und erlaubte sich für einen winzigen Moment, die Augen zu schließen. Sie war müde, so unendlich erschöpft, und hatte das Gefühl, keine Kraft mehr zum Weitermachen zu haben. Wie war es nur möglich, dass ihr Leben so aus den Fugen geriet?

Sie musste an Amber denken und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ihre beste Freundin war fort. Nie wieder würden sie zusammen am Küchentisch sitzen und über ihren Tag reden. Nie wieder würden sie zusammen lachen, sich über die Erfolge des anderen freuen. Nie wieder würde Amber zurückkommen. Sie vermisste ihre Freundin so unglaublich, dass es einfach nur wehtat. Eine erste Träne fiel auf den Holztisch, weitere folgten. Als wäre die Trauer nicht schon genug, kam auch noch die Schuld dazu, die Izusa erdrückte. Alle hatten gesagt, sie könne nichts für den Unfall, schließlich war nicht sie es gewesen, die auf der Gegenfahrbahn frontal in den kleinen Honda gekracht war. Sie konnte auch nichts dafür, dass der Fahrer betrunken gewesen war. Aber sie hatte ihrer Freundin das Auto geliehen. Nur wegen ihr war Amber unterwegs gewesen. Sie hatte keine Chance gehabt auszuweichen. Izusa wusste, dass sie keine Schuld traf. Dennoch fühlte sie sich für den Tod ihrer Freundin verantwortlich.

Izusa wischte mit den Händen die Tränen fort. Sie vermisste Amber so sehr. Sie hatten alles geteilt, waren die besten Freundinnen gewesen. Damals, als sie schwanger wurde und vorübergehend nicht mehr kellnern konnte, war Izusa zu ihr gezogen. Dabei hatten sie gemerkt, dass es zwischen ihnen perfekt harmonierte. Sie hatte Amber mit dem Kind geholfen, als dieses auf die Welt kam. Das hatte sich in den letzten fünf Jahren auch nicht geändert, und so liebte sie Kathlyn wie eine eigene Tochter. Als nach dem Studium ihr Schritt in die Selbstständigkeit anstand, war Amber es gewesen, die an Izusa geglaubt hatte, die ihr Mut gemacht hatte und sie zur Bank begleitet hatte, um den Kredit zu beantragen. Ganz im Gegenteil zu ihrer Familie. Schnell verdrängte sie die unschönen Gedanken und gab sich stattdessen lieber den schönen Erinnerungen hin. Das Geld hatte sie in ein Arbeitszimmer investiert, in eine hochwertige Nähmaschine, einen großen Arbeitstisch, Schnittmusterfolie, eine Schneiderbüste mit Standfuß und natürlich eine Grundausstattung an Stoffen und Garn. Es gab zwei Möglichkeiten, ihren Traum zu verwirklichen. Sie fand einen Stofflieferanten, der sie unterstützte, oder sie schaffte es aus eigener Kraft, indem sie außergewöhnliche Kreationen entwarf. Da sie familiär bedingt die indianische Weberei nicht übergehen konnte, konzentrierte sie sich verstärkt auf die zweite Möglichkeit.

In den letzten Wochen und Monaten hatte sie beinahe ununterbrochen an ihrem Schreibtisch gesessen und eine erste Kollektion entworfen. Jedes Mal, wenn sie zu zweifeln begann, hatte Amber ihr Mut gemacht. Nur durch die Unterstützung hatte sie es geschafft, die Kollektion fertigzustellen. Der Traum, eines Tages mit den führenden Boutiquen in New Orleans zusammenzuarbeiten, war ein großes Stück näher gerückt. Doch dann hatte sie das Glück verlassen. Von jeder Boutique, bei der sie mit ihrem Anliegen vorgesprochen hatte, bekam sie eine Absage. Inzwischen hatte sie aufgehört zu zählen. Es war einfach nur frustrierend. Die Zurückweisung heute hatte sie nun völlig deprimiert. Es war die letzte vielversprechende Boutique gewesen. Nicht einmal auf Kommission hatte man ihre Kleider nehmen wollen. Die Qualität der Stoffe sei nicht gut genug. Die Weberei der Chowilawu-Indianer stellte ganz vernünftige Stoffe her. Ja, okay, die Muster waren manchmal etwas altbacken und erinnerten an die Vorjahresware der Konkurrenz. Aber da sie zeitlose Kleider nähte, hatte sie gedacht, es sei egal.

Izusa zog ein Taschentuch aus der Hosentasche hervor und putzte sich geräuschvoll die Nase. Sie musste stark sein. Für Kathlyn. Es würde schon weitergehen, sie musste nur an ihren Traum glauben. Wenn jedoch nicht bald erste Einnahmen kamen, würde ihr Traum zerplatzen wie eine Seifenblase.

Ihr war klar, dass sie die Boutiquen nicht dafür verantwortlich machen konnte. Diese brauchten ein Werbegesicht, und dafür war Izusa zu unbedeutend. Ein Kontakt in die High Society hätte ihr weitergeholfen, jemand, der ihre Kleider trug. Dadurch hätte sie sich einen Namen aufbauen können. Doch als Chowilawu-Indianerin – und dabei war es unerheblich, ob sie im Reservat lebte oder nicht – gestaltete es sich ungemein schwierig, Zugang zur weißen Gesellschaft zu bekommen.

Izusas Blick fiel auf die Uhr, und sie erschrak. Es war schon ziemlich spät, und wenn sie Kathlyn rechtzeitig vom Bus abholen wollte, musste sie sich beeilen. Hätte sie noch ein Auto gehabt, wäre sie damit zur Haltestelle gefahren, wie es die meisten Mütter taten, die ihre Kinder täglich dort abholten. Doch da sie nicht wusste, wie schnell sie regelmäßige Einnahmen haben würde, und nun allein für die Miete aufkommen musste, hatte sie es für klüger gehalten, das Geld von der Versicherung zur Seite zu legen, anstatt in ein neues Auto zu investieren. Teile davon hatte sie inzwischen auch schon gebraucht.

Hastig schlüpfte sie in die Slippers. Es war warm, und da sie nicht mehr geschäftlich unterwegs war, verzichtete sie auf den Mantel.

Die Straßen in der Gegend waren in den Nachmittagsstunden voll. Izusa hatte kein gutes Gefühl, Kathlyn allein durch die Gegend laufen zu lassen. Wenn ihr auch noch etwas geschah … nicht auszudenken. Vor allem nicht jetzt, da Izusa nur vorübergehend für das Kind sorgen durfte, bis das Gericht alle Formalitäten geprüft hatte. Die endgültige Entscheidung stand noch aus. Izusa war jedoch guter Dinge, dass sie das Sorgerecht für Kathlyn bekommen würde. Amber hatte keine Familie. Ihr Vater war ein Säufer gewesen, der die Familie früh verlassen hatte. Die Mutter war schon vor etlichen Jahren an Krebs gestorben. Geschwister oder weitere Angehörige gab es keine. Wer sollte sich also um Kathlyn kümmern?

Dass sie es tun würde, stand außer Frage. Sie hatte es Amber auf dem Sterbebett versprochen, als sie ins Krankenhaus gekommen war und die Ärzte sie für die riskante OP vorbereitet hatten. Aber auch ohne dieses Versprechen hätte sie sich für Kathlyn verantwortlich gefühlt.

Die Haltestelle war bereits in Sichtweite, als der Bus hielt und viele Kinder ausstiegen. Bei einigen standen die Mütter bereit, andere – gerade die älteren Kinder – liefen allein nach Hause. Der Bus fuhr an und fädelte sich in den Straßenverkehr ein. Sie winkte Kathlyn zu, die sich suchend umsah. Ein leichtes Lächeln huschte über das Gesicht der Fünfjährigen, als sie Izusa entdeckte. Kathlyn war ein ernstes Kind geworden, das viel zu wenig lächelte. Es tat ihr im Herzen weh, und sie wünschte sich, dem Mädchen das Lachen zurückgeben zu können.

„Na, wie war dein Tag?“, fragte sie möglichst unbeschwert und umarmte die Kleine zur Begrüßung.

„Ganz in Ordnung“, murmelte Kathlyn abweisend, ließ es aber zu, dass Izusa ihr den Rucksack abnahm. Mit dem dunkelgrauen Rock, der weißen Bluse, der farblich abgestimmten rot-ockerfarbenen Krawatte und der roten Strickjacke sah sie einfach zuckersüß aus. Aus den zu beiden Seiten geflochtenen Zöpfen hatten sich bereits einige blonde Strähnen gelöst. Izusa unterdrückte den Drang, ihr die losen Haare hinter das Ohr zu streichen.

„Gehen wir nach Hause“, sagte sie gut gelaunt und streckte Kathlyn die Hand entgegen.

Wortlos schob sich die kleine Hand des Mädchens in ihre, als sie den Nachhauseweg antraten.

Kapitel 2


Eric war bewusst einige Meter entfernt stehen geblieben, hatte sich hinter einem kleinen Mäuerchen versteckt. Von dort aus konnte er die Haltestelle gut sehen. Er wartete auf den Schulbus, der jeden Moment kommen sollte. In seiner Hand hielt er ein Foto. Ethan hatte es ihm besorgt. Darauf abgebildet war ein blondes Mädchen. Kathlyn. Das Kind, das seine Tochter sein sollte. Ethan hatte gute Arbeit geleistet und eine Mappe mit allen wichtigen Informationen zusammengestellt. Amber Perry hatte als Kellnerin im Break’s gearbeitet. Als er den Namen des Clubs gelesen hatte, fiel es ihm wieder ein. Er erinnerte sich an die blonde Kellnerin. Es musste Ewigkeiten her sein. Etwas mehr als sechs Jahre, um genau zu sein. Er war in dieser Nacht mit seinen Freunden feiern gewesen. Sie waren durch etliche Nachtclubs und Bars gezogen und schließlich im Break’s gelandet. Er hatte schon einiges getrunken und schamlos mit der hübschen Kellnerin geflirtet. Auf dem Parkplatz hatte er sich gerade ein Taxi rufen wollen, als die junge Frau von ein paar üblen Typen angequatscht wurden. Als sie handgreiflich wurden und die hübsche Kellnerin mit sich ziehen wollten, hatte er das nicht ignorieren können, und so war er dazwischengegangen und hatte ihr angeboten, sie nach Hause zu begleiten.

Eine Nacht. Eine einzige verdammte Nacht. Wie war es möglich, dass diese wenigen unbedachten Stunden ihm nun dermaßen um die Ohren flogen? Mit solchen weitreichenden Folgen hatte er absolut nicht gerechnet.

Der Schulbus fuhr die Haltestelle an. Gespannt reckte er den Kopf, hielt nach dem Kind Ausschau. Immer wieder blickte er auf das Foto, verglich die Mädchen, die aus dem Bus stiegen, mit dem Bild. Da war sie. Sein Herz setzte für eine Sekunde aus, ehe es mit unvermittelter Geschwindigkeit weiterschlug. Das war Kathlyn Perry. Auf die Entfernung versuchte er Einzelheiten zu erkennen, suchte nach Details, die belegten, dass sie seine Tochter war. Natürlich stand er dafür viel zu weit weg. Der Bus fuhr weiter, und die Schüler strömten auseinander. Die meisten wurden abgeholt, die Älteren gingen allein nach Hause. Nur Kathlyn stand da und blickte sich suchend um. Aus den Unterlagen wusste er, dass Perry mit einer Freundin zusammengelebt hatte. Bei ihr war Kathlyn nun vorübergehend untergebracht. Doch wo war diese Frau? Hielt sie es nicht einmal für nötig, das Kind von der Haltestelle abzuholen? Er schlug die Akte auf, suchte darin etwas über die Mitbewohnerin. Eine gewisse Ms. Jones. Eric ärgerte sich darüber, dass Ethan nicht mehr über diese Frau in Erfahrung gebracht hatte, vermutlich war sie ihm zu unbedeutend erschienen. Er wollte wissen, wer diese Frau war, die für das Kind sorgte. Ohne es benennen zu können, hatte er dieser Mitbewohnerin gegenüber ein verdammt schlechtes Gefühl.

Die anderen Kinder waren längst zu ihren Eltern gegangen, nur Kathlyn stand noch immer an der Haltestelle. Er kniff die Augen zusammen und hatte bereits zwei Schritte auf sie zu gemacht. Eigentlich wollte er sie heute noch nicht ansprechen, sich nicht zu erkennen geben. Ethan hatte ihm eingeschärft, auf Abstand zu bleiben. Zuerst musste er mit absoluter Sicherheit wissen, dass Kathlyn seine Tochter war. Aber er konnte sie nicht allein nach Hause gehen lassen. Während er noch mit sich kämpfte, Angst hatte, dass es zu früh war, um Kathlyn anzusprechen, wünschte er sich – jetzt, da er sie sah und wusste, was für ein bezauberndes Kind sie war –, sie nach Cheetah Manor bringen zu können. Er musste unbedingt das Verfahren beschleunigen. Kathlyn gehörte nach Cheetah Manor, und je eher sie bei ihm war, umso besser. Zum ersten Mal wünschte er sich tatsächlich, dass dies alles kein Irrtum war, dass Kathlyn wirklich zu ihm gehörte. Es wurde ihm ganz warm ums Herz, und gleichzeitig wurde es auch unendlich schwer. Fühlte so ein Vater? Er wusste es nicht, aber er wusste, dass ein Kind wie sie in der Geborgenheit der Familie aufwachsen musste.

Eine große Frau, schlank mit rabenschwarzen Haaren und gebräunter Haut, wie es für die Ureinwohner des Landes typisch war, trat auf das Mädchen zu. Er blieb stehen. Verdammt. Das war eine Indianerin, die mit seiner Tochter sprach. Unwillkürlich nahm der Gepard eine Angriffshaltung ein, würde nicht zulassen, dass Kathlyn in Gefahr geriet. Doch Eric hielt das Tier zurück. Mit einer Indianerin hatte er absolut nicht gerechnet. Was machte sie bei Kathlyn? Hatten die Chowilawus von seiner Tochter Wind bekommen? Setzten sie alles daran, seiner Familie zu schaden? Es war gut, dass er stehen geblieben war und das Geschehen aus sicherer Entfernung betrachtete. Kathlyn schien die Frau zu kennen, ließ sich von ihr umarmen und sogar die Tasche abnehmen. Völlig fassungslos starrte er den beiden hinterher, die gemütlich die Straße entlanggingen.

Wer war diese Frau? Arbeitete sie für Kathlyns Familie? War Amber so vermögend gewesen, dass sie sich Personal leisten konnte? Vielleicht eine Babysitterin? Nein, er war sich ziemlich sicher, dass die Kellnerin gerade so über die Runden gekommen war.

Der Gepard lag noch immer in Lauerstellung. Indianer bedeuteten für ihn Gefahr. Die Beziehung seiner Familie zu den Chowilawus war schwierig. Er kannte die Geschichte von Daniel Morgan, seinem Vorfahren. Sein Vater hatte sie ihm oft erzählt. In einer heißen Sommernacht im Jahr 1900 brannte Morgan Manor bis auf die Grundmauern nieder. In dieser Nacht ging sein Ururgroßvater einen Pakt mit dem Land ein. Er bat um Schutz. Der Preis war hoch. Ein Geschenk und ein Fluch zugleich. Im Gegenzug versprach Daniel Morgan dem Land seinen Sohn und alle zukünftigen Kinder. Mit der Macht, die Energie von Cheetah Manor zu leiten, sie zugunsten der Familie zu nutzen, kamen auch die Cheetahs und wurden unwiderruflich ein Teil ihres Lebens.

Die Chowilawus kehrten in die Gegend zurück, bekamen von der Regierung auf der anderen Seite des Lake Maurepas ein Reservat zugeteilt. Doch das war ihnen nicht genug. Sie forderten ihr Land zurück. Sie wollten die Macht der Cheetahs für sich beanspruchen, doch Cheetah Manor schützte nicht nur die Tiere, sondern auch die Menschen, die auf ihm lebten. Auch wenn die Geschichte lange zurücklag, hatte sich an der Tatsache, dass die Chowilawu-Indianer das Land zurückwollten, nichts geändert.

Langsam folgte er Kahtlyn und der Frau. Die beiden bogen gerade in eine Straße ein. Wenn er sich richtig orientierte, war es zu Ambers Wohnung nicht mehr weit. Widerstand regte sich in ihm. War es nicht unverantwortlich, seine Tochter in der Obhut einer Chowilawu zu lassen? Aber war Kathlyn tatsächlich seine Tochter? Und wusste die Indianerin, dass er Kathlyns Vater war? Er musste dringend mehr über sie herausfinden. Deshalb zog er sein Mobiltelefon aus der Tasche und wählte Ethans Nummer. Es klingelte gerade ein Mal, da wurde auch schon abgehoben.

„Hallo Eric. Was gibt es?“

„Du musst für mich ein paar Dinge regeln.“

„Kein Problem, leg los.“

Eric atmete tief durch. „Zuerst musst du den Vaterschaftstest beschleunigen. Es ist egal, wie viel es kostet, ich muss bis morgen wissen, ob sie meine Tochter ist.“

„Aha“, war alles, was Ethan dazu sagte. „Und weiter?“

„Wie schnell wird sich das Gericht entscheiden?“

„Nun.“ Ethan zögerte. Papier raschelte, als blätterte er in Unterlagen. „Ich kenne den Richter. Konservativ und unbestechlich.“

„Ich will ihn nicht bestechen, er soll nur schnell entscheiden. Wenn Kathlyn mein Kind ist, wird sie mir zugesprochen.“

„Warum hast du es denn plötzlich so eilig?“, wollte Ethan verwundert wissen.

„Sie ist bei einer Indianerin.“

Ethan zog scharf die Luft ein. Er wusste, was das bedeutete. „Eine Chowilawu?“

„Vermutlich“, brummte Eric.

Er registrierte, wie die Frau mit Kathlyn in einem Hauseingang verschwand, und blieb stehen. Er wollte einige Zeit verstreichen lassen, ehe er wie zufällig am Eingang vorbeilaufen und einen Blick auf das Klingelschild werfen würde.

 „Hast du die Mitbewohnerin durchleuchtet?“

„Nein. Sie kam mir nicht verdächtig vor.“

„Kannst du herausfinden, wer diese Frau ist?“

„Natürlich, das ist kein Problem. Du hast die Unterlagen bis heute Abend in deinem E-Mail-Postfach.“

„Danke dir“, murmelte Eric und wollte sich gerade verabschieden.

„Und …“

Er horchte auf.

„Bitte halte dich wie besprochen zurück. Du darfst nicht mit dem Kind reden. Haben wir uns verstanden?“

„Ja“, knurrte Eric unzufrieden und legte auf. Verstimmt steckte er das Handy ein. Was fiel Ethan ein, ihn zu belehren? Er seufzte. Natürlich hatte sein Anwalt recht. Alles in ihm drängte danach, sich Kathlyn zu erkennen zu geben, und auch das Tier war kaum noch unter Kontrolle zu halten. Es fiel ihm äußerst schwer, sich zu beherrschen. Selbstverständlich konnte er nicht einfach auf Kathlyn zustürmen und sie mitnehmen, auch wenn er das am liebsten getan hätte. Leider musste sich auch Eric Morgan der Staatsgewalt Louisianas beugen. Er musste auf ein rechtskräftiges Urteil warten.

Nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte, schlenderte er an dem Haus vorbei. Vor dem Gebäude, in dem Kathlyn wohnte, wurde er langsamer und blieb schließlich stehen. Sein Blick suchte die Klingelschilder ab, bis Eric fand, wonach er suchte. Perry und Jones standen auf einem Klingelschild. Kein Wunder, dass Ethan bei dem Namen nicht hellhörig geworden war. Jones ließ nicht unbedingt auf indianische Abstammung schließen. Er war sich jedoch sicher, dass die Frau die Mitbewohnerin sein musste.

Um sich zu beruhigen, atmete er tief durch und ging dann weiter. Im Moment konnte er für Kathlyn nichts tun. Es kostete ihn unendlich viel Kraft, sich nicht einfach umzudrehen, zu dem Haus zurückzurennen und Sturm zu klingeln.

Er brauchte eine große Runde um den Häuserblock, um sich so weit abzureagieren, dass er zu seinem Auto zurückkehren und zurück nach Cheetah Manor fahren konnte. Der Gepard verlangte nach Auslauf. Der Mann wollte nur noch vergessen, und das war in Gestalt des Tieres am besten möglich.

Kapitel 3


Eric fand die Ungewissheit zermürbend. Es fiel ihm schwer, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Die Anspannung saß in jedem Muskel, und seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Wie sollte er sich so auf Rechnungen und Kassenausgänge konzentrieren?

Ethan hatte angerufen. Der Brief mit dem Ergebnis des Vaterschaftstests war bei ihm eingetroffen. Auf die Frage hin, ob er den Umschlag öffnen sollte, hatte Eric ihn gebeten, herzukommen. So ein verdammter Mist. Von New Orleans nach Cheetah Manor fuhr man etwa eine halbe Stunde, wenn es der Großstadtverkehr zuließ. Ethan hatte erklärt, er müsse noch einen dringenden Termin wahrnehmen, der jedoch nicht lange dauern werde. Anschließend mache er sich umgehend auf den Weg nach Cheetah Manor. Das war vor über zwei Stunden gewesen.

Eric starrte auf die Uhr, die über der Tür hing. Dieser verdammte Minutenzeiger bewegte sich einfach nicht. Er wurde noch wahnsinnig. Hatte sich die ganze Welt gegen ihn verschworen? Wollte man ihn bewusst quälen? Die Ungewissheit war schlimmer als alles andere, und er bereute es bereits, Ethan gebeten zu haben, herzukommen. Die erlösende Antwort hätte er am Telefon viel schneller gehabt. Allerdings hätte er dann auch nichts in der Hand gehabt, und er wusste, er brauchte es schwarz auf weiß, um es glauben zu können. Sowohl das eine als auch das andere.

Es klopfte, und er atmete tief durch. Ethan sollte nicht merken, wie nah ihm die Sache ging, wie sehr sie ihn beschäftigte.

Doch es war nur Alina, seine Assistentin, die eintrat, um ihm ein paar Papiere zu bringen. Er sah sie an, als wären ihr Flügel gewachsen, bis er sich besann und sich wieder unter Kontrolle brachte.

„Eric?“, fragte sie irritiert. „Ist alles in Ordnung mit dir?“ Sie war bereits dabei, den Schreibtisch zu umrunden.

Hastig hob er die Hand und gebot ihr Einhalt. „Mir geht es gut!“ Seine Worte duldeten keinen Widerspruch. „Ist Ethan schon da?“

„Nein?“ Unsicher drehte sie sich um und spähte hinter sich, als müsste da jeden Moment Ethan Washington auftauchen. „Wollte er heute kommen? Davon weiß ich nichts.“

Der Anwalt war ein häufiger Gast in den Geschäftsräumen der Weberei. Eric holte sich oft einen rechtlichen Rat bei Ethan ab, und als Anwalt kontrollierte er alle Verträge, die über Erics Tisch gingen.

„Wir haben vorhin telefoniert und einen Termin vereinbart.“

Überrascht zog Alina eine Augenbraue nach oben. Normalerweise liefen solche Termine über ihren Schreibtisch, und er konnte es ihr nicht verübeln, dass sie sich etwas übergangen fühlte.

Alina war eine der wenigen Personen, die ihn richtig gut kannten. Sie legte den Kopf schief und sah ihn nachdenklich an. „Was ist passiert?“

Eric wich ihrem Blick aus. Es fiel ihm nicht leicht, sie anzulügen. „Alles in Ordnung.“

Alina stemmte die Hände in die Hüften. Sie war mit ihren ein Meter sechzig ziemlich klein. Doch was ihr an Größe fehlte, machte sie durch Ausstrahlung wett. „Erzähl mir keine Märchen. Du bist leichenblass.“

„Mir geht es gut“, beharrte er und wechselte das Thema: „Warum bist du hier?“ Dummerweise klang die schroffe Frage eher wie eine Anklage.

Unwillkürlich streckte Alina den Rücken durch. „Ich habe einige offene Posten, die ich mit dir durchgehen wollte, bevor ich sie anweise.“ Sie atmete tief durch. „Aber da ich ungelegen komme, werde ich jetzt Feierabend machen und hoffen, dass du morgen besser drauf bist.“ Sie wirbelte auf dem Absatz herum und verließ sein Büro hocherhobenen Hauptes.

Er wusste, er konnte Alina nicht so gehen lassen. Das würde sie ihm wochenlang übel nehmen, und ihren Unmut konnte er momentan absolut nicht gebrauchen. Also schluckte er seinen Stolz hinunter und rief ihr hinterher: „Warte!“

Sie drehte sich um, verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn herausfordernd an. „Ja?“

Er mochte Alina, nur deshalb machte er das jetzt. Sie war jung, engagiert und absolut scharfsinnig. Manchmal bemerkte sie einfach nur zu viel, aber deshalb hatte er die Afroamerikanerin eingestellt.

„Ethan kommt in einer Privatangelegenheit. Es hat mit der Weberei nichts zu tun, sonst hättest du es natürlich mitbekommen.“

Sie stand da, blinzelte.

„Ich wollte dich nicht übergehen.“ Was sollte er noch tun, damit sie begriff?

„Es ist in Ordnung“, verkündete sie schließlich. „Moses wird sich freuen, wenn ich für ihn koche. Wir machen uns bestimmt einen gemütlichen Abend.“

Er nickte erleichtert. Moses war der Verlobte seiner Assistentin, ein junger Mann aus dem Dorf, der auf der Plantage arbeitete.

„Ich wünsche dir einen schönen Abend.“ Es mochte etwas steif klingen, aber zu mehr war er nicht in der Lage.

Er wartete, bis Alina den Raum verlassen hatte, und lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück. Für seinen Seelenfrieden wäre es gut, wenn Ethan bald auftauchte.

Es dauerte noch mal eine geschlagene Stunde, bis es an der Tür klopfte und nach seiner Aufforderung Ethan eintrat.

„Ich dachte schon, du kommst überhaupt nicht mehr“, begrüßte er den Anwalt.

„Sorry.“ Ethan grinste schief. „Rayna hat beschlossen, mit nach Cheetah Manor zu fahren, und da ich davon ausgehe, dass du sie bei diesem Gespräch nicht dabeihaben möchtest, habe ich sie zuerst bei deiner Mutter abgesetzt.“

Eric liebte seine kleine Schwester über alles, aber er wollte nicht, dass sie etwas über seine Probleme erfuhr. Er war Ethan dankbar für seine Umsicht.

„Hast du den Brief dabei?“

„Selbstverständlich.“ Er stellte seinen Koffer auf Erics Schreibtisch ab, öffnete ihn und entnahm einen Briefumschlag.

„Soll ich ihn dir in die Hand drücken und verschwinden oder sollen wir ihn gemeinsam öffnen?“

Eric starrte den weißen Umschlag an, als würde er über sein Schicksal entscheiden. In gewisser Weise tat es das auch. Das Ergebnis in diesem Brief würde sein Leben für immer verändern. Er wusste nicht, was er sich wünschte. Seine Gefühlswelt war vollkommen durcheinander. Es war unmöglich, dass er eine Tochter hatte. Er wollte nie ein Kind, nicht so. Irgendwann, wenn er bereit war, sich zu binden, wollte er sich eine Frau suchen und eine Familie gründen. Doch seit er Kathlyn gesehen hatte, wünschte er sich nichts sehnlicher, als tatsächlich ihr Vater zu sein. Er wollte das, was er in den vergangenen fünf Jahren verpasst hatte, wiedergutmachen, wollte sie zu sich holen und ihr alles ermöglichen.

„Du bleibst. Ich mache auf“, krächzte er und streckte die Hand nach dem Umschlag aus.

Ethan überreichte ihm den Brief und nahm ihm gegenüber auf einem der zwei Besucherstühle Platz.

Eric hielt das Kuvert fest, war wie erstarrt. Sein Herz klopfte wild und viel zu schnell. Er musste es einfach wissen. Mit zitternden Fingern riss er den Umschlag auf. Er brauchte ungewöhnlich lange, um ihn zu öffnen, und noch länger, um die Papiere auseinanderzufalten. Dann starrte er auf die Zeilen. Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen, trübten ein und verfärbten sich. Ein sicheres Zeichen dafür, dass der Gepard die Oberhand gewann. Er reichte den Brief über den Schreibtisch hinweg an Ethan. Mit ruhiger Hand nahm er ihn entgegen, setzte seine Lesebrille auf und studierte in aller Ruhe die Dokumente. Dann blickte er auf und sah Eric direkt an. „Kathlyn Perry ist mit 99,9-prozentiger Wahrscheinlichkeit deine Tochter.“

Der Gepard fletschte die Zähne. Er hatte eine Tochter. Kathlyn hatte nicht nur Anspruch auf einen Teil von Cheetah Manor, sie war ein Teil davon. Ihr tierisches Erbe würde sich bald zeigen. Er musste sie zu sich auf die Plantage holen, wollte für sie da sein und sie in Sicherheit wissen.

„Das Zweite ist ein Brief von Richter Eisman. Eine Vorladung. Der Richter wird mit Kathlyn sprechen und dann entscheiden, wem das Kind zugesprochen wird. Außer dir hat auch Izusa Jones die Vormundschaft beantragt.“

„Nie im Leben!“ Er sprang auf, ballte die Hände zu Fäusten. Er würde nicht zulassen, dass sein Kind bei einer Indianerin aufwuchs, noch dazu bei einer Chowilawu. Kathlyns großes Glück war, dass der Indianerstamm nichts von ihrer Existenz wusste. Sobald er sich jedoch zu seiner Tochter bekannte, würde sich dies ändern. Es stand außer Frage, er musste den Kontakt zu dieser Izusa Jones unterbinden.

Mit jedem Atemzug wurde ihm Stück für Stück mehr die Tragweite des Testergebnisses bewusst. Er war Vater, hatte die Verantwortung für ein Kind. Kathlyn war seine Tochter, mit allen Konsequenzen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sich die ersten Anzeichen der Verwandlung bei ihr bemerkbar machten. Um jeden Preis musste er verhindern, dass seine Tochter noch länger bei Izusa Jones wohnte. Dank Ethans gründlicher Arbeit wusste er inzwischen, dass Ms. Jones vor sieben Jahren das Reservat verlassen hatte, um Modedesign an der Universität in New Orleans zu studieren. Sechs Jahre lang hatte sie mit Amber Perry zusammengelebt. Die beiden Frauen mussten sich, kurz nachdem er auf Amber getroffen war, kennengelernt haben.

Er würde Kathlyn nicht teilen. Sie gehörte zu ihm, und er würde alles in seiner Macht Stehende tun, um ihr hier auf Cheetah Manor eine glückliche Kindheit zu bereiten. Es sollte ihr an nichts mangeln. Er würde sie nach Hause holen.

Kapitel 4


Vor zwei Tagen hatte Izusa die letzte Absage einer Boutique kassiert. Ein empfindlicher Schlag, doch aufgeben war keine Option. Sie musste ihre Miete bezahlen. Auf dem großen Nähtisch hatte sie ihren Laptop aufgebaut. Sie hatte eine Liste mit sämtlichen Modegeschäften im Umkreis von New Orleans angefertigt. Viele hatten ihr bereits am Telefon eine Abfuhr erteilt. Bei einer Handvoll durfte sie ihre Entwürfe vorstellen. Am Ende hatte man immer bedauernd den Kopf geschüttelt und darauf hingewiesen, dass ihre Entwürfe zwar wirklich schön seien, sich aber ohne eine namhafte Persönlichkeit oder ein Unternehmen im Rücken nicht verkaufen ließen. Ein Geschäftsführer hatte sogar die Frechheit besessen, ihr für ein halbes Jahr eine Kleiderstange für einen so horrenden Mietpreis anzubieten, dass sie sich davon ein neues Auto hätte leisten können. Wenn Izusa ein namhaftes Aushängeschild hätte, einen Star oder ein Sternchen von New Orleans, das ihre Kollektion trug, wäre das letzte Modegeschäft durchaus bereit gewesen, mit ihr zusammenzuarbeiten. Aber so konnten sie ihr leider nichts anbieten.

Es war zum Haareraufen. Ihre einzige Hoffnung, als Designerin in der Gegend Fuß zu fassen, bestand darin, jemanden zu finden, der ihre Mode trug. Den ganzen Vormittag hatte sie damit zugebracht, Persönlichkeiten der Stadt zu kontaktieren und ihre Kleider anzubieten. Sie hätte nicht gedacht, dass es so schwierig war, Kleidung zu verschenken. Die Managerin einer aufstrebenden Schauspielerin hatte ihr erklärt, dass dazu ein Vertrag nötig sei. Ihr Schützling wäre gerne dazu bereit, als Izusas Werbegesicht zu fungieren, verlangte pro Auftritt in der Öffentlichkeit jedoch einen fünfstelligen Betrag. Das konnte sich Izusa natürlich nicht leisten, und so lehnte sie bedauernd ab. Sie hatte zwar noch ein wenig Geld auf der Seite, doch mehr als ein Kleid würde die Schauspielerin nicht tragen können und ein einmaliger Auftritt würde ihr nicht helfen.

Eine Unternehmergattin, mit der sie telefonierte, lehnte ebenfalls ab. Sie habe zwei bekannte Designer, mit denen sie schon seit Jahren zufrieden sei. Für neue Experimente sei sie zu alt. Ihr gut gemeinter Rat bestand darin, sich an eine Stoffmanufaktur zu wenden.

Frustriert legte Izusa den Stift beiseite. Webereien gab es in Louisiana einige, die zwei größten und bekanntesten in New Orleans waren einerseits Cheetah Manor und andererseits die chowilawische Weberei, die von einem guten Freund ihres Vaters, Masou Maska, geführt wurde. Die chowilawische Weberei arbeitete mit drei großen Modelabels zusammen, die in erster Linie Stangenmode produzierten. Das war nicht Izusas Welt. Sie wollte keine Stangenmode entwerfen, die dann in Massenproduktion ging. Sie wollte kreativ sein, noch selbst Hand anlegen und individuelle Einzelstücke kreieren.

Cheetah Manor hatte sich auf hochwertige Ware und exklusive Designer spezialisiert. Ihr Aushängeschild war Reynolds, ein angesagter Modezeichner, der seit Jahren gemeinsam mit Cheetah Manor die Modetrends in New Orleans vorgab. Für Cheetah Manor zu arbeiten, bedeutete in der Branche einen Ritterschlag, dennoch kam für sie eine Bewerbung dort nicht infrage. Die chowilawische Weberei und die Familie Morgan waren erbitterte Feinde, und das ging weit über einfaches Konkurrenzdenken hinaus.

Masou hatte ihr einmal in seiner Weberei einen Job angeboten. Sie sollte Stoffdesignerin werden. Empört hatte sie abgelehnt. Sie hatte nicht jahrelang studiert, um dann am Schreibtisch zu enden und für andere Designs zu entwerfen. Sie wollte Kleider zeichnen, sich kreativ austoben und anschließend das Produkt selbst herstellen.

Mit den Maskas hatte sie die ein oder andere unschöne Erfahrung gemacht. Peshewa, Masous Frau, hatte einmal ein Kleid von ihr haben wollen. Keines der gewohnten Stangenkleider, sondern ein exklusives nur für sie geschneidertes Stück. Der Stoff, den sich Peshewa ausgesucht hatte, war von der Qualität so miserabel, dass sich daraus kein vernünftiges Kleid nähen ließ. Es hatte sich völlig verzogen. Die Stoffe waren für Industrieware kein Problem, aber für handgeschneiderte Damenbekleidung musste man sehr sorgfältig wählen. Die Hälfte der chowilawischen Stoffe schieden dabei aus. Peshewa war sauer gewesen, hatte das Kleid nicht haben wollen und Izusa Böswilligkeit unterstellt. Seitdem ging sie der Frau aus dem Weg.

Einmal hatte sich Izusa in ein Stoffgeschäft in New Orleans geschlichen und dort festgestellt, dass Masou, der ihr die Stoffe angeblich zu einem Freundschaftspreis verkaufte, sie ordentlich über den Tisch zog. Anstatt wie ausgemacht ihr die Ware günstiger zu überlassen, hatte sie den Endpreis bezahlt und Masou nicht nur seinen gewohnten Anteil, sondern auch den des Zwischenhändlers eingestrichen. Außer den chowilawischen Stoffen gab es unzählige andere Ballen. In einen wundervollen rosaroten Blumenstoff hatte sie sich augenblicklich verliebt und sofort gewusst, was sie daraus nähen wollte. Der Stoff fühlte sich auf der Haut wunderbar seidig an. Dann hatte sie leider den horrenden Meterpreis gesehen. Den hätte sie unter Umständen sogar noch bezahlt, wenn das gute Stück nicht von Cheetah Manor gestammt hätte. Unmöglich konnte sie die Produkte der Konkurrenz nehmen. Schweren Herzens war sie wieder gegangen.

Vonseiten der chowilawischen Weberei konnte sie keine Hilfe erwarten. Sie musste einen anderen Weg finden.

Während sie so dasaß und über ihre Situation sinnierte, klingelte es an der Tür. Hastig klappte sie den Laptop zu und schickte sich an, zur Eingangstür zu gehen. Wer mochte das sein? Sie erwartete eigentlich keine Post. Aber wer konnte sonst etwas von ihr wollen? Bevor sie öffnete, warf sie einen schnellen Blick durch den Spion. Eine ältere Frau mit blonden, streng zurückgesteckten Haaren und einem blauen Kostüm stand dort. Verwirrt über den unangekündigten Besuch strich sie ihren Rock glatt und öffnete die Wohnungstür.

„Mrs. Brown?“ Sie konnte ihre Überraschung nicht verbergen. Die Mitarbeiterin der Kinder- und Jugendfürsorge war bereits einige Male bei ihr gewesen. Sie war diejenige, die nach Ambers Tod dafür gesorgt hatte, dass Kathlyn bei ihr bleiben konnte. Hatte das Gericht inzwischen entschieden? Nachdenklich runzelte sie die Stirn. Sie hatte gedacht, dass sie über diesen Termin informiert werden würde. Neugierig blickte sie die ältere Dame an, versuchte den Anlass ihres Besuches zu ergründen.

„Ms. Jones.“ Die Fürsorgemitarbeiterin schob die Brille nach oben. „Haben Sie einen Moment Zeit für mich?“

„Kathlyn ist noch in der Schule“, entschuldigte sie sich verwundert, trat aber zur Seite, damit ihr Gast hereinkommen konnte.

„Deswegen bin ich auch jetzt gekommen“, erklärte sie bestimmt.

Izusa schloss hinter der unverhofften Besucherin die Tür und ging voran in die Küche. Glücklicherweise hatte sie bereits den Abwasch erledigt. Die Wohnung hatte sie erst gestern aufgeräumt und gesaugt.

„Möchten Sie etwas trinken?“, bot sie Mrs. Brown eine Erfrischung an, die diese jedoch ablehnte. Stattdessen setzte sie sich an den Küchentisch und wartete. Hölzern ließ sich Izusa ihr gegenüber nieder.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“ Sie versuchte zuversichtlich zu lächeln, dennoch spürte sie deutlich die Anspannung. Was mochte Mrs. Brown nur wollen?

„Es tut mir so wahnsinnig leid“, begann Mrs. Brown und schob sich ein weiteres Mal das Brillengestell nach oben. „Ich wünschte, ich könnte Ihnen bessere Nachrichten bringen. Aber mir war es wichtig, persönlich vorbeizukommen.“

Izusa spürte, wie sie blass wurde. Zum Glück saß sie. „Was meinen Sie …“, stammelte sie tonlos.

„Erinnern Sie sich an die Haare, um die ich Sie gebeten habe?“

„Natürlich. Für einen Gentest, der standartmäßig durchgeführt wird.“ Sie hatte sich damals etwas gewundert, war aber den Wunsch der Fürsorgemitarbeiterin nachgekommen.

„Kathlyns Vater hat sich gemeldet.“

Izusa fühlte sich völlig vor den Kopf gestoßen. Kathlyns Vater? Es gab nie einen Mann, weder in Ambers noch in Kathlyns Leben.

„Das ist nicht möglich. Kathlyn hat keinen Vater.“

„Ich fürchte, Sie irren sich.“

Vollkommen fassungslos schüttelte Izusa den Kopf. Amber hatte nie über Kathlyns Vater gesprochen, ihn kein einziges Mal erwähnt. Sie war davon ausgegangen, dass ihre Freundin keinen Kontakt mehr zu ihm hatte. In den letzten fünf Jahren hatte er sich nie blicken lassen. Warum kam er ausgerechnet jetzt auf die Idee, die Vaterrolle einzufordern?

„Es tut mir so unwahrscheinlich leid.“ Das glaubte sie Mrs. Brown sogar. „Nach dem Tod von Ms. Perry war das Gericht verpflichtet, nach den nächsten Angehörigen von Kathlyn zu suchen. Ich habe nicht gewusst, dass es einen Vater gibt.“

„Wie haben Sie ihn gefunden?“ Izusa verstand die Welt nicht mehr.

„Im Krankenhaus auf der Geburtsurkunde war ein Name hinterlegt. Wir mussten ihn informieren, und er hat einen Gentest gefordert.“

„Das muss ein Irrtum sein.“ Izusa klammerte sich an diesen Strohhalm. Alles andere wagte sie sich nicht vorzustellen.

„Leider nein. Der Gentest beweist, dass es sich zweifelsfrei um Kathlyns Vater handelt.“

Izusa schloss für einen kurzen Moment die Augen. Das war ein Albtraum.

„Der Richter hat den Termin für nächste Woche festgesetzt. Wie bei Kindern in dem Alter üblich findet das in unseren Räumlichkeiten statt. Bevor er ein endgültiges Urteil fällt, möchte Richter Eisman mit Kathlyn sprechen. Das wird direkt vor der Urteilsverkündung stattfinden.“

„Habe ich eine Chance, das Sorgerecht für Kathlyn zu bekommen? Kann ich etwas tun, um zu verhindern, dass Kathlyn zu einem Wildfremden muss?“ Tränen brannten in ihren Augen.

„Ich fürchte nicht. Soweit ich Einblick in die Unterlagen erhalten habe, ist Kathlyns Vater sehr wohlhabend. Sie wird es also gut haben.“

„Das ist nicht fair.“ Ihre Stimme versagte.

„Es ist ein Schock, das verstehe ich sehr gut. Deshalb bin ich auch jetzt gekommen, während Kathlyn in der Schule ist. Sie ist ein so liebes Mädchen.“ Traurig lächelte die Fürsorgemitarbeiterin. „Ich bedaure es wirklich sehr und wünsche Ihnen viel Kraft für die nächsten Wochen.“

„Und Sie können wirklich überhaupt nichts tun?“ Verzweiflung kroch in ihr hoch. Mrs. Brown konnte ihr so etwas doch nicht einfach eröffnen und sie damit allein lassen. Sie musste ihr helfen, für Kathlyn zu kämpfen.

Bedauernd schüttelte Mrs. Brown den Kopf. „Tut mir leid. Ich habe dem Richter gegenüber eine Empfehlung ausgesprochen, dass ich Sie für sehr geeignet halte, aber im angesichts eines Blutsverwandten …“ Sie beendete den Satz nicht. „Kathlyn zuliebe sollten Sie das Kind darauf vorbereiten.“

„Wird sie sofort nach dem Urteil wegmüssen?“ Izusas Herz krampfte sich zusammen. Zuerst hatte sie ihre beste Freundin verloren und jetzt auch noch Kathlyn. Dabei hatte sie Amber nach dem Unfall versprochen, sich um das Mädchen zu kümmern, sollte sie es nicht schaffen. Wie sollte sie so ihr Versprechen halten können?

„Nicht sofort danach, in den darauffolgenden Tagen.“

Tapfer nickte Izusa. Ihr Leben lag ein weiteres Mal in Scherben, und diesmal hatte sie keine Ahnung, wie es weitergehen sollte.

Mrs. Brown schob ihr den Brief zu. „Das ist die Vorladung des Gerichts.“

Mit zitternden Händen nahm sie den Umschlag entgegen. Sie fühlte sich von dem System hintergangen und verraten. Dennoch wusste sie, Mrs. Brown konnte nichts dafür. Izusa rechnete es ihr hoch an, dass sie die Nachricht persönlich überbracht hatte.

„Ich werde jetzt gehen“, verkündete die Sozialarbeiterin und erhob sich.

„Danke für Ihren Besuch.“ Izusa ließ den ungeöffneten Brief auf dem Küchentisch liegen und begleitete ihren Gast zur Tür. Nur noch für ein paar Minuten musste sie die Fassung wahren.

„Wir sehen uns dann nächste Woche“, verabschiedete sich Mrs. Brown und ging.

Izusa blieb noch einen kurzen Moment an der offenen Tür stehen und blickte der Frau hinterher, wie sie mit ihren hochhackigen Schuhen die Treppe hinunterstöckelte. Dann schloss sie die Wohnungstür. Erleichtert, allein zu sein, konnte sie endlich den Tränen freien Lauf lassen.

Kapitel 5


Izusa hatte Kathlyn an der Hand. Sie liefen durch die Straßen von New Orleans zu einer Bushaltestelle. Die Anbindung zur Kinder- und Jugendfürsorge war nicht optimal, aber sie würden zumindest hinkommen. Izusa hatte einen Kloß im Hals, ihre Miene war wie versteinert. Eigentlich hätte sie mit Kathlyn plaudern sollen, Unbeschwertheit vermitteln. Aber sie fühlte sich so ausgebrannt, so absolut leer, dass sie dazu nicht in der Lage war.

Endlich war es so weit. Der Tag, an dem eine Entscheidung fallen würde. Je näher der Termin rückte, umso nervöser war Izusa geworden. Sie wollte Kathlyn nicht verlieren. Das Kind bedeutete ihr so viel. Sie hatte es großgezogen, war nachts aufgestanden, wenn Amber völlig erschöpft gewesen war. Wenn Kathlyn kränkelte, hatte sie ebenso an ihrem Bett gesessen wie ihre Mutter. Jeden Geburtstag hatten sie zusammen gefeiert, sie war dabei gewesen, als Kathlyn zum ersten Mal krabbelte und ihre ersten Schritte tat. Das Kind war ein Teil ihres Lebens, und jetzt sollte ein fremder Mann sie ihr so einfach wegnehmen? Schon allein, wenn sie daran dachte, traten ihr Tränen in die Augen. Vor Kathlyn jedoch musste sie stark sein. Sie hoffte, dass sie genug Zuversicht ausstrahlte, um das Mädchen nicht zu verängstigen.

„Wer ist mein Vater?“, hatte Kathlyn wissen wollen, als Izusa ihr zum ersten Mal von Mrs. Browns Besuch erzählt hatte.

Dabei hatte das Mädchen sie mit seinen großen haselnussbraunen Augen angesehen. Amber hatte blaue Augen gehabt, und Izusa fragte sich unwillkürlich, ob das Kind die Augenfarbe von seinem Vater geerbt haben mochte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als hilflos mit den Schultern zu zucken. Sie wusste nichts über ihn, kannte nicht einmal seinen Namen.

„Er hat erst nach dem Tod deiner Mutter von dir erfahren“, erklärte sie Kathlyn. Sie musste ihr doch sagen, warum sich ihr Vater in den letzten fünf Jahren nicht bei ihr gemeldet hatte.

Kathlyn hatte es so hingenommen. Dass sie das Thema mehr beschäftigte, wurde Izusa allerdings erst bewusst, als sie Kathlyn am vergangenen Abend ins Bett gebracht hatte.

„Ich will nicht ohne dich sein.“ Kathlyn war in Tränen ausgebrochen, hatte ihre Ärmchen um Izusas Hals gelegt und sich an ihr festgeklammert. Sie fühlte sich machtlos, hätte Kathlyn gerne versprochen, dass sie für immer bei ihr bleiben könne. Aber das war schlichtweg eine Lüge. Also hatte sie gute Miene zum bösen Spiel gemacht und dem Kind beruhigend über den Rücken gestrichen.

„Du musst nicht ohne mich sein. Ich werde immer da sein, auch wenn wir nicht mehr zusammen wohnen werden“, versprach sie.

„Aber ich will bei dir bleiben.“

Traurig hatte sie Kathlyn über das Gesicht gewischt, die Tränen fortgestrichen. „Das wäre natürlich wundervoll, aber manche Dinge im Leben gehen einfach nicht. Das müssen wir so hinnehmen.“

Dabei brach es ihr fast das Herz. Sie wollte nicht ohne Kathlyn sein, konnte sich ein Leben ohne das Mädchen nicht vorstellen. Sie hatte schon Amber verloren. Das Schicksal konnte doch nicht so grausam sein und ihr auch noch Kathlyn fortnehmen.

Schweigend fuhren sie zwei Stationen mit dem Bus und stiegen dann in die Straßenbahn um. Zwanzig Minuten später standen sie vor einem dreistöckigen lang gezogenen Gebäude. Kathlyn ergriff ihre Hand, und Izusa drückte sacht zu. Sie wollte sich und dem Kind Mut machen.

Dann betraten sie das Haus. Die Räume, in denen die Fürsorge untergebracht war, befanden sich im ersten Stock, waren jedoch sehr gut ausgeschildert. Als sie durch eine Tür trat, blieb Izusa verunsichert stehen. Sie hatte weder mit Teppichboden noch mit einem Großraumbüro gerechnet. Doch da eilte schon Mrs. Brown auf sie zu, die wie immer perfekt gekleidet war.

„Ms. Jones, schön, dass Sie da sind.“ Sie gaben sich die Hand. Dann beugte sich die Mitarbeiterin der Fürsorge zu Kathlyn hinunter. „Hallo. Ich freue mich, dich wiederzusehen. Während die Erwachsenen dort drüben warten …“ Sie wies auf einen abgetrennten Raum hinter einer Glaswand, in dem mehrere Stühle standen. „… bringe ich dich zu Richter Eisman. Er möchte sich gerne mit dir unterhalten.“

Tapfer nickte Kathlyn, klammerte sich jedoch an Izusas Hand.

„Du darfst mit Mrs. Brown mitgehen. Sie wird die ganze Zeit dabeibleiben.“

Ängstlich schüttelte Kathlyn den Kopf.

Izusa seufzte und kniete vor dem Mädchen nieder. „Hör mal zu. Es ist wichtig, dass du mit dem Richter sprichst. Er muss eine Entscheidung treffen, und dafür musst du ihm erzählen, was du möchtest. Okay?“

Zögernd willigte Kathlyn ein und ließ Izusas Hand los. Stattdessen ergriff sie Mrs. Browns ausgestreckte Hand.

Izusa erhob sich und starrte Kathlyn hinterher. Es schmerzte so sehr, Kathlyn gehen zu lassen, und sie wollte sich kaum ausmalen, wie es war, wenn sie sich endgültig von ihr verabschieden musste. Der Richter konnte doch unmöglich so eine Entscheidung nicht zum Wohle des Kindes treffen. Inständig hoffe sie, dass Richter Eisman das ebenso sah.

Nachdem Mrs. Brown und Kathlyn in einem Zimmer ohne Glaswand verschwunden waren, machte sich Izusa auf in den Wartebereich.

Außer ihr befand sich nur ein weiterer Mann darin, der interessiert in einer Zeitschrift blätterte. Er blickte kurz auf, grüßte und vertiefte sich wieder in seine Lektüre. Er war Afroamerikaner, hatte ein gepflegtes Äußeres und trug einen Anzug mit einer dunkelblauen Krawatte. Er hätte viel besser in ein Gericht gepasst. Sollte das der Richter sein? Dafür sah er zu jung aus. Aber warum war er sonst hier? Suchend sah sie sich um.

Sie beschloss, all ihren Mut zusammenzunehmen. Wenn er der Richter war, musste sie unbedingt mit ihm sprechen. „Sind Sie wegen Kathlyn Perry hier?“

Der Mann sah auf, warf ihr einen langen Blick zu und legte die Zeitschrift zur Seite. „Ich nehme an, Sie sind Ms. Jones“, sagte er schließlich, nachdem er sie ausgiebig betrachtet hatte.

„Ja.“ Sie reckte das Kinn, wollte sich von dem beeindruckenden Mann nicht einschüchtern lassen. „Sind Sie der Richter?“

Für einen Moment sah sie, wie ihr Gegenüber aus dem Konzept geriet. Dann war seine Miene wieder undurchdringlich. „Nein, das bin ich nicht. Aber ich werde dafür sorgen, dass Kathlyn zu ihrem Vater kommt.“

Jetzt war es an ihr, ihn fassungslos anzustarren. Dieser Mann sollte Kathlyns Vater sein? Die Hautfarbe passte überhaupt nicht. Kathlyn war vom Hauttyp sehr blass, und der Mann ihr gegenüber war dunkel wie flüssige Schokolade.

„Sie sind Kathlyns Vater?“ Das war doch nicht möglich. Bei dem Gentest musste es zu einer Verwechslung gekommen sein. Anders konnte sie sich das nicht erklären.

Er verzog den Mund zu einem breiten Grinsen, sodass seine weißen Zähne hervorblitzten. Offensichtlich amüsierte er sich über ihre Bestürzung.

Wut vermischte sich mit ihrer Fassungslosigkeit, und Izusa wünschte sich, auf den Mann einprügeln zu können, bis er ihr versprach, aus ihrem und Kathlyns Leben zu verschwinden.

„Nein, das ist er nicht“, sagte eine angenehm warme und unglaublich männliche Stimme von der Tür her.

Unwillkürlich stellten sich Izusas Nackenhärchen auf. Sie wandte sich um und starrte den Mann an, der in der Tür stand.

„Er ist mein Anwalt. Ich bin Kathlyns Vater.“

Izusa glaubte ihren Augen nicht. Der hochgewachsene Mann, der in der Tür stand, hatte braune Haare, einen Dreitagebart und haselnussbraune Augen. Sein durchtrainierter Körper steckte ebenfalls in einem teuren Anzug, doch er hatte das Jackett ausgezogen, die Hemdsärmel hochgerollt und sich die Jacke lässig über die Schulter geworfen. Mit jedem Zoll strahlte er Selbstbewusstsein aus, und dabei hätte sich Izusa auch so schon winzig klein gefühlt. Sie erkannte ihn, wusste, wer er war. Eric Morgan, der Geschäftsführer der Weberei von Cheetah Manor, dessen Familie ihren Stamm als erbitterten Feind ansah.

Wie sollte sie mit diesem Mann vernünftig reden, sich vielleicht sogar zu Kathlyns Gunsten einigen? Das war ebenso unmöglich wie ein Schneemann in der Wüste. Schon aus Prinzip würde er alles dafür tun, dass sie das Mädchen nie wiedersah. So waren die Morgans ihrem Volk gegenüber.

„Mr. Morgan“, stammelte sie.

„Ms. Jones.“ Er lächelte sie überheblich an. „Ich denke, ich muss mich bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie in den vergangenen Wochen für meine Tochter da gewesen sind. Sobald die Sache hier geklärt ist, wird Kathlyn Sie nicht länger belästigen.“

Izusa war empört und sprachlos. Das Kind belästigte sie nicht. Wie kam er zu der Annahme? Und noch etwas wurde ihr bewusst. Die Chance, Kathlyn bei sich zu behalten, hatte sich in dem Moment in Luft aufgelöst, als Eric Morgan diesen Raum betreten hatte. Jeder Fremde hätte ihr vielleicht ein Zugeständnis gemacht, nicht er. Die Erkenntnis trieb ihr erneut Tränen in die Augen. Sie würde nicht weinen, nicht vor ihm. Bis der Richter sein Urteil gesprochen hatte, war noch alles offen. Für Kathlyn würde sie nicht aufgeben.

Fest presste sie die Lippen zusammen und wandte den Kopf ab. Sie würde sich ein Gespräch mit Eric Morgan und seinem Anwalt nicht antun.

Kapitel 6


Eric setzte sich neben Ethan und starrte vor sich hin. Aus dem Augenwinkel betrachtete er Izusa Jones, die von Nahem um einiges jünger aussah, als er angenommen hatte. Sie war sogar ausgesprochen hübsch. Die schwarzen Augen standen leicht schräg. Sie hatte durch die ausladenden Wangenknochen ein breites Gesicht, dazu eine gerade Nase. Das lange pechschwarze Haar war zu einem Zopf geflochten. Demonstrativ hatte sie den Kopf abgewandt. Ihre Haut war kupferfarben, und das Tier in ihm stellte sich unwillkürlich vor, wie sie schmecken würde. Das überraschte ihn. Er hätte damit gerechnet, dass das Tier in Angriffsstellung ging, die Zähne fletschte, doch dem war nicht so. Das Raubtier blieb absolut ruhig und betrachtete sie neugierig.

Eine junge Frau mit feuerroten Haaren betrat den Raum. „Ms. Jones, Mr. Morgan?“

„Ja?“, fragten sie wie aus einem Mund und erhoben sich gleichzeitig. 

„Richter Eisman möchte nun mit Ihnen sprechen.“

Auch Ethan stand auf, nickte ihm zu, und sie folgten der Rothaarigen, die sie durch das Großraumbüro führte. Ms. Jones ging voran. Sie trug ein hübsches dunkelrotes Kleid, das eng geschnitten war und ihre Kurven hervorragend zur Geltung brachte. Bewusst blickte er weg. Er musste sich auf etwas anderes konzentrieren, konnte dieser Frau doch nicht ungeniert auf den Po starren. Hatte sie überhaupt eine Ahnung, wie fantastisch sie darin aussah? Vermutlich nicht, denn sie benahm sich nicht wie eine Frau, die sich ihrer Reize bewusst war und sie gekonnt ausspielte. Die Fürsorgemitarbeiterin brachte sie zu einem abgetrennten Raum und blieb in der geöffneten Tür stehen, sodass sie nacheinander eintreten konnten. Es handelte sich um einen Besprechungsraum. Die Tür schloss sich hinter ihnen. Acht Personen fanden an dem rechteckigen Tisch Platz. Richter Eisman, ein eindrucksvoller Mann mit ergrauten Schläfen und einem imposanten Schnauzer, gab ihnen wortlos zu verstehen, dass sie sich setzen sollten. Vor ihm ausgebreitet lagen einige Unterlagen. Das war also der unbestechliche und konservative Richter. Eric wusste nicht so recht, was er von ihm halten sollte, als er sich ihm gegenübersetzte. Ethan nahm zu seiner Linken Platz. Auf der anderen Seite blieb der Stuhl leer. Ms. Jones hatte eine Lücke zwischen ihnen gelassen.

„Es geht um das Sorgerecht von Kathlyn Perry“, fing der Richter an und blickte auf ein Dokument in seiner Hand. „Ich denke, Sie konnten sich im Wartebereich bekannt machen und wissen voneinander.“ Ohne auf eine Reaktion zu warten, fuhr der Richter fort: „Momentan lebt das Kind bei Ihnen, Ms. Jones. Sie haben mit Kathlyn und ihrer Mutter zusammengewohnt, sind also eine vertraute Person.“

Aus dem Augenwinkel sah er, wie die junge Frau nickte. Es kostete sie wohl einiges an Überwindung.

„Mr. Morgan, der Test hat bewiesen, dass Sie der leibliche Vater sind. Allerdings waren Sie in den letzten Jahren nicht präsent, zumindest hat mir Ihre Tochter erzählt, Sie nie gesehen zu haben.“

„Das stimmt“, gab Eric zu. „Aber das liegt nur daran, dass ich bis zu dem Brief der Fürsorge nicht wusste, dass ich eine Tochter habe. Ich bin durchaus bereit und in der Lage, für sie zu sorgen. Auf Cheetah Manor wird es ihr an nichts fehlen.“

„Das bezweifelt niemand“, sagte der Richter. „Dennoch muss ich zum Wohl des Kindes entscheiden, und deshalb habe ich Sie beide hergebeten.“

„Ich muss darauf hinweisen, dass mein Mandant zweifelsfrei als einziger Blutsverwandter einen Anspruch auf das Sorgerecht hat. Es ihm nicht zuzusprechen, ist nicht akzeptabel. Im Fall von …“

Abwehrend hob der Richter die Hand, und Ethan verstummte.

„Mr. Washington, ich schätze Ihr Engagement und verstehe sehr gut, dass Sie auf der Seite Ihres Mandanten stehen. Für den Moment möchte ich jedoch mit dem Vater und der einzigen Bezugsperson, die das Kind hat, sprechen.“

Es war Ethan anzusehen, dass er nicht begeistert war, er presste die Lippen fest zusammen und schwieg.

„Mr. Morgan, haben Sie Kathlyn kennengelernt?“

Wahrheitsgemäß schüttelte Eric den Kopf. „Ich habe mit Mrs. Brown gesprochen, die darum gebeten hat, erst Ihre Entscheidung abzuwarten, um Kathlyn nicht unnötig zu verunsichern.“

„Kathlyn kennt Sie also nicht.“

„Nein.“

„Mein Mandant hat sich an die Empfehlung der Fürsorge gehalten. Das können Sie ihm nicht negativ auslegen“, schaltete sich Ethan abermals ein.

„Mr. Washington.“ Die Stimme des Richters war eine Spur lauter geworden. „Entweder Sie sind ab sofort still oder ich fordere Sie höflich dazu auf, den Raum zu verlassen.“

„Ich denke, das wird nicht nötig sein“, gab Ethan nach.

„Ms. Jones“, wandte sich der Richter nun an die junge Frau. „Sie kennen Kathlyn schon sehr lange?“

„Ja“, sagte sie leise. „Schon ihr ganzes Leben. Ich war im Krankenhaus mit dabei, als Kathlyn geboren wurde, und habe seitdem jeden ihrer Schritte begleiten dürfen.“

Richter Eisman machte sich eine Notiz. „Wie würden Sie Ihre Beziehung zu ihr beschreiben?“

„Ich bin für sie da, gerade seit ihre Mutter gestorben ist. Kathlyn war immer ein sehr lebendiges und aufgewecktes Kind, aber seit Ambers Tod ist sie sehr still geworden.“

Eric schluckte. Er wusste, wie es war, einen geliebten Elternteil zu verlieren. Sein Vater war viel zu früh aus seinem Leben verschwunden, und er bedauerte es noch heute oft, ihn nicht besser gekannt zu haben. Wie viel schwerer musste es seiner Tochter fallen, die ihre Mutter verloren hatte, und bei ihr war es ein endgültiger Abschied.

„Mir liegt das Wohl von Kathlyn sehr am Herzen. Aus rechtlicher Sicht bleibt mir nichts anderes übrig, als Ihnen, dem Vater, das Sorgerecht zuzusprechen.“ Sein Blick verweilte einen Moment auf Ethan, der jedoch stumm blieb. „Aus menschlicher Sicht kann ich dem Kind jedoch nicht den einzigen Halt im Leben nehmen. Ich bitte also Sie beide …“ Er blickte zuerst Eric, dann Ms. Jones an. „… eine Lösung für das Kind zu finden.“

Schweigen breitete sich aus. Eric warf einen Seitenblick zu Ms. Jones, die ebenfalls zu ihm schielte.

„Was erwarten Sie jetzt von uns?“, fragte sie unsicher.

„Ich möchte, dass Sie eine zufriedenstellende Lösung für das Kind finden. Sie sind die Erwachsenen und Sie haben mir gerade glaubhaft versichert, dass Ihnen Kathlyns Wohl sehr am Herzen liegt. Wo wird es ihr gut gehen, wo wird sie zur Schule gehen?“

„Sie wird in Cheetahville zur Schule gehen“, sagte Eric spontan. Es stand für ihn außer Frage, dass sie mit den Kindern des Dorfes die Grade School besuchen würde.

„Aber dann würde sie ihre ganzen Freunde verlieren“, entgegnete Ms. Jones entrüstet.

„Sie kann nicht in New Orleans bleiben. Sie ist meine Tochter und gehört nach Cheetah Manor.“ Außer Ethan hatte keiner der Anwesenden eine Ahnung, wie elementar wichtig das für Kathlyn war.

„Sie können sie nicht einfach so aus ihrer vertrauten Umgebung herausreißen.“ Izusa Jones wandte sich ihm zu und blitzte ihn mit wütend funkelnden Augen an.

Eric glaubte, in den schwarzen Augen goldene Sprenkel auszumachen.

„Es steht nicht zur Diskussion. Kathlyn wird ab sofort auf der Plantage leben. Ich habe ein Haus, und dort ist mehr als genug Platz.“

„Platz für wie viele Personen?“, hakte der Richter nach.

Eric runzelte die Stirn. „Es ist ein großes Haus.“ Dort würde er eine ganze Kinderschar unterbringen, aber das stand momentan nicht zur Diskussion. Kathlyn konnte ein Schlafzimmer, ein Musikzimmer und mindestens drei Spielzimmer haben, wenn der Richter Wert darauf legte.

„So groß, dass auch Ms. Jones vorübergehend bei Ihnen einziehen könnte?“

Drei fassungslose Gesichter starrten den Richter an.

„Das ist nicht möglich!“ Entrüstet schüttelte Eric den Kopf.

„Das geht nicht!“, ereiferte sich auch Ms. Jones.

„Warum nicht?“ Der Richter blickte von einem zum anderen. „Sie haben mir gerade versichert, dass Sie genügend Platz haben. Ihre Tochter kennt Sie bisher nicht. Mit Ms. Jones hätte sie jemand Vertrautes in ihrer Umgebung, bis Sie sich nähergekommen sind.“

„Haben Sie eine Ahnung, was Sie da von mir verlangen? Ich kann doch nicht eine wildfremde Person auf mein Grundstück lassen.“ Noch dazu eine Chowilawu-Indianerin, aber das sagte er nicht laut.

„Wie soll ich das verstehen? Ich bin bisher davon ausgegangen, dass Sie alles zum Wohl Ihrer Tochter tun würden?“ Der Richter trieb ihn in die Enge, und das gefiel dem Gepard überhaupt nicht. Er wurde unruhig.

Ethan stupste ihn leicht an.

„Kann ich einen Moment allein mit meinem Anwalt sprechen?“, fragte Eric höflich.

Richter Eisman nickte Richtung Tür und entließ damit die beiden Männer, die sich erhoben und den Raum verließen.

„Ich kann ihr doch nicht gestatten, die Plantage zu betreten.“ Aufgebracht fuhr sich Eric mit der Hand durch das Haar.

„Dieser verdammte Richter“, schimpfte Ethan. „Ich fürchte nur, er hat sich in den Kopf gesetzt, einen Kompromiss auszuhandeln.“

„Und wie stellt er sich das deiner Meinung nach vor?“

„Entweder das Kind und die Indianerin bei dir oder du ziehst nach New Orleans.“

Demonstrativ verschränkte Eric die Arme vor der Brust. „Nie im Leben. Ich kann nicht nach New Orleans ziehen.“

„Eisman ist ein Sturkopf. Wir können natürlich das Sorgerecht einklagen, aber ich weiß nicht, wie lange es dauern würde, in die nächste Instanz zu gehen.“

„Aber ich bin ihr Vater“, entrüstete sich Eric.

„Den man auch mit einem Besuchsrecht abspeisen könnte …“

Eric hasste seinen Anwalt in diesem Moment für dessen Ehrlichkeit.

„Was schlägst du vor?“

„Welche Konsequenzen hätte es, wenn du dir tatsächlich in New Orleans eine Wohnung suchst?“

Der Gepard fuhr die Krallen aus. Der Gedanke gefiel Eric ebenso wenig. Er hatte nah an der Weberei wohnen wollen und sich deshalb in direkter Nachbarschaft ein Haus gebaut. Dafür nahm er auch in Kauf, regelmäßig nach New Orleans zu pendeln, wo sich die Firmenzentrale der Weberei befand. Der Gepard liebte die Sümpfe und den nahe gelegenen See. Er brauchte die Weite und die Natur vor der Haustür. Das gegen eine beengte Wohnung und Stadtluft einzutauschen, widerstrebte ihm. Wenn Kathlyn begann, sich zu verwandeln – und sie war immerhin schon fünf Jahre alt –, musste sie einen geschützten Rahmen vorfinden, und all das bot Cheetah Manor.

„Darüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Ich will nicht nach New Orleans ziehen und für Kathlyn ist die Großstadt ebenfalls nichts.“

„Ms. Jones Zugang zur Plantage zu gewähren?“, fragte Ethan.

Bei dem Gedanken wurde Eric beinahe schlecht. Er wollte den Feind nicht in seiner Nähe haben.

„Dein Haus liegt abseits, wir könnten die Felder und das Haupthaus mit einem weiteren Zirkel schützen.“

Eric glaubte, sich verhört zu haben. „Du schlägst allen Ernstes vor, einer Chowilawu-Indianerin Zutritt zu Cheetah Manor zu gewähren?!“ Er konnte es einfach nicht begreifen, dass Ethan ihm diesen Vorschlag tatsächlich unterbreitete.

„Es ist deine Entscheidung. Ohne Opfer geht es nicht.“ Damit ließ Ethan ihn stehen und kehrte in den Besprechungsraum zurück.

Fassungslos starrte Eric ihm hinterher.

Wann war sein Leben so problematisch geworden? Darren würde ihn vierteilen.

Kapitel 7


Izusa blickte auf, als Mr. Morgan mit grimmiger Miene den Besprechungsraum betrat. Sie hatte ihre Chancen viel geringer eingeschätzt und war dem Richter unendlich dankbar, dass er so auf ihrer Seite stand. Damit hatte sie nicht gerechnet, beklagen würde sie sich darüber auch nicht. Natürlich war ihr klar, dass Mr. Morgan nicht auf das Sorgerecht verzichten würde. Der Vorschlag des Richters, Kathlyn zu begleiten, war aber völlig absurd. Sie konnte nicht nach Cheetah Manor ziehen, sie konnte die Plantage nicht einmal betreten. Es gab eine Macht jenseits des Begreifbaren. Izusa war damit groß geworden, und auch wenn sie nicht alles guthieß, was ihr Stamm tat, glaubte sie doch daran, dass alles eine Seele besaß. Das Totem der Morgans waren die Cheetahs, die ihr Land schützten und ihnen Zugang zu einer Spiritualität gaben, die das Erbe ihrer Ahnen war. Sie besaßen dieselbe Macht wie Bilagáana, der Medizinmann ihres Stammes.

Mr. Morgan setzte sich, und Izusa musterte ihn neugierig.

„Ich habe darüber nachgedacht“, verkündete er entschlossen und sah den Richter direkt an. „Das Wohl meiner Tochter steht natürlich über allem, deshalb werde ich Ihrem Vorschlag zustimmen.“

Dann drehte er den Kopf, blickte sie direkt an. „Ich weiß, was du bist. Du bist nicht willkommen auf Cheetah Manor, doch meiner Tochter zuliebe werde ich dich dort dulden.“

Überrascht schnappte sie nach Luft. Sie sollte mit Kathlyn nach Cheetah Manor ziehen? Unmöglich. „Aber meine Arbeit?“, japste sie. Ihr nicht vorhandener Job war im Prinzip nebensächlich, jedoch das Einzige, was sie anführen konnte.

Richter Eisman blätterte in seinen Unterlagen. „Sie sind Modedesignerin, können also von überall arbeiten, korrekt?“

Etwas überfahren nickte Izusa. „Aber ich brauche meine Nähmaschine und den Tisch“, stammelte sie nur.

„Ihre Tochter und Ms. Jones ziehen bei Ihnen ein.“ Der Richter blickte kurz zu Mr. Morgan hoch. „Sie sorgen dafür, dass Ms. Jones’ Arbeitszimmer von New Orleans zu Ihnen transportiert wird sowie alle nötigen Sachen für die nächsten vier Monate. Darüber hinaus stellen Sie Ms. Jones ein Auto zur Verfügung, damit sie Ihre Tochter nach New Orleans in die Schule fahren kann. Bis Ende des Schuljahres wird sie nicht aus ihrer Klasse gerissen.“

Izusa schnappte nach Luft und starrte den Richter sprachlos an.

„Ich übertrage Ihnen, Mr. Morgan, für die nächsten vier Monate das Sorgerecht. Dann sehen wir uns wieder. Sollten Sie bis dahin mit Ihrer Tochter gut auskommen und alles auf die Reihe bringen, kann sie meinetwegen ab dem nächsten Jahr bei Ihnen in die Schule gehen und Ms. Jones kann nach New Orleans zurückkehren.“

Die Worte des Richters zogen wie in Zeitlupe an ihr vorbei. Es war, als stünde sie plötzlich als teilnahmslose Zuschauerin neben sich.

„Ich bin damit einverstanden“, murmelte Mr. Morgan gequält.

Jetzt war es an Izusa. Doch wie sollte das funktionieren? Sie konnte Kathlyn nicht auf die Plantage begleiten. Wie stellte sich Eric Morgan das vor?

„Wenn Mr. Morgan mit den Bedingungen einverstanden ist, bin ich es auch“, hörte sie sich sagen.

„Wunderbar“, freute sich der Richter. Er erhob sich und klopfte an eine Tür, die sich direkt hinter ihm befand. Dann kehrte er zu seinem Platz zurück.

„Das Gericht von New Orleans setzt Mr. Morgan für die nächsten vier Monate als Vormund für Kathlyn Perry ein. In dieser Zeit wird Kathlyn weiterhin ihre Schule besuchen, jedoch gemeinsam mit Ms. Jones im Haus von Mr. Morgan leben. Für den Umzug kommt Mr. Morgan auf. Ebenso ist er verpflichtet, ein Auto für Ms. Jones zur Verfügung zu stellen.“

Izusa schwindelte. Sie wusste nicht so richtig, was sie von dem Urteil halten sollte, aber Kathlyn zuliebe würde sie alles tun, sich sogar auf feindlichen Grund und Boden wagen.

Die Tür öffnete sich, und Mrs. Brown trat mit Kathlyn an der Hand ein. Das Mädchen sah sich ängstlich um. Ihr Gesicht erhellte sich, als sie Izusa erblickte. Freudestrahlend kam das Kind auf sie zu, und Izusa schloss es in die Arme.

„Ich will bei dir bleiben“, schluchzte die Kleine verzweifelt.

„Es wird alles gut“, versprach sie. Jetzt konnte sie das wirklich, denn sie wusste, sie würde das Versprechen halten können. „Wir werden auf jeden Fall zusammenbleiben.“

Ihre Worte beruhigten Kathlyn ein wenig. Sie strich dem Mädchen eine verirrte Strähne hinter das Ohr und wischte mit der Hand ihre Tränenspuren fort. Als sie sich aufrichtete und den Richter anblickte, nickte er ihr zu. Sie sollte Vater und Tochter miteinander bekannt machen. Es war eine seltsame Atmosphäre, und gleichzeitig wusste sie, dass sie es nicht länger aufschieben konnte. Kathlyn hatte ein Recht darauf, den Mann kennenzulernen, der sie gezeugt hatte. Ob sie ihn mögen würde?

Izusa atmete tief durch. „Kathlyn, ich möchte dir gerne deinen Vater vorstellen. Eric Morgan.“ Sie drehte Kathlyn um, sodass sie ihn sehen konnte.

Mr. Morgan erhob sich langsam, kam auf Kathlyn zu und ging vor ihr in die Hocke. „Hallo, Kathlyn“, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen.

Zögernd schlug sie ein.

„Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen.“

Kathlyn drehte den Kopf weg. „Ich mag dich nicht.“

Izusa hätte es nicht laut zugegeben, aber etwas in ihrem Herzen jubilierte. Kathlyn gehörte zu ihr. In ihrem Leben hatte es bisher keinen Vater gegeben, und sie würde auch weiterhin ohne ihn zurechtkommen. Was außer einem Haufen Geld konnte Mr. Morgan dem Kind schon bieten? Aber das, was Kathlyn brauchte, war nicht finanzieller Natur. Sie benötigte Liebe, Zuneigung und Zeit. Alles Dinge, die Izusa ihr geben konnte.

„Junge Dame“, wies der Richter Kathlyn zurecht, und sie zog augenblicklich einen Schmollmund. „Du hast großes Glück, zwei so wunderbare Menschen in deinem Leben zu haben. Dein Vater möchte dich gerne kennenlernen, und du solltest ihm die Chance dazu geben.“

Unsicher musterte Kathlyn den für sie vollkommen fremden Mann.

„Wir beide – du und ich – werden für die nächsten Monate zu deinem Vater ziehen. Dann habt ihr alle Zeit der Welt, euch kennenzulernen“, erklärte Izusa, auch wenn es sie große Überwindung kostete.

„Du wirst mitgehen?“ Ungläubig sah die Kleine mit ihren großen braunen Augen zu ihr auf.

Ernst nickte sie ihr zu. Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf Kathlyns Gesicht aus. Ihre Augen blitzten. War das Zuversicht? Izusa konnte es nicht mit Sicherheit sagen, aber sie wusste, dass sich das Opfer, das sie bringen musste, für Kathlyn lohnen würde.

Das Kind schlang die Arme abermals um Izusa und drückte sich an sie. Mit einem Mal war Kathlyn wie ausgewechselt. „Wann geht es los?“, wollte sie wissen.

Hilfe suchend sah sie auf und begegnete Mr. Morgans Blick.

„Bald“, antwortete dieser und erhob sich.

Kapitel 8


Es war einer der typischen Familienabende, wie sie in letzter Zeit immer wieder auf Cheetah Manor stattfanden. Alle waren zusammengekommen: Rayna und Ethan, Sarah und Darren, er und natürlich Moira, seine Mutter. Eric wusste, dass er an diesem Abend seiner Familie von Kathlyn erzählen musste. Er hatte bereits ein Umzugsunternehmen angefragt, das Ende der Woche einsatzbereit sein konnte. Auch ein Auto für Izusa Jones stand bereit. Das war der leichtere Teil gewesen, denn jetzt musste er seiner Familie beichten, dass er eine Tochter hatte und – was noch viel schlimmer war – eine Indianerin nach Cheetah Manor bringen würde. Eric konnte sich die Reaktionen bildlich vorstellen. Moira würde erblassen und schweigen, Rayna würde ihm die Meinung sagen, und Darren würde toben. Sarah konnte er am wenigsten einschätzen, und Ethan wusste bereits von dem Deal. Er hoffte nur, dass sich Darren rasch wieder einkriegen würde, denn er brauchte seinen Bruder. Ethans Vorschlag war gut. Sie konnten zusätzliche Schutzkreise um die Baumwollfelder und das Haupthaus von Cheetah Manor legen, aber das schaffte er nicht allein. Dazu brauchte er Darren und nicht nur ihn, sondern auch die restliche Familie.

„Ich freue mich so, dass ihr alle gekommen seid“, verkündete Moira freudestrahlend. Seine Mutter sah gut aus, gesünder. Ihre Haut hatte Farbe bekommen, und sie hatte auch etwas an Gewicht zugelegt, was ihr ausgesprochen gut stand. Seit Sarah auf Cheetah Manor war, ruhte Moira in sich. Es war, als hätte sie endlich ihren Frieden mit sich und dem Land, von dem sie ein Teil war, geschlossen. Die beiden Frauen verstanden sich gut, und Moira hörte auf ihre Schwiegertochter, die einen guten Einfluss auf die labile Stimmung hatte.

„Ist das lecker“, stöhnte seine Schwester Rayna und schob sich eine weitere Gabel mit Gemüse in den Mund.

Mary, die Haushälterin, hatte sich mal wieder selbst übertroffen.

„Wie geht es dir, Sarah?“, erkundigte sich Ethan.

Seit Sarah und Darren verkündet hatten, dass sie Nachwuchs erwarteten, wurde die Frage regelmäßig gestellt. Alle nahmen Anteil und alle freuten sich auf das Kind.

Sarah nippte an ihrem Wasserglas und strahlte über das ganze Gesicht. „So gut wie nie zuvor.“ Die Schwangerschaft stand ihr wirklich ausgezeichnet. Sie war im Gesicht etwas runder geworden, strahlte aber von innen heraus. Eric freute sich für die beiden, und noch vor ein paar Wochen hätte er geschworen, dass sie die Ersten wären, die die neue Generation nach Cheetah Manor brachten.

„Und wie geht es dir, Eric?“ Ethan warf ihm einen vielsagenden Blick zu.

Erics Miene verfinsterte sich. Er wollte sich nicht von seinem Schwager unter Druck setzen lassen. Er wusste selbst, dass er den Abend heute nutzen musste, daher ließ er sich bewusst Zeit mit der Antwort, betrachtete ausgiebig die Köstlichkeiten auf seinem Teller. Es noch länger aufzuschieben, machte keinen Sinn. Er seufzte, legte sein Besteck und die Serviette zur Seite und verkündete: „Ich muss euch etwas mitteilen.“

Verwundert richtete sich die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihn.

„Jetzt bin ich gespannt.“ Rayna steckte sich noch ein paar Shrimps in den Mund und kaute genüsslich. „Hast du etwa eine Freundin?“

Verwundert runzelte Eric die Stirn. Hatte Ethan etwas ausgeplaudert? Das sah ihm überhaupt nicht ähnlich.

„Na, so ein ernstes Gesicht, wie du gerade aufsetzt – da muss es doch um eine Frau gehen“, erklärte Rayna.

Eric war erleichtert. „Nein“, entgegnete er wahrheitsgemäß. Es ging zwar um eine Frau, aber nicht so, wie seine kleine Schwester dachte.

„Rayna“, wies Moira sie sanft zurecht. „Nun lass Eric erst einmal erzählen. Was hast du uns zu sagen?“

Eric atmete durch. „Ich habe eine Tochter.“ Jetzt war es raus. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Die erwarteten Reaktionen blieben aus. Keiner rührte sich. Sie saßen wie erstarrt da, bewegten sich nicht.

Sarah war die Erste, die sich halbwegs fasste. Sie legte ihr Besteck zur Seite und stützte sich mit den Ellenbogen auf dem Tisch ab. „Du hast eine Tochter?“

Eric nickte. Er konnte ihr Unverständnis verstehen. Ihm war es zuerst ähnlich ergangen, und er hatte auch ein paar Tage gebraucht, bis er sich an den Gedanken gewöhnt hatte.

„Seit wann?“, platzte es aus Rayna heraus. Das Essen war vergessen.

„Kathlyn ist fünf Jahre alt“, gab er bereitwillig Auskunft.

„Fünf?!“ Eine Faust donnerte auf den Tisch. Es war Darren anzusehen, dass er mit sich kämpfte. „Und da kommst du erst jetzt auf den Gedanken, uns das zu erzählen? Wie verantwortungslos bist du eigentlich?“

Er konnte Darrens Ausbruch nachvollziehen. Vermutlich hätte er ähnlich reagiert, wenn ein Familienmitglied ihm so etwas eröffnet hätte. „Ich habe es nicht gewusst.“ Er hatte nichts zu verstecken, und so starrte er ebenso finster seinen Bruder an. Wenn es darauf ankam, stand er Darren in nichts nach.

„Wie kann man bitte nicht wissen, dass man ein Kind hat?“ Darrens Kiefer mahlte. „Fünf Jahre. Haben sich die ersten Anzeichen schon gezeigt?“

„Ich weiß es nicht.“ Er starrte seine Shrimps an, als würden sie jeden Moment vom Teller hüpfen.

„Scheiße!“

Ein dezentes Hüsteln seiner Mutter unterbrach Darrens Schimpftirade, noch ehe sie begonnen hatte.

„Entschuldigung“, murmelte er kleinlaut und richtete sich dann wieder an Eric. „Sie muss unter allen Umständen nach Cheetah Manor. Sofort! Und wenn du dich nicht darum kümmerst, werde ich es tun.“

Das war mal wieder so typisch Darren. Ohne die ganze Geschichte zu kennen, verfiel er in blinden Aktionismus.

„Ich bin dabei“, antwortete er gereizt.

Erneut breitete sich Schweigen aus. Bisher hatte sich niemand nach der Mutter erkundigt, und das verunsicherte ihn ein wenig.

„Du hast es gewusst, oder?“ Rayna, die links von ihm saß, blickte ihren Mann aufmerksam an.

Ethan senkte den Blick, was Antwort genug war.

„Zumindest dich hätte ich für so vernünftig gehalten, dass du dieses Kind sofort herbringst“, warf sie ihm vor.

„Wenn es so einfach wäre, hätte Eric längst alles veranlasst“, rechtfertigte sich Ethan.

„Ist denn zweifelsfrei bewiesen, dass sie eine von uns ist?“, fragte Moira.

„Ich habe einen Gentest machen lassen. Sie ist eine Morgan“, versicherte er ihr. „Meine Tochter.“ Noch immer fühlte sich das Wort auf seiner Zunge fremd an, aber er mochte den Geschmack.

„Wann wird sie herkommen?“, wollte Sarah wissen.

„Es sind noch ein paar Dinge zu regeln, aber ich gehe davon aus, in ein paar Tagen.“

Zustimmendes Nicken.

„Wer ist ihre Mutter?“, stellte Moira nun die Frage aller Fragen.

„Du kennst sie nicht, und ich kannte sie eigentlich auch nicht.“

Moira zog eine Augenbraue nach oben.

Eric seufzte und erzählte die ganze Geschichte.

„Arme Kathlyn“, sagte Sarah mitfühlend, als Eric geendet hatte. Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Mit einer Hand hatte sie nach Darrens gegriffen, die andere lag schützend auf ihrem Bauch.

„Ende der Woche wird Kathlyn nach Cheetah Manor kommen“, schloss Eric.

„Aber sicher wird sie das. Kathlyn wird es hier ganz wundervoll haben. Cheetah Manor ist großartig, um Kinder aufzuziehen.“ Mit einer ausladenden Handbewegung wies Rayna um sich. „Bevor wir uns versehen, wird es hier nur so von Kindern wimmeln.“

„Kathlyn wird in meinem Haus wohnen.“ Eric wusste, dass er damit nicht auf Verständnis stoßen würde, und natürlich wäre es hier viel einfacher. Seine Mutter wohnte hier, Sarah und Darren, und es gab viele Bedienstete. Aber er hatte seine Gründe.

„Warum das? Hier ist doch genug Platz für alle. Deine Zimmer stehen noch immer leer. In deinem Haus bist du ganz allein, und du musst viel arbeiten. Wer soll sich um das Kind kümmern?“ Verständnislos sah Moira ihn an.

„Kathlyn wird nicht allein kommen.“

Wieder blickten ihn vier fragende Gesichter an.

Dann begann Eric von seinem und Ethans Ausflug zur Fürsorge zu erzählen. Von Richter Eisman und den Bedingungen, die er an das Sorgerecht von Kathlyn geknüpft hatte. Er hielt kurz inne, ließ Darren nicht aus den Augen. Bei seinen nächsten Worten würde sein Bruder explodieren. „Das einzige Problem ist nur, dass Kathlyns Bezugsperson eine Chowilawu-Indianerin ist.“

„Was?!“ Darren sprang auf, stemmte sich mit den Armen am Tisch ab und beugte sich dabei lauernd nach vorn. „Ich werde nicht zulassen, dass eine Chowilawu meinen Grund und Boden betritt.“

„Darren, ich habe keine Wahl.“ Er wusste, dass es schwierig würde, seinen Bruder zu überzeugen, und hatte dabei eigentlich auf Ethans Unterstützung gehofft. Sein Schwager hatte bisher jedoch mit Schweigen geglänzt.

„Das lasse ich nicht zu!“

Beruhigend legte Sarah eine Hand auf den Unterarm ihres Mannes, doch er schüttelte sie ab.

„Das geht nicht, Eric.“

„Ich habe keine andere Wahl, und ich lasse nicht zu, dass Kathlyn noch länger in New Orleans lebt.“

Die Brüder funkelten sich an, lieferten sich ein Blickduell. Darren als der Ältere war in allen Duellen, die sie sich bisher geliefert hatten immer als Sieger hervorgegangen. Doch diesmal konnte Eric nicht klein beigeben. Zu viel hing von dieser Entscheidung ab. Nicht nur Darren gehörte Cheetah Manor, auch er hatte einen Anspruch darauf.

„Es gibt immer eine andere Option“, warf Darren ihm wütend vor.

„Die gibt es nicht“, schaltete sich endlich Ethan ein. „Auch wir sind der Gerichtsbarkeit Louisianas unterstellt. Eric hatte keine andere Möglichkeit, und nun setz dich und hör dir an, was er zu sagen hat.“ Es war selten, dass Ethan so mit Darren sprach. Hinter verschlossenen Türen vermutlich häufiger, aber bisher nie im Beisein der Familie.

Anstatt einer weiteren Konfrontation ließ sich Darren auf seinem Stuhl nieder, verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust und wartete auf Erics Vorschlag.

„Die beiden werden in meinem Haus wohnen. Es liegt abseits von Cheetah Manor, dort kann nicht viel passieren. Wir werden zwei Schutzkreise ziehen. Einen um die Baumwollfelder und einen um das Haupthaus. Aber dafür brauche ich nicht nur dich, sondern euch alle.“

Darren starrte finster vor sich hin. Ungeduldig wartete Eric. Je länger es dauerte, umso verzweifelter wurde er. Er konnte ohne seinen Bruder die magischen Barrieren nicht beschwören. Ohne Darrens Zustimmung wollte er der Indianerin auch keinen Zutritt zu Cheetah Manor gewähren. Er war immerhin sein Bruder und das Familienoberhaupt. Gleichzeitig wusste er auch, es gab keinen anderen Ausweg. Richter Eisman hatte ihm sprichwörtlich die Pistole auf die Brust gesetzt. Darren musste einfach einlenken. Eric war nie etwas so wichtig gewesen. Er würde alles tun, was sein Bruder von ihm verlangte, wenn er ihm nur half, Kathlyn nach Cheetah Manor zu holen und gleichzeitig ihr Land zu beschützen.

„Zwei Schutzkreise“, murmelte Darren nachdenklich. „Wenn du und Mutter einen um Cheetah Manor legt und Ethan und Rayna um die Baumwollfelder, könnte ich beide miteinander verbinden.“

Ja, das war der grobe Plan gewesen, nur dass bei seiner Variante er derjenige war, der die Aufgabe übernahm, die Kreise miteinander zu verbinden. Ohne Anker – und sie hatten keine weitere Person – war das die gefährlichste Aufgabe. Für den Augenblick war es jedoch egal, wer welche Position einnahm. Wichtig war, dass Darren nicht ganz abgeneigt war und den Plan zumindest in Erwägung zog.

Erleichtert atmete Eric auf, und ihm wurde erst jetzt bewusst, wie angespannt er gewesen war.

Moira wirkte alles andere als begeistert. Sie hasste jede Art von Magie, hatte dadurch ihren Mann verloren. Dennoch war sie immer da gewesen, wenn sie einen zusätzlichen Anker gebraucht hatten. Normalerweise unterstützte Sarah sie, doch seit sie schwanger war, fiel sie aus. Weder Darren noch ein anderes Familienmitglied würden zulassen, dass sie in ihrem Zustand mit Magie in Berührung kam. Die Energie von Cheetah Manor war ihnen wohlgesonnen, aber jede Begegnung mit der unvorhersehbaren Macht war gefährlich, daher war es besser, Sarah außen vor zu lassen.

„Ich würde euch nicht darum bitten, wenn es einen anderen Weg gäbe. Mir gefällt es genauso wenig wie euch, dennoch muss ich es tun – für Kathlyn.“

„Meine Unterstützung hast du“, sagte Ethan und blickte fragend in die Runde.

„Ich bin auch dabei.“ Rayna griff mit den Fingern nach einer Okraschote und steckte sich das Gemüse in den Mund.

„Okay, machen wir es so. Aber außer dieser einen Indianerin wird kein einziger Chowilawu eine Zehenspitze auf unser Land setzen.“

In Darrens Bedingung stimmte er gerne ein. Das sah er nämlich ebenso. Auch er würde nicht zulassen, dass die Indianer bei ihnen ein und aus gingen. Izusa Jones würde eine Ausnahme bleiben und das auch nur für begrenzte Zeit.

„Für meine Enkeltochter bin ich bereit dazu“, schloss sich auch Moira widerwillig an.

„Danke“, sagte Eric erleichtert. Ihm fiel ein großer Stein vom Herzen. Das Schwierigste war geschafft. Jetzt konnte er sich daranmachen, alles Weitere zu organisieren. Gegen die Mammutaufgabe, seine Familie von seinem Vorhaben zu überzeugen, waren die anstehenden Projekte ein Kinderspiel.

„Wann können wir die Kreise ziehen?“, fragte er Darren.

Dieser überlegte. „Übermorgen“, entschied er. Eric wusste, Darren würde sich um alles kümmern, und murmelte einen Dank.

Ethan und Rayna, die dafür extra aus New Orleans herfahren mussten, nickten zustimmend.

„Abgemacht.“ Der Zeitpunkt war perfekt. Somit konnte er Kathlyn wie geplant Ende der Woche zu sich holen.

Kapitel 9


Izusa hatte lange überlegt, ob sie gehen sollte. Anlässlich der Verlobung ihres großen Bruders richtete ihr Stamm ein großes Fest aus. Mit Sahkyo stand sie regelmäßig in Kontakt, und sie wusste, wie viel ihm ihr Erscheinen bedeutete. Das war der einzige Grund, warum Izusa Kathlyn bei Mrs. Griggs, einer älteren Dame, die über ihnen wohnte, unterbrachte und sich mit dem Bus auf den Weg Richtung Reservat machte.

Mit dem Auto hätte sie nur die Hälfte der Zeit benötigt. Da sie keines hatte und sich in absehbarer Zeit auch keines leisten konnte, würde sie bis zur Bushaltestelle im Nirgendwo fahren und den restlichen Weg zu Fuß zurücklegen. Für gewöhnlich dauerte das Fest bis in die Morgenstunden, aber so lange konnte sie nicht bleiben. Mrs. Griggs hatte ihr zwar versichert, Kathlyn könne auf dem Sofa übernachten, allerdings wollte Izusa das nicht. Spätestens um Mitternacht wollte sie wieder zurück sein.

Das Fest hatte bereits zur Mittagszeit begonnen, doch den Höhepunkt würde die Verlobung am Abend bilden. Daher hatte sie beschlossen, erst am späten Nachmittag aufzubrechen, um Kathlyn nicht allzu lang allein lassen zu müssen.

Die Sitzreihen waren ziemlich leer, und niemand nahm Notiz von der unauffälligen Indianerin. Sie trug eine Jeans, Turnschuhe und eine einfache Bluse. Ihr rituelles Kleid und alles, was sie sonst noch benötigte, hatte sie in einen Beutel gesteckt. Der Bus hielt. Es verwunderte Izusa nicht, dass sie die Einzige war, die an der abgelegenen Haltestelle ausstieg. Wer begab sich schon freiwillig ins Nirgendwo?

Izusa blickte dem Bus hinterher, der die staubige Straße entlangfuhr. Dann war er hinter der nächsten Biegung verschwunden. Alles um sie herum war grün, wunderschön und dennoch gefährlich, denn zwischen den langen Farnen und dem Unterholz befanden sich tiefe Sumpflöcher. Sie machte sich auf den Weg, kannte sich hier aus. Unzählige Male war sie den Trampelpfad schon gelaufen und mit ihr die älteren Kinder des Dorfes, die nicht mehr in der Dorfschule unterrichtet wurden, sondern sich für eine der höheren Schulen in New Orleans entschieden hatten. Damals waren sie immer in Grüppchen gelaufen, heute musste sie den Weg allein zurücklegen. Doch das störte Izusa nicht. Sie genoss den Spaziergang. Schon viel zu lange war sie nicht mehr hier gewesen. Sie hatte die unberührte Gegend tatsächlich vermisst. Auch wenn sie sich dafür entschieden hatte, nach New Orleans zu gehen, liebte sie die Natur. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte sie gerne beides miteinander verbunden, doch der tägliche Weg vom Reservat nach New Orleans war ziemlich weit. Dazu kam noch das Unverständnis ihrer Eltern, die einfach nicht begriffen, dass es ihr großer Traum war, Modedesignerin zu werden. Jedes Mal, wenn sie ihre Familie sah, gab es Streit. Das hatte dazu geführt, dass sie kaum noch das Reservat aufsuchte. Wenn es nach ihren Eltern gegangen wäre, hätte sie es wie viele ihrer Freundinnen gemacht. Sie wäre nach der Uni zurückgekommen und hätte einen der jungen Männer geheiratet, um Kinder zu bekommen. War es so falsch, mehr vom Leben zu erwarten?

Nach einer Stunde Fußmarsch erreichte Izusa die ersten Unterkünfte. Normalerweise spielten zwischen den Zelten Kinder. Die älteren Dorfbewohner saßen vor ihrem Heim und sahen ihnen zu, während die jüngeren Erwachsenen ihrer Arbeit nachgingen. Doch heute war das Dorf leer. Kein Wunder, denn alle hatten sich auf dem heiligen Platz versammelt und feierten dort, seit die Sonne ihren Zenit überschritten hatte.

Izusa huschte in das Zelt ihrer Eltern und zog sich dort eilig um. In der heutigen Zeit war die alltägliche Indianerkleidung aus Baumwollstoff. Sie war leicht und robust, optimal, um damit Arbeit zu verrichten. Früher waren die Kleider und Lendenschurze aus Leder gewesen, das jedoch viel schwerer war. Heute war nur noch die Festkleidung aus diesem Material, das im Dorf immer noch wie vor hundert Jahren hergestellt wurde. Izusa streifte sich ihr Gewand über und strich es glatt. Es war mit aufwendigen Mustern und Perlen bestickt, die sie als junge Erwachsene zusammen mit ihrer Mutter aufgenäht hatte. Sie hatte es geliebt, an den Kleidern zu arbeiten, und hatte viele ihrer Freundinnen dabei unterstützt. Nachdenklich legte sie die prachtvolle Kette um, die aus vierundzwanzig unterschiedlichen Perlen bestand. Zu jedem Geburtstag hatte sie eine handgefertigte Perle von ihrer Großmutter bekommen. Izusa kämmte das lange Haar und flocht die Federbänder hinein. Als unverheiratete Tochter durfte sie lediglich drei Bänder mit weißen Federn tragen. Sie zog den Kohlestift aus ihrer Tasche hervor und umrandete die Augen. Es war genau vorgeschrieben, wie sie auszusehen hatte. Zum Schluss schlüpfte sie noch in ihre Mokassins und machte sich auf den Weg zum Festplatz, der etwas außerhalb des Dorfes lag. Schon von Weitem hörte sie den Trommelwirbel und das rhythmische Klatschen. Holzklötze, die aneinanderschlugen, untermauerten den Takt. Die Männer nahmen Aufstellung und wirbelten mit ihren langen Holzspeeren um das Feuer herum. Izusa ging zu den Frauen, die sich auf der einen Seite des Feuers aufhielten. In der ersten Reihe erblickte sie ihre Großmutter, dahinter ihre Mutter. Sich im Hintergrund haltend sah sie den Tänzern zu. Die unverheirateten Krieger des Stammes drehten sich um das Feuer. Sie führten einen traditionellen Tanz auf, der die Tötung einer Hirschkuh nachstellte. Sahkyo, wirbelte an ihr vorbei, die Haut rot bemalt, die Haare kunstvoll geschmückt und mit stolzgeschwellter Brust, auf der drei weiße Streifen auf jeder Seite prangten. Als er sie erblickte, zwinkerte er ihr zu. Sie wusste, dass ihr Bruder den Tanz liebte und er heute zum letzten Mal daran teilnahm. In ein paar Stunden wäre er ein versprochener Mann. Es hatte Izusa ohnehin gewundert, dass Sahkyo sich so lange Zeit gelassen hatte. Er und Jaci waren schon seit Jahren ein Paar, und von den Ältesten wurde die Verbindung zwischen der Tochter des Medizinmannes und seinem Auszubildenden mit Wohlwollen gesehen.

„Ich habe gehofft, dass du noch kommst“, flüsterte neben ihr eine vertraute Stimme.

Izusas Augen weiteten sich vor Freude, als sie ihre beste Freundin erblickte. „Wicapi.“ Glücklich umarmte sie die junge Frau, deren fruchtbarer Zustand kaum zu übersehen war.

„Ich habe schon befürchtet, dass du überhaupt nicht kommst.“

Izusa senkte verlegen den Kopf und war gleichzeitig froh, sich dafür entschieden zu haben, auf das Fest zu gehen.

„Wie geht es dir?“, fragte Izusa und hoffte, dass sie ihr den Themenwechsel nicht übel nahm.

„Alles bestens.“

Izusa lächelte. „Die Ehe steht dir wirklich gut.“

„Wird Zeit, dass auch du dir einen Mann suchst.“ Wicapi wies auf die tanzenden Männer, die alle im heiratsfähigen Alter waren.

Izusa verdrehte die Augen. „Du hörst dich schon an wie meine Mutter“, scherzte sie. Sie hatte weder Interesse an dem aufstrebenden Krieger Inyan noch an Tonweya, dem Kundschafter, dessen erste Frau bei der Geburt gemeinsam mit dem Kind gestorben war.

Die Trommeln und der Gesang verstummten. Die Männer zerstreuten sich in alle Himmelsrichtungen. Der Tanz war vorbei, und bis der nächste begann, würde es noch ein wenig dauern.

„Ich werde Mama und Großmutter begrüßen“, sagte Izusa und schob sich an Wicapi vorbei, die hinter ihr ihren Mann entdeckt hatte und sich von ihm in den Arm nehmen ließ.

Während sich viele Frauen und Mädchen erhoben, waren ihre Großmutter und ihre Mutter sitzen geblieben.

„Shima“, begrüßte Izusa ihre Mutter Inola, die überrascht, aber freudig ihre Tochter in die Arme schloss. „Es ist gut, dass du gekommen bist.“

„Und begrüßt du mich auch?“, fragte Wahcawin, ihre Großmutter, entrüstet.

„Aber natürlich, Shimasani.“

Ihre Großmutter gehörte zu den ältesten Frauen ihres Stammes und galt als angesehene Weise. Sie umarmte die noch immer äußerst rüstige Frau mit den schlohweißen Haaren.

„Es ist schön, dich zu sehen. Setz dich zu mir!“, forderte die alte Dame sie auf, deren Haupt über und über mit Federn geschmückt war, die in allen Farben leuchteten. Ein Federnband für die Heirat, weitere für jedes Kind, das sie zur Welt gebracht hatte, und jedes Enkelkind.

Lächelnd ließ sich Izusa neben ihr nieder.

„Inola, hol deiner Tochter etwas zu trinken!“, schickte sie Izusas Mutter einfach fort. Hastig erhob sie sich und beeilte sich, dem Wunsch der älteren Frau nachzukommen.

„Erzähl mir, was es Neues gibt!“, forderte ihre Großmutter sie auf.

Izusa zögerte einen Moment. Ihre Shimasani hatte ihren Lebensstil nie so abgelehnt wie ihre Eltern. Ihre Mutter war am Boden zerstört gewesen, als sie mitbekam, dass Izusa mit einer Frau zusammenzog. Anfänglich hatte sie geglaubt, sie und Amber wären ein Paar. Es hatte zwei Jahre gedauert, um ihre Eltern vom Gegenteil zu überzeugen. Irgendwann war es in Ordnung gewesen, dass sie mit Amber zusammenlebte, aber ihre Mutter hatte die andere Frau nie gemocht. Shimasani hatte sich nie negativ über ihre Entscheidungen geäußert, dennoch wollte sie ihr nicht erzählen, dass Amber tot war und sie die Verantwortung für Kathlyn übernommen hatte. Innerhalb ihres Stammes wäre es eine Selbstverständlichkeit gewesen, eine Waise oder Halbwaise aufzunehmen, doch Kathlyn gehörte nicht zu ihrem Volk. Nie würden die Ältesten das Mädchen akzeptieren, und seit sich herausgestellt hatte, wer ihr Vater war, war es noch unmöglicher geworden. Daher sagte Izusa zu der Sache, die ihr Leben bestimmte, überhaupt nichts und ließ ihre Shimasani in dem Glauben, dass alles wie immer sei. „Es geht mir gut.“

„Was macht dein Vorhaben?“

„Ich arbeite daran“, erklärte sie ausweichend.

„Das ist schön zu hören, und wenn es nicht klappt, kommst du einfach zurück ins Dorf und heiratest.“

Die Worte ihrer Großmutter überhörte Izusa großzügig. Das Leben, das sie sich vorstellte, beinhaltete mehr, als zu heiraten und Kinder zu bekommen. Sie wollte nicht auf Gedeih und Verderb von einem Mann abhängig sein. Sie wollte ihre Träume verwirklichen, auf eigenen Beinen stehen.

„Hast du Sahkyo schon gesehen?“, erkundigte sich ihre Großmutter.

„Nur aus der Ferne.“

Die alte Frau blickte auf den Platz, an dem das große Feuer brannte, als hielte sie nach ihrem Enkel Ausschau. Doch dieser war nirgendwo zu sehen, und Izusa hatte auch eine Vermutung, weshalb. Sicher befand er sich gerade im Zelt und wurde von ihrem Vater auf die Verlobungszeremonie vorbereitet.

Izusas Mutter kehrte zurück und reichte ihr einen Becher. Sie nahm ihn dankend entgegen. Normalerweise gab es nur Wasser, doch zu festlichen Anlässen wie diesen wurde Tee ausgeschenkt, den die Frauen im Vorfeld zubereiteten.

„Wie lange wirst du bleiben?“, fragte ihre Mutter mit vorwurfsvollem Unterton.

Izusa hatte schon jetzt genug und wünschte sich nichts sehnlicher, als nach Hause gehen zu können.

„Bis nach dem Versprechen.“

Ihre Mutter presste die Lippen fest aufeinander und wandte sich ab. „Wann wird der große Geist endlich meine Tochter zur Vernunft bringen?“ Hilfe suchend blickte sie in den Himmel hinauf.

Izusa bemühte sich, nicht die Augen zu verdrehen. Sie hatte alles getan, was ihre Eltern von ihr verlangt hatten. Sie war im Dorf in die Schule gegangen, sie hatte – wie es der Wunsch ihrer Eltern war – in New Orleans eine Ausbildung angefangen. Aber nichts davon hatte sie glücklich gemacht, und dann hatte sie ihr Leben selbst in die Hand genommen, sich in die Universität eingeschrieben und sich einen Job gesucht, um ihren Lebensunterhalt allein zu bestreiten. Sie hatte den Mut gefunden, ihren Weg selbst zu wählen, und bereute das keine einzige Sekunde.

Aber vermutlich würden ihre Eltern sie nie verstehen. Sollten sie doch glauben, sie wäre von einem Geist besessen oder verblendet. Traurig wandte sie sich ab. Sie ertrug ihre Mutter nicht länger.

„Geh und begrüße deinen Vater!“, schickte ihre Großmutter sie fort.

Dankend nickte sie ihr zu und machte sich auf den Weg zum Zelt, in dem Sahkyo mit ihrem Vater sein würde.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739458731
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Juli)
Schlagworte
Verbotene Liebe Baumwolle Kind Indianer Louisianna Gestaltwandler Gepard Liebe Plantage Cheetah Romance Fantasy Urban Fantasy Liebesroman

Autor

  • Melissa David (Autor:in)

Ich schreibe Bücher, die dein Herz berühren und dich in fantastische Welten abtauchen lassen.
Melissa David wurde 1984 in einem historischen Städtchen in Bayern geboren. Lange bevor sie schrieb, hatte sie den Kopf schon voller Geschichten. Seit 2015 ist sie als Selfpublisherin unterwegs.
Der enge Kontakt zu ihren Lesern ist ihr eine Herzensangelegenheit, die sie über Facebook, ihren Blog und den zweiwöchentlichen Newsletter pflegt.
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Titel: Cheetah Manor - Der Schwur der Indianerin