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Madeiragrab

Comissário Avila ermittelt

von Joyce Summer (Autor:in)
332 Seiten
Reihe: Ein Madeira Krimi, Band 1

Zusammenfassung

AUF EINEN GALAO MIT MADEIRAS MÖRDERISCHER HIGH SOCIETY Eine Mordserie in Madeiras feinen Kreisen erschüttert die Atlantikinsel. Nach einem feierlichen Dinner im elitären Golfclub der Insel liegt die Organisatorin am Morgen tot auf dem Gelände. Hat sich die junge Frau durch ihr ausschweifendes Liebesleben Feinde gemacht? Oder war sie einem dunklen Geheimnis auf der Spur? Comissário Avila hat eigentlich Besseres zu tun: Sein erstes Kind ist auf dem Weg. Doch statt mit seiner Frau Leticia Babybücher zu wälzen, sucht er in der High Society von Madeira nach einem Mörder. Und zu allem Überfluss stellt Leticia mit ihrer Freundin Inês ihre eigenen Ermittlungen an - und kommt dabei dem Mörder gefährlich nahe. Kann der Comissário seine kleine Familie retten? Der neue Portugalkrimi mit Inselflair - Avila ermittelt auf der portugiesischen Insel Madeira im Atlantik. PRESSESTIMMEN »Auch im zweiten Madeira-Krimi verwebt Summer geschickt Geschichte und Gegenwart auf der Urlaubsinsel. ... Wie bei »Mord auf der Levada« gilt: Vorsicht, das Lesen dieses Buches könnte Sie an den Liegestuhl fesseln und vom Wanderprogramm abhalten.« (MADEIRA ZEITUNG)

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis




Zu diesem Buch:

Eine Mordserie in Madeiras feinen Kreisen erschüttert die Atlantikinsel.

Nach einem feierlichen Dinner im elitären Golfclub der Insel liegt die Organisatorin am

Morgen tot auf dem Gelände. Hat sich die junge Frau durch ihr ausschweifendes Liebesleben Feinde gemacht? Oder war sie einem dunklen Geheimnis auf der Spur?

 

Comissário Avila hat eigentlich Besseres zu tun: Sein erstes Kind ist auf dem Weg. Doch statt mit seiner Frau Leticia Babybücher zu wälzen, sucht er in der High Society von Madeira nach einem Mörder. Und zu allem Überfluss stellt Leticia mit ihrer Freundin Inês ihre eigenen Ermittlungen an – und kommt dabei dem Mörder gefährlich nahe. Kann der Comissário seine kleine Familie retten?


 

Über die Autorin:

Joyce Summer lebt ihren Traum mit Krimis, die in sonnigen Urlaubsorten spielen. Politik und Intrigen kennt sie nach jahrelanger Arbeit als Projektmanagerin in verschiedenen Banken und Großkonzernen zur Genüge: Da fiel es Joyce Summer nicht schwer, dieses Leben hinter sich zu lassen und mit Papier und Feder auf Mörderjagd zu gehen.

 

Die Fälle der Hamburger Autorin spielen dabei nicht im kühlen Norden, sondern in warmen und speziell ausgesuchten Urlaubsregionen, die die Autorin durch lange Aufenthalte gut kennt. Die Nähe zu Wasser hat es Joyce Summer angetan. Sei es in ihren Büchern, die immer Schauplätze am Wasser haben, oder im echten Leben beim Kajakfahren auf Alster und Elbe.

 

 

 

Personenverzeichnis

Brigada de homicídios:

Comissário Fernando Avila – leitet die Abteilung »Brigada de homicídios« und kämpft sonst mit seiner neuen Rolle des werdenden Vaters.

Subcomissário Ernesto Vasconcellos – seine rechte Hand mit einer Schwäche für die Frauenwelt, Spitzname »Belmiro«.

Aspirante a Oficial Filipe Baroso – jüngstes Mitglied im Team.

André Lobo – Director de Departemento, Chef von Avila und seinem Team, wird auch »der Wolf« genannt.

Doutora Katia Souza – zuständige Gerichtsmedizinerin.

Weitere Personen:

Leticia Avila – Ehefrau von Avila, stolze Katalanin und werdende Mutter.

Inês Lobo – Ehefrau von Avilas Chef und Leticias beste Freundin.

Francisco »Chico« Guerra – Anwalt und bester Freund von Vasconcellos.

Teresa Ferro – ehrgeizige Galeriebesitzerin mit wechselnden Herrenbekanntschaften.

Hugo Duarte – Mitinhaber in der Galerie.

Romario Palmeiro – Chef des neuen Flügels der Regierungspartei und Inhaber von »Palmer’s Winery«.

Vitor Marsh – Inhaber einer alteingesessenen Madeira Wine Lodge.

William Stuart jun. – aufstrebender Politiker und Erbe einer Aguardente Fabrik.

Kate Stuart – seine Schwester und derzeitige Freundin von Vasconcellos.

William Stuart sen. – Vater von William und Kate, Besitzer eines großen Aguardente Fabrik.

Cecil Franco – reicher alter Madeirenser.

Otavio Jesus – Kellner im Golfklub.

Aurelia Gomes – junge Madeirenserin, hilft bei Planungen im Golfklub.

Ignacio Coelho – Präsident des Golfklubs.

Tadeu Parry – Leiter des Privatkundengeschäftes in der Banco Central do Funchal und Golfpartner von Doutor André.

Jorge Rocha – alter Madeirenser.

Luana Alves – alte Madeirenserin.

Prolog

Zwischen dem Duft von Sand und frischem Gras kitzelte jetzt ein Geruch von Metall seine Nase. Feuchtes Schmatzen aus vielen Mäulern untermalte alles. Er wandte sich ab und blickte in Richtung Laurazeenwald.

Warum hatte sie das nur getan? Es war so perfekt gewesen. Sie hatte ihn endlich wieder glücklich gemacht. War wie eine Sommerbrise durch sein Leben geweht und hatte die Schwere, die sich auf seine Ehe gelegt hatte, vertrieben. Kurz nach der Hochzeit hatte es angefangen: Er verspürte keine Freude mehr, Milly zu berühren. Es ging nur noch darum, einen Erben für die Fabrik des Alten zu zeugen. Aber sooft sie es auch versuchten, Milly wurde nicht schwanger. Jedes Mal zu einer bestimmten Zeit im Monat kam er sich vor wie einer dieser Zuchthengste, der eine Stute bestieg. Ja, das war sie für ihn, nicht mehr als eine Stute. Es gab nicht mehr dieses prickelnde Gefühl, dass sie etwas Verbotenes taten. Im Gegenteil. In der großen Quinta hatten die Wände Ohren. Beim Liebesakt stellte er sich vor, wie sein Schwiegervater lauschte und hoffte, dass jetzt endlich der ersehnte Thronfolger kam. Er fühlte sich alt und verbraucht, trotzdem er noch nicht einmal dreißig war. Tagsüber schuftete er in der Fabrik, am Abend musste er zu Hause seinen Mann stehen.

Alles änderte sich, als sie in sein Leben trat: Órla. Der Name allein war ein Versprechen. Sie war die Enkelin irischer Einwanderer und ihr Name bedeutete »Goldene Prinzessin«. Und genau das war sie. Entgegen der Damenmode trug sie ihre rotblonden Haare offen. Sie fielen ihr in langen Locken über die Schulter. Es war das Erste, das er von ihr wahrgenommen hatte. Die langen Haare, die von der warmen Herbstsonne in ein rötlich schimmerndes Licht getaucht wurden. Im Hafen in Câmara de Lobos hatte er sie das erste Mal gesehen. Alleine, ohne Begleitung, kaufte sie von einem der Fischer getrockneten Bacalhau, den diese dort in großen Mengen an hölzernen Gestängen trocknen ließen. Gelblich-weiß hingen die Fischstücke in trockenen, ausgefransten Trapezen herunter. Und dazwischen stand Órla in ihrer goldenen Herrlichkeit. Unübersehbar. Unwiderstehlich.

Er zögerte nicht und ging direkt auf sie zu. Grüne Augen schauten ihn an, in ihnen spiegelte sich ihre Fröhlichkeit, die ihn die nächsten Monate wie in einem Traum davontrug. Órla tauchte alles um ihn herum in ein sanftes Licht, das auch die Risse in seiner Ehe überdeckte. Ob Milly etwas ahnte? Wenn es so war, ließ sie es geschehen. Auch sie merkte, dass die Unbeschwertheit aus ihren Anfängen zurückgekehrt war.

 

Bis dieser verdammte Tag kam. Órla hatte ihn gebeten, abends vor dem Ball noch einmal in ihr kleines Haus in der Nähe von Madalena do Mar zu kommen, das ihnen als Liebesnest diente. Als er ankam, fiel ihm gleich auf, dass etwas anders an ihr war. Ihre langen Haare waren verschwunden. Kurze, rötliche Wellen rahmten ihr Gesicht ein.

»Gefällt es dir?«

Er war fassungslos.

»Wieso hast du das getan?«

»Mein Leben wird sich von Grund auf ändern. Unser Leben. Wir müssen reden.«

In seinen Ohren war ein wütendes Rauschen, als er aus der Hütte stürmte.

Drei Tage später kehrte er zurück und tat, was getan werden musste.

Vorsichtig öffnete er das Gatter und schob mit der Schuhspitze die Reste auseinander. Das kehlige Schmatzen, gepaart mit dem leisen Grunzen wurde unterbrochen. Köpfe hoben sich kurz, dann beugten sie sich wieder herunter und es ging weiter. Sie waren noch nicht fertig, aber der Rest würde in den nächsten Stunden verschwinden.

Leise schloss er das Gatter hinter sich und ließ sie ihre Arbeit zu Ende bringen.

Garajau, 01.08.2013 – 6:46

Avila zerrte an Ursos Leine. Der Hund hatte unter einem Auto etwas Interessantes entdeckt und wollte sich nicht davon losreißen.

Anstatt seinem Herrchen zu gehorchen, versuchte der Golden Retriever, unter das Auto zu gelangen. Avila drückte auf den Knopf der Leinenrolle, um Urso ein bisschen mehr Freiraum zu lassen. Das war ein Fehler. Urso fing an zu bellen und zog mit aller Macht. Avilas Unterarm ratschte am Spoiler des Autos entlang. Verdammter Mist! Ein klaffender Riss über den halben Arm. Eine schwarze Katze schoss unter dem Auto hervor, sprang mit einem Satz auf die mannshohe Mauer des nächsten Grundstückes. Sofort erklang ein zorniges Bellen aus mehreren Hundekehlen. Auch auf diesem Grundstück gab es Wachhunde. Urso war mittlerweile wieder unter dem Auto hervorgekommen, nicht ohne die Leine einmal um den Reifen zu wickeln. Jetzt stand er vor der Mauer und bellte die Katze an. Avila merkte, wie sein Stresspegel stieg. Er hasste es, Urso in ihrem Viertel auszuführen. Überall gab es Hunde und Katzen. Und die meisten Hundebesitzer führten nicht wie Leticia und er ihr Tier an der Leine. Nein, ab und zu wurde das Tor geöffnet und die Hunde rannten auf die Straße.

Es gab eine Hündin im Viertel, die ständig durch die Straßen streunte und äußerst aggressiv war. Jedes Mal, wenn sie in ihren Umkreis kamen, fing Avila an zu schwitzen. Auch heute Morgen ertappte er sich dabei, dass er sich ständig umdrehte und nach diesem verdammten Mistvieh Ausschau hielt. Wieder einmal fragte er sich, wie seine Frau, die doch viel zierlicher und kleiner war als er, es schaffte, sich vor dieser Hündin Respekt zu verschaffen. Zumindest erzählte sie ihm, wenn er sich nach einem Spaziergang mit Urso wieder über die anderen Hunde beklagte, dass sie keine Probleme damit hätte.

 

Leticia. Avilas Magen krampfte sich zusammen. Leticia, seiner Frau, ging es nicht gut. Sie war jetzt im siebten Monat schwanger, und der Arzt hatte ihr aus Sorge vor einer Fehlgeburt so wenig Anstrengung wie möglich verordnet. Lange Gänge mit dem Hund, die steilen An- und Abstiege von Garajau und Umgebung entlang, waren damit gestorben.

So musste Avila jetzt zusehen, wie er Ursos Bewegungsdrang stillte. Zum Glück herrschte im Präsidium momentan Ruhe. Sein Subcomissário Vasconcellos und er hatten keinen nennenswerten Fall zu bearbeiten. Urlaub wollte Avila aber jetzt auch nicht nehmen, den sparte er sich gerade auf, damit er nach der Geburt für seine kleine Familie da sein konnte. Zur Mittagszeit raste er meistens aus Funchal die Autobahn entlang nach Garajau, um nach Leticia zu schauen. Danach gönnte er Urso eine Mittagsrunde hinunter zur großen Christusstatue, dem Christo Rei. Das einzig Positive an dieser Situation war, dass er nicht mehr ganz so außer Puste war, wenn er die Treppen im Polizeipräsidium hochging. Die Spaziergänge über die steilen Wege hier in Garajau konnte man wirklich als Sport bezeichnen, so viel stand fest. Leider hatte sich bisher dazu kein positives Ergebnis auf der Waage gezeigt. Der Hosenbund kniff wie eh und je.

Avila blieb kurz stehen, um den Blick hinunter auf den Atlantik zu genießen. Heute Morgen war es zum Glück noch nicht so heiß, aber die Mittagsrunde würde wieder eine ziemliche Tortur werden.

Vielleicht könnte er den Spaziergang heute Mittag auslassen? Verstohlen schaute er hinüber zu seinem Golden Retriever. Nein, das konnte er dem Hund wirklich nicht antun. Urso schnüffelte gerade an einem hohen Garagentor, hinter dem sich mindestens zwei Hunde befanden. Diese versuchten, ihren Gegenpart auf der anderen Seite in Augenschein zu nehmen, in dem sie am Tor möglichst hoch sprangen. Ab und zu zeigte sich auch ein brauner Kopf, begleitet von heftigem Bellen. Prüfend schaute Avila auf das Tor, ob es auch wirklich verschlossen war. Urso schien aber die Lust daran verloren zu haben, er wollte weiter die Straße hinauf. Auf der linken Seite der Straße konnte man jetzt oben auf dem Dachgarten einen alten Retriever beobachten, der humpelnd und dunkel bellend auf und ab lief. Dabei ließ er Urso nicht aus den Augen. Neben ihm rannte ein kleiner Mischling aufgeregt hin und her und ließ sein helles Jaulen hören. Leticia hatte Avila vor ein paar Tagen erzählt, dass sie immer genau wusste, wo er sich auf der Spazierrunde befand, je nachdem woher das Kläffen der anderen Hunde gerade ertönte. In ein paar Wochen werde ich die anderen Hunde wahrscheinlich mit verbundenen Augen an ihrem Bellen erkennen, dachte sich Avila, als eine getigerte Katze vor ihm auftauchte. Sofort zog er Urso an der Leine dichter an sich heran. Bloß nicht noch eine Schramme riskieren. Aber der Retriever hatte die Katze gar nicht bemerkt, weil er in diesem Moment an irgendwelchen Hinterlassenschaften von einem anderen Hund schnupperte. Igitt. Avila zog den Hund schnell weg, bevor er auf noch unappetitlichere Gedanken kam.

Endlich waren sie unten an der Christusstatue angekommen. Avila schlug den kleinen Trampelpfad ein, der ihn und Urso dicht an der Klippe vorbeiführte. Dort unten lag der kleine Strand von Garajau. Eine lange Straße wand sich in Serpentinen hinunter. Der Strand bestand aus grauen abgerundeten Lavasteinen, ohne Badeschuhe sollte man ihn nicht betreten. Wie lange war es her, dass er mit Leticia dort baden war? Die letzten Male hatten sie die kleine Seilbahn benutzt, weil sich Avila Sorgen machte, dass der Aufstieg hinterher für die schwangere Leticia zu anstrengend war. Vielleicht sollte er heute Abend eine kleine Runde im Atlantik schwimmen? Obwohl, wem machte er etwas vor? Die zwei Spaziergänge am Tag mit Urso waren ihm Bewegung genug. Heute Abend würde er schön bei einem oder zwei Gläsern Verdejo auf der Veranda sitzen und den Blick auf ihren üppigen Garten genießen. Avila winkte der alten Dame zu, die wieder die Tauben fütterte. Als er um die Statue herumging, schreckte er ein junges Pärchen auf, das dort eindeutig die Nacht verbracht hatte. Sollte er die beiden verwarnen und ihnen deutlich machen, dass dies nicht gestattet war? Aber hatte er mit Leticia zu ihrer Studienzeit in Lissabon nicht auch gerne draußen im Freien übernachtet? Er nickte den beiden nur zu und machte sich auf den Rückweg. Jetzt kam der Teil der Strecke, auf den er gut verzichten konnte. Er atmete tief ein. Die Straße wand sich in einem steilen Bogen hoch zurück nach Garajau.

Erbarmungslos zog Urso an der Leine, er hatte das Zögern seines Herrchens scheinbar nicht registriert und freute sich auf den nächsten Teil des morgendlichen Abenteuers.

Avila seufzte und machte sich an den Aufstieg. Immer wieder musste er kurz stoppen und verschnaufen. Und das Gleiche heute Mittag wieder? Er würde dadurch das ausgiebige Mittagessen in der Rua de Santa Maria, dem alten Viertel in Funchal, verpassen. Missmutig stapfte Avila mit schweren Schritten den Berg hoch. Gefühlt nahm sie kein Ende. Er musste doch gleich oben sein. An einem mit feuerroter Bougainville beranktem Haus machte die Straße eine Kurve. Noch eine kurze heftige Steigung, dann hatte er endlich den Kreisel vor der kleinen Hauptstraße von Garajau mit ihren Geschäften erreicht. Schnaufend hielt er inne. Urso zog an der Leine, zielstrebig die Straße hinauf. Hier war so früh am Morgen noch nicht viel los. Die beiden kleinen Supermärkte bekamen gerade ihre tägliche Lieferung, die ersten Anwohner fanden sich in den beiden Bäckereien ein. Gegenüber in dem großen Hotel, das fast ein Viertel der rechten Straßenseite einnahm, war es noch ruhig. Nur ein paar Touristen standen an der Haltestelle, an der der Bus nach Funchal hielt. Was sie morgens um sieben Uhr wohl dort wollten? Avila stieg der Geruch von frischen Cornettos und Natas in die Nase. Er kramte in seiner Hosentasche. Beim Hinausgehen hatte er noch schnell etwas Kleingeld eingesteckt. Leticia würde sich über ein gemeinsames Frühstück bestimmt freuen. Er stieg die eine Stufe zur Bäckerei hoch und bahnte sich seinen Weg vorbei an den Tischen und Stühlen, die dicht an dicht unter dem Vordach standen.

 

Die ersten Gäste hatten schon mit einer Bica und einem Cornetto Platz genommen und lasen in der heutigen Diário de Noticias, der madeirensischen Tageszeitung. Ein großer Artikel über die bevorstehende Ausstellung stach ihm ins Auge. Leticia hatte ihm davon erzählt. Irgendetwas hatte das Ganze mit dem Golfklub zu tun. Er hatte aber schon wieder vergessen, worum es dabei eigentlich ging. Vielleicht würde er heute Mittag die Zeit finden, sich darüber etwas schlauer zu machen. Sonst würde Leticia ihm am Ende wieder vorwerfen, er höre ihr nie zu.

Er band Ursos Leine fest und betrat den Laden.

Kaum fünf Minuten später kam er wieder hinaus, bepackt mit mehreren Kartons mit süßem Gebäck und einer großen Papiertüte voll mit noch warmen Cornettos. Hatte Leticia heute Morgen nicht gesagt, sie wollte nicht so viel Süßes essen? Schuldbewusst schaute er auf seine Einkäufe. Dann zuckte er mit den Schultern. Zur Not würde er die Reste mit ins Präsidium nehmen, um die Zeit bis zum Mittagessen zu überbrücken.

Urso stand erwartungsvoll auf und wedelte mit dem Schwanz. Geistesabwesend tätschelte Avila ihm den Kopf.

»Glaubst du vielleicht, da könnte noch was für dich abfallen? Der Süßkram ist nichts für dich, mein Lieber.« Avila band Urso los und ging mit ihm auf den Durchgang des Hotels zu, der auf ihre Straße mündete. Avilas Mobiltelefon fing an zu klingeln. Er tastete in seiner Hosentasche. Dabei passte er einen Moment nicht auf, und Urso nutzte die Gelegenheit und machte einen beherzten Sprung in Richtung des Gatters, hinter dem zwei Hunde gerade neugierig ihre Ankunft beobachteten. Einer der Kartons fiel auf die Straße und der Inhalt purzelte auf den Asphalt. Sofort war Ursos Interesse von den bellenden Hunden abgelenkt. Er stürzte sich auf die Natas, die den Sturz nicht heil überstanden hatten. Kopfschüttelnd schaute Avila auf seinen Hund. Dieses Vieh war noch verfressener als er. Das Telefon klingelte weiter hartnäckig in seiner Hosentasche. Endlich gelang es ihm, den zweiten Karton unter den Arm geklemmt, Papiertüte und Leine in einer Hand, das Gespräch anzunehmen.

In seiner Stimme schwangen Stress und der Ärger mit.

»Tou? Avila hier.«

Auf der anderen Seite hörte er die ruhige Stimme seines Subcomissários.

»Hola. Ich bin es, Vasconcellos.«

»Hat das nicht Zeit? Ich bin in spätestens einer Stunde im Präsidium.«

»Leider nein, Chef. Du solltest so schnell wie möglich ins Präsidium kommen. Doutor André hat für 8 Uhr eine Teamsitzung einberufen. Es geht um die Rali Vinho da Madeira. Er will mit uns über das Sicherungskonzept sprechen.«

Avila fluchte.

»Caramba! O. k., gut, ich beeile mich. Bin ich froh, wenn diese blödsinnige Rallye vorbei ist. Der Direktor macht mich noch wahnsinnig. Als ob wir nichts Besseres zu tun hätten.«

Er legte auf. Leider war es so, dass sie nichts Besseres zu tun hatten. Zurzeit war es, abgesehen von ein paar kleinen Taschendiebstählen, sehr ruhig auf Madeira. Für den Tourismus sicher gut, aber für Avila und sein Team bedeutete es, dass sie auch zu Aufgaben herangezogen wurden, die normalerweise nicht in ihren Bereich fielen. Und die Sicherung des Streckenabschnittes Funchal der diesjährigen Rali Vinho da Madeira hatte der Direktor sogar hauptverantwortlich Avila und seinem Team übertragen.

Avila zog an Ursos Leine. Der Golden Retriever hatte in der Zwischenzeit jegliche Spur von Natas auf der Straße beseitigt. Mit dem Rest seines Einkaufes und einem zufrieden blickenden Hund ging Avila die wenigen Meter weiter zu seinem Gartentor. Aus dem ausgiebigen Frühstück mit Leticia würde jetzt nichts werden. Er hatte noch 20 Minuten, um in Funchal im Präsidium zu sein.

Funchal, 01.08.2013 – 08:11

Avila betrat den kleinen Besprechungsraum im Präsidium. Es war wieder typisch, dass Doutor André diesen Raum mit seinem kalten, modernen Mobiliar nutzte. Funktional und genau das Richtige für eine anständige Besprechung, wie er immer gerne betonte. Er stand vorne vor einer weißen Multifunktionswand, oder wie das Ganze auch immer hieß, und hatte einen großen Plan der Innenstadt von Funchal daran geheftet.

Avila hielt seine Besprechungen am liebsten in seinem Büro ab, welches als einziges im Gebäude mit alten Möbeln ausgestattet war. Alt, zusammengewürfelt, aber bequem. Gegen jeden Vorstoß der Modernisierung hatte er sich bisher erfolgreich verweigert. Außerdem gab es darin eines der wichtigsten Utensilien überhaupt: einen funktionierenden Espressovollautomat, mit dem er jederzeit eine Bica oder sogar einen Galao zaubern konnte. Jetzt einen schönen kräftigen Espresso. Er ärgerte sich, dass er nicht noch kurz einen Abstecher in sein Büro gemacht hatte. Zu spät war er ohnehin, da wären fünf Minuten mehr auch nicht mehr wichtig gewesen.

Seine zwei Mitarbeiter, die mit dem Rücken zur Tür saßen, drehten sich nach ihm um. Vasconcellos schaute wie immer entspannt mit seinem typischen, leicht schiefen Grinsen, das, zum richtigen Zeitpunkt angebracht, das ein oder andere Frauenherz auf dem Revier höherschlagen ließ. Das hieß aber nicht, dass der Subcomissário zu geeignetem Zeitpunkt nicht knallhart und überhaupt nicht mehr liebenswürdig sein konnte. Seine Verhörtechniken waren im ganzen Revier berühmt, und er hatte damit schon so manchen Verdächtigen zu Fall gebracht.

Der junge Baroso, der mittlerweile zum Aspirante a Oficial aufgestiegen war, sah dagegen eher erschrocken aus. Seine Augen waren weit aufgerissen und wie so oft vermittelte er eher den Eindruck eines erstaunten Kindes als den eines Polizisten. Dazu sein leicht verwuschelter Haarschopf, der immer wirkte, als wäre er gerade erst aufgestanden oder zu nahe an eine Steckdose geraten. Aber Avila wusste auch, dass man sich von diesem Eindruck nicht täuschen lassen durfte. Wenn es zu den Ermittlungen kam, war Baroso äußerst effizient. Besonders bei Aufträgen, für die längere Nachforschungen notwendig waren, konnte er glänzen. Mehr als einmal hatte er durch seine Hartnäckigkeit und Gründlichkeit wichtige Anhaltspunkte für ihre Fälle beigesteuert. Beim Blick nach vorne konnte sich Avila den Grund für Barosos erschrockenen Gesichtsausdruck denken. Dort stand der Director de Departamento, André Lobo, mit verkniffenem Mund und sah ihn verärgert an.

Avila nickte kurz in die Runde, setzte sich auf einen der unbequemen Plastikstühle und wartete auf den Sturm.

»Wie kann es sein, Comissário, dass Sie nie pünktlich zu meinen Besprechungen erscheinen? Ist das Ihre Art, mir zu zeigen, was Sie von meinen Aufgaben halten? Mir ist schon klar, dass Sie als Comissário der brigada de homicídios meinen, dass die Sicherung unserer berühmten Rali Vinho da Madeira unter Ihrer Würde ist! Aber dem ist nicht so, mein Lieber. Die Rali zieht jedes Jahr viele Touristen an. Und was bringen uns die Touristen? Einnahmen. Und was glauben Sie, wovon Sie am Ende bezahlt werden? Wir können nicht immer darauf hoffen, dass wir Geldspritzen für unseren Polizeiapparat vom Festland bekommen. Also nehmen Sie sich zusammen, Avila!«

Avila ließ die Standpauke ruhig über sich ergehen. Der Direktor war allgemein für sein aufbrausendes Temperament bekannt. Und genauso schnell, wie er sich aufregte, beruhigte er sich auch wieder. Im Großen und Ganzen war Avila zufrieden mit seinem Chef, der ihm den Rücken frei hielt. Gerade wenn es darum ging, mit der Presse oder womöglich sogar mit dem Presidente da câmara, dem Oberbürgermeister, in heiklen Fällen richtig umzugehen, war André Lobo immer zur Stelle.

»Also, wo war ich stehen geblieben? Ach ja, wir haben dieses Jahr ein paar bekannte Persönlichkeiten vom Festland als Ehrengäste dabei. In Funchal müssen wir vor allem aufpassen, weil hier die Menschenmenge sehr groß ist. Der Presidente da câmara möchte, dass wir in erhöhter Alarmbereitschaft sind, um mögliche Anschläge zu verhindern.«

»Anschläge? Wie kommt er denn auf die Idee? Wir sind doch hier auf Madeira. Hier gibt es höchstens ein paar Taschendiebe.« Avila konnte sich nicht zurückhalten. Was für eine unnötige Panikmache.

»Die Zeiten ändern sich, Avila. Der Terrorismus ist überall. Stellen Sie sich vor, es passiert etwas. Wie stünden wir dann da?«

»Was genau ist Ihr Plan, Doutor André?«

»Mein Plan? Den Plan machen Sie und Ihre Männer! Bis spätestens heute Abend möchte ich ein ausgearbeitetes Sicherheitskonzept haben, welches wir dem Oberbürgermeister präsentieren können. Schauen Sie mich nicht so an, Avila. Sie wissen seit Wochen, was auf uns zukommt. Wenn Sie bis jetzt noch nichts vorbereitet haben, dann kann ich Ihnen auch nicht helfen.«

»Doutor André, selbstverständlich hat der Comissário schon vor Wochen mit uns, seinem Team, die Erstellung eines Plans zur Sicherung begonnen. Wir werden Ihnen das gleich präsentieren«, schaltete sich jetzt Vasconcellos mit ruhiger Stimme ein.

»Wie? Wirklich? Das freut mich zu hören.« Lobo schaute erstaunt zu Avila.

Dieser war ebenso überrascht wie der Direktor. Vasconcellos zwinkerte ihm zu. Avila atmete tief ein. Auf seinen Subcomissário war wirklich immer Verlass. Gerade wenn es um Themen ging, die Avila rein aus Protest auf die lange Bank schob, hatte ihm Vasconcellos schon ein paar Mal den Kopf gerettet. Er würde später sicher einen viel besseren Comissário abgeben als Avila. Wenn er das Thema mit seinen Frauen etwas einschränken könnte. Das war seine große Schwäche.

»Ja, und unser Aspirante a Oficial Baroso wird Ihnen jetzt die wichtigsten Eckpunkte erläutern.« Vasconcellos schaute das jüngste Mitglied ihres Teams aufmunternd an. Mit hochrotem Kopf suchte dieser ein paar Blätter zusammen und stand auf.

Mit zitternder Stimme fing er an zu reden.

»Ähm, ja. Wir würden Ihnen sehr gerne unser Konzept vorstellen, Senhor Doutor André. Als mögliche Ziele eines Anschlages haben wir die folgenden Punkte ausgemacht: an der Kreuzung der Avenida Arriaga und der Avenida Zarco, im weiteren Verlauf auch in der Rua do Aljube. Dort könnte besonders die Kathedrale gefährdet sein …« Der Rest von Barosos Ausführung plätscherte für Avila nur noch so vor sich hin. Er war in Gedanken bei Leticia und den bevorstehenden Veränderungen in seinem Leben.

»Meinen Sie nicht auch, Comissário?«, unterbrach Lobos tiefe Stimme seine Gedanken.

Schuldbewusst wie ein Schuljunge, der beim Abschreiben ertappt worden war, schaute Avila hoch.

Doutor André zog tadelnd die buschigen Augenbrauen hoch. Anscheinend war aber seine Energie für einen neuerlichen Wutausbruch für heute schon verbraucht, denn er fuhr ruhig fort.

»Ich wollte wissen, ob Sie möglicherweise auch das Einkaufszentrum am Ende der Avenida Arriaga als gefährdet betrachten?«

Avila sah zu Vasconcellos hinüber, der leicht nickte.

»Ja, das ist ein möglicher Punkt. Auch hier werden wir verstärkt patrouillieren lassen.« Er kam sich völlig bescheuert vor, aber wenn die Oberen an dieser Hysterie festhalten wollten, bitte sehr.

»Sehr gut. Ihre Einstellung gefällt mir, meine Herren. Ich bin mir sicher, Funchal ist in guten Händen.« Lobo blickte zufrieden in die Runde, dann nickte er kurz und verließ den Raum.

 

Avila blickte seine zwei Mitarbeiter an. Vasconcellos grinste jetzt offen von einem Ohr zum anderen, in Barosos Gesicht zeichnete sich immer noch die Aufregung ab. Aber zumindest konnte man jetzt auch einen leichten Anflug von Stolz ausmachen.

»Ich bin euch wirklich dankbar. Es tut mir leid, dass ich die letzten Wochen hier einiges vernachlässigt habe.«

»Aber Chef, wir wissen doch, dass es jetzt Wichtigeres in deinem Leben gibt, als die Arbeit. Und der Wolf meint es nicht so, glaub mir.« André Lobo hatte, aufgrund seines Nachnamens, bei seinen Mitarbeitern den Spitznamen der Wolf. Wenn er schlechte Laune hatte, konnte er Avila auch öfter an einen solchen erinnern.

»Ja, aber es darf nicht soweit kommen, dass ich darüber meinen Job vergesse. Selbst wenn ich solche Aufgaben wie diese tatsächlich nicht passend für eine brigada de homicídios empfinde.« Avila schaute bekümmert.

Vasconcellos trat vor und klopfte ihm auf die Schulter.

»Glaub mir, Fernando, du bist ein guter Chef. Und für Leticia ein guter Ehemann. Auch wenn ich keine Erfahrung in so etwas habe, bin ich überzeugt, dass du ein ebenso toller Vater sein wirst.« Baroso schaute etwas unbehaglich zu, er würde sich im Leben nicht trauen, den Comissário mit seinem Vornamen anzureden.

Avila merkte, dass seine Wangen anfingen zu kribbeln und er leicht rot wurde. Um seine Verlegenheit zu überspielen, klopfte er in einer unbeholfenen Geste auf den Tisch.

»So, genug davon. Ich würde sagen, der Espetada heute Mittag geht auf mich. Und ich denke, ein oder zwei Gläser Madeira sollten auch drin sein. Ich habe neulich in der Rua de Santa Maria ein sehr nettes neues Lokal gesehen, das müssen wir unbedingt ausprobieren. Oder wir fahren in mein Lieblingslokal oberhalb von Caniço. Nelsons Grillkünste solltet ihr unbedingt einmal kennenlernen.«

Vasconcellos blickte seinen Chef amüsiert an. Ihm war klar, dass dieser gleich die Gelegenheit nutzen würde, um eines seiner Lieblingsgerichte, Rinderspieß über offenem Holzfeuer gegrillt, zu verzehren.

 

Funchal, Golfklub, 01.08.2013 – 11:14

Leticia hatte heute keinen Blick für das Blau des Atlantiks, das man über dem grünen Hügel des großzügigen Golfplatzes erkennen konnte. Normalerweise saß sie gerne im Büro des Klubpräsidenten bei einem Glas Madeira und genoss die exklusive Atmosphäre.

Dass sie heute so gar keine Lust darauf hatte, lag weniger daran, dass die Schwangerschaft ihr ihren geliebten Madeira verbot, als an der heutigen Gesellschaft. Neben dem grauhaarigen Klubpräsidenten saß in einem Sessel eine sehr junge, sehr blonde Frau, die jetzt gerade ihren Kopf in den Nacken warf und sich mit den Zeigefingern imaginäre Tränen unter ihren Augen wegwischte. Dabei machte sie leicht schniefende Geräusche, die bei Ignacio Coelho ihre Wirkung nicht verfehlten. Hilfe suchend aber auch ein bisschen tadelnd schaute der Klubpräsident zu Leticia hinüber.

Dann wandte er sich wieder an die kleine Blonde und tätschelte ihr das Knie.

»Aber, aber meine Liebe. Es gibt doch keinen Grund, traurig zu sein. Ich bin mir sicher, wir finden eine Lösung. Was muss Leticia tun, damit es Ihnen besser geht?«

Leticia schaute ihn entgeistert an. Das konnte doch nicht sein, dass dieses kleine Miststück mit diesem Theater auch noch durchkam? In seinem Alter müsste er so etwas doch durchschauen?

Die Kleine seufzte noch einmal hörbar und richtete sich dann kerzengerade in ihrem Sessel auf. Ihre Stimme klang auf einmal erstaunlich klar und gefasst.

»Leticia setzt mich so furchtbar unter Druck, ständig möchte sie etwas von mir. Ich kann einfach nicht mehr.«

Der Klubpräsident wandte sich mit ernstem Gesichtsausdruck an Leticia.

»Du musst doch Verständnis dafür haben, Leticia. Aurelia braucht ein bisschen Luft. Ihr geht es wirklich gerade nicht so gut, schließlich ist es das erste Mal für sie, dass sie so eine Verantwortung hat. Nimm also ein bisschen Rücksicht.«

Leticia schaute an sich herunter. Sah den Bauch, der sich deutlich über ihrem Hosenbund wölbte. Und hörte die Stimme ihres Arztes, der sie bat, sich unbedingt zu schonen. Ob er geahnt hatte, was hier auf sie zukam? Was für Probleme hatte Aurelia eigentlich? Hatte sie etwa heute Morgen im Halbschlaf das Bad gerade noch erreicht, weil das Kind wieder auf die Blase drückte? Hatte sie dann feststellen dürfen, dass der Bund ihrer Lieblingshose jetzt endgültig zu eng war und auf das bequeme schwarze Paar mit dem Gummizug ausweichen müssen? Mit Grauen erinnerte sich Leticia an die Verkäuferin in Funchal, die dieses Gummi mit einem vielsagenden Grinsen in die Breite gezogen hatte. Dabei hatte sie gesagt: »Sie werden für diese Hose noch sehr dankbar sein, Dona Leticia.« Jetzt war sie gerade gar nicht dankbar, wenn sie den engen puderrosafarbenen Rock mit dem elfenbeinfarbenen schmalen Oberteil von Aurelia ansah. Sie kam sich daneben vor wie ein dicker schwarzer Wal.

Der Präsident rutschte unruhig auf seinem Sessel hin und her. Wahrscheinlich hatte er jetzt Sorge, dass er gleich im Mittelpunkt eines Zickenkrieges stehen würde.

 

Leticia zog die Luft ein. Dieses Theater wollte sie nicht mitmachen. Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte sie in das glatte, pausbäckige Gesicht ihres Gegenübers, das zu einer weinerlichen Grimasse verzogen war. Sie würde dieser kleinen Zicke die Leviten lesen. Da merkte sie, wie sich etwas in ihrem Bauch bewegte. Ihr kleiner Mitbewohner spürte wohl den Ärger seiner Mutter. Nein, dachte Leticia. Das hier ist das alles gar nicht wert. Über das Alter bin ich wirklich hinaus. Sollte die Jüngere sich ruhig profilieren. Leticia wusste, wie anstrengend die Vorbereitungen für so eine große Veranstaltung waren. Schließlich war sie die letzten drei Jahre in Folge immer verantwortlich für die Planung von wichtigen Festivitäten im Golfklub gewesen. All die endlosen Telefonate mit den Lieferanten für Essen, Getränke und Dekoration.

Sie mochte gar nicht an die stundenlangen Debatten mit den übrigen Damen des Klubs denken, bei denen es um die Tischordnung ging: Aber du weißt doch, liebe Leticia, wie Vitor Marsh zu William Stuart jun. steht, seitdem sie am 10. Loch diesen Streit um den verschwundenen Golfball hatten, weswegen Vitor das Herbstturnier 2011 verloren hat. Er ist sich bis heute sicher, dass William den Ball hat verschwinden lassen. So etwas ist doch typisch für die Stuart-Familie. Schon der alte William hat sich im Golfklub mit kleinen Betrügereien auf die vorderen Plätze gespielt. Die beiden können also unmöglich an einem Tisch sitzen. Und wo wir schon dabei sind: Romario Palmeiro und William Stuart jun. kandidieren beide für den Bezirk Funchal in den Kommunalwahlen im September. Lange Tischgespräche über Politik, das muss doch wirklich nicht sein. 

Tischordnung, Moment, da war doch was.

»Aurelia, hast du daran gedacht, der Druckerei das Design für die Einladungen und die Tischkarten zu geben? Ich hatte ihnen versprochen, dass sie es spätestens letzte Woche bekommen, damit sie genug Zeit für die Drucksetzung haben.«

Aurelia warf den Kopf zurück und schniefte wieder hörbar. Diesmal kam sogar ein Taschentuch zum Einsatz, um die Augen abzutupfen.

»Sehen Sie, Doutor Ignacio, was ich meine? Ständig macht Leticia mir Druck. Die letzte Woche konnte ich gar nicht denken, weil sie ständig ankam mit: ›Hast du an das gedacht? Erledigst du das bitte?‹ Kein Wunder, dass die Dinge bei so einer Belastung liegen bleiben. Dabei kann ich so etwas sehr wohl. Ich bin gut darin, Dinge zu planen. Aber jetzt kann ich einfach nicht mehr.«

Wieder tätschelte Ignacio Aurelias Knie und sah Leticia flehend an.

»Ähm, ich hatte wirklich gehofft, dass ihr beide die Organisation dieses Jahr zusammen macht. Aurelia mit ihrem jugendlichen Elan und ihren neuen Ideen und du, liebe Leticia, mit deiner Erfahrung.«

Die Jüngere schluckte wieder hörbar.

»Bei mir ist die Erde verbrannt. Ich bin so fertig und kann einfach nicht mehr mit Leticia zusammenarbeiten.« Sie schüttelte den Kopf, senkte den Blick und fing an, an dem Taschentuch zu zupfen.

Leticia wusste nicht, ob sie wütend sein sollte oder lachend Applaus spenden müsste. Was für eine Vorstellung. Nur der alte Ignacio tat ihr leid. Er wusste wirklich nicht, wie es jetzt weiterging. Aber darauf würde sie keine Rücksicht mehr nehmen.

Sie räusperte sich.

»Ich schlage vor, dass sich Aurelia hauptverantwortlich um die Veranstaltung kümmert. Bei mir stehen in den nächsten Wochen und Monaten andere Dinge im Vordergrund.« Sie schaute vielsagend auf ihre Mitte.

Ignacio sah nicht besonders begeistert aus, aber über Aurelias Gesicht huschte ein triumphierendes Lächeln.

»Aber liebe Leticia, deine Erfahrung! Darauf können wir doch nicht verzichten.« Die Jüngere verzog das Gesicht. Das war sicher nicht das, was sie hören wollte.

»Meinst du wirklich, wir schaffen das ohne dich?« Ignacio Coelhos Stimme klang besorgt.

»Ganz sicher.« Irgendwie wusste Leticia, dass das wohl nicht der Realität entsprach. Aber das war ihr jetzt egal. Sie hatte keine Lust mehr auf diese Spielchen. Und zu Hause wartete ein leeres Kinderzimmer, das sie in den nächsten Wochen noch einrichten wollte.

»Darf Aurelia dich anrufen, wenn es Probleme gibt? Vielleicht könntet ihr alle zwei Tage kurz telefonieren«, klammerte sich Coelho an den letzten Strohhalm.

Leticia seufzte. Davor möge Gott sie bewahren. Sie schaute hinüber zu Aurelia. Dann grinste sie. Bevor die Kleine sie um Hilfe bat, würde sie wahrscheinlich eher tot umfallen. Leticia glaubte kaum, dass Aurelia sie anrufen würde.

»Aber ja doch, gerne. Ich stehe euch beratend zur Seite, wenn es notwendig ist. Die Adressen der bisherigen Zulieferer für Blumen, Essen, Getränke schicke ich euch für alle Fälle noch per Mail. Ich bin mir nicht sicher, ob du sie schon alle kontaktiert hast, Aurelia.« Sie schaute Aurelia mahnend an, die mit zusammengekniffenen Augen wütend zurückstarrte, sich aber einen weiteren Kommentar verkniff.

»Wir haben sehr gute Konditionen über die Jahre ausgehandelt, und ich kann nur raten, mit diesen Zulieferern sorgsam umzugehen. Aber entschuldigt mich jetzt bitte, ich habe heute noch einen Termin mit meinem Arzt. Wir hören voneinander.« Damit stand Leticia auf und verließ so beschwingten Schrittes, wie es ihr im Moment möglich war, das Büro des Klubpräsidenten.

 

01.08.2013 – 15:23

»Es tou?«, erklang eine leicht zittrige, heisere Stimme.

Am anderen Ende der Leitung herrschte erst Schweigen, als müsste der Anrufer überlegen, ob er sprechen oder wieder auflegen sollte.

Dann klang eine ruhige, klare Stimme aus dem Hörer.

»Ich bin es, alter Freund.«

»Du? Ich habe mir schon gedacht, dass ich die Nummer kenne.« Der andere räusperte sich, aber das Heisere in der Stimme blieb.

»Wir müssen reden.«

»Reden? Das haben wir doch seit Jahren nicht mehr getan.«

»Ich weiß. Aber es ist etwas passiert. Bevor ich etwas unternehme, möchte ich in Ruhe mit dir darüber reden.«

»Was soll das Ganze? Warum machst du so komische Andeutungen? Sag schon, was ist passiert?« Er hustete.

»Rauchst du immer noch so viel? Du weißt doch, dass es dir nicht bekommt. Der Arzt hat dir vor Jahren geraten, damit aufzuhören.« Die Stimme des anderen hatte einen leicht sorgenvollen Unterton.

»Ich will jetzt wissen, worüber du mit mir reden willst. Hör endlich auf, um den heißen Brei herumzureden.« Die Stimme wurde lauter, dann erklang wieder der nasse, schwere Husten.

»Bleib ruhig. In unserem Alter sollten wir jede Aufregung vermeiden. Jemand ist zu mir gekommen und hat mir etwas gezeigt. Daraus musste ich ein paar Schlüsse ziehen. Und genau das möchte ich mit dir besprechen.«

»Was gezeigt? Was für Schlüsse ziehen?«

»Es geht um die Ereignisse von damals. Ich möchte, dass du die Chance bekommst, mir das alles von Angesicht zu Angesicht zu erklären, und dann entscheiden wir gemeinsam, was zu tun ist. Aus alter Freundschaft?«

Stille am anderen Ende, durchbrochen von kurzen, leicht keuchenden Atemzügen.

»Ich weiß immer noch nicht, wovon du sprichst. Aber wenn du dich unbedingt treffen willst, dann treffen wir uns.«

»Gut, gleich morgen Nachmittag so gegen 16 Uhr, ja?«

»Morgen Nachmittag? Während der Rallye? Du bist also immer noch kein Fan von schnellen Autos, mein Lieber? Aber das soll mir recht sein. Wollen wir dann einen Ort abseits vom Trubel auswählen, sodass wir ungestört reden können?«

»Ja, einverstanden. Mach einen Vorschlag.«

»Mein Sohn hat mir erzählt, dass er dich immer noch ab und zu auf der Levada dos Tornos trifft. Das ist doch für uns beide nicht so weit, und wir können gut mit dem Auto dorthin fahren. Wollen wir uns in Babosas treffen? Ein paar Hundert Meter weiter steht doch die Bank, von der wir immer den schönen Ausblick genossen haben.«

»Warst du in letzter Zeit da oben? Seit der Flut vor drei Jahren sieht es dort etwas anders aus. Bist du überhaupt noch trittsicher?«

»Ich weiß, wie es da aussieht. Lass das meine Sorge sein. Wir müssen nur ein paar Meter gehen, und ich werde ganz vorsichtig sein.«

»Gut, dann machen wir es so. Zumindest können wir sicher sein, dass wir ungestört sind. Die meisten Leute werden ja unten beim Start der Rali Vinho sein. Morgen um 16 Uhr in Babosas, direkt am Eingang zur Levada. Bis morgen, alter Freund.« Mit einem Klick war das Gespräch beendet.

Funchal, 02.08.2013 – 15:34

»Wie lange noch?« Avila schaute zum wiederholten Male auf die Uhr.

»Noch etwa eine Stunde, Chef. Um 16:30 ist der offizielle Start, um 16:41 die Startzeremonie.« Vasconcellos’ ruhiger Stimme war nicht anzumerken, dass er diese Frage in den letzten zwei Stunden gefühlt alle zwanzig Minuten beantwortet hatte.

»Ich fasse es nicht. Was machen die denn da so lange? Ich hatte vor über einer Stunde, als der Typ da vorn mit den Listen ankam, schon gedacht, gleich geht es los.«

»Das waren nur die Startlisten, die veröffentlicht wurden. Die müssen noch von den Fahrern und ihrer Mannschaft eingesehen werden. Manchmal gibt es auch Proteste. Das alles dauert eben seine Zeit.«

»Ich weiß schon, warum ich diese Veranstaltung normalerweise meide. Letztes Jahr sind Leticia und ich an dem Tag drüben auf Porto Santo gewesen. Wenn du mich fragst, der beste Ort, an dem man sich heute aufhalten könnte. Sandstrand und eine wunderbare Ruhe. Kein Autolärm und vor allem nicht dieser Gestank und die Menschenmassen.« Avila grummelte vor sich hin.

Vasconcellos versuchte, die Laune seines Chefs zu ignorieren, und konzentrierte sich lieber auf die hübsche hellblonde Touristin, die ihn schon seit einiger Zeit immer wieder interessiert musterte. Sie stand direkt auf der anderen Seite der Avenida Arriaga an eine Laterne gelehnt. Vielleicht sollte er den Mülleimer neben ihr genauer inspizieren, um mit ihr ins Gespräch zu kommen? Sie sah wirklich sehr hübsch aus mit ihren halblangen glatten Haaren. Unter dem engen weißen T-Shirt zeichneten sich zwei nicht zu große, nicht zu kleine feste Brüste ab.

Avila hatte Vasconcellos’ Blicke bemerkt.

»Denk nicht einmal dran. Wir sind dienstlich hier. Außerdem dachte ich, dass es mit dir und Kate ernst wäre? Zumindest hat mir das Leticia erzählt.«

Vasconcellos stöhnte leise. Es war keine gute Idee von ihm gewesen, etwas mit Kate anzufangen, die im gleichen Golfklub wie die Frau seines Chefs verkehrte. Nicht nur das, nein, die beiden Frauen spielten regelmäßig miteinander Golf, weil sie in etwa das gleiche Handicap hatten. Und so war Avila scheinbar mehr als nur etwas im Bilde, was seinen Beziehungsstatus mit Kate betraf.

»Kate und ich sehen das Ganze etwas lockerer.«

Avila sagte nichts weiter dazu. Eigentlich ärgerte er sich auch schon wieder, dass er das Thema überhaupt angesprochen hatte. Letztendlich ging es ihn doch überhaupt nichts an, wie Vasconcellos mit seinen Freundinnen umging. Wenn er ihm jetzt erzählen würde, dass Kate ihn offiziell als ihren Lebensgefährten bezeichnete, würde er höchstwahrscheinlich eine Diskussion auslösen, die im schlimmsten Fall auch wieder zu Leticia zurückschwappen konnte. Und in einem solchen Gespräch würde er am Ende noch für irgendetwas Schuld bekommen. Das kannte er schon.

 

 Abrupt wechselte er das Thema.

»Was meintest du eben mit Startzeremonie?«

»Jeder Fahrer und jeder Beifahrer bekommt vor dem Start im Cockpit ein Glas Madeira gereicht.«

»Wie bitte? Du willst mir sagen, die trinken alle vor diesem Rennen noch Alkohol? Nicht nur, dass sie wie die Verrückten über die Serpentinen rasen, Straßen entlang, die nicht für Autorennen gebaut sind, sondern sie haben auch noch Alkohol getrunken? Spinnen die denn hier alle?«

Vasconcellos schwieg. Es war allgemein im Präsidium bekannt, dass Avila den Genüssen nicht abgeneigt war, sei es nun das Essen oder auch das Trinken. Aber Alkohol am Steuer war für ihn ein absolutes Unding. Wenn Avila die Möglichkeit hatte, ließ er Alkoholsünder ihren Rausch über Nacht in der Zelle ausschlafen, anstatt sie nach Hause zu schicken. Abschreckung nannte er das. Und dabei spielten Rang und Namen der Sünder keinerlei Rolle. Ein Umstand, der Director Lobo schon einige Male in Erklärungsnot gebracht hatte und wahrscheinlich auch einer der Gründe war, warum Avila bisher nicht höher in der Polizeihierarchie gestiegen war.

Auf einmal kam Bewegung in die Menschenmenge. Alle Köpfe drehten sich in Richtung der kleinen Tribüne, die für die Ehrengäste aufgebaut worden war.

Der Präsident hatte mit seiner Entourage die Tribüne betreten.

»Ich hoffe wirklich, dass wir dieses Bild nicht mehr so lange sehen werden«, sagte Vasconcellos mit Blick auf den leicht dicklichen grauhaarigen Mann.

»Der Alte hält wieder Hof. Kaum zu glauben, dass ich diesen Anblick jetzt schon mein ganzes Leben ertragen muss. Ich kann nur hoffen, dass die anstehenden Regionalwahlen der Anfang vom Ende sind.«

»Unsere Hilfe, Ana, hat erzählt, dass seine Partei schon wieder mit den üblichen Tricks auf Stimmenfang ist. Auf einmal werden großzügige Geschenke verteilt. Seit zwei Monaten werden kleine Baugenehmigungen erteilt, die vorher mehrere Jahre in der Baubehörde vor sich hin geschimmelt haben. Auch gibt es großzügige Spenden in seinem Namen für diverse Vereinigungen.«

»Ja, gerade letzte Woche hat er einen großen Scheck, natürlich begleitet von einem Artikel im Jornal da Madeira, für die Kinder der Bombeiros Funchal überreicht.«

»Das Bild habe ich auch gesehen. Eines muss man ihm leider lassen, er weiß, wie er zur rechten Zeit Stimmung für sich machen kann. Man kann nur hoffen, dass die Leute dieses Mal klüger sind und nicht wieder vergessen, wie es in den Zeiten zwischen den Wahljahren für sie aussieht.«

Jetzt wurden die Fahrer interviewt. Eine hübsche dunkelhaarige Reporterin mit einem überdimensionalen Mikrofon versuchte, einen der Favoriten des Rennens zu einer spontanen Stellungnahme zu bewegen. Leider erwies sich dieser als nicht besonders redselig, sodass das Interview, welches über Lautsprecher übertragen wurde, aus langen Fragen ihrerseits und einsilbigen Antworten seinerseits bestand.

»Lieber Rodrigo, wir alle verfolgen seit Jahren deine Karriere in der Intercontinental Rally Challenge. Letztes Jahr warst du in der führenden Position hier bei der Rali Vinho. Dann passierte dieser Unfall auf der Abfahrt nach Machico. Allen, die diesen furchtbaren Sturz den Abhang hinunter beobachtet haben, ist das Blut in den Adern gefroren. Sind deine Verletzungen wieder verheilt, und fühlst du dich fit, um heute um die Pole Position mitzufahren?«

»Ja.«

Avila hörte kopfschüttelnd zu, als der Fahrer auch auf die nächste Frage, in wieweit er vor dem Rennen die Strecken abfahren und das Setup studiere würde und ob er sich dazu Aufzeichnungen mache um sie vor dem Start genau durch zugehen wieder mit einen simplen »Ja« antwortete. Ein verlegenes Schweigen entstand, wahrscheinlich suchte die Reporterin jetzt krampfhaft nach anderen Fragen oder der Möglichkeit, das Interview elegant zu beenden.

»Wie lange muss ich diesen Wahnsinn noch ertragen?« Avila wusste selbst, dass er etwas wehleidig klingen musste, aber das war ihm völlig egal. Sogar einen Nachmittag im Präsidium mit Protokollschreiben würde er diesem Ereignis vorziehen.

»Es geht gleich los, Chef. In etwa einer Stunde ist der Spuk auch vorbei. Dann können wir noch eine Bica in dem kleinen Café bei den Markthallen trinken. Da müsste es jetzt auch leerer sein, weil heute kein Markttag ist und die Händler nicht da sind.«

»Gute Idee, Vasconcellos. Eine Bica und dazu ein tarte de requeijão. Das klingt doch gut. Baroso, was meinst du? Bist du dabei?« Baroso war vor ein paar Minuten, nach einem Kontrollgang in Richtung Einkaufszentrum und zurück, wieder zu den beiden gestoßen. Schweigend hatte er sich dazugestellt und das Gespräch verfolgt.

»Oh, ja, ich würde sehr gerne mitkommen.« Avila merkte ihm deutlich an, dass er sich freute, dass er nicht vergessen wurde. Wenn der Junge noch etwas an Selbstbewusstsein in den nächsten Jahren gewinnt, wird er seinen Weg bei uns machen. Er war wirklich eine gute Ergänzung des Teams.

»Ich glaube, es geht jetzt los!« Vasconcellos zeigte hinüber zum Start. Dort fuhr der erste der Wagen auf die Rampe. Eine junge Frau in einem roten Blumenkostüm mit langem Rock kam mit einem Tablett und reichte dem Fahrer und dem Beifahrer je ein Glas Madeira. Kurze Zeit später fuhr der erste Wagen unter dem Jubel der Zuschauer auf den abgesperrten Kurs.

»Muss ich mir das jetzt für jeden einzelnen Wagen ansehen? Das darf doch wirklich nicht wahr sein!« Avilas Laune war im Keller. Der Ausflug mit seinen beiden Mitarbeitern in das Café war in weite Ferne gerückt.

Der nächste Wagen fuhr auf die Rampe. Es würde ein langer Nachmittag werden, so viel stand fest.

Madalena do Mar 08.01.1950

Der Mann im grauen Wollmantel schob die Zigarre in seinem Mund zurecht. Er blickte hinüber zu der kleinen Jacht, auf der sich eine rotblonde Frau in einem neumodischen Bikini in der Sonne rekelte. Erstaunlich, dass es ihr nicht zu kalt war. Ihm fröstelte leicht in dem von Meer langsam aufkommenden Wind. Er legte den Pinsel zur Seite und zog seinen Mantel am Hals dichter zusammen. Vielleicht sah sie ihn auch und genoss es, von ihm gemalt zu werden? Ihr Begleiter war auf jeden Fall schon mindestens eine Stunde weg. Er hatte ein kleines Ruderboot genommen und war in Richtung Ufer gepaddelt. Die Rothaarige schien dies aber nicht zu beunruhigen. Ruhig lag sie auf dem Deck. Sie hatte einen breitkrempigen Hut und eine große Sonnenbrille auf. Ihr rotes langes Haar lag wie ein glänzendes Tuch über ihre Schultern. Es würde ein schönes Bild werden, wenn es erst einmal fertig war. Jetzt hieß es nur, so viel wie möglich einzufangen, denn morgen würde er sie sicher nicht mehr so vorfinden.

Diesen Tag heute konnte er endlich ungestört genießen. Seine ersten Malversuche auf der Insel waren in den letzten Tagen ständig von der lokalen Presse und Schaulustigen unterbrochen worden. Auch die jubelnden Menschen am Straßenrand hatten seine Laune nicht verbessert. Am schlimmsten aber war dieses alberne Sonnenschirmchen, das sein Assistent halten musste. Cat hatte darauf bestanden. Es würde jetzt für alle Zeiten auf diesem Foto festgehalten sein. Sie hatten Januar, einen Sonnenbrand würde er sich so schnell nicht holen, auch wenn sie hier angenehme 18 Grad hatten.

Gestern Abend an der Bar im Reid’s hatte er sich nach drei trockenen Martinis beim Barkeeper Fred darüber beschwert, dass es ihm nicht gelang, ungestört zu malen.

Fred meinte nur trocken, dass es vielleicht auch mit dem Rolls Royce zusammenhängen könne, mit dem er über die Insel fuhr. Ein unauffälligerer Wagen und ein etwas abgelegeneres Plätzchen könnten schon Wunder wirken. Fred hatte ihm seinen Bruder Jorge als Chauffeur und inselkundigen Fahrer empfohlen. Da dieser auch im Reid’s als Kellner arbeitete, hatte man sofort Bekanntschaft geschlossen.

 

So hatten sie sich verabredet, in aller Frühe am nächsten Tag aufzubrechen. Cat hatte sich leise schimpfend im Bett umgedreht, als er um kurz nach fünf Uhr aufstand. Sie war noch nie eine Frühaufsteherin gewesen, die Morgenstunden gehörten meistens ihm allein. Wahrscheinlich würde sie am späten Vormittag mit Diana, ihrer Tochter, zu der kleinen Korbmacherei in Câmara de Lobos fahren, die ihnen empfohlen worden war. Cat wollte unbedingt für ihren Salon zu Hause ein paar schöne handgemachte Korbsessel haben. Sollte sie. Hauptsache, er musste nicht mit.

Sein neuer Chauffeur hatte es sogar fertiggebracht, ein kleines Frühstück zu organisieren, das sie zwischen dem emsigen Personal, das das Frühstück für die übrigen Hotelgäste vorbereitete, einnahmen. Sie stahlen sich danach unbemerkt vom Rest der Gesellschaft aus dem noch im Schlaf liegenden Hotel. Nur einer seiner Leibwächter, James, sowie sein literarischer Assistent Bill Deakin, mit dem er zusammen an seinen Kriegsmemoiren schrieb, begleiteten ihn. Falls die Gelegenheit günstig war und er, inspiriert durch die Umgebung, einige Sätze zu Papier bringen konnte, wollte er dies tun.

Über schmale Straßen weg von Funchal brachte Jorge sie schließlich an diesen bezaubernden Ort direkt am Atlantik. Voller Stolz erzählte er ihm die Geschichte dieses kleinen Dorfes. Der Legende nach war es in der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts von einem Mann namens Henrique Alemão gegründet worden. Heinrich dem Deutschen. Aber hier irrten sich die Geschichtsbücher, erklärte Jorge seinen aufmerksamen Zuhörern. Dahinter solle sich eine ganz andere Person verborgen haben, nämlich der polnische König Władysław III. Der polnische König war damals nicht in der Schlacht gefallen, sondern hatte seinen Lebensabend hier auf der Insel verbracht. Der damalige portugiesische König hatte ihm Asyl gewährt. Vor allem dem verträumten Bill gefiel diese Geschichte, er selber konnte sich kaum vorstellen, dass ein polnischer König in der damaligen Zeit hier Zuflucht gefunden hatte.

 

Von hohen Felsen umgeben lag das kleine Fischerdorf vor ihm. Die Felsen wirkten, als hätte ein Maler sie in Streifen angemalt. Braun, grau, zartrosa oder fast tiefschwarz stuften sie sich hoch über ihm empor. Unten brach sich der Atlantik an den Teilen der Felsen, die unter dem Wasser verborgen waren. Teilweise in wilden Fontänen, die in Richtung des allmählich hell werdenden Himmels strebten.

Das elegante, schmale Segelschiff lag zu diesem Zeitpunkt schon in der kleinen Bucht vor Anker, aber erst am späten Vormittag war Bewegung an Bord zu sehen. Zunächst erschien ein junger Mann an Deck, der sich an dem mit einem Seil am Heck befestigten kleinen Beiboot zu schaffen machte. Kurze Zeit später bestieg er das Boot, das sich bei seinem beherzten Sprung von der obersten Sprosse der Badeleiter gefährlich von einer Seite zur anderen Seite neigte. Aber er behielt das Gleichgewicht und ruderte kurze Zeit später mit kräftigen langen Schlägen in Richtung Strand. Gut, Strand war sicher eine etwas euphemistische Bezeichnung. Im Grunde genommen waren es große schwarze Kiesel, die sich über einen Abschnitt von etwa zwanzig mal vier Meter am Ufer verteilten. Abgerundet von der Kraft des Meeres fügten sie sich zu einem unebenen Untergrund. Der junge Mann schien davon unbeeindruckt. Nachdem er das Boot auf die Kiesel geschoben hatte, verschwand er schnellen und sicheren Schrittes aus seinem Gesichtsfeld.

Er fing an, die ersten Skizzen von dem Schiff mit dem zerklüfteten Hintergrund der Lavafelsen anzufertigen, als sie an Deck kam. Was für ein Anblick. Ihre Haare leuchteten rotgolden, angestrahlt von der Sonne, die jetzt die kleine Bucht erreichte. Kurz hatte er den Eindruck, dass sie ihn direkt ansah, als sie in seine Richtung blickte. Würde sie wieder im Leib des Schiffes verschwinden? Nein, sie tat ihm tatsächlich den Gefallen und breitete sich in ihrer ganzen Pracht auf dem vorderen Teil des Schiffes aus, direkt unter dem Baum. Fiebrig fing er an, mit seinen Farben den Ton ihrer Haare zu mischen. Ein fast unmögliches Unterfangen. Braun, Rot, Gelb zusammen konnten nicht diesen goldenen Ton abbilden. Er musste sich mit weniger zufrieden geben, um wenigstens noch eine Skizze dieses Anblicks anzufertigen, bevor James oder Bill ihn an die Tea Time im Reid’s erinnerte. Wenn er die heute verpassen würde, würde ihm Cat die Hölle heiß machen, so viel war klar.

Er atmete tief ein. Die Luft schmeckte leicht salzig. Das würde er in London vermissen. Irgendwie musste es ihm gelingen, diese Stimmung einzufangen, sodass er an kalten regnerischen Tagen dieses Bild hervorholen konnte. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, noch mehr Details der Jacht zu erfassen. Wer wohl dieses junge Paar war? Ob die Jacht ihnen gehörte? Vielleicht würden sie ja sogar heute Abend auf dem Ball im Reid’s auftauchen. Es war eines der gesellschaftlichen Highlights des gerade angefangenen Jahres. Da würde sicherlich alles, was Rang und Namen auf der Insel hatte, erscheinen. Und wer ein solches Schiff besaß, gehörte zweifellos dazu.

Funchal Präsidium, 05.08.2013 – 10:31

»Hast du es schon gehört, Chef?« Vasconcellos öffnete Avilas Bürotür mit Schwung.

Dieser hatte sich gerade nach einem zweiten Frühstück in Form eines kleinen Natas einen Galao zubereitet. Avila hatte eigentlich gehofft, in Ruhe noch ein bisschen in einem der Bücher schmökern zu können, die ihm Leticia mitgegeben hatte. Nach dem nervigen Tag gestern, sie waren schließlich gegen kurz vor 19 Uhr am Café gewesen, welches dann zu allem Überfluss auch noch geschlossen hatte, hatte er sich eine längere Pause heute mehr als verdient.

Verlegen versuchte er, die heutige Diário de Noticias über das Buch mit dem Titel »Späte Väter – wie meistere ich die Herausforderung« zu schieben. Aber Vasconcellos hatte mit einem Blick schon die Lektüre seines Chefs erfasst, was das Lachen, das jetzt in seinen braunen Augen blitzte, deutlich machte.

»Wo war ich? Ach ja, hast du zufällig Nachrichten gehört?«

Avila deutete genervt auf die Tageszeitung.

»Ich komme einfach nicht dazu, sie endlich in Ruhe zu lesen.«

»Nein, aktuellere Nachrichten. Es ist vor etwa einer Stunde passiert.«

»Spuck es aus, was ist los?«

»Es gab gestern einen Unfall bei der Rali Vinho.«

»So wie ich das einschätze, dürfte das doch nichts Ungewöhnliches sein, oder? Wenn diese Typen in ihrem halsbrecherischen Tempo über Straßen fahren, die nicht für ein Rennen ausgelegt sind, wundert mich das überhaupt nicht.«

»Das stimmt. Aber die Begleitumstände sind interessant. Erinnerst du dich an Rodrigo Perez?«

»Du meinst doch nicht etwa diesen eloquenten jungen Mann von Freitag?«

»Genau den. Der hatte ja schon letztes Jahr einen Abflug, als er nach Machico runtergerast ist. Diesmal hat es ihn wieder erwischt. Die ER201, oberhalb von Curral dos Romeiros. Dort gibt es eine sehr scharfe, enge Kurve, deutlich mehr als 90°. Dort ist er geradeaus gefahren, in die Botanik hinein.«

»Ist er tot?« Avila schaute bestürzt. Eigentlich war ihm der junge Fahrer ganz sympathisch gewesen. Er selbst hätte wahrscheinlich mit kaum mehr Worten auf die Fragen der jungen Reporterin geantwortet. Schließlich konnte er sich gut vorstellen, dass man als Fahrer vor einem Rennen eine gewisse Konzentration brauchte. Oder vor dem Essen. Wie er es hasste, vor dem Essen in lange Gespräche verwickelt zu werden. Er wollte sich auf das konzentrieren, was vor ihm lag. Und wenn es der Genuss eines guten Espada com banana war, verstand er keinen Spaß. Das musste zelebriert werden. Und dazu gehörte die Ruhe vor dem Mahl.

»Nein, er ist mit einem Schlüsselbeinbruch und einer Gehirnerschütterung davongekommen. Aber als die Helfer heute Vormittag die letzten Spuren des Unfalls beseitigen wollten, haben sie etwas entdeckt. Reiner Zufall. Wenn das Auto nicht ein paar Bäume mitgenommen hätte und einer der Helfer nicht zufällig weiter nach oben den Hang hinauf in Richtung der Levada dos Tornos geblickt hätte, hätten wir ihn kaum gefunden.«

»Wen gefunden? Lass dir doch bitte nicht jedes Wort aus der Nase ziehen, Vasconcellos. Das Thema hatten wir doch schon mal.« Avila war gereizt.

»Den Toten. Er dürfte noch nicht lange dort gelegen haben. Die Vermutung ist, dass es wieder ein unvorsichtiger Tourist ist, der nicht verstanden hat, dass auch eine innerstädtische Levada gefährlich sein kann.«

»Das ist die Levada, die von Monte aus hinunter nach Funchal geht, richtig?« Avila erinnerte sich dunkel, dass es in der Vergangenheit dort schon öfter Unfälle gegeben hatte.

»Ja, genau die. Ich glaube, in den letzten Jahren gab es kein Jahr, in dem wir keine Toten dort zu beklagen hatten. Ein Problem meiner Ansicht nach ist, dass sie in manchen Wanderführern immer noch fälschlicherweise als ›einfach‹ ausgewiesen ist.«

»Und das ist sie nicht?« Avila interessierte sich nicht sonderlich für das Wandern. Das überließ er lieber den Touristen.

»Nein, auf gar keinen Fall. Vor allem nach den heftigen Unwettern der letzten Jahre gibt es einige Stellen, an denen keinerlei Begrenzungen mehr stehen und der Hang steil hinunter ins Tal geht.«

»Haben wir schon eine Idee, wer der Tote sein könnte?«

»Leider nein. Durch den Aufprall ist der Schädel völlig zerstört. Daher wird es auch kaum möglich sein, eine Rekonstruktion des Schädels oder ein Phantombild für die Suche anzufertigen. Die Kleidung des Opfers gibt auch nicht viel her. Die Spusi prüft jetzt, ob man über die Hersteller etwas herausfinden kann. Der Kollege aus der Forensik hat mir erzählt, dass es sich nicht um typische Wanderkleidung handelt. Festes Schuhwerk, aber keine Funktionskleidung, wie sie die Touristen gerne tragen.«

»Gibt es sonst besondere Merkmale?«

»Soweit ist die Spusi noch nicht. Die Entdeckung ist erst eine Stunde alt. Alle hoffen jetzt auf die Gerichtsmedizin. Dorthin ist die Leiche gerade unterwegs.« Avila nickte. Wenn der Tote in die fähigen Hände von Doutora Souza geriet, würde es sicher bald weitere Informationen geben. Vasconcellos fuhr fort: »Leider hatte der Tote keinerlei Papiere bei sich. Nur einen Autoschlüssel. Die Kollegen versuchen nun, an der Einstiegsstelle sein Auto zu finden, das er hoffentlich dort geparkt hat. Außerdem wird geprüft, inwieweit es Vermisstenmeldungen gibt, die passen könnten.«

»Gehen wir von einem Unfall aus? Oder meint jemand, das könnte ein Fall für uns werden?«

»Die Kollegen sagen, es sei bisher kein Fremdverschulden festzustellen. Aber wie gesagt, die endgültige Prüfung steht noch aus.«

»Gut. Halte mich bitte auf dem Laufenden. Wer von uns ist jetzt vor Ort?«

»Ich habe Baroso als Vorhut hingeschickt. Er hat in letzter Zeit eine gute Beobachtungsgabe bewiesen und da es im Moment doch eher nach einem Unfall aussieht, dachte ich, so wirbeln wir nicht unnötig Staub auf, indem wir alle zusammen vor Ort sind. Wenn die Presse davon Wind bekommt, sind gleich wieder sämtliche Zeitungen voll davon. Ich wollte noch kurz die fünf Vermisstenfälle der letzten Tage genauer sichten, bevor ich mich auf den Weg mache.«

»Gute Idee. Bitte halte auch den Kontakt zu Doutora Souza wegen des Obduktionsberichtes. Sollte ein Fremdverschulden nicht ausgeschlossen werden können, möchte ich, dass wir gleich am Ball sind. Und wenn ihr etwas Eigenartiges bemerkt, gebt mir bitte sofort Bescheid.«

»Machen wir. Und jetzt lass ich dich alleine, damit du dich wieder den späten Vaterfreuden widmen kannst.« Bevor Avila noch eine passende Entgegnung einfiel, schloss sich die Tür hinter seinem Subcomissário.

 

 

Garajau, 05.08.2013 – 11:12

Das Telefon drang mit seinem schrillen Läuten in Leticias Träume ein. Eben noch war sie der strahlende Mittelpunkt des Abends im Golfklub gewesen, mit einem tiefroten, engen Kleid, in dem sich keinerlei Bauch abzeichnete. Dann kam dieses Klingeln und holte sie in die Wirklichkeit zurück. Mechanisch drehte sie sich auf die linke Seite, um Fernando zu wecken. Das war sicher für ihn. Aber das Bett neben ihr war leer. Wieder das durchdringende Klingeln. Mühsam richtete Leticia sich auf und lehnte sich an das Kopfteil des Bettes. Genervt schaute sie auf die Uhr. Wer rief denn so früh … Mist, die Uhr zeigte 11:13 Uhr. Hatte sie wirklich so lange geschlafen?

Fernando musste längst bei der Arbeit sein. Sie hatte noch nicht einmal mitbekommen, wie er seine Runde mit Urso gedreht hatte. Er musste sich leise hinausgestohlen haben und irgendwie den Hund dazu gebracht haben, bei der Aussicht auf den morgendlichen Spaziergang nicht laut vor Freude zu bellen.

Sie schaute sich um. Urso lag tatsächlich neben dem Bett. Jetzt schien aber auch er durch das Klingeln gestört zu sein, denn er bellte leise und schaute Leticia vorwurfsvoll an.

»O. k., du hast recht, ich gehe ja schon ran.«

Sie reckte sich nach dem Telefon und nahm den Hörer ab.

»Tou?«

»Leticia, bist du es?«, klang die Stimme ihrer Freundin Inês aus dem Hörer. »Ist alles in Ordnung bei dir? Du klingst so verschlafen?«

»Ja, du hast recht. Fernando hat mich heute ein bisschen länger schlafen lassen.«

»Du Arme, Ich weiß noch, als ich schwanger war mit meiner Jüngsten. Ich war ständig müde. Aber das geht vorbei. Zum Glück hatte ich diese wunderbare Haushälterin, die sich immer so gut um mich gekümmert hat. Habe ich dir schon ihre Adresse gegeben? Sie ist ganz hervorragend mit kleinen Kindern.«

Leticia seufzte. Für Inês, die Frau von Avilas Chef, war es einfach, sich für alles Hausangestellte zu leisten. Fernando und sie hatten zwar auch mit Ana jemanden, der ihnen half, das Haus in Schuss zu halten. Aber Ana kam nur zweimal die Woche, mehr konnten sie sich nicht leisten. Und ein Kindermädchen rund um die Uhr, wie es Inês gehabt hatte, kam nicht infrage. Zudem wollte Leticia selbst für ihr Kind verantwortlich sein, aber das wollte sie ihrer Freundin nicht sagen.

»Ja, Inês, du hast mir schon die Adresse gegeben. Aber Fernando und ich sind mit Ana sehr zufrieden, und für mehr als eine Hilfe ist unser Haus einfach nicht groß genug.«

Leticia konnte quasi sehen, wie sich die fein gezupften Augenbrauen ihrer Freundin leicht missbilligend hoben. Früher hatte Leticia das sehr viel ausgemacht, was Inês von ihr dachte. Aber im letzten Jahr hatte sich für sie viel geändert. Wenn sie daran dachte, dass sie ihr Leben mit Fernando fast für diesen charmanten Taugenichts Lucca aufs Spiel gesetzt hatte. Zum Glück hatte Vasconcellos sie davor bewahrt, dass Fernando es herausgefunden hatte. Sonst wäre dieser kleine Wonneproppen in ihrem Bauch jetzt auch nicht auf dem Weg. Zärtlich strich sie darüber. Ja, sie war glücklich mit ihrem Leben.

»Leticia, bist du noch da?«, durchbrach Inês’ helle Stimme ihre Gedanken.

»Ja, ich höre.«

»Ich habe gerade erzählt, was diese Aurelia für Probleme bereitet. Sie hat uns Damen den ersten Entwurf ihrer Tischordnung gezeigt. Es ist eine Katastrophe! Dieses Kind hat keinerlei Verständnis für gesellschaftliche Spielregeln. Sie will allen Ernstes Romario Palmeiro am gleichen Tisch sitzen lassen wie Vitor Marsh. Dabei weiß man doch, dass Palmeiro seit Jahren versucht, mit günstigem Madeirawein die Marsh-Familie zu ruinieren. Vitors Frau hat mir erzählt, dass sie tatsächlich fast 20 % Einbußen haben, seitdem dieser Palmeiro auch in der Avenida Arriaga sein Geschäft eröffnet hat. Dabei ist die Marsh-Familie dort seit dem vorletzten Jahrhundert ansässig.«

»Du hast recht, das geht wirklich nicht«, beeilte sich Leticia, zuzustimmen.

Jetzt, mit etwas Abstand zu dem Ganzen, amüsierte sie sich über diese Geschichten. Eigentlich würde sie das gerne auch Fernando heute Abend erzählen. Aber er hatte tatsächlich noch weniger Gespür für diese gesellschaftlichen Fallstricke als die kleine Aurelia. Und wenn Inês in der Nähe war, nahm Fernando meistens Reißaus.

»Und das ist noch nicht alles. Hast du schon gehört, was sie mit der Bestellung bei Blandy’s gemacht hat? Scheinbar weiß sie nicht, welcher Madeira als Digestif, welcher als Aperitif getrunken wird. Nicht zu fassen. Mit dir als Organisationsleiterin wäre so etwas nie passiert.«

 

Leticia lehnte sich zurück und hörte entspannt dem Tratsch aus dem Golfklub zu.

Inês hatte sich mittlerweile in Rage geredet.

»Der Abend verspricht wirklich, eine Katastrophe zu werden. Aurelia hat es irgendwie geschafft, sich mit der Orchideensara zu überwerfen. Die weigert sich jetzt, den Blumenschmuck für die Tische zu liefern. Dabei hattest du im Vorwege doch diese wunderbare Idee mit den Veilchenorchideen gehabt. Daraus wird jetzt wohl nichts. Die dumme Kleine glaubt natürlich, dass sie jemand anderes findet, der ihr Orchideen liefert. Wie soll das so schnell gehen?«

Leticia musste schmunzeln. Sich mit der Orchideensara, einer stadtbekannten Blumenhändlerin, die in den Markthallen einen festen Stand hatte, zu überwerfen, war einfach. Etwa, wenn man die Qualität ihrer Orchideen infrage stellte. Oder mit ihr über die Bedeutung der einzelnen Orchideenarten diskutierte und einer anderen Meinung war als sie. Aber eines musste man der Orchideensara lassen, ihre Orchideen waren immer frisch, immer schön. Ein Jammer, dass Aurelia das mit der Tischdekoration vergeigt hatte.

»Und wie ist jetzt der Plan?«

»Ich werde heute Nachmittag in die Mercado dos Lavradores gehen und bei Sara Abbitte leisten. So ein bisschen habe ich die Hoffnung, dass du mich begleitest. Ich würde dich auch von zu Hause abholen und wieder zurückbringen. Was meinst du, ein kleiner Ausflug nach Funchal? Wir könnten auch hinterher eine Bica oben im ersten Stock in dem neuen kleinen Café trinken und den Blick über die Altstadt genießen. Was meinst du?«

Leticia überlegte. Wäre es nicht vielleicht besser, sich komplett aus dem Ganzen herauszuhalten? Andererseits wäre ein Tapetenwechsel für ein paar Stunden schön. Allerdings hatte sie Fernando versprochen, etwas kürzer zu treten und sich, wie er so sagte, aus dem ganzen »Golfklub-Theater« herauszuhalten. Es war schon schwer genug gewesen, ihn dazu zu überreden, dass sie zu dem großen Dinner am Freitag in den Klub gingen. Nur die Aussicht auf richtig gutes Essen und guten Madeira hatte ihn dazu bewegen können. Zugegeben, vielleicht hatte die Androhung, sonst würde sie alleine gehen, auch dazu beigetragen, dass er schließlich nachgab. Ein ganz kleines bisschen hatte sie ein schlechtes Gewissen. Sie wusste, wieviel Sorgen sich Fernando machte. In ihrem Alter war die Schwangerschaft auch nicht so einfach. Aber wenn es bei einem kurzen Ausflug heute Nachmittag blieb, würde Fernando es wahrscheinlich gar nicht mitbekommen. Wenn er am Abend nach Hause kam, wäre sie schon längst wieder zurück.

»Gut, dann hol mich ab.« Jetzt, wo die Entscheidung gefallen war, merkte sie, wie sehr sie sich darauf freute, einmal wieder raus zu kommen. Gefühlt lag ihr letzter Besuch im Golfklub schon Wochen zurück, dabei waren es gerade drei Tage her. Aber die Zeit kroch nur so, wenn man den ganzen Tag alleine zu Hause war. Auch wenn Urso ihr tapfer Gesellschaft leistete, war es doch stinklangweilig. Die Idee mit der Einrichtung des Kinderzimmers hatte sie auf Druck von Fernando und des Arztes leider wieder aufgeben müssen. »Zu anstrengend in deinem Zustand« war die Meinung der Männer.

Inês’ Stimme war die Erleichterung deutlich anzuhören.

»Wunderbar, querida amiga. Mir geht es gleich besser. Gemeinsam können wir das alles bestimmt wieder geradebiegen. Ich habe heute früh schon zu Ignacio gesagt, wenn Leticia hilft, wird alles gut. Wir parken auch gleich im Parkhaus gegenüber der Markthallen, damit du in deinem Zustand nicht zu lange laufen musst.«

Leticia war sich nicht sicher, ob ihre Freundin nicht etwas zu optimistisch war. Das Eröffnungsdinner zur großen Ausstellung drohte doch eher ein Fiasko zu werden.

 

Funchal, Polizeipräsidium, 05.08.2013 – 15:01

Avila plagte eine innere Unruhe. Schon seit Stunden hatte er nichts mehr von Vasconcellos oder Baroso gehört. Als Vasconcellos ihm vorhin Bericht erstattet hatte, war er zunächst glücklich gewesen, dass sein Subcomissário alles so gut im Griff hatte.

Mittlerweile kam er sich aber seltsam überflüssig vor. Warum meldeten sich die zwei nicht? War der Fall doch ernster als gedacht, und sie hatten so viel zu tun? Oder saßen sie bei Bica und Nata in einem Café ohne ihn?

Er sprang auf und lief ziellos im Zimmer herum. Vielleicht sollte er Vasconcellos anrufen? Aber dann würde der am Ende denken, Avila hätte kein Vertrauen in ihn. Nein, keine gute Idee. Er lief die nächste Runde in seinem kleinen Büro. Oder waren Vasconcellos und Baroso am Ende schon zurück und schrieben Bericht?

Avila verließ sein Büro und ging in Richtung des Großraumbüros, in dem auch die Schreibtische seiner Kollegen standen. Kein Zeichen von den beiden.

»Hat einer von euch Vasconcellos oder Baroso in den letzten Stunden gesehen?«, fragte er die Kollegen. Ein fast simultanes Kopfschütteln war die Antwort.

In diesem Moment klingelte das Telefon an Vasconcellos’ Schreibtisch. Reflexartig nahm Avila den Hörer ab.

»Tou?«

»Ernesto, bist du es?«, klang die wohlklingende Stimme von Doutora Souza aus dem Hörer.

»Nein, Doutora, hier ist Avila.«

»Ach, Comissário. Dann habe ich ja gleich den Richtigen am Hörer. Es geht um den Toten von heute Mittag. Ernesto hatte mich gebeten, mich so schnell wie möglich zu melden, wenn ich etwas sagen kann, was der Identifizierung hilft. Er wollte nicht den ganzen Obduktionsbericht abwarten.«

»Und, was können Sie uns sagen?«

»Leider konnte ich die Identifizierung noch nicht abschließen. Es wird auch nicht so einfach werden. Die Fingerabdrücke sind nicht im System, das hatte Ernesto schon überprüft. Und für einen Kieferabdruck ist das Gebiss durch den Sturz aus der großen Höhe leider zu stark beschädigt. Selbst für die Altersbestimmung konnte ich die Frontzähne nicht verwenden. Ich habe einen Oberkiefermolar für die Wurzeldentintransparenz verwenden müssen.«

Avila verstand nur Bahnhof.

»Doutora, ich bitte Sie. Für Laien!«

Doutora Souzas Stimme bekam einen leicht amüsierten Unterton.

»Ich habe einen Backenzahn des Toten für die Altersbestimmung verwendet. Ich erspare Ihnen die Details des Verfahrens. Obwohl es wirklich sehr interessant ist, es wurde bereits 1955 in Grundzügen entwickelt und hat sich …«

»Doutora, bitte!« Avila wurde ungeduldig.

»Fernando, Sie sollten wirklich etwas geduldiger werden. Der Tote wird uns nicht mehr weglaufen. Also, ich schätze das Alter auf über 70 Jahre. Leider ist bei dieser Methode eine hohe Fehlerquote möglich. Es können auch 10–20 Jahre mehr oder weniger sein. Um das Alter sicherer zu bestimmen, muss ich jetzt mehrere Ansätze kombinieren. Das dauert aber.«

»Wir werden erst einmal damit arbeiten, dass wir es mit einem älteren Opfer zu tun haben. Danke Ihnen, Doutora Souza.«

»Jetzt kommen wir zu besonderen Merkmalen. Der Tote weist eine dunklere Hautfarbe auf. Dies ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass er sich meistens in wärmeren Gefilden aufhielt.«

»Ein Einheimischer?«

»Das kann sein, aber es könnte auch ein Tourist aus Südeuropa sein. Nordeuropäer würde ich zunächst ausschließen wollen.«

»Sonstige Merkmale?«

»Gepflegtes Äußeres, sofern man das nach dem Sturz noch beurteilen kann. Finger- und Fußnägel sehr ordentlich, was teilweise bei älteren Menschen, wenn sie nicht gut situiert sind, eher schlechter ist. Die Hände weisen keine Schwielen auf. Er wird keine schweren Arbeiten in seinem Leben verrichtet haben. Tätowierungen oder besondere Male habe ich nicht gefunden, außer einer gut verheilten Narbe auf dem Knie. Ich habe da einen Verdacht, aber ich muss noch auf die Röntgenbilder warten.« Avila hörte im Hintergrund eine Tür klappern. »Wie auf Bestellung, da kommt gerade mein Assistent mit den Röntgenbildern. Moment.« Doutora Souza legte den Hörer beiseite und Avila vernahm nur noch ein gedämpftes Gemurmel.

Kurze Zeit später war sie wieder am Apparat. Hatte ihre Stimme eben noch amüsiert und ruhig geklungen, war jetzt eindeutig Freude zu hören.

»Mein lieber Avila, wir haben es! Der Tote hatte ein künstliches Kniegelenk. Über die Seriennummer in diesem Ersatzteil werden wir ihn finden. So ein Glück! Das bestätigt auch meine Annahme, dass der Tote eher aus wohlhabenderen Kreisen stammt und weder einheimischer Arbeiter noch Bauer ist. Die könnten sich mit unserem Versicherungssystem kaum ein künstliches Kniegelenk leisten. Geben Sie mir ein paar Stunden, dann kennen wir unseren Toten.« Ohne auf seine Erwiderung zu warten, legte sie auf.

In diesem Moment kamen Vasconcellos und Baroso in das Büro. Ihrer Kleidung nach urteilte Avila, dass sie sich die letzten Stunden wohl auf der Levada und im Gebüsch aufgehalten hatten. Barosos schwarze Hose wies unterhalb des Knies einen großen Riss auf und die sonst immer blank geputzten Schuhe von Vasconcellos waren mit Matsch und Staub verkrustet.

Aber wie immer hatte Vasconcellos gute Laune und strahlte seinen Chef an.

»Baroso und ich haben wahrscheinlich die Stelle gefunden, an der der Tote abgestürzt ist. Sie ist nicht so weit von Babosas entfernt. Wir haben von der Einstiegstelle bis dorthin vierzig Minuten gebraucht. Es war also auch noch vor dem Tunnel oberhalb von Curral dos Romeiros. An den geknickten Ästen der Büsche konnte man genau sehen, wo er abgestürzt ist. Um die Stelle herum waren verschiedene Fußabdrücke. Leider können wir diese zeitlich nicht zuordnen. Die Levada ist jeden Tag frequentiert, und es ist sehr wahrscheinlich, dass einige Wanderer später an der Stelle vorbeigekommen sind. Die Spusi ist jetzt vor Ort und schaut, ob sie mehr herausfinden kann.«

»Doutora Souza hat uns auch schon einen Anhaltspunkt zu dem Alter des Toten gegeben. Er ist vermutlich über 70 Jahre alt. Aber sie wird uns in Kürze die Identität verraten können.« Baroso und Vasconcellos schauten ihn erstaunt an.

»Ja, der Tote hat ein künstliches Kniegelenk und Doutora Souza kann ihn daher …«

Baroso unterbrach ihn.

»An der Seriennummer des Implantates erkennen.«

»Genau«, brummte Avila gutmütig. Der Eifer seines jungen Mitarbeiters gefiel ihm. Da konnte man über die Unterbrechung auch einmal hinwegsehen.

»Das ist gut. Denn die Vermisstenfälle haben nichts Besonderes ergeben. Teilweise haben sie sich auch schon wieder überholt. Ein Kind ist wieder aufgetaucht, nicht, dass es auf die Beschreibung gepasst hätte. Und der einzige männliche Vermisste, ein Tourist, ist nach zwei Tagen doch wieder im Hotel erschienen. Er hatte das schöne Wetter genutzt und unter freiem Himmel übernachtet.« Avila musste wieder an das Pärchen denken, dass er vor ein paar Tagen morgens am Christo Rei überrascht hatte. Das schöne Sommerwetter lud wirklich im Moment dazu ein. Eventuell konnte er heute Abend wenigstens auf der Terrasse übernachten und in den Sternenhimmel schauen.

 

 

Funchal, Markthallen, 05.08.2013 – 15:13

Leticia und Inês betraten die Mercado dos Lavradores. Wie jedes Mal war Leticia überwältigt von den visuellen und olfaktorischen Eindrücken. Sie schnupperte. Durch ihre Schwangerschaft war ihr Geruchssinn deutlich verschärft. Sie meinte, den frischen grünen Geruch von Zitronen zu riechen, dazu den Duft von Frangipani, der leichte Noten von Vanille und Amaretto verband.

Die Eingangshalle war heute, am Montag, nicht so voll wie an den Wochenenden, wenn die Bauern der Umgebung ihre Produkte anboten. Nur eine Handvoll Händler hatte ihre Stände in der Mitte der Halle aufgebaut. Dadurch kam der gemauerte kleine Pavillon mit dem mit glänzend roten Ziegeln gedeckten Dach endlich einmal richtig zur Geltung. Leticia wäre gerne noch kurz in der Mitte stehen geblieben, um das Lichtspiel der Sonne zwischen den Blättern der Bäume zu genießen, die im Innenhof wuchsen. Aber Inês steuerte zielstrebig auf den nördlichen Seitengang zu, in dem Sara ihren Stand hatte.

Als sie dort ankamen, diskutierte Sara gerade mit einem älteren Herrn über die Aufzucht und das Blühverhalten von Venusschuhen. Scheinbar ein Thema, über das sich die beiden nicht einig waren. Saras zerfurchtes wettergegerbtes Gesicht überzog eine tiefe Röte, und sie hatte ihre hagere Gestalt zur vollen Größe aufgerichtet. Was in ihrem Fall nicht besonders beeindruckend war, da sie deutlich unter 1,60 m maß. Aber der ältere Herr wich schließlich zurück, nicht ohne noch ein paar zornige Worte aus seinem zahnlosen Mund gequetscht zu haben.

Kurz war Leticia versucht, Inês wieder zurückzuziehen. Ob es wirklich eine gute Idee war, mit der Orchideensara, die eh schon in Rage war, wegen des Blumenschmucks zu diskutieren?

Zu spät, Sara hatte die beiden Frauen schon entdeckt. Ihre harten Züge entspannten sich etwas und die Andeutung eines Lächelns, welches auch bei ihr zahllose Zahnlücken entblößte, glitt über ihr Gesicht.

»Dona Leticia, Dona Inês! Wie schön, Sie beide zu sehen. Sie waren ja lange nicht mehr hier bei mir.« Jetzt war ein deutlicher Vorwurf in der Stimme der älteren Frau zu hören.

»Sara, was für schöne Orchideen Sie heute wieder haben.« Inês machte eine ausladende Geste in Richtung des üppig bestückten Standes. Sie hatte recht. Es war eine wahre Pracht. Spanische Tänzerinnen mit ihren kleinen gelb-braunen Blütenröckchen, dazwischen üppig purpurne und blaue Veilchenorchideen. Auch elegante weiße Schmetterlingsorchideen fehlten nicht im Angebot. Sie waren Saras ganzer Stolz und überall in den großen Hotels als Tischschmuck beliebt. Viele andere Orchideen in allen Formen und Farben gab es noch, aber hier wusste Leticia zu wenig, um sie richtig benennen zu können.

»Alle wissen, dass sie bei mir die besten Orchideen bekommen. Da muss ich natürlich immer eine große Auswahl haben.« Sara machte sich noch ein bisschen gerader, sie war stolz auf ihre Blumen. Aber sie war auch schlau, was ihre nächsten Worte verrieten.

»Was möchten Sie beide denn von der alten Sara? Hat es vielleicht etwas mit dem Golfklub zu tun?« Sie grinste.

Leticia und Inês sahen sich an. Sie hatten sich keine Strategie zurechtgelegt, wie sie das Thema eigentlich anschneiden wollten. Noch hatten sie damit gerechnet, dass Sara sofort ahnte, warum sie beide hier waren.

Leticia gab sich einen Ruck.

»Liebe Sara, wir wollen Ihnen nichts vormachen. Ja, es geht um die Veranstaltung im Golfklub.«

»Dona Leticia, Sie wissen, dass ich die letzten Jahre immer gute Arbeit geleistet habe. Bessere Orchideen als meine kriegen Sie hier nicht.« Saras Stimme klang leicht betrübt.

»Natürlich, das wissen wir doch alle. Leider bin ich dieses Jahr nicht verantwortlich für die Organisation. Es gibt andere Dinge in meinem Leben.« Sie deutete auf ihren Bauch.

»Davon habe ich schon gehört! Wie schön für Sie und Senhor Avila! Mein Bruno und ich haben leider keine Kinder. Meine Orchideen, das sind meine Kinder.« Jetzt wurden ihre harten Gesichtszüge tatsächlich weich, als sie über die Blätter der lilafarbenen Veilchenorchidee strich.

Leticia, die Bruno kannte, war sich nicht sicher, ob es nicht vielleicht besser war, dass die beiden keine Kinder hatten. Bruno, der sich sein Geld als Korbschlittenfahrer für die Touristen oben in Monte verdiente, war auf Madeira dafür bekannt, dass er gerne und viel trank. Unter Alkoholeinfluss neigte er zudem dazu, mit fast jedem Streit anzufangen. Ob das die richtige Umgebung für Kinder war, wagte Leticia zu bezweifeln.

»Vielen Dank, Sara. Ja, wir freuen uns sehr. In etwa neun Wochen ist es soweit. Und wie schon gesagt, deswegen trete ich jetzt ein bisschen kürzer im Klub und habe einer jungen Klubdame die Organisation überlassen.«

Sara verdrehte die Augen.

»Diese Dame habe ich schon kennenlernen dürfen. Wenn sie mich fragen, ein verzogenes Gör! Was bildet die sich ein. Kommt her und macht meine Orchideen schlecht. Sagt, sie seien keine gute Qualität. Die Blüten müssten größer sein. Pah«, sie spuckte vor sich auf den Boden. »Sie hat keine Ahnung. Meine weißen Phalaenopsis haben die größten Blüten. Schauen Sie doch, ist das keine Pracht?« Sie nahm eine der größten Schmetterlingsorchideen hoch und hielt sie Leticia und Inês hin. Tatsächlich, die Blüten waren fast so groß wie die Handflächen eines Vorschulkindes. Leticia schüttelte den Kopf. Was hatte sich Aurelia nur dabei gedacht?

»Wunderschön Sara, wirklich. Und so große Blüten!« Inês riss Hilfe suchend die Augen auf und blickte Leticia an.

»Sie haben völlig recht, Sara. Ich glaube auch, dass Aurelia nicht viel von Orchideen versteht. Aber wahrscheinlich ist sie auch ein bisschen überfordert mit der Organisation des Ganzen und daher …«, versuchte Leticia zu beschwichtigen.

»Und deshalb muss sie mich beleidigen? Nein, Dona Leticia. Ich weiß, Sie sind ein guter Mensch. Aber diese kleine Blondine …« Aurelia hatte es sich eindeutig und ein für alle Mal mit Sara verscherzt, das war deutlich.

»Aber was sollen wir ohne Sie machen, Sara? Senhor Ignacio ist todunglücklich bei der Vorstellung, dass die Tische für diesen besonderen Anlass nicht so schön aussehen wie sonst. Könnten Sie vielleicht für uns noch eine Ausnahme machen? Ich verspreche Ihnen, dass Dona Inês und ich uns um alles kümmern und Sie mit meiner jungen Klubkollegin nichts weiter zu tun haben werden.«

Sara wiegte ihren Kopf leicht hin und her und schaute dabei prüfend von einer zur anderen.

»Gut, Dona Leticia. Weil Sie es sind und ich Sie und Dona Inês mag. Sie waren immer gut zu mir und ich tue es auch für Ihren Kleinen, der da kommt.« Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf Leticias Mitte.

»Sie haben Glück. Senhor Franco wollte zwanzig Pflanzen für seine Quinta das Flores haben. Aber er ist nicht gekommen. Hab mit seiner Faxineira telefoniert. Seine Hilfe wusste aber auch nicht, wo er ist. Auch nichts von irgendwelchen Blumen. Also habe ich heute zwanzig weiße übrig. Die nehmen Sie doch sonst auch immer, oder?« Leticia lächelte in sich hinein. Sara war auch eine gute Geschäftsfrau, das musste man ihr lassen. Sie hatte wahrscheinlich fast von Anfang an geplant, den beiden Frauen die Orchideen von Cecil Franco zu überlassen. Eigentlich komisch, dass er die nicht abgeholt hatte. Das passte so gar nicht zu dem alten Herrn.

Inês atmete hörbar auf.

»Sie sind ein Schatz, Sara! Wir werden auch gleich mit Ihnen alles fertig machen. Geld habe ich dabei, und das Auto hole ich sofort im Anschluss zum Verladen der Pflanzen.« Inês fing an, in ihrer geräumigen Handtasche nach dem Portemonnaie zu kramen. Leticia musste schmunzeln. Ihre Freundin hatte ganz offensichtlich Angst, Sara könnte es sich doch noch überlegen. Dann würde wohl nichts aus der gemütlichen Bica auf der Terrasse oben. Sie schaute auf die Uhr. Sollte sie Inês bitten, sie vorher zu Hause abzusetzen, oder wollte sie doch noch einen Abstecher in den Golfklub machen?

Funchal, Polizeipräsidium, 05.08.2013 – 17:11

»Ich befürchte, wir haben unseren Toten.« Vasconcellos legte mit ernstem Blick den Hörer auf die Gabel.

Avila, der gerade wieder im Großraumbüro gewesen war, um den Stand der Ermittlungen zu erfragen, schaute ihn an.

»Wer ist es?«

»Das war gerade Daria, die Hilfe von Cecil Franco. Er war heute Morgen, als sie zum Saubermachen kam, nicht da. Zuerst hat sie sich nichts dabei gedacht, aber heute Nachmittag hat sie dann bemerkt, dass er offenbar auch die Nacht über nicht zu Hause war.«

»Woher weiß sie, dass er nicht zu Hause war?«

»Wegen der Milch.«

»Häh? Was meinst du damit?« Avila schaute irritiert. War das etwa ein madeirensischer Aberglauben? Manchmal wunderte ihn nichts auf dieser Insel. Portugiesen vom Festland waren einfach bodenständiger seiner Meinung nach.

»Sie sagt, sie hole für Senhor Cecil immer frische Milch vom Bauern. Er trinkt sie wohl wahnsinnig gerne und viel. Sie beide scherzen immer, dass es am Wochenende immer knapp wird, da sie ihm dann keinen Nachschub bringen kann. Als Daria heute Nachmittag die Milchkanne aus dem Kühlschrank nahm, um sie zum Bauern zum Befüllen zu bringen, hat sie es bemerkt. Die Milchkanne im Kühlschrank war noch über die Hälfte gefüllt. Was nicht sein kann. Montagmorgens ist sie normalerweise fast immer leer.«

»Wenn er einmal keinen Appetit auf Milch hatte?« Jetzt ergab es zwar mehr Sinn, aber so richtig überzeugt war Avila immer noch nicht.

»Sie sagt, das habe sie zunächst auch gedacht. Dann ist sie aber im Haus herum gegangen und hat noch nach anderen Zeichen gesucht. Alles sprach dafür, dass er tatsächlich nicht zu Hause gewesen ist. Später rief noch die Blumenhändlerin an und fragte, warum Senhor Cecil nicht die Blumen abgeholt habe, die er doch extra für seine Quinta bestellt hat.«

»Und wenn Cecil Franco einfach die Nacht woanders verbracht hat und darüber auch vergessen hat, die Blumen abzuholen?«

»Franco ist 86 Jahre alt. Noch sehr rüstig, aber bestimmt niemand, der nachts nicht nach Hause kommt.«

»Gut, wir haben jetzt einen Vermissten, der zu dem Toten passen könnte. Bis wir aber nicht die eindeutige Bestimmung durch die Seriennummer durch Doutora Souza haben, behalten wir es für uns.«

Nach mehrmaligem schüchternem Räuspern fasste Baroso sich ein Herz.

»Dazu möchte ich auch etwas sagen, wenn ich darf. Doutor Franco und meine Großmutter kennen sich sehr gut. Meine Großmutter hatte vor einiger Zeit Probleme mit ihrer Hüfte, traute sich aber nicht, sich operieren zu lassen. Doutor Franco hat ihr dann seinen Orthopäden empfohlen, der ihm schon ein künstliches Kniegelenk eingesetzt hatte.«

»Hmm, o. k. Ihr habt mich überzeugt: Unser Toter ist wohl dieser Cecil Franco. Wir bleiben aber dabei, keine Informationen an die Öffentlichkeit. Ich gehe davon aus, einer von euch beiden weiß auch, wen wir benachrichtigen müssen, wenn die Identität bestätigt ist?« Avila als Festlandportugiese war nach den Jahren auf Madeira immer noch nicht so gut vernetzt wie Vasconcellos, dessen Familie seit Generationen auf der Insel lebte. Und auch die Vorfahren des jungen Baroso stammten von Madeira. Am Anfang hatte sich Avila immer insgeheim darüber lustig gemacht, dass hier jeder jeden auf der Insel kannte. Da es in der Vergangenheit aber in mehr als einem Fall durchaus nützlich gewesen war, dass seine Mitarbeiter auf ihr Familiengedächtnis zurückgreifen konnten, war er nunmehr stets gewillt, diesen Umstand zu nutzen.

»Senhor Cecils Frau ist sehr jung gestorben. Sie hatten keine Kinder. Meine Großmutter sagte immer, das war auch gut so, denn er galt in seinen jungen Jahren als ein ziemlicher Casanova.«

»Gibt es andere Angehörige?«

»Soviel ich weiß, nein. Das werde ich aber überprüfen, sobald wir die Identität von Doutora Souza bestätigt haben.«

»Hat die Spurensicherung sich noch einmal geäußert?«

»Negativ, Chef. Wie wir schon befürchtet hatten. Die Levada ist stark frequentiert und es ist unmöglich zu sagen, ob es Spuren gibt, die zu einer zweiten Person gehören, oder ob es Wanderer waren, die vor oder nach dem Sturz an der Stelle vorbeigekommen sind.«

»So ein Mist. Irgendetwas sagt mir, dass der alte Herr erfahren und vorsichtig genug gewesen sein müsste, die Gefahren dieser Levada richtig einzuschätzen. Aber eventuell stellt sich bei der weiteren Obduktion heraus, dass er einen Schlaganfall oder Herzinfarkt gehabt hat und deswegen abgestürzt ist. Wir müssen abwarten.«

 

 

 

Funchal, Golfklub, 09.08.2013 – 19:23

Avila betrat mit einer strahlenden Leticia am Arm den Golfklub. Nichts deutete mehr auf die letzten Stunden zu Hause hin, in denen Leticia den Tränen nahe gewesen war.

»In diesem Kleid sehe ich aus wie ein gestrandeter Wal«, war noch der harmloseste Ausbruch gewesen, mit dem sich Avila bis kurz vor ihrem Aufbruch konfrontiert sah. Seine Versuche, Leticia durch Komplimente zu einer schnelleren Wahl der passenden Garderobe zu bewegen, waren kläglich gescheitert.

»Das Gold von diesem Kleid betont deine braunen Augen, meu amor.« wurde mit »Damit könnte ich als eine der dicken Putten im Petersdom durchgehen.« gekontert. Auch simple Ausrufe wie: »Du siehst wunderschön aus!«, hatten ein »Das sagst du nur, weil du mich liebst.« und Tränen zur Folge.

Irgendwann hatte er sich mit einem Glas trockenen Sercial ins Wohnzimmer zurückgezogen. Langsam hatte er jeden Schluck im Mund bewegt, sich bemüht, die unterschiedlichen Aromen von Orange und Nüssen zu schmecken, und gewartet. Eine gefühlte Ewigkeit später war Leticia exakt mit dem goldenen Kleid vor ihm erschienen, das vorher noch die Gefühlsausbrüche verursacht hatte. Er hatte sich gehütet, dazu eine weitere Bemerkung zu machen, sondern nur sein Jackett gegriffen und Leticia schnell in Richtung Auto gezogen.

Avila schaute verstohlen auf die Uhr, es war kurz vor halb acht. Er atmete auf, sie waren noch pünktlich. Die Vorstellung, dass sie vielleicht die Letzten sein könnten und damit alle Aufmerksamkeit auf sich zogen, war der reinste Horror für ihn.

Leticia schaute sich um.

»Das geht ja gar nicht! Siehst du das, Fernando?« Sie wies auf die bunten Lampions, die in den Bäumen vor dem Klub hingen.

Geistesabwesend, weil er gerade versuchte, zwischen den heranströmenden Menschen wenigstens ein bekanntes Gesicht auszumachen, sagte Avila:

»Wunderbar, Liebes, du hast recht …« An Leticias empörtem Gesichtsausdruck merkte er zu spät, dass das nicht die Entgegnung gewesen war, die sie hatte hören wollen.

»Ich meinte, äh, nicht so gut?«

Leticia schüttelte den Kopf.

»Nein, nicht gut. Wir wollten diese Lampions im Klub nicht mehr verwenden. Vor ein paar Jahren sind ein paar durch den Wind fortgetrieben worden und haben einen der alten Drachenbäume hier auf dem Gelände entflammt. Er war nicht mehr zu retten. Ich verstehe nicht, dass niemand Aurelia davon abgehalten hat, die Lampions zu verwenden. Und heute ist es wirklich stürmisch, meinst du nicht? Ich muss gleich mit Ignacio sprechen. Nicht, dass wieder etwas passiert.« Sie schaute sich nach dem Klubpräsidenten um.

Avila atmete schwer. Das versprach ein toller Abend zu werden. Nicht nur, dass er sich zwischen all den Reichen und Berühmten von Madeira, die sich heute hier ein Stelldichein gaben, äußerst unwohl fühlte. Nein, er würde Leticia wahrscheinlich den ganzen Abend davon abhalten müssen, umzudekorieren.

Beruhigend nahm er ihre Hand.

»Es wird bestimmt alles gut gehen. Warte nur ab.«

Sie kamen jetzt in den Eingangsbereich des Klubs. Hier stand Ignacio Coelho und begrüßte die Neuankömmlinge. Ein Blick in sein Gesicht verriet Avila, dass auch der Klubpräsident nicht glücklich mit dem bisherigen Verlauf des Abends war. Das Lächeln auf seinem Gesicht wirkte eingefroren und erreichte die Augen nicht, die ihnen jetzt sorgenvoll entgegen blickten.

»Meine liebe Leticia, wie schön, dass du da bist. Und wie wunderbar du aussiehst. Du strahlst ja geradezu.« Coelho umarmte Leticia.

Eine solche Begrüßung wurde Avila nicht zuteil, ein kurzes gemurmeltes »Fernando«, reichte hier. Für den Comissário war das kein Beinbruch. Der Klubpräsident und er gingen sich aus dem Weg, wo immer es möglich war, nachdem Avila vor einigen Jahren im Umkreis des Golfklubs ermittelt hatte.

»Danke dir noch einmal, dass du mit Inês zumindest das Thema mit der Tischdekoration gelöst hast. Wenn ihr diese Woche nicht zur Orchideensara gefahren wärt, es sähe noch schlimmer dort drinnen aus!«

Avila schaute Leticia erstaunt an.

»Zur Orchideensara gefahren? Diese Woche?«

Von Leticias Hals breitete sich eine Röte bis in ihr Gesicht aus.

»Ja, ich wollte es dir erzählen, Fernando. Inês und ich sind am Montag in Funchal gewesen. Aber nur ganz kurz und Inês hat aufgepasst, dass ich nicht zu viel laufe.«

Avila zog missbilligend die Augenbrauen hoch und murmelte leise vor sich hin:

»Wenn ich nicht ständig alles kontrolliere …«

In diesem Moment kam Leticias Freundin Inês, ihre üppige Figur wie immer perfekt in Szene gesetzt, diesmal mit einem nachtblauen engen Cocktailkleid mit tiefem Ausschnitt, auf die kleine Gruppe zu.

»Querida amiga, wie schön, dass ihr endlich da seid! Ihr sitzt mit uns zusammen an einem Tisch. Das habe ich zum Glück eben noch korrigieren können. Die kleine Aurelia hatte euch doch tatsächlich bei Romario Palmeiro platzieren wollen. Der soll mal schön mit seinen Parteifreunden an einem Tisch sitzen.« Sie zog Leticia mit sich fort in Richtung Saal.

Kurz überlegte Avila, ob er die Gunst der Stunde nutzen sollte, um einen kleinen Gang über den Golfplatz zu machen. Einfach den Blick genießen und die Menschenmenge hier vergessen. Dann fiel ihm wieder seine Sorge von vorhin ein, dass späte Gäste eine erhöhte Aufmerksamkeit zuteilwerden könnte. Nach einem erneuten tiefen Durchatmen folgte er den beiden Frauen.

 

Diese hatten schon an einem der im Saal verteilten großen runden Tische Platz genommen. Alles war strahlend weiß dekoriert, selbst die Stühle hatten weiße Überzüge. Avila war sich sicher, dass Leticia ihm auch sagen konnte, wie diese Dinger hießen. Er mochte nicht so gerne darauf sitzen, denn bei ihm entwickelten diese Überzüge im Laufe eines Abends meistens ein Eigenleben. Am Ende hing alles traurig von seinem Stuhl hinab.

Er schaute sich um. Vorne am Kopfende des Saales, direkt gegenüber des großen Panoramafensters, das den Blick auf die Lichter des im Zwielicht liegenden Funchals frei gab, war eine kleine Bühne aufgebaut. Dahinter hing, prominent und groß, das berühmte Foto des alten Staatsmannes, das jeder hier auf Madeira kannte.

Mit der obligatorischen Zigarre im Mund, in einen dicken Mantel gehüllt und mit Hut auf dem Kopf saß er vor der Kulisse von Câmara de Lobos an seiner Staffelei und malte. Etwas störend wirkte auf den Betrachter der kleine Sonnenschirm, den einer der Begleiter über den Kopf von Churchill hielt. Das Bild auf der Staffelei machte auf den ersten Blick einen ganz ordentlichen Eindruck. Zumindest schien der Maler die Szene vor sich gut erfasst zu haben. Vielleicht würde es doch ganz nett werden, wenn sie bei der morgigen Vernissage in der Galerie einige der Bilder von Churchill ansehen würden, überlegte Avila. Der alte Mann schien doch ganz anständig gemalt zu haben. Dennoch fand Avila das ganze Theater drumherum übertrieben. Warum musste es zunächst ein Dinner im Golfklub geben und dann am nächsten Tag eine Vernissage? Auch die Zeitungen kannten seit Wochen kaum ein anderes Thema. Man könnte wirklich meinen, auf Madeira gäbe es nichts Interessanteres zu berichten.

Jetzt erst bemerkte er, dass Leticia ihm von ihrem Platz am Tisch zuwinkte. Ergeben trottete er in Richtung seiner Frau und nahm neben ihr Platz. Glücklicherweise konnte er bisher seinen Chef nicht in der Menge ausmachen, vielleicht war Inês am Ende wirklich alleine gekommen? Dann schüttelte er den Kopf. Nein, das konnte nicht sein. Selbst von seinem Sterbebett würde André Lobo aufstehen, um bei so einem gesellschaftlichen Großereignis, wie Leticia es nannte, dabei zu sein. Man konnte ja nie wissen, wem man so begegnete und welche Verbindungen man neu knüpfen konnte.

»Fernando? Inês hat mir gerade etwas Furchtbares erzählt. Stimmt es, dass Cecil Franco zu Tode gestürzt ist? Das hast du mir überhaupt nicht erzählt.«

»Woher kennst du denn Cecil Franco? Ich wusste bis diesen Montag überhaupt nicht, dass es ihn gibt.« Avila wagte die Flucht nach vorn, um sich nicht rechtfertigen zu müssen. Aber auch das war keine so schlaue Taktik. Inês und Leticia sahen ihn entsetzt an.

»Du wusstest nicht, wer Cecil Franco war? Fernando, ich bitte dich. Er war einer der großen Mäzene hier auf der Insel. Hat viel Geld für den Segelklub und für den Golfklub hier in Funchal gestiftet.« Inês unterstrich ihre Empörung mit einem leichten Schnauben. Avila wusste nicht, warum das so bemerkenswert war. Als ob es in diesen beiden Klubs an Geld mangelte.

Jetzt sprach Leticia weiter:

»Cecil Franco ist einer der größten Hersteller für Aguardente hier auf Madeira. Wir müssten sogar eine Flasche davon bei uns zu Hause haben. Weißt du das denn nicht?«

Avila wusste dank Vasconcellos nunmehr einiges über Cecil Franco, aber er schwieg lieber und ließ die Frauen reden. Mochte doch sein, dass er auf diese Weise noch ein bisschen mehr erfuhr.

»Wer erbt denn jetzt eigentlich die Fabrik? Sie muss ein Vermögen wert sein. Und die Quinta dazu! Mit diesem unverbauten Blick über Funchal. Nicht so wie die Quinta der Stuart-Familie, wo sie die Umgehungsstraße direkt drum herum gebaut haben. Ich wette, das hat damit zu tun, dass Colin Stuart sich in seinem Blog ständig so abfällig über die Politik äußert. Soweit ich weiß, hat der Presidente ihn dafür sogar schon vor ein europäisches Gericht gezerrt.« Inês war schon beim nächsten Thema. Avila wandte sich wieder dem Geschehen in der Umgebung zu.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739392721
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (August)
Schlagworte
Regiokrimi Insel Strandlektüre Mord Madeira Krimi Spannung Churchill Cosycrime Regionalkrimi Südeuropa Portugal Humor Ermittler Thriller Cosy Crime Whodunnit

Autor

  • Joyce Summer (Autor:in)

Joyce Summer lebt ihren Traum mit Krimis, die in sonnigen Urlaubsorten spielen. Politik und Intrigen kennt sie nach jahrelanger Arbeit als Projektmanagerin in verschiedenen Banken und Großkonzernen zur Genüge: Da fiel es Joyce Summer nicht schwer, dieses Leben hinter sich zu lassen und mit Papier und Feder auf Mörderjagd zu gehen. Die Fälle der Hamburger Autorin spielen dabei nicht im kühlen Norden, sondern in warmen und speziell ausgesuchten Urlaubsregionen, die die Autorin gut kennt.
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Titel: Madeiragrab