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Meister der Runen - der Chronik erster Teil

Sammelband 1

von Patrick Huber (Autor:in)
249 Seiten

Zusammenfassung

Dieser Sammelband enthält die ersten zehn Bände einer Reihe von Kurzgeschichten rund um die Runenkrieger, die Elitekämpfer der Zwerge. Sie sind Krieger, Gelehrte und Magier in einem. Oft nimmt ein Teil Bezug auf die Handlung, oder die Personen aus einem anderen Teil und doch gibt es keinen roten Faden; kein Motiv, das sich konsequent durch alle Bände auf ein gemeinsames Ziel zu bewegt. Dieser Sammelband gleicht einem Fotoalbum, mit unterschiedlichen Schnappschüssen aus dem Alltag der Zwerge. Jedes Buch entspricht einem Aspekt der Welt, in der die Runenkrieger leben. So begleitet der Leser tollpatschige Lehrlinge, griesgrämige, alte Meister, talentierte Schmiede, tapfere Krieger und geheimnisvolle Spione auf ihren Abenteuern im Dienste des Königreiches unter dem Berg. Sie treten gegen Goblins, Untote, Druiden und Verräter aus den eigenen Reihen an, die allesamt das große und wohlhabende Zwergenreich ins Chaos stürzen wollen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

Vorwort Seite 4

Borengar - Buch 1 Seite 6

Borengar - Buch 2 Seite 19

Borengar - Buch 3 Seite 35

Tarik - Buch 1 Seite 58

Kalin - Buch 1 Seite 81

Gunnar - Buch 1 Seite 100

Tarik - Buch 2 Seite 131

Tarik - Buch 3 Seite 158

Gunnar - Buch 2 Seite 186

Kalin - Buch 2 Seite 212

Danksagung Seite 234

Impressum Seite 235

Für meine liebe Frau. Ohne dich wäre das alles nicht möglich gewesen.

Vorwort

Ich bezeichne Meister der Runen stets als eine Reihe von Kurzgeschichten, rund um die zwergischen Runenkrieger. Zumeist können Kurzgeschichten für sich alleine stehen und haben nichts miteinander zu tun.

Ich erlaube mir immer wieder, gegen diese Konvention zu verstoßen und eine Geschichte über mehrere Bände hinweg zu erzählen. Oft nimmt ein Teil Bezug auf die Handlung oder die Personen aus einem anderen Teil und doch gibt es keinen roten Faden; kein Motiv, das sich konsequent durch alle Bände auf ein gemeinsames Ziel zubewegt.

Dieses Projekt gleicht einem Fotoalbum, mit unterschiedlichen Schnappschüssen aus dem Alltag der Zwerge. Jedes Buch entspricht einem Aspekt der Welt, in der die Runenkrieger leben.

Die Runenkrieger selbst stellen eine Kuriosität in der Vielfalt der Fantasy-Bücher dar, denn sie verbinden typisch zwergische Eigenschaften (Sturheit, Streitlust, Kampfkraft) mit Fähigkeiten, die man eher von anderen Völkern kennt (Neugier, Wissensdurst, Bibliophilie und Magie). Weise, gelehrte Zwergenmagier - unmöglich? - Halt mal kurz mein Bier...

Nach zehn Monaten des begeisterten Schreibens, nach zehn veröffentlichten Kurzgeschichten fand ich, es sei an der Zeit, einen Sammelband zu veröffentlichen. In diesem Buch sind die ersten zehn Kurzgeschichten von Meister der Runen zusammengefasst. Die Reihenfolge entspricht ihrer Veröffentlichung.

Du, werter Leser, kannst die Geschichten natürlich in beliebiger Reihenfolge lesen, doch ich rate dazu, chronologisch vorzugehen.

Ich hoffe, dieses Buch bereitet dir genauso viel Spaß beim Lesen, wie mir beim Schreiben.

Wenn du am Ende angekommen bist, dann denke daran, dass dies nicht das letzte Abenteuer der tapferen Runenkrieger sein wird. Es warten noch viele Geheimnisse und Gefahren auf die kleinen, bärtigen Helden. Ich werde noch viele weitere Kurzgeschichten schreiben, jeden Monat eine.

Also, lass dich von mir auf die Reise in eine Welt der Magie, der Zwerge, Elfen und Druiden mitnehmen. Stelle sicher, dass du einen Humpen Met oder Bier bereit stehen hast, denn das Leben eines Runenkriegers ist voller Gefahren und Entbehrungen und macht ganz schön durstig!

Borengar - Buch 1

Gegenwart

“Verdammter Bursche, konzentrier dich gefälligst!”, brüllte Borengar seinen Schüler an.

“Das hier ist keine Inventarliste für eine Werkstatt! Weißt du, was dein dummer Fehler angerichtet hätte?”

Kalin wurde in seinem Stuhl immer kleiner und kleiner. Unbewusst zog er den Kopf schützend zwischen die Schultern und schüttelte stumm den Kopf.

“Du hast diesen Strich hier vergessen!”, erläuterte der Alte und zog mit seiner Feder eine weitere Linie auf dem Pergament.

“Und hier stimmt der Winkel nicht. Du hast aus Thurisaz die Rune Eowaz gemacht. Damit würde der Bannspruch eine ganze Herde wild gewordener Pferde am Eintreten hindern, aber nicht einen einzigen, verdammten Riesen!”

Wutschnaubend wirbelte Borengar mit klimpernden, bronzenen Bartperlen herum und zog, ohne lange zu zögern, einen riesigen Wälzer aus dem hohen Bücherregal hinter sich. Auf dem Einband prangten die goldenen Worte: Gar mannigfaltige Banne und Schutzzauber gegen garstige Kreaturen. Der Foliant hatte die Größe einer marmornen Wegplatte - und beinahe auch dessen Gewicht. Blitzschnell schoss der Arm des alten Zwerges herum und das Buch klatschte laut gegen die linke Wange Kalins.

“Du weißt, wie diese Rune geschrieben wird!”, brüllte Borengar, der allmählich in Fahrt kam.

“Du musst dich nur konzentrieren!”

Das Buch klatschte gegen die rechte Wange.

“Wenn du dich nicht konzentrierst, sterben Zwerge! Gute, tapfere, aufrichtige Zwerge!”

Das Buch knallte von oben auf den Schädel.

“Benutze deinen Verstand! Beherrsche dich!”

Schwer atmend donnerte er das Buch auf den Tisch und das Pergament flatterte davon.

“Lies das bis morgen! Und dann schreibst du mir diesen Bann nochmal auf. Und dieses Mal machst du besser keinen Fehler, denn ich werde persönlich ein paar Riesen auftreiben, um deine Arbeit zu testen.”

“Bis morgen? Aber Meister, ich habe nachher noch Kampftraining!”, begehrte der Rotzlöffel auf.

Borengar hatte schon hundert verschiedene Lehrlinge unterrichtet und die Sprüche und Ausflüchte waren immer die selben. Er stemmte seine beiden massigen Arme auf das Schreibpult des Jungen, beugte sich zu dessen bartlosem Gesicht herab und knurrte leise:

“Dann liest du eben bis zum Morgengrauen.”

Mit einer unwirschen Kopfbewegung entließ er den Burschen, der das Buch hochhievte und so schnell er konnte in Richtung Exerzierplatz flüchtete.

“Der Junge bringt mich noch ins Grab”, grummelte Borengar vor sich hin.

Zu seiner Zeit hatten sich die jungen Zwerge darum gerissen, in die Reihen der ehrwürdigen Runenkrieger aufgenommen zu werden. Sie waren die Elite ihres Volkes. Ihr Verstand musste genauso scharf sein wie ihre Klingen und ihre Magie so raffiniert wie ihre Kriegskunst. Die drei Obersten des Ordens waren Teil des Rates, der dem König persönlich zur Seite stand.

Heute jedoch jammerten die Adepten permanent über das Pensum, die Verantwortung, die Schläge, das grelle Sonnenlicht über Tage, die Dunkelheit in den Minenstollen. Er war da ganz anders. Er war sich schon in seinen jungen Jahren der Pflicht und der enormen Verantwortung, die auf seinen Schultern lastete, bewusst gewesen… Gedankenverloren strich er sich durch den langen, geflochtenen Bart. Er erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen…

Vergangenheit

Borengar schritt durch die Halle der Elemente. Der riesige Raum war aus dem uralten Granit des Berges gehauen worden, dessen natürliche Schönheit nicht verdeckt worden war. Das hohe Gewölbe wurde von mehreren massiven Säulen desselben Gesteins gestützt, welche über und über mit Inschriften bedeckt waren. Vom Eichentor aus führte ein langer, roter Teppich an die Stirnseite der Halle, wo die drei obersten Runenkrieger auf einem Podest standen und dem jungen Zwerg entgegenblickten.

Zur Linken und zur Rechten standen Reihe um Reihe die Runenkrieger des Zwergenreiches versammelt und riefen seinen Namen. Borengar stolzierte einher, die Brust unter seinem Kettenhemd geschwellt, den Helm unter den linken Arm geklemmt. Die rechte Hand ruhte auf der Axt an seinem Gürtel.

Nach einhundert Schritten war er endlich am Podest angekommen.

Mit vor Ehrfurcht zittrigen Händen legte er seinen Helm auf die erste Stufe des Podestes, kniete nieder und zog seine Axt. Er legte die Waffe auf seine offenen Handflächen, senkte den Kopf und bot die Waffe den Anführern seines Ordens dar.

“Borengar aus dem Hause der Kupferschmiede”, sprach Halfdan Ogerwurf, der erste unter den Runenkriegern, mit lauter klarer Stimme. “Du hast zehn Jahre lang die Runen, das Wissen unseres Volkes und die Kriegskunst studiert, so wie es das Gesetz verlangt?”

“Das habe ich, Fürst der Runen.”

“Du hast das Gebirge verlassen und fünf Jahre lang die Welt bereist, wie es das Gesetz verlangt?”

“Das habe ich.”

“Du bist unversehrt zurückgekehrt, das alleine ist schon eine bemerkenswerte Leistung. Doch bemerkenswert alleine genügt nicht.” Nervös räusperte Borengar sich.

“Ich habe das Dorf Grünberg von einem Nekromanten befreit.”

“Ist das wahr? Wer verbürgt sich dafür?”, fragte Halfdan und blickte zu Borengars langjährigem Lehrmeister.

Dieser stand links von seinem Schüler in der vordersten Reihe der Krieger und trat nun einen Schritt nach vorne, um zu antworten.

“Ich, Ragnar Stahlsänger, verbürge mich für die Taten und die Fähigkeiten dieses Adepten.”

“Damit ernenne ich dich zu einem Runenkrieger. Du wirst Björns Gruppe zugeteilt. Möge der göttliche Schmied mit dir sein, Bruder.” Damit ergriff Halfdan Borengars Axt und zog ein Messer aus seinem Gürtel. Mit schnellen, geübten Bewegungen ritze er eine Segnung in den Griff der Waffe und gab sie dem frisch gebackenen Runenkrieger zurück. Ein anderer Krieger überreichte ihm noch den grau-blauen Waffenrock seiner Zunft und eilig streifte der junge Zwerg ihn sich über.

“Komm her, Borengar”, sagte Hauptmann Björn. Nach der Ernennung war Borengar in eine der Kasernen des Ordens gezogen und hatte sich in der Waffenkammer gemeldet. Björn, ein großer und sehniger Zwerg mit dunkelbraunen, kurzen Haaren winkte ihn an einen Tisch heran, auf dem eine Karte des Zwergenreiches lag.

“Ich habe eine Aufgabe für dich. Sieh hier. Auf der dritten Ebene gibt es Probleme. Vor drei Monaten sind in einigen der Stollen Arbeiter einfach spurlos verschwunden. In den Wochen danach gab es immer häufiger seltsame Vorkommnisse. Einige der Minenarbeiter sind völlig grundlos ausgerastet und haben ihre Kumpel angegriffen. Sie töteten und verletzten, bis die Kraft sie verließ, dann töteten sie sich selbst. In diesem Stollen hier -”,

und er tippte auf die Karte, “dort kam es zu einer Panik.

Später berichtete der Vorarbeiter, wie alles seinen gewohnten Gang ging bis plötzlich alle Arbeiter gleichzeitig anfingen vor Angst zu brüllen. Einige warfen sich auf den Boden, andere sabberten, die Übrigen rannten panisch davon. Wir kennen den Grund für diese Geschehnisse nicht, glauben aber, dass alle Ereignisse zusammenhängen.

Es wurden Krieger in die Stollen entsandt, sie kamen jedoch allesamt nicht wieder. Und da kommst du ins Spiel. Draußen stehen zehn erfahrene Krieger. Du übernimmst das Kommando über sie und erkundest die Stollen. Finde heraus, was sie heimsucht und löse das Problem.

Wenn du den Eindruck bekommst, dass du Verstärkung brauchst, melde dich umgehend. Der Rest unserer Gruppe ist derzeit hier in der Kaserne und ich habe vom General eine Kompanie der Stollenkämpfer zugesagt bekommen.

Fragen? Nein? Dann los und bereite dich vor.”

Borengar hatte sich noch nicht die Mühe gemacht, seine Besitztümer auszupacken, daher war sein Gepäck schnell zur Hand. Er schlang sich seinen Rucksack auf den Rücken, trat hinaus auf den Vorplatz der Kaserne und erblickte die zehn Kämpfer, die ihn erwarteten.

Er hatte auf seinen Reisen außerhalb des Gebirges viele Gefahren überstanden und glaubte, allem gewachsen zu sein, was dem Herzen des Berges entspringen konnte, um sein Volk zu plagen.

Wenige Stunden später stand Borengar in der Dunkelheit des östlichen Stollens von Ebene drei. In der linken Hand hielt er eine Laterne, deren spärliches Licht nur wenige Schritte weit reichte, in der rechten hielt er seine Axt bereit.

Vor ihm, am Rande des Lichtkreises, lag eine zerbrochene Lampe von der Art, wie sie in regelmäßigen Abständen an den Stollenwänden befestigt waren. Aus irgendeinem Grund waren sämtliche Lampen, auf die sie bislang gestoßen waren, zerstört worden.

“Jemand hat sich hier ganz schön viel Mühe gegeben”, murmelte der junge Zwerg und betrachtete die Scherben.

“Das waren vermutlich die Bergarbeiter, die dem Wahnsinn verfielen”, mutmaßte einer der Krieger hinter ihm.

Die Männer, die ihn begleiteten, machten den Eindruck, hartgesottene Kämpfer zu sein, still, schweigsam und effizient. Doch sie waren keine großen Denker.

“Mag sein”, räumte der Runenkrieger ein.

“Aber in diesem Stollen waren eine ganze Menge Lampen. Nicht eine einzige scheint der Zerstörung entgangen zu sein. Für eine Horde Wahnsinniger scheint mir das zu gründlich zu sein. Jemand wollte hier kein Licht haben.”

Borengar winkte die Gruppe weiter und sie schritten den stillen Gang entlang, der kein Ende zu nehmen schien.

Von der Karte, die er gesehen hatte, wusste der Runenkrieger, dass der östliche Stollen etwa drei Wegstunden lang war und zu beiden Seiten zahlreiche Nebenschächte abgingen.

In diesem Teil des Berges wurde viel Gold gefunden und die Herren der Minenzunft hatten keine Mühen gescheut, dem uralten Gestein auch noch das letzte bisschen Edelmetall zu entreißen.

Borengar wusste aus seinen jahrelangen Studien von mehreren Vorkommnissen, bei denen die Zwerge feindselige Kreaturen in der Tiefe aufgeschreckt hatten. Er vermutete, dass dies erneut passiert war. Daher beabsichtigte er, seine Gruppe den Haupttunnel entlang zu führen, bis er die tiefsten und entlegensten Ausläufer der Mine erreicht hatte. Dort, so hoffte er, würde er weitere Indizien finden, die ihm eine Richtung wiesen.

Mehrmals stießen sie auf Spuren eines Kampfes. Blutflecken am Boden, zerbrochene Spitzhacken, zurückgelassene Kleidungsstücke wie Schweißtücher, Hemden und ähnliches.

Sogar ein goldenes Amulett mit einem eingravierten Familiennamen. Jedoch fanden sie keine einzige Leiche.

Ein Helm, der zweifelsohne einem Bergarbeiter gehört hatte, lag in einem Zwischenlager des Stollens, umgeben von Kisten mit den gewonnen Erzen, Fässern mit Schwarzpulver, Wasser und Bier.

Der Helm hatte eine kleine Nadel auf der Oberseite, auf die eine Kerze gesteckt werden konnte, damit der Träger sah, was er tat. Die obere Hälfte der Kerze war abgebrochen und nirgends zu sehen, in dem Helm selbst klaffte ein großes, gezacktes Loch.

Borengar kniete sich zu dem Fundstück herab und betrachtete es eingehend. Vom Besitzer war keine Spur zu sehen.

Während die anderen Krieger die Umgebung sicherten, stellte Borengar die Lampe ab und griff nach dem Helm.

Eingehend betrachtete er ihn von allen Seiten.

An der Innenseite klebte getrocknetes Blut und etwas, das nach einem Brocken Hirnmasse aussah. Erstaunt stellte der Zwerg fest, dass der Helm von innen durchbohrt worden war. Die scharfen Kanten der Bruchstelle bogen sich nach außen.

Was auch immer den Bergarbeiter getötet hatte, es hatte etwas Hartes und Spitzes durch dessen Kinn und die Schädeldecke gerammt und immer noch genug Kraft besessen, auch den Helm zu durchdringen. Zwerge waren bekanntermaßen Dickschädel. Die Wucht, mit der der Angriff erfolgt war, musste gewaltig gewesen sein.

Borengar rief seine Männer zu sich und gemeinsam drangen sie weiter in die Dunkelheit unter dem Gebirge vor.

Der Trupp ging durch eine große, natürliche Höhle, auf die man beim Schürfen gestoßen war. An der Decke und den Wänden funkelte vielfarbiger Kristall im Schein von Borengar’s Laterne.

Wunderschön, doch von geringem Wert, hatte man sich noch nicht die Mühe gemacht, dieses Vorkommen abzubauen.

Es gab mehrere künstlich geschaffene Gänge, die von der Höhle abgingen, doch der Runenkrieger suchte den Eingang zum Hauptstollen, der sie noch tiefer unter das Gebirge führen würde.

“Wo sind wohl all die Leichen hin?”, fragte einer der Krieger.

Bevor Borengar dem Zwerg antworten konnte, meldete sich einer seiner Kameraden zu Wort.

“Alle von Stollenkäfern gefressen. Oder von Höhlenspinnen. Wir müssen inzwischen schon auf Höhe der fünften Ebene sein, aber weit weg von unseren Hallen. Hier gibt es genug Getier, das Hunger auf Zwergenfleisch hat.”

“Du brauchst dir deswegen keine Sorgen zu machen, Kadghar”, mischte sich ein Dritter ein.

“So wie du stinkst, wird dich jeder Käfer verschmähen.”

“Dich würden sie vielleicht fressen, Kurgh, nur fallen sie bei deinem Anblick bereits tot um!”

“Da sagt dein Weib aber etwas ganz Anderes.”

“Fresse halten!”, fuhr der Anführer, der sich Borengar als Feldwebel Arruk vorgestellt hatte, dazwischen.

Er war ein erfahrener Kämpfer - das bewiesen seine zahlreichen Narben und das Grau, das sich in sein rotes Haar schlich.

Seine grauen Augen unter den zusammengezogenen Brauen sprachen von stählerner Härte, auch wenn Borengar meinte, einen Mundwinkel zucken zu sehen. Nur ganz kurz.

“Wenn ihr euch weiter benehmt, wie bartlose Einfaltspinsel, dann werde ich euch rasieren und aus den Haaren Puppen für meine Tochter machen! Etwas Tödliches sucht diese Tunnel heim! Etwas, das den Geist anständiger Zwerge verpfuschen kann! Wir werden der neunten Kompanie keine Schande bereiten! Augen und Ohren auf, deckt euch gegenseitig und wenn wir etwas Garstiges sehen, dann geben wir ihm guten, zwergischen Stahl zu fressen!”

Die Worte des Veteranen verfehlten ihre Wirkung nicht und die Männer schenkten der Umgebung wieder ihre volle Aufmerksamkeit. Da sie nach wie vor von undurchdringlicher Schwärze umgeben waren, erforderte dies jedoch ein Höchstmaß an Disziplin.

Die Stille, die Dunkelheit und der Mangel an Gegnern zehrte an den Gemütern der Kämpfer.

Nur Borengar’s langjährigem geistigen Drill hatte er es zu verdanken, dass er sich der Gefahr stets gegenwärtig war und nicht den Drang verspürte, die Stille mit leerem Gerede zu füllen.

Während er die kristallbedeckten Felswände weiter nach dem Ausgang der Höhle absuchte, stellte er sich stumm die selbe Frage, wie zuvor schon die Krieger: Was war mit all den Leichen passiert?

Natürlich gab es Höhlenspinnen und Stollenkäfer, die sich am Aas gütlich taten, doch hier ging es um eine Menge Leichen, die alle vollständig verschwunden waren. Lange, blutige Schleifspuren hatte er bislang nicht entdeckt, also hielt er es für unwahrscheinlich, dass wilde Tiere die toten Zwerge mitgenommen hatten.

Endlich erreichte die Gruppe die Stirnseite der Höhle und Borengar erblickte am Rande des Lichtscheins einen großen mit Holzpfeilern abgestützten Durchgang, über dem das Symbol für Osten mit Kreide auf den Fels gezeichnet worden war.

“Hier geht der Hauptstollen weiter”, teilte er den anderen mit.

Auch in diesem Gang waren sämtliche Lampen zerstört oder gelöscht. Während sie sich dem Durchgang näherten, murmelte Kadghar Kurgh zu: “Deine Mutter findet nicht, dass ich stinke.”

In diesem Moment veränderte sich etwas. Licht drang aus der Tiefe vor ihnen und ließ mehr von dem Weg erkennen. Borengar bemerkte es als erster, blieb stehen und hob die Axt. Seine Krieger registrierten die zunehmende Helligkeit einen Augenblick später und bildeten prompt einen Halbkreis, mit dem sie den Durchgang versperrten. Kadghar wandte sich der Höhle in ihrem Rücken zu, für den Fall, dass sich jemand aus einem der Nebenschächte näherte.

Allmählich wurde das Licht heller und verbannte die Dunkelheit in die Ecken und Nischen des Stollens.

Zehn Schritte weit konnte Borengar sehen, danach beschrieb der Tunnel eine Kurve nach Süden. Von dort drang auch das flackernde Licht an seine Augen. Einige Sekunden später konnten sie viele, eilig tapsende Füße vernehmen. Jemand, oder Etwas, näherte sich ihnen.

“Position halten”, befahl Borengar mit gedämpfter Stimme. Die Geräusche nahmen in dem selben Ausmaß zu wie die Helligkeit. Es dauerte nicht lange und der Runenkrieger konnte die Geschöpfe riechen. Was auch immer durch den Tunnel kam, es stank erbärmlich. Der Geruch von Moder, Blut und altem Schweiß ähnelte dem von Orks. Diesen kannte Borengar gut, doch das hier war etwas Unbekanntes.

Arruk rümpfte die Nase, spuckte aus und flüsterte: “Goblins. Viele von ihnen.”

Und schon kamen die kleinen grünen und braunen Wesen um die Ecke gebogen.

Borengar sah eine Menge langer, spitzer Nasen, viele abscheuliche Warzen und kleine dunkle Augen, die voller Argwohn die Umgebung absuchten. Viele der Goblins trugen Fackeln und in deren Licht erspähten sie alsbald die Zwerge.

Sie kreischten entzückt, stürmten sofort los und schwangen dabei wild ihre primitiven Waffen. Nach der erdrückenden Stille war die plötzliche Kakophonie umso schmerzhafter.

“Lasst einen am Leben!”, rief Borengar den anderen zu.

Ein besonders eifriger Goblin sprang auf den jungen Zwerg zu und schwang dabei ungestüm seine Keule. Der Runenkrieger fing die Waffe mit der seinen ab und lenkte sie zur Seite.

Er hieb mit der Faust in das Gesicht seines Gegners und grünes Blut spritzte aus der Hakennase.

Dann kamen zwei weitere Goblins heran. Borengar streckte den einen nieder, sein schwerer Stiefel zerschmetterte das Knie des anderen, doch da liefen noch drei weitere auf ihn zu. Und nochmal fünf. Noch immer strömten die widerlichen Kreaturen heran und warfen sich ihm entgegen.

Goblins waren stumpfsinnige Wesen und einem gut ausgebildeten Zwergenkrieger hoffnungslos unterlegen, doch ihre schiere Anzahl konnte sie zu einer ernsten Bedrohung machen.

Borengar blieb keine Zeit für Finesse. Weit schwang er seine Axt, um die Feinde auf Abstand zu halten. Mit jedem Hieb traf Stahl auf ungeschütztes Fleisch und durchtrennte es mühelos.

Die Goblins kämpften ohne Rücksicht auf Verluste und warfen sich den Zwergen ungestüm entgegen.

Die Männer, die Björn dem frisch gebackenen Runenkrieger zur Seite gestellt hatte, metzelten sich diszipliniert durch die Horde, blieben dabei nahe beisammen und hielten die Gegner von der Schildhand ihres Nebenmannes fern.

Arruk schlug mit einem stählernen Streitkolben um sich und knurrte dabei angriffslustig. Er vergaß jedoch nicht Borengar’s Befehl und packte bei der ersten Gelegenheit eine Grünhaut an der Gurgel. Mit einem Kopfstoß raubte er ihm das Bewusstsein, danach schleuderte der Feldwebel den schlaffen Körper achtlos hinter sich.

Schließlich wurde der letzte Goblin niedergestreckt und Stille kehrte ein. Borengars Arme schmerzten vor Anstrengung, grünes stinkendes Blut tropfte von seinem Körper, doch er war unverletzt. Später, nachdem der Kampfrausch nachgelassen hatte, würde er eine Vielzahl von Prellungen und kleinen Wunden spüren, doch von so etwas ließ sich ein Zwerg nicht ausbremsen.

Keuchend betrachtete er die Leichen, die sich vor ihm auftürmten. Es mussten mindestens fünfzig Goblins gewesen sein, die sich auf sie gestürzt hatten, doch kein einziger war entkommen.

Tatsächlich hatte nicht ein einziger versucht zu fliehen.

Der Runenkrieger hatte noch nie zuvor gegen Goblins gekämpft, doch hatte er von ihrer Feigheit und ihrem starken Selbsterhaltungstrieb gelesen. Das Erlebte passte nicht recht in dieses Bild. Hoffentlich konnte der Gefangene ihnen erzählen, was in diesen Stollen vor sich ging.

“Ist jemand verletzt?”, erkundigte er sich.

Alle Krieger schüttelten den Kopf.

“Ich hatte noch nie mit Goblins zu tun. Verhalten die sich immer so?”, fragte der Runenkrieger Arruk.

Der Feldwebel spuckte erneut aus und trat gegen eine der Leichen zu seinen Füßen.

“Ich habe schon viele Goblins an ihrer eigenen Dummheit verrecken sehen. Aber sich blindlings in Zwergenklingen zu stürzen, wenn sie schon so viele Leute verloren haben? Das habe auch ich noch nicht erlebt.”

“Mal sehen, ob unser Gefangener uns sagen kann, was hier vor sich geht.”

Borengar kniete sich neben den bewusstlosen Goblin und verpasste ihm ein paar Ohrfeigen, bis er begann, sich stöhnend zu rühren. Die Augen öffneten sich und sahen zunächst in unterschiedliche Richtungen. Langsam stellten sie sich auf den Zwerg scharf.

Ein angsterfülltes Kreischen ertönte und der Goblin versuchte wegzukriechen, doch die anderen Zwerge umringten ihn und Kadghar hielt ihm demonstrativ eine Axt an die Kehle.

“Bitte machen schnell, nicht langsam töten, bitte!”, flehte der Goblin in gebrochener Allgemeinsprache und erschauerte.

“Ganz ruhig. Du wirst uns ein paar Fragen beantworten. Wenn wir zufrieden mit deinen Antworten sind, lassen wir dich vielleicht sogar am Leben.”

Das ließ den Goblin verstummen. Erstaunt sah er Borengar an. “Fragen? Wenn ich antworte, ich darf gehen?”

“Nur, wenn du die Wahrheit sagst”, schränkte der Runenkrieger ein. Eifrig nickte der Goblin.

“Warum habt ihr uns angegriffen? Wie kommt ihr überhaupt in diesen Teil des Gebirges?”

“Unten im Berg ist nicht sicher. Leute drehen durch. Zwerge, Goblins, Spinnen, vollkommen verrückt! Und Metallwesen kommen und töten Goblins. Orkgosh ist kluger Goblin - war kluger Goblin.”

Der Gefangene blickte kurz zu seinem niedergemetzelten Kameraden und schluckte schwer.

“Orkgosh führen Goblins nach oben, oben kein Wahnsinn, oben keine Metallwesen. Aber oben Zwerge. Zwerge nicht lassen Goblins nach oben. Orkgosh sagt, wir müssen versuchen. Besser Kopf ab, als von Metallwesen mitgenommen.”

Borengar hörte aufmerksam zu und versuchte aus dem Gesagten schlau zu werden.

“Also seid nicht ihr Schuld am Wahnsinn?”

“Nein, Goblins nicht machen Wahnsinn, Wahnsinn macht Goblins töten einander und töten sich selbst!”, beharrte die Grünhaut.

“Ich darf gehen?”

“Noch nicht. Was verursacht den Wahnsinn?”, bohrte der Zwerg weiter nach.

“Nicht wissen! Böser Zauber. Alle werden verrückt, töten sich oder rennen weg. Danach kommen Metallwesen, töten noch mehr und nehmen Leichen mit.”

“Erzähl mir mehr von diesen Metallwesen.”

“Sie aussehen wie Spinnen. Oder wie Käfer. Oder wie Goblins. Oder wie Zwerge. Immer anders. Nicht lebendig, nicht tot. Tragen viel Metall. Ich sie einmal gesehen, von Versteck aus.”

Die Kreatur erschauerte.

Borengar runzelte die Stirn. Das war alles sehr seltsam und er war sich nicht sicher, das Gestammel richtig verstanden zu haben, doch es schien so, als seien die Goblins in den tieferen Schächten und Höhlen Opfer der selben Vorkommnisse, wie die Zwerge auf Ebene drei. Und diese Metallwesen - wer oder was auch immer sie waren - sie schienen mit den Ereignissen im Zusammenhang zu stehen.

Wenn sie immer nach einem Ausbruch von Wahnsinn und Panik auftauchten, lag dieser Schluss nahe. Und sie nahmen die Toten mit, was erklärte, warum sie in der ganzen Mine noch nicht eine Leiche gesehen hatten.

“Wo war das?”, fragte er den Goblin.

“Wo hast du die Metallwesen gesehen?”

Der Gefangene streckte einen langen, dürren Arm aus und zeigte auf den Gang, aus dem er und seine Sippe gekommen waren.

“Dort, weit unten. Ich jetzt gehen?”

Borengar nickte und der Goblin kroch eilig von ihm weg und quetschte sich durch die Beine der umstehenden Zwerge.

“Wieso lassen wir den Stinker laufen?”, knurrte Kurgh.

“Ich habe ihm mein Wort gegeben”, antwortete der Runenkrieger ihm. “Und darüber hinaus stellt ein einzelner Goblin keine Bedrohung dar.” Damit wandte der junge Zwerg sich ab und ging auf den südwärts führenden Gang zu.

“Wir haben einen ersten Anhaltspunkt und wir haben eine ungefähre Richtung. Gehen wir weiter.”

“Goblins lügen oft. Und selbst wenn sie aufrichtig sind, dann verzerrt ihr kümmerlicher Verstand die Dinge so sehr, dass man ihre Worte nicht für bare Münze nehmen kann”, sagte Arruk mürrisch zu Borengar.

“Mag sein”, entgegnete der Runenkrieger.

“Aber diese Goblins sind eindeutig auf der Flucht vor etwas gewesen. Etwas, das sie mehr fürchteten, als einen ganzen Trupp Zwergenkrieger. Und der Goblin sprach von dem Wahnsinn, der um sich greift.

Ich bin sicher, wir sind auf dem richtigen Weg. Es liegen Antworten vor uns.”

“Vielleicht sollten wir den Stollen ab hier einfach versiegeln und es gut sein lassen”, brummte der Feldwebel.

“Antworten kosten meistens Blut.”

Bedächtig schüttelte Borengar den Kopf.

“Wir können nicht ausschließen, dass es noch weitere Zugänge zu dem betroffenen Bereich gibt. Außerdem wissen wir nicht, wie groß die Bedrohung ist, oder auch nur, von welcher Natur.

Ich habe klare Anweisungen: Die Ursache für die Todesfälle finden und beseitigen. Genau das habe ich vor.”

“Ihr seid der Gelehrte. Zeigt mir den Feind und meine Männer werden ihn vernichten.”

So ging der Trupp weiter, tiefer hinab in das Herz des Gebirges, nun wieder in Dunkelheit getaucht.

Borengar - Buch 2

Gegenwart

Der alte Runenmeister Borengar verließ die Bibliothek des Runenviertels und schritt über den zentralen Hof. Er schüttelte sein ergrautes Haupt um die Erinnerungen an die Kämpfe in den Stollen zu verdrängen. Er hatte zu viel Zeit mit den Adepten und mit staubigen Büchern verbracht. Ein ordentlicher Kampf würde ihm gut tun.

Er lenkte seine Schritte gen Osten, wo ein großer Steinbogen den Durchgang zu einer der Trainingshallen bildete.

Er würde den verweichlichten, jungen Adepten zeigen, aus welchem Fels ein echter Runenkrieger geschliffen war.

“Sei gegrüßt, Meister Borengar. Beehrst du uns heute mit deiner Teilnahme?”, begrüßte Runenmeister Astelan den alten Zwerg.

Astelan betreute die Adepten der Zunft ebenso, wie Borengar, leitete jedoch hauptsächlich das Kampftraining.

Er war etwas jünger, sein dunkles Haar hellte sich erst am Ansatz auf. Ein Meister der Runen in voller Rüstung war stets ein erhabener Anblick und Astelan trug sie bei jedem Training, obwohl die Adepten nur stumpfe Klingen bekamen.

Über einem langen Kettenhemd trug der Trainer einen schimmernden Brustpanzer, der mit allerlei Runen aus Gold verziert war. Diese Runen waren wiederum so angeordnet, dass sie zusammen eine weitere, große Schutzrune bildeten.

Schulterplatten mit einer hohen Halsberge, die Ränder aus Bronze, sowie Unterarm- und Schienbeinschoner komplettierten den Harnisch. Der blau-graue Wappenrock hing unter der Brustplatte herab. Lediglich auf seinen Helm verzichtete Astelan.

“Ich muss mich doch von den Fähigkeiten meiner Adepten überzeugen”, brummte Borengar.

Seine Augen glitten zu Kalin, der in der Reihe der wartenden Adepten stand.

Sein junger Schüler bemerkte den Blick nicht. Seine Augen huschten in Windeseile über die Seiten des Folianten, den er lesen sollte. Ganz vertieft in die Wörter, schien er sich seiner Umgebung nicht gewahr zu sein.

Borengar trug ebenfalls seinen Harnisch, entschied sich aber, ihn abzulegen. Er fummelte gerade an einer der Riemen herum, als ein übereifriger Adept vortrat, um ihm zu helfen.

Der alte Zwerg durchbohrte den Jungen mit einem vernichtenden Blick und knurrte:

“Scher dich fort Bursche, ich weiß, wie man eine Rüstung ablegt.”

Der Adept wurde Aschfahl im Gesicht und trat rasch zurück in die Reihe.

Borengar nahm seine Rüstung und den Wappenrock ab. Mit nackter Brust stapfte er zu den Waffenständern und griff sich eine stumpfe Zweihandaxt.

Astelan sprach in barschem Ton zu den Schülern:

“Unser Volk ist nicht mehr so zahlreich wie einst. In beinahe jedem Kampf, den ihr erleben werdet, werdet ihr in der Unterzahl sein. Zweikämpfe finden nur selten statt. Daher werdet ihr euch zu Dreiergruppen aufteilen. Einer verteidigt sich, während zwei ihn gemeinsam attakieren.”

Die jungen Zwerge taten, wie ihnen geheißen. Borengar trat zu Kalin und einem anderen Adepten, Thormund. Sie schluckten schwer, als er ihnen stumm bedeutete, ihn anzugreifen.

Der Runenmeister stand breitbeinig da, die Axt zur Abwehr erhoben, den Kopf zwischen die Schultern eingezogen.

Sein alternder Körper strotzte noch immer vor Kraft, die massigen Arme und die breite Brust waren von unzähligen Narben verunstaltet.

“Na los, fangt an!”, befahl Astelan.

Kalin, der Axt und Schild führte, machte einen Schritt nach links und hieb nach seinem Meister.

Thormund trat nach rechts und zielte mit seiner Axt und seiner Keule zeitgleich auf Borengar’s Knie. Der Runenkrieger sprang auf Kalin zu, an dessen Klinge vorbei.

Er entging so Thormund’s Attacke und blockierte zugleich Kalin’s Armbewegung. Letzterer duckte sich instinktiv hinter sein Schild.

Das half ihm jedoch nicht, denn Borengar nutzte seine größere Masse und rammte seine Schulter gegen den hölzernen Schild. Kalin schlug sich an der Kante beinahe die Zähne aus und plumpste wie ein nasser Sack zu Boden.

Mit einer Schnelligkeit, die man dem alten Krieger nicht zugetraut hätte, wirbelte er herum und griff Thormund an.

Dieser machte einen entscheidenden Fehler. Er duckte sich tief und hieb mit der Axt erneut nach den Beinen seines Gegners. Damit bot er seinem Feind die Möglichkeit, dessen Gewicht einzusetzen, um ihn zu Boden zu ringen.

Borengar hüpfte über die Axt hinweg, fing den erhobenen Streitkolben mit dem Schaft der Zweihandaxt ab, lehnte sich mit seinem ganzen Körper gegen Thormund. Der Adept hatte seinen Schwerpunkt für den Hieb weit nach vorne verlagert. Nun plumpste er mit dem Gesicht voran in den Sand der Trainingshalle und der Druck auf seinem Rücken presste ihm die Luft aus den Lungen.

Die beiden Adepten erhoben sich stöhnend und begaben sich erneut in Position. Borengar wechselte den Griff an seiner Waffe und baute sich erneut breitbeinig auf.

“Achtet auf eure Körpermitte”, sagte er ihnen.

“Wenn euer Schwerpunkt nicht mittig zwischen euren Beinen liegt, bringt man euch schnell zu Fall.”

Kalin hörte ihm offensichtlich gar nicht zu. Sein Blick war auf Borengars rechten, tätowierten Arm geheftet.

“Meister, sind das Namen, dort auf eurem Arm?”, fragte er prompt.

“Gut, du kannst inzwischen lesen”, brummte Borengar.

“Was bedeuten diese Namen?”

Der Bursche war viel zu neugierig, unverschämt und nicht bei der Sache.

“Konzentrier dich gefälligst!”, herrschte der Runenkrieger ihn an. Kalin zuckte zusammen und stellte sich breitbeinig hin. Seine Augen huschten jedoch immer wieder zu den Tätowierungen hin.

Borengar seufzte leise.

“Das sind die Namen aller Gefährten, die ich im Kampf verloren habe”, antwortete er barsch.

Es waren neunzehn, alle in kunstvoller Schrift in seine Haut gestochen.

Jeder Einzelne stand für einen Kämpfer, mit dem der Runenkrieger Abenteuer und Gefahren bewältigt hatte. Jeder von ihnen war in Ausübung seiner Pflicht gestorben.

Borengar hatte ein ums andere Mal überlebt.

“Wenn du lange genug lebst, wirst du ebenfalls eine lange Liste mit Namen ansammeln”, erklärte er seinem Schützling.

“Aber so wie du kämpfst, wirst du der erste sein, der draufgeht.”

Sie wollten gerade eine weitere Runde beginnen, da kam ein Adept in die Trainingshalle gerannt. Borengar kannte ihn nicht.

Schnaufend hielt der Junge an und verbeugte sich vor Astelan.

“Was ist los?”, fragte der Kampftrainer.

“Es ist Ganthur, Meister. Er ist verschwunden.”

“Was soll das heißen, Junge?”, hackte Astelan nach.

“Runenmeister Barruk hat ihn vergangenen Abend in der Halle der Toten eingesperrt, zur Strafe”, beeilte der Adept sich zu erklären.

”Ich sollte ihn rauslassen, habe die Tür aufgesperrt, nach ihm gerufen, aber er hat nicht geantwortet und herausgekommen ist er auch nicht.”

Borengar kannte Barruk, Geißel der Toten, gut. Er war ein fähiger Runenkrieger und trieb seine Adepten mit eiserner Faust an.

Er war jedoch auch berüchtigt für seine harten Strafen.

“Ich gehe und suche den Jungen”, sagte er zu dem Adepten.

Kurz darauf stand Borengar vor der Tür der Halle der Toten.

Sie war gefüllt mit Trophäen und Statuen verstorbener Helden, die besten der Zunft. Es gab eine geschwungene Treppe aus Marmor, die in ein Untergeschoss führte. Dort unten wurden selbige Helden zur letzten Ruhe gebettet.

Man kam hierher, um die Toten zu Ehren, sich der eigenen Verantwortung gewahr zu werden und über wichtige Entscheidungen zu meditieren.

Adepten wurden oft von ihren Meistern hierher gebracht, in der Hoffnung die leuchtenden Beispiele von Weisheit, Tatkraft, Ehre, Pflicht und Mut würden die angehenden Runenkrieger inspirieren.

Mit einem großen, alten Schlüssel schloss Borengar die Tür auf und spähte in die Dunkelheit dahinter. Jemand, vermutlich Runenmeister Barruk, hatte sämtliche Fackeln gelöscht und den jungen Zwerg viele Stunden lang in völliger Finsternis ausharren lassen.

Borengar nahm eine der Fackeln von der Wand und entzündete sie.

“Ganthur?”, rief er in die Dunkelheit jenseits des flackernden Feuerscheins.

“Komm raus Junge, deine Strafe ist vorbei.”

Stille. Borengar wurde allmählich ungeduldig.

“Schluss mit dem Unsinn! Ich weiß, dass du hier drin bist, es gibt nur diesen einen Ausgang."

Die Fackel über den Kopf erhoben, trat der alte Zwerg ein und sah sich um. Der Lichtschein wurde von zahllosen silbernen, goldenen, bronzenen Objekten, von Edelsteinen, Kristallen, von Waffen und Rüstungen jeder Art reflektiert und verlieh der Halle einen übernatürlichen Glanz.

Mit der brennenden Fackel entzündete er nach und nach die übrigen Lichter an den Wänden.

Schließlich entdeckte er Ganthur. Der Adept kauerte in einer Ecke, hinter der Statue von Hafnir, dem Sohn der Sonne. Er hatte die Arme um die Knie geschlungen, zitterte am ganzen Leib und starrte ins Leere. Borengar trat zu ihm und ging in die Hocke, seine Gelenke knirschten vernehmlich.

“Na los, raus hier, Bursche.”

Endlich sprangen die Augen des Zwerges herum und fokussierten den Runenkrieger.

“Ist es vorbei?”, fragte er mit zittriger Stimme.

“Ja, es ist fast Mittag. Hoch mit dir und hol dir etwas zu essen.”

“Aber, was ist mit den Toten?”, fragte der Adept und zeigte auf die Treppe, die in die Gruft hinabführte.

“Was soll mit denen sein?”, fragte Borengar überrascht.

“Ich habe sie gehört”, erklärte der Junge mit brechender Stimme.

“Ein Knarren und Ächzen. Stöhnen. Und Schritte. Und diese Dunkelheit.”

“Ah, ich verstehe”, sagte der Runenkrieger.

“Du weißt doch, dass alle Gebäude und alle Stollen Geräusche von sich geben, besonders nachts, wenn das Gehör so scharf wird, dass man die Mäuse in ihren Löchern krabbeln hört und sich die Steine in der Kälte zusammenziehen.

Du warst sehr lange hier drin, in absoluter Dunkelheit. Da beginnt der Verstand einem Streiche zu spielen.”

“Das war es nicht, bestimmt nicht”, beharrte Ganthur.

“Ich will hier raus.”

Borengar betrachtete den Adepten nachdenklich. Er war zu Tode verängstigt.

Mit einem resignierten Seufzen und mehr Geduld, als er selbst sich zugetraut hätte, begleitete er den jungen Zwerg vor die Tür der Halle. Dort zwang er ihn, sich auf die Schwelle zu hocken und setzte sich mit weiterem Geknirsch und klimpernden Bartperlen neben ihn.

“Unser Volk lebt seit hunderten von Jahren unter der Erde”, begann er. “Wir Zwerge sind an Dunkelheit gewöhnt. Jeder Zwerg, jeder einzelne von uns, kommt mal in die Situation, einen völlig dunklen Stollen betreten zu müssen. Wir alle müssen damit fertig werden.”

Er erinnerte sich an die Finsternis der Stollen auf Ebene drei, vor all diesen Jahren.

“Das gilt besonders für uns Runenkrieger. Wir sind die Verteidiger unseres Volkes, die besten Kämpfer, der Schild, der Verstand und der Hammer des Königreiches. Wir treten dem Grauen entgegen, egal welche Form es annimmt. Wir dürfen nicht verzagen, sonst sind wir tot. Und mit uns all die anderen Zwerge unter dem Gebirge.

Wenn du Angst vor einem leeren Raum hast, den du kennst, von dem du weißt, dass er keine Gefahr beherbergt, dann hast du in unseren Reihen nichts verloren.”

Borengar sprach mit ruhiger, für seine Verhältnisse sogar freundlicher Stimme. Doch bei seinen letzten Worten ruckte der Kopf des Adepten nach oben. Entsetzt starrte er den Meister an.

“Wir alle müssen uns unseren Ängsten stellen und sie überwinden. Nur so wird man mutig.”

Er hielt inne, sah die Erkenntnis des Versagens in Ganthur’s Gesicht, und fuhr dann fort.

“Pass auf. Du wirst heute Abend erneut in die Halle gehen. Freiwillig. Ohne Licht. Und du wirst die gesamte Nacht hier in der Dunkelheit verbringen.”

Die Augen des Zwerges weiteten sich und er schüttelte stumm und panisch den Kopf. Schnell sprach Borengar weiter.

“Tust du es NICHT, dann wende ich mich an Runenmeister Barruk und du musst deine Ausbildung abbrechen. Zeige mir, dass du das Zeug dazu hast, der Dunkelheit entgegenzutreten und ein echter Zwerg zu sein, oder kehre zu deiner Familie zurück und werde Schmied oder Steinmetz oder was auch immer. Einverstanden?”

Der Junge rang mit sich, rieb sich über die geröteten Augen und nickte schließlich. Borengar erhob sich.

“Gut”, sagte er zufrieden.

“Dann ab mit dir in die Speisehalle.”

Ganthur schlurfte mit hängende Kopf davon. Borengar sah ihm nach und strich sich gedankenverloren über den Bart.

Er wusste aus eigener Erfahrung, wie beängstigend die Finsternis im Herzen des Gebirges sein konnte. Und im Gegensatz zur Halle der Toten war diese gefüllt mit Monstern…

Vergangenheit

"Was macht ihr da?", fragte Feldwebel Arruk und schaute dem jungen Runenkrieger neugierig über die Schulter.

"Ich errichte einen Schutzkreis um unser Nachtlager", antwortete Borengar leise, voll und ganz auf die Zeichen fokussiert, die er mit Kreide auf den Boden des Tunnels schrieb.

"Jedes Wesen mit feindseligen Absichten wird den Kreis nicht betreten können."

Die Truppe um den Runenkrieger war nach der Begegnung mit den Goblins noch stundenlang weitermarschiert, immer tiefer hinein in den Leib der Erde. Sie befanden sich längst nicht mehr in den von Zwergenhand geschaffenen Stollen, sondern in einem verworrenen Labyrinth aus Höhlen und Tunneln, von denen die meisten natürlichen Ursprungs waren.

Wer an manchen Stellen das Gestein mit einfachen Werkzeugen abgetragen hatte, wusste Borengar nicht. Sie waren keinen weiteren Kreaturen begegnet und es gab auch keinen Hinweis auf die Metallwesen, die der Goblin beschrieben hatte.

Es war an der Zeit, ein Lager für die Nacht zu finden und sich auszuruhen. In Ermangelung einer geschützten, leicht zu verteidigenden Position stellten die Zwerge ihr Gepäck mitten in einem gerade verlaufenden Gang ab und breiteten ihre Schlafmatten rund um eine große Laterne aus.

Arruk hatte Nachtwachen eingeteilt, doch Borengar wollte für zusätzlichen Schutz sorgen.

Der Schutzkreis, den er errichtete, war keine universelle magische Wand. Man musste die Runen so wählen, dass eine ganz spezifische Gruppe von Wesen oder Dingen ausgeschlossen wurde.

Es reichte nicht, "Beschütze mich." auf den Boden zu schreiben.

Da Borengar praktisch nichts über die Art der Bedrohung wusste, der er gegenüberstand, formulierte er den Spruch so, dass er gegen jeden gerichtet war, der Gewalt, Arglist und Heimtücke im Sinn hatte. Heimtücke war natürlich ein sehr schwammiger Begriff, eine Frage der Auslegung.

Es konnte sein, dass die Runen einen seiner eigenen Krieger aussperrte, da er beabsichtigte, seinen Kameraden einen harmlosen Streich zu spielen. Genauso konnte ein Angreifer ungehindert passieren, wenn er den Mord an Zwergen als gerechte und edle Tat empfand.

"Wenn das so einfach ist, wozu halten wir dann überhaupt Wache?", fragte Kurg, bevor er sich eine Handvoll getrockneter Pilze aus seinem Proviant in den Mund stopfte.

Borengar vollendete erst den Kreis aus Runen und betrachtete das Resultat, ehe er antwortete: "Je allgemeiner ein Schutzkreis definiert ist, desto schwächer und unzuverlässiger wird er. Er ist lediglich eine zusätzliche Vorsichtsmaßnahme, aber wir können uns nicht darauf verlassen.

Bleibt unbedingt innerhalb des Kreises. Die ganze Zeit über, bis wir aufbrechen!"

Erschöpft schlief Borengar rasch ein. Düstere Träume plagten den Zwerg. Ihm war, als würde er immerzu rennen.

Er lief durch ein bodenloses, schwarzes Nichts und wagte nicht anzuhalten.

Etwas verfolgte ihn. Er hatte keine Ahnung, was es war, doch es machte ihm Angst.

Immer weiter lief er, ohne ein Ziel vor Augen und die Furcht wuchs stetig an. Im Traum vernahm der Runenkrieger ein entsetzlich hohes Kreischen, das anschwoll und seinen Kopf erfüllte.

Aus der Angst wurde blanke Panik. Eine große Gefahr kam auf ihn zu, holte ihn ein während das Kreischen immer weiter anschwoll.

Mit einem Ruck erwachte Borengar. Schweißgebadet schnellte er in die Höhe, fest davon überzeugt in unmittelbarer Gefahr zu schweben. Mit seiner Axt in Händen sah er sich hektisch um.

Jeder einzelne seiner Begleiter war wach. Ein paar saßen aufrecht auf ihrem Nachtlager und starrten ängstlich in die Dunkelheit des Tunnels. Andere standen aufrecht und mit gezückten Waffen da.

Kurgh hatte wohl gerade Wache, denn er saß auf seinem Gepäck mit dem Rücken zur Laterne und blickte aufmerksam umher.

Borengar atmete tief durch um sich zu beruhigen, doch noch immer verkündete sein Instinkt lautstark Gefahr!

Er zählte rasch die Krieger.

"Jemand fehlt", sagte er zu Kurgh.

"Faerun musste mal", antwortete die Wache und deutete voraus, in die undurchdringliche Schwärze.

Borengars Magen krampfte sich zusammen.

"Ich habe euch gesagt, ihr sollt den Schutzkreis nicht verlassen!", schalt er den Kämpfer.

Auch Arruk spürte offenbar die drohende Gefahr, denn er befahl seiner Truppe aufzustehen und sich kampfbereit zu machen. Rasch wurden zusätzliche Laternen entzündet, um mehr Licht zu haben.

"Faerun, komm her!", befahl Borengar, traute sich jedoch nicht, laut zu rufen.

Sekunden verstrichen in Stille. Borengars Gedanken rasten. Der Krieger würde sich nicht weit von ihrem Lager entfernt haben, da er sonst nicht zurück fände. Er musste ihn gehört haben…

Sollten sie ausschwärmen um den Vermissten zu suchen, oder lieber im Licht des Lagers bleiben, um sich besser verteidigen zu können?

Urplötzlich ertönte ein lauter Schrei, voller Entsetzen.

Der Laut zerriss die Stille in den Tunneln und hallte in der Ferne nach. Doch sein Ursprung schien ganz nahe. In diesem Tunnel.

Abrupt riss das Geschrei ab. Die Stille, die folgte, hämmerte auf Borengars Ohren ein.

Jeder der Krieger um ihn herum war ein hartgesottener Kämpfer, doch selbst sie waren erschüttert und zögerten mit schlotternden Knien. Einer von ihnen verlor die Nerven, drehte sich um und rannte schreiend davon, blindlings mit seinem Streitkolben auf die Schatten einschlagend.

"Reißt euch zusammen!", rief Borengar, der selbst gegen die Panik ankämpfen musste.

Gemeinsam starrten sie in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war, doch es war nichts zu sehen. Die Furcht war wie eine Lawine, die einen überrollte und unter einer tonnenschweren Last begrub.

Sie wirkte fast greifbar und verdichtete sich zusehens, ohne dass der Runenkrieger ihre Quelle ausmachen konnte.

Ein weiterer Krieger brach unter dem Druck zusammen, ließ seine Waffe fallen und kauerte sich auf dem Boden zusammen.

Borengar öffnete den Mund um die Männer erneut zur Disziplin aufzurufen, als sich unvermittelt etwas aus der Schwärze vor ihnen schälte. Blassgraue Augen leuchteten inmitten des Tunnels auf. Darunter blitzte eine Menge Stahl auf. Viele metallische Gliedmaßen scharrten und klickten leise.

Das Ding schoss blitzschnell auf Borengar zu. Im nächsten Moment schlug er hart auf dem Boden auf und seine Laterne zerbrach. Dunkelheit umfing ihn und Chaos brach aus. Schreie, trampelnde Stiefel, das Klirren aufeinandertreffenden Stahls und ein merkwürdiges Zischen erfüllten den Tunnel.

Einen Moment lang blieb der Zwerg liegen, unfähig, sich zu bewegen. Er wollte nicht aufstehen, er wollte nicht gegen dieses Ding kämpfen! Sein Verstand schrie die Muskeln an, verlangte Gehorsam, doch nichts passierte. Einer seiner Kameraden schrie schmerzerfüllt auf.

Bei diesem Geräusch nahm der Runenkrieger alle Willenskraft zusammen und brüllte seinen Körper an: "Mach schon!"

Mühsam rappelte er sich auf die Beine und versuchte, etwas zu erkennen.

Ein paar Laternen waren noch intakt, doch die Zwerge, die sie hielten bewegten, sich hin und her und schwangen wild ihre Waffen.

Das spärliche Licht im Tunnel veränderte sich ständig und die vielen Schatten an den Wänden erzeugten den Eindruck, der Gang wäre überfüllt mit einander bekämpfenden Gestalten.

Von rechts schoss eine lange, glänzende Klaue auf Borengar zu und streifte seine Schulter. Der Schlag ließ ihn taumeln und Schmerz setzte seinen Arm in Brand. Erneut sah er vor sich die leuchtenden Augen des Ungetüms. Es ähnelte einer gigantischen Spinne, schien jedoch gänzlich aus Metall zu bestehen.

Das Wesen hob eines der Vorderbeine und ließ es von oben auf den Zwerg herab sausen. Das Bein lief spitz zusammen und war an den Seiten mit zusätzlichen Klingen ausgestattet. Borengar reagierte instinktiv und hob die Axt mit beiden Händen, um den Hieb zu parieren.

Er hatte gerade noch genug Zeit zu erkennen, dass dies ein fataler Fehler war, aber es war bereits zu spät um auszuweichen.

Das Metallbein krachte mit der Wucht eines anstürmenden Stieres gegen die Axt. Borengars Knie knickten ein, doch wundersamer Weise hielt das Holz dem Metall stand.

Das Wesen zischte und klickte und holte erneut aus. Diesmal jedoch war der Runenkrieger vorbereitet.

Er wich dem Hieb aus, schlug das Bein zur Seite und machte einen Schritt auf den Gegner zu. Im Zwielicht erhaschte er einen Blick auf viele Zahnräder, die sich drehten und ein enorm komplexes Uhrwerk bildeten. Das Ding war mechanisch!

Er schlug seine Axt mit aller Kraft in das Räderwerk. Die Schneide verkantete sich prompt und das Klicken wurde zu einem unregelmäßigen Stottern. Borengar nutzte seine Waffen als Hebel und stemmte sich dagegen, bis etwas nachgab.

Krachend kam die Axt frei.

Die Kreatur, oder die Maschine - was auch immer es war - gab keinen Laut von sich. Kein Wutschrei, kein Schmerzenslaut. Nur dieses Zischen, als entweiche in regelmäßigen Abständen Luft aus einem Blasebalg, und das Klicken des Uhrwerks, welches nun unregelmäßig klang und vom Scheppern loser Teile begleitet wurde.

Borengar wollte sein Werk der Zerstörung fortsetzen, doch etwas traf ihn in die Seite und schleuderte ihn fort von dem Angreifer.

Der Runenkrieger rappelte sich auf und stürzte sich erneut auf das Metallwesen.

Wie aus dem Nichts erschien ein Zwerg an seiner Seite und mit einem Schlachtruf auf den Lippen schlug der Krieger auf ein stählernes Bein ein. Er traf ein Gelenk. Knirschend gab es nach und das klingenbewährte Glied fiel scheppernd zu Boden.

Borengar machte einen tollkühnen Sprung, vorbei an einem Gewirr aus Klingen und Stacheln, und schlug erneut in die empfindliche Mechanik an der Vorderseite der Spinne.

Ein schnell rotierendes Zahnrad löste sich und schoss knapp am Kopf des Zwerges vorbei.

"Kämpft weiter, es ist verwundbar!", brüllte der Runenkrieger seinen Kameraden zu.

Seine Axt fuhr erneut in den Körper der Metallspinne, doch diesmal erklang nicht das Klirren von Stahl auf Stahl. Statt dessen Schlug die Waffe in etwas Weiches und kam mit einem feuchten Schmatzen wieder frei.

Das Ding zog sich von ihm zurück. Borengar setzte ihm nach und versuchte das schreckliche Metallwesen zur Strecke zu bringen, doch rasch verschwand es in der Dunkelheit und ließ die Zwerge keuchend vor Anstrengung zurück.

Die Furcht, die Borengars Herz zu zerquetschen drohte, verebbte allmählich und sein Kopf wurde wieder klar.

"Weg von mir, Bestie! Weg!", schrie jemand hinter ihm.

Es war Kurgh, der seine Waffe wild gegen Kadghar schwang. Dieser duckte sich hinter seinen Schild und stach immer wieder mit einem Messer zu.

"Aufhören!", brüllte Borengar die beiden an, doch sie ignorierten ihn und kämpften völlig von Sinnen weiter.

Arruk ging schließlich dazwischen, stieß Kadghar zu Boden und fing Kurghs Axt ab. Er brüllte die beiden an, sich zusammenzureißen und allmählich kamen die beiden wieder zu sich.

Blind vor Panik hatten die beiden nicht einmal bemerkt, dass sie auf Verbündete einschlugen. Borengar ließ alle Krieger zurück in den Schutzkreis kommen.

Der Krieger, der zu Beginn des Kampfes geflohen war, fehlte. Ragnar, der kurz vor dem Erscheinen des Metallwesens die Nerven verloren hatte, kauerte noch immer an Ort und Stelle und brabbelte sinnlos vor sich hin. Er reagierte nicht auf seine Kameraden.

Faeruns Leiche fanden sie nicht, nur eine Pfütze Urin und Blutspritzer an der Wand. Das Metallwesen hatte den Körper mitgenommen, so wie Borengar vermutet hatte.

Es hatte im Kampf noch zwei weitere Krieger getötet, ihre Leichen lagen ganz in der Nähe des Nachtlagers, durchbohrt und zerfetzt von der grausigen Maschine. Borengar vermutete, das Wesen hatte dank der erbitterten Gegenwehr keine Zeit gehabt, auch diese Toten einzusammeln.

Somit waren sie noch zu siebt, wobei Ragnar nicht mehr in der Lage schien, zu kämpfen. Arruk brachte die beiden Toten in ihre Mitte und ratterte Befehle herunter.

"Fafnir, Vitur, Rorik, sucht diesen Feigling Tarik und bringt ihn hier her. Kurgh, versorge die Verwundeten. Kadghar, sieh zu, dass du Ragnar in Ordnung bringst, er muss kämpfen können."

Dann wandte er sich an den Runenkrieger.

"Was verdammt noch mal war das für eine abscheuliche Kreatur?" "Ich weiß es nicht", gab dieser offen zu.

"Es schien ein mechanisches Konstrukt zu sein, aber ich habe noch nie von etwas Vergleichbarem gelesen. Die Panik hatte uns erfasst, bevor die Maschine uns erreicht hat. Vielleicht ist das ein Zauber, der auf dem Metallwesen liegt."

"Können Maschinen bluten?", fragte Kadghar, der auf seiner Schlafmatte saß während Kurgh ihm die Hand bandagierte.

"Bluten?", fragte der Runenkrieger neugierig.

Der Kämpfer deutete mit der linken Hand auf etwas, das am Rande des Lichtkreises auf dem Boden lag. Borengar kniete sich hin und betrachtete das Objekt.

Es war das Bein, das Arruk dem Metallwesen abgeschlagen hatte.

An der Bruchstelle tropfte dunkelgrüner, nach Verwesung riechender Schleim herab.

"Interessant", murmelte der Zwerg und drehte das Bein in den Händen. Es sah aus, wie das Bein einer normalen, lebenden Spinne, in stählerne Platten gehüllt. Zusätzlich befanden sich an den Platten extrem scharfe Klingen. Das Metall war eine unbekannte Legierung. Es war sehr dunkel, beinahe schwarz und glänzte im Licht der Laterne.

Als Runenkrieger verstand Borengar etwas vom Schmiedehandwerk, da die meisten seiner Zunft ihre Rüstungen und Waffen selbst schufen und mit Runen versahen, doch die Rüstung, die das Spinnenbein umhüllte, war ihm völlig fremd.

Er nahm seine Axt zur Hand und schabte über das dunkle Metall. Nicht einmal ein Kratzer war zu sehen.

Ihm fiel der Helm des Bergarbeiters ein, den er zu Beginn der Expedition gefunden hatte. Etwas extrem Hartes hatte mit enormer Kraft den Schädel und den Helm darüber durchstoßen. Wenn dieses Metall so hart und die fremden Wesen so kraftvoll waren, wieso hatte der hölzerne Schaft seiner Axt dann standgehalten?

Er betrachtete seine Waffe eingehend. Die kleinen Runen, die der Anführer der Runenkrieger hineingeritzt hatte, sprangen ihm ins Auge.

Es war eine Formel, die seine Waffe nahezu unzerbrechlich machen sollte. Borengar begriff, dass er ohne diese Segnung jetzt tot wäre, so wie der Besitzer des Helmes weiter oben in den Minenstollen.

Diese Konstruktionen in Kombination mit der unbekannten Legierung waren Meisterwerke der Ingenieurs- und Schmiedekunst. Mit einem enormen Potenzial zur Vernichtung.

"Das Wesen scheint eine Verschmelzung aus Lebewesen und Maschine zu sein", dachte er laut nach.

"Jemand hat diese Wesen erschaffen und gebaut."

Arruk spuckte angewidert auf den Boden.

"Ich hasse Kerle, die viel wissen, aber dumm wie Stroh sind. Die bringen nur Ärger."

Borengar musste dem Feldwebel zustimmen. Die Geschichtsbücher der Zwerge waren voll von solchen Individuen. Ihr Hunger nach Wissen und Macht brachte stets großes Unheil.

"Wer auch immer dafür verantwortlich ist, muss gestoppt werden." "Gut, dann ab nach oben. Holen wir uns eine Kompanie Stollenkämpfer und machen den Mistkerl fertig", sagte Arruk.

"Wir wissen noch immer nicht, wer dahinter steckt und was er damit beabsichtigt. Auch wissen wir nicht, von wo diese Wesen herkommen", widersprach der Runenkrieger.

"Das Metallwesen ist verwundet. Wir können ihm folgen und so noch mehr Informationen erhalten."

In diesem Moment traf der Suchtrupp ein, der nach dem geflohenen Tarik suchen sollte.

"Keine Spur vom ihm", verkündete Fafnir bedrückt.

"Verdammt noch mal", fluchte Arruk vor sich hin.

"Drei meiner Männer sind tot, einer hat den Verstand verloren, einer ist verschollen. Wenn wir diese Kreatur verfolgen, ist Ragnar nur eine Belastung, und wenn es erneut zum Kampf kommt, sind wir zu geschwächt. Wir sollten Verstärkung holen, Borengar."

Darüber dachte Borengar einen Augenblick nach. Er wollte nicht mit leeren Händen zurückkehren und verkünden, dass er der Aufgabe nicht gewachsen war. Alles, was er vorweisen konnte, waren ein paar Spekulationen über einen raffinierten Unbekannten, der unter dem Gebirge Monster erschuf und Leichen stahl. Um einen größeren Einsatz rechtfertigen zu können, brauchte er handfeste Informationen. Daher widersprach er dem Feldwebel.

"Wenn wir jetzt umkehren, finden wir das Versteck dieser Kreaturen vielleicht nie. Außerdem ist da immer noch die Aura des Wahnsinns, die den Metallwesen anhaftet. Ich kann nicht noch mehr Zwerge in den Kampf schicken, ohne zu wissen, wie ich sie davor schützen kann.

Wir haben eine Spur, also folgen wir ihr."

Arruks Miene verdüsterte sich. Er baute sich vor dem jüngeren Zwerg auf und straffte die Schultern.

"Bei allem gebührenden Respekt, Runenkrieger, aber ich werde meine verbliebenen Männer nicht in einen sinnlosen Tod führen. Wir sind nicht genug, um mit dieser Bedrohung fertig zu werden."

Borengar verschlug es die Sprache. Wie konnte dieser Arruk es wagen! Das war Befehlsverweigerung! Borengar war der Runenkrieger hier, er hatte das Kommando!

Schließlich fand er seine Stimme wieder und brüllte Arruk voller Zorn an: "Ich habe das Kommando bei dieser Mission und ich befehle euch, diese Metallspinne zu verfolgen!"

"Ich lasse diese Männer nicht für euer Ego und euren Ehrgeiz sterben!"

"Wagt es nicht, mir Selbstsucht zu unterstellen! Ich habe meine Befehle und die sind eindeutig: Die Ursache der Vorkommnisse herausfinden und die Bedrohung beseitigen!

Ich befolge meine Befehle, Feldwebel Arruk. Wenn Ihr das nicht tut, muss ich euch in Gewahrsam nehmen!"

Schwer atmend standen die beiden Zwerge sich gegenüber und starrten einander zornentbrannt an. Borengar hatte bislang einen sehr positiven Eindruck vom Feldwebel, doch er würde diesen Ungehorsam nicht dulden. Er musste die Disziplin wieder herstellen und seine Pflicht tun.

Schließlich trat Arruk einen Schritt zurück und sagte mit ruhiger Stimme: "Wie ihr befehlt, Runenkrieger."

Borengar war erleichtert, dass Arruk einlenkte.

"Dann packt die Ausrüstung zusammen. Wir gehen auf die Jagd."

Die Krieger hatten den Streit zwischen ihren Vorgesetzten schweigend und mit sichtlichem Unbehagen verfolgt. Nun machten sie sich hastig bereit aufzubrechen.

Borengar beugte sich zu Ragnar herab, der immer noch auf dem Boden lag. Er brabbelte nicht mehr vor sich hin und auch das Zittern hatte nachgelassen.

"Ragnar, ich brauche dich jetzt. Ich muss mich darauf verlassen können, dass du kämpfst. Geht es wieder?"

Ein zaghaftes Nicken. Borengar fiel etwas ein. Er nahm ein Bündel Kräuter aus seinem Gepäck.

"Hier, iss das. Das beruhigt die Nerven."

"Was ist mit den Toten?", fragte Kadghar und sah zwischen seinem Feldwebel und dem Runenkrieger hin und her.

"Wir müssen sie hier lassen", antwortete Borengar.

"Wir müssen das Wesen verfolgen, solange seine Spuren frisch sind. Später kommen wir zurück und bergen die Leichen."

Es dauerte nicht lange, dann brachen sie auf. Sie gingen in die Richtung, in der das Metallwesen verschwunden war. Alle paar Meter stießen sie auf weitere Flecken des grünen Schleims. Sie würden das Wesen finden und mit ihm hoffentlich seinen Schöpfer.

Die Stimmung unter den Kriegern war bedrückt, das sah Borengar deutlich. Das Gefecht mit dem seltsamen Wesen empfanden sie als Niederlage. Ihre Anführer waren uneins und jetzt verfolgten sie den Angreifer und ließen die Gefallenen und Tarik alleine in der Dunkelheit zurück.

"Wir werden unsere Kameraden rächen", versprach Borengar seinen Männern.

"Wir sind die Verteidiger unseres Volkes. Wir müssen diese Metallwesen zerstören, bevor sie näher an unsere Hallen heran kommen. Stellt euch nur vor, diese Spinne würde auf dem großen Marktplatz auftauchen."

Nachdem sie eine Weile durch leere Gänge und Höhlen gelaufen waren, beugte sich Arruk zu dem Runenkrieger herüber und flüsterte: "Ich muss euch gehorchen. Aber ich bin für diese Zwerge verantwortlich. Wenn ihr sie für nichts und wieder nichts in den Tod schickt, reiße ich euch den Arsch auf."

Bevor Borengar etwas erwidern konnte, wandte sich Arruk ab und ging zu Ragnar um ihn aufzumuntern.

Borengar - Buch 3

Gegenwart

In der Taverne Zum kupfernen Kessel sah man häufig Zwerge in den graublauen Wappenröcken der Runenkrieger. Vor allem die Meister gehörten zu den Stammgästen.

Zwar gab es noch ein Gasthaus, das näher am Runenviertel lag, aber das Bier, welches im Kupfernen Kessel gebraut wurde, war eines der besten im Königreich.

Runenmeister Borengar traf sich an diesem Abend mit einigen seiner Waffenbrüder.

Sie saßen an einem langen Tisch vor dem großen Kamin und Ottwig, der Besitzer des Kupfernen Kessels, brachte ihnen große Krüge mit dunklem, Schaum gekröntem Bier.

“Habt ihr auch das Gefühl, dass die Adepten von heute viel frecher sind?”, fragte Gundar Trollfluch in die Runde.

Barruk, Geißel der Toten, nickte sogleich zustimmend.

“Und neunmalklug. Letztens fragte einer von ihnen ernsthaft, warum er sich mit der Elfenchronik befassen muss, anstatt mit der Axt zu trainieren. Ich habe das Gefühl, diese Burschen wissen gar nicht, was für ein Privileg es ist, für diese Ausbildung ausgewählt zu werden.”

“Es ist der Makel der Jugend, unerfahren zu sein”, sprach Astelan mit ruhiger Stimme.

“Und es ist der Makel der Erfahrenen, zu vergessen, dass sie auch einst jung waren. In diesem Alter hatten wir alle Flausen im Kopf.”

Gundar nickte und prostete Astelan zu.

“Weise Worte. Du solltest sie aufschreiben.”

Ulfrik der Wanderer nahm einen tiefen Zug aus seinem Krug. Danach seufzte er zufrieden und erzählte den anderen eine Anekdote aus seiner eigenen Zeit als Adept.

“Ich weiß noch genau, wie ich mich abends aus dem Quartier schlich, um mich mit einer jungen Zwergin zu treffen. Mein Meister bekam natürlich irgendwann Wind davon.

Hat mir geraten, meine Prioritäten zu überdenken.

Am Abend vor einer wichtigen Prüfung hätte ich lernen und früh zu Bett gehen sollen. Statt dessen war ich den Großteil der Nacht mit dem Mädchen unterwegs.

Am nächsten Morgen war ich so müde, ich wäre in der Prüfung fast eingeschlafen. Die Standpauke meines Meisters war episch!”

Die anderen Zwerge lachten und einer nach dem anderen erzählten sie von den Torheiten ihrer Jugend. Alle, außer Borengar.

“Ich habe leider keine Geschichte dieser Art, um die Verfehlungen meiner Schüler zu entkräften. Meine oberste Priorität war immer die Pflicht. Die Adepten von heute sind nicht einfach nur unerfahren. Sie haben keine Ehrfurcht vor den Farben unserer Zunft.”

“Bei allem Respekt, Meister Borengar, aber ich erinnere mich an dich, als du noch ein Adept warst”, erwiderte Ulfrik.

“Ich war damals gerade erst in den Rang eines Runenkriegers erhoben worden.

Es stimmt, du warst immer sehr pflichtbewusst. Einer der Meister, er drückte sich gerne derb und plump aus, meinte, du hättest einen Stock im Arsch.”

Alle am Tisch prusteten in ihre Getränke.

“Aber selbst der große Runenmeister Borengar, Autor der Vernichtung, hat Schwächen und Fehler. Besonders in seinen jungen Jahren. Du warst so erpicht darauf, dich zu beweisen, dass deine Entscheidungen manchmal… rücksichtslos waren.”

Borengar war, als hätte ihm ein Troll einen Tritt verpasst. Stumm blickte er hinab auf die schwarze Oberfläche seines Bieres. Im Schein der Kerzen konnte er sein Gesicht dort sehen.

Er hatte seine Entscheidungen immer im Hinblick darauf getroffen, was am Besten für das Zwergenreich und für seine Mission war.

Oder hatte Ulfrik recht und Ehrgeiz hatte sein Urteilsvermögen getrübt?

Diese Frage weckte eine alte Erinnerung. Es hatte schonmal einen Zwerg gegeben, der ihm genau dasselbe vorgeworfen hatte. Damals hatte er diesen Vorwurf beiseite gefegt, vollkommen überzeugt von sich selbst.

Doch wenn er an jene unglücklichen Ereignisse zurückdachte…

Vergangenheit

Borengar und die Krieger waren der grünen Blutspur des teilweise mechanischen Monsters eine Weile lang gefolgt.

Die Wunden des Wesens schienen sich glücklicherweise nicht zu schließen, denn alle paar Meter stießen sie auf Blutstropfen, die ihnen den Weg wiesen.

Irgendwann bemerkte der Runenkrieger vor sich einen Lichtschimmer. “Wir nähern uns dem Ziel“, flüsterte er Feldwebel Arruk zu.

Dieser gab die Nachricht an seine Männer weiter. Mit gezogenen Waffen, die Nerven zum zerreißen gespannt, verringerten sie ihr Tempo und schlichen weiter auf das Licht zu, so verstohlen, wie Zwerge in Kettenhemden nur sein konnten.

Der Gang, in dem sie sich befanden, machte eine letzte Biegung nach rechts und dann standen sie vor einem in den Fels gehauenen Torbogen.

Der Durchgang war so breit, daß zwei Ochsenkarren nebeneinander hindurchfahren konnten und ragte genauso hoch auf. Das Tor war nicht versperrt und warmes Licht flutete heraus, färbte das Gestein feuerrot. Der Trupp ging links und rechts des Torbogens in Deckung und spähte vorsichtig hindurch.

Seine Augen mussten sich erst an die Helligkeit gewöhnen und schmerzten nach der langen Zeit in der Dunkelheit. Als Borengar endlich etwas erkennen konnte, klappte ihm der Mund auf.

Er erblickte eine riesige Halle, die meisterhaft aus dem Herz des Gebirges geschlagen worden war. Die Wände waren glatt, es waren kaum Spuren der Werkzeuge zu sehen.

Der Runenkrieger erkannte, dass die Erbauer nicht schnurgerade in den Fels gegraben hatten, sondern der Wuchsrichtung der Gesteinsschichten gefolgt waren.

So arbeiteten auch die Zwerge, um den geschaffenen Hohlraum möglichst stabil zu machen.

Rundherum erleuchteten Fackeln den Raum, doch die beiden größten Lichtquellen waren ein großer Kamin in der hinteren, rechten Ecke, sowie eine Esse an der Längsseite zu Borengars Linken.

Die Halle schien alles auf einmal zu sein: Behausung, Werkstatt, Forschungslabor, Schmiede, Bibliothek.

Er sah wackelige Regale, vollgestopft mit abgenutzten Büchern, die Einbände rissig und fleckig, einen Amboss, ein Bett mit einem Stapel dicker Felle darauf, mehrere Werkbänke, manche mit Zirkeln, Zangen, Maßbändern, andere mit Phiolen, Destillen, Kesseln und anderen Dingen, deren Funktion Borengar nur erahnen konnte.

Und es gab Monster.

Von seiner Position aus konnte er sechs von ihnen erkennen.

Fünf standen in einer Reihe an der Wand zur Rechten.

Vollkommen reglos ließen sie kein Anzeichen von Leben erkennen. Ein Troll, eine weitere Spinne, ein Zwerg und zwei Goblins, alle waren in schwarze Metallplatten gehüllt und mit zahlreichen Klingen und Zahnräder ausgestattet worden.

Das sechste Monster war die verwundete Spinne. Sie stand in der Mitte des Raumes, den grässlichen Hinterleib den Zwergen zugewandt, welcher in unregelmäßigen Abständen zischend kleine Dampfwolken ausstieß.

Über dem Brodeln diverser Flüssigkeiten, den mechanischen Geräuschen der Metallspinne und dem Knistern und Prasseln der Feuer ertönte ein lautes Geklirr und Geklapper, dessen Ursprung Borengar nicht ausmachen konnte.

Sie hatten den Ursprung der Metallwesen gefunden, da war sich der Runenkrieger sicher. Wer auch immer hier lebte, hatte eine Werkstatt errichtet, die alles bot, was ein krankes, grausames Genie für seine finsteren Pläne brauchte. Ein Ort der Wissenschaft, des Handwerks und der Ingenieurskunst.

Ein unangenehmer Gedanke durchzuckte ihn.

Dies wäre auch ein perfektes Heim für einen Runenkrieger.

Rasch schüttelte er den Gedanken ab. Es war an der Zeit, Antworten zu finden.

Borengar wandte sich Arruk zu, der über seine Schulter in den Raum spähte.

“Gut, wir wissen jetzt, von wo diese Wesen kommen. Jetzt müssen wir noch ihre Schwachstellen und ihren Erbauer kennen lernen, damit wir sie effektiv bekämpfen können”, flüsterte der Runenkrieger.

“Bewacht diesen Eingang, damit keines der Monster entkommt. Ich schleiche mich hinein und sehe mich ausführlicher um.”

Arruk nickte stumm und gestikulierte dann seinen Kriegern. Als sie alle nickten, fiel Borengar erstmals auf, dass jemand fehlte.

“Wo ist Ragnar, verdammt?“

Eine untypische Röte stieg dem Feldwebel ins Gesicht, als er antwortete:

“Ich habe ihn zurückgeschickt. Er kann Verstärkung holen und falls wir draufgehen, weiß wenigstens jemand, was passiert ist.” Fassungslos starrte Borengar ihn an.

“Ihr habt gegen meinen Befehl gehandelt!”, zischte er.

“Was ist, wenn die Verstärkung hier eintrifft und wir immer noch nicht wissen, wie wir diese Wesen am besten bekämpfen können? Es wird ein Massaker geben!”

“Ragnar wird lange brauchen, bis er im Runenviertel ankommt und die Tunnelkämpfer werden genauso lange für den Weg hierher benötigen. Bis die da sind, habt Ihr eure Antworten.”

Arruk zuckte mit den Schultern, als er fortfuhr:

“Außerdem wäre Ragnar im Kampf nur eine Belastung gewesen. Seine Nerven liegen blank.”

Borengar hätte ihn am liebsten geschüttelt und angeschrien, doch sie durften ihre Anwesenheit nicht verraten.

Fieberhaft dachte er nach. Wie lange hatte seine Gruppe von Ebene drei hierher gebraucht? Wieviel Zeit hatte er noch?

Er konnte es nicht mit Gewissheit sagen, aber er konnte zunächst bei seinem Plan bleiben. Um den Feldwebel musste er sich später kümmern.

“Es bleibt dabei, ich sehe mich in dieser Halle um. Sichert den Eingang.”

Mit diesen Worten schlich Borengar durch den steinernen Torbogen.

Rechts vom Eingang waren viele Kisten und Fässer an die Wand gestapelt, vermutlich mit Vorräten.

Diese nutzte der Runenkrieger als Deckung, kletterte zwischen einem hoch aufragenden Stapel Kisten und mehreren aufrecht stehenden Fässern hindurch und sah sich erneut in dem Unterschlupf um.

Nun konnte er an der Metallspinne vorbei nach vorne blicken.

Er hatte mit vielem gerechnet. Mit einem Menschen, der sich hier eingenistet hatte, um in aller Ruhe seine wahnsinnigen Experimente durchzuführen, mit verschlagen Orkmagiern, mit Gnomen, sogar einen Elfen hatte er sich vorgestellt, der angetrieben von uraltem Hass einen Weg gefunden hatte, die Zwerge in ihren Hallen heimzusuchen.

Doch auf den Anblick eines Artgenossen war er völlig unvorbereitet. Ein Zwerg stand dort in der Mitte des Raumes und durchsuchte geschäftig seine Werkzeuge, die auf einem Tisch ausgebreitet lagen. Schließlich ergriff er einen langen Schürhaken und ging damit um die Spinne herum.

“Mal sehen, was du mir mitgebracht hast”, sagte er zu dem Metallwesen.

Er streckte den Schürhaken an der Seite des Wesens nach oben und benutzte ihn, um an einem Hebel zu ziehen.

Erst jetzt fiel Borengar auf, dass die Spinne eine Art metallene Wanne auf dem Rücken trug, wie die Ladefläche einer großen Schubkarre.

In dieser Wanne lag die zerschundene Leiche eines Zwerges.

Der Hebel ließ eine Wand der Wanne herunterklappen und der Körper von Faerun, Borengars Kampfgefährte, plumpste zu Boden.

Mit einem furchtbar begierigen Blick beugte der fremde Zwerg sich zu der Leiche herab.

“Ah, noch ein Zwerg, ausgezeichnet!”, sagte er.

Borengar konnte niemanden sonst in dem Raum ausmachen, also führte der Fremde wohl Selbstgespräche.

Er packte Faerun an den Armen und schleifte ihn würdelos über den Boden an die Längsseite der Halle, zu Borengars Rechten.

Dort war eine quadratische Fläche ganz der Magie vorbehalten, wie der Runenkrieger nun erkannte. Zwei magische Bannkreise waren in den Boden gemeißelt und mit Gold ausgegossen worden.

In dem kleineren Bannkreis stand ein Lesepult, auf dem ein großer Foliant ruhte. Um die Bannkreise herum waren Kerzen und Räuchergefäße aufgestellt worden.

Faerun wurde in den großen Kreis gezerrt, danach wandte der Unbekannte sich wieder seiner Metallspinne zu.

“Der hat dich ganz schön übel zugerichtet, meine Liebe. Ich muss dir ein neues Bein schmieden. Und das Uhrwerk zu reparieren wird mich mindestens eine Woche kosten! Der Krieger muss gut gewesen sein.” Erneut durchsuchte er seine Utensilien, nahm sich zwei Geräte, deren Zweck Borengar nicht kannte, und machte sich an der Vorderseite der Spinne zu schaffen, wo die Axt des Runenkriegers die komplizierte Mechanik beschädigt hatte.

Dieser Irre muss aufgehalten werden!, dachte Borengar zornig. Er verstand noch immer nicht, was hier los war. Er konnte nicht genau erkennen, wie die Spinne repariert wurde, also sah er sich aufmerksam um, prägte sich jedes Detail ein, auf der Suche nach Hinweisen.

Als sein Blick über die Wohn- und Schlafecke glitt, erregte ein Stück Stoff seine Aufmerksamkeit.

An einem Haken an der Wand, zwischen einem langen Reiseumhang und einer ledernen Schmiedeschürze, hing ein Wappenrock im vertrauten Blaugrau. Genau so einen trug Borengar selbst.

Im blieb die Luft weg. Konnte es sein, dass der Fremde einen Runenkrieger getötet und den Wappenrock als Trophäe behalten hatte? Oder war die Wahrheit viel schlimmer?

Sein Verstand wehrte sich zunächst dagegen, doch er war sein ganzes Leben lang dafür trainiert worden, kalte, logische Schlussfolgerungen zu ziehen und die Fakten emotionslos zu analysieren.

Die verschiedenen Künste, für die es hier Werkstätten gab, Schmiedekunst, Ingenieuswesen, Alchemie, Magie, die Büchersammlung, der Wappenrock, all diese Indizien fügten sich zusammen und schließlich konnte er sich nicht mehr dagegen wehren, dass die Schlussfolgerung in ihm Gestalt annahm.

Der Feind, der Lebewesen mit Maschinen verschmolz und die Minenarbeiter von Ebene drei terrorisierte, der zahlreiche Zwerge getötet und ihre Leichen verschleppt hatte, war ein Runenkrieger!

Er hatte das nötige Wissen und die Fähigkeiten dazu. Und er kombinierte zwergische Runenmagie mit einer anderen Form von Hexerei, die seinem Volk zuwiderlief.

Borengars Blick fiel erneut auf Faeruns Leiche, die in einem magischen Schutzkreis lag und ihm wurde mit einem Mal klar, warum die Metallwesen ihre Opfer mitnahmen.

Es sind Untote! Dieser Zwerg ist ein Runenkrieger und ein Nekromant!

Borengars Zunft strebte nach Wissen in jedem Bereich, den es zu erforschen gab, auch in den herkömmlichen Zweigen der Magie. Verständnis war wichtig, um einen feindlichen Magier bekämpfen zu können.

Manche Runenkrieger übten sich auch in der praktischen Anwendung von Magie, was aber von den Meistern nicht gerne gesehen wurde.

Es wurde geduldet, aber nicht gefördert. Nekromantie jedoch war einer jener Zweige der Magie, die absolut verboten waren, im gesamten Königreich unter dem Gebirge.

Auf Geheiß des Königs höchst persönlich.

Es stand unter Todesstrafe, die Toten wiederzuerwecken.

Dieser Zwerg, der sich vor der Welt versteckte und im Geheimen arbeitete, war ein abscheulicher Verräter!

Er handelte auf jeder Ebene seines Wesens unnatürlich und abartig. Als Zwerg, der seinesgleichen bekämpfte.

Als Bewohner des Zwergenreiches, der Totenmagie benutzte.

Als Runenkrieger, der seinen Eid gebrochen hatte.

Borengar wurde schlecht und am liebsten hätte er sich erbrochen. Gleich nachdem er dem Verräter seine Axt in den Schädel getrieben hätte.

Mit Mühe schluckte er die Galle herunter und zwang sich, tief einzuatmen.

Er hatte die Identität des Angreifers aufgedeckt, nun musste er noch mehr über die Metallwesen erfahren.

Als Untote spürten sie keinen Schmerz und nahmen keine Rücksicht auf Verluste.

Das fremdartige, schwarze Metall, das sie bedeckte, war sehr hart, die empfindlichsten Stellen waren also die Gelenke und die Zahnräder des Uhrwerks.

Doch woher kam die Aura der Angst, die sie umgab?

Er hatte schon zuvor vermutet, dass es ein Zauber war, mit dem die Wesen belegt wurden. Entweder der Spruch entsprang der Schule der Nekromantie, oder aber der Schule der Schattenmagie. Er war sich nicht sicher.

Die Runenkrieger konnten die Krieger mit Runen zum Schutz gegen beide Formen der Magie ausstatten, aber das würde Zeit brauchen. Zeit, die sie nicht hatten, da der verdammte Arruk bereits Verstärkung gerufen hatte.

Vielleicht sollte er es jetzt einfach alleine versuchen. Er konnte sich an den abgelenkten Verräter anschleichen und ihn niederschlagen.

Die anderen Metallwesen wirkten inaktiv und würden vermutlich nicht eingreifen, solange sie keinen direkten Befehl ihres Meister bekamen. Er konnte es kaum erwarten, diesen Abschaum seiner gerechten Strafe zuzuführen.

Ruhig. Bleibe sachlich. Du denkst nicht mehr klar.

Erneut zwang er sich zur Ruhe. Atmete tief in den Bauch ein und langsam wieder aus.

Er war erschöpft nach der kurzen, Albtraum geplagten Rast und dem Kampf.

Die Konfrontation mit einem der Seinen, der gegen alle Grundsätze verstieß, machte ihn wütend. Er hatte garantiert noch einige Stunden Zeit, ehe die Verstärkung eintraf. Selbst dann hätte er noch die Möglichkeit, seine Optionen zu überdenken.

Stellung halten, mehr Informationen sammeln, auf den richtigen Moment warten.

Vorsichtig kletterte er zurück zum Torbogen und besprach sich mit den Kriegern.

Sie würden abwechselnd Wache halten, auf alles Ungewöhnliche achten und sich ausruhen. Der Feldwebel wollte die erste Wache halten und so breitete Borengar seine Schlafmatte aus. Wenigstens schienen die untoten Konstrukte im Moment keine Panik zu verbreiten.

Nach einer dringend benötigten Pause war Borengar an der Reihe, Wache zu halten und zu observieren. Als er Vitur am Torbogen ablöste, berichtete dieser ihm, dass der fremde Zwerg lange an der Metallspinne gearbeitet hatte.

Fafnir, der vor ihm Wache gehalten hatte, sah den Abtrünnigen mit diversen Chemikalien hantieren und das Ergebnis in eine Öffnung am Hinterleib der Spinne einfüllen. Dabei schützte er Mund und Nase mit einem umgebundenen Tuch.

“Ich wünschte, ich hätte es selbst gesehen“, fluchte der Runenkrieger.

Dann sagte er zu Vitur: “Wir sollten dasselbe tun und unsere Gesichter mit nassen Tüchern bedecken.”

In den folgenden Stunden beobachtete er seinen Feind und dachte über alles nach, was passiert war und was er gesehen hatte.

Er hatte nun ein klares Bild der Geschehnisse und einen Gegner, den es zu besiegen galt.

Was ihn quälte war die Ungewissheit.

Das, was er nicht wusste.

Das, was nur Vermutung war.

Bald würden die Tunnelkämpfer hier ankommen. Borengar wusste, dass sie eine elitäre Einheit innerhalb des Zwergenheeres waren. Perfekt vorbereitet für Kämpfe auf engstem Raum und in der Dunkelheit in den Stollen. Mit einer ganzen Kompanie von ihnen konnte er die Halle stürmen und die Metallwesen vernichten.

Sofern sie nicht alle von blanker Panik in den Wahnsinn getrieben wurden. Vielleicht war es gar kein Zauber, der die Untoten umgab. Möglicherweise hatte es etwas mit der Chemikalie zu tun, die sie bekamen.

Im aktivierten Zustand hatte die Spinne permanent Dampf aus zahlreichen Öffnungen ausgestoßen. Ein feuchtes Tuch vor Mund und Nase konnte vor giftigen Dämpfen schützen… Er selbst hatte sich eines umgebunden, nur um sicherzugehen.

Er grübelte noch eine Weile weiter, während er beobachtete, wie der unbekannte Zwerg die Reparaturen an der Spinne vorläufig beendete und sie auf sein Wort hin zu den anderen, wartenden Wesen ging und sich abschaltete.

Der Wechsel von Bewegung und Leben - oder eher Untot - zu vollkommener Reglosigkeit und Stille war grausig.

Das Wesen schloss die Augen nicht. Sie leuchteten unvermindert hell, bewegten sich jedoch nicht. Kein Blinzeln, kein umherschweifender Blick. Dies zu beobachten war schlimmer, als gegen das Geschöpf zu kämpfen.

Offenbar genügte ein Befehl in der Sprache der Magie, um das Konstrukt stillzulegen - es zu reaktivieren würde ähnlich funktionieren.

Ein Kampf gegen alle sechs von ihnen war also kaum zu vermeiden. Kein Wunder, dass ihr Schöpfer sich völlig sicher wähnte. Nie blickte er durch den offenen Eingang. Er schien völlig unbekümmert und das in einem Stollen, so tief unter der Erde, dass noch nicht einmal die Bergarbeiter der Zwerge bis dorthin gelangt waren.

Hier konnte der Tod hinter jeder Ecke lauern.

Doch mit seinem Wissen und seinem Geschick hatte er Waffen erschaffen, mit denen er kleine Königreiche erobern konnte.

Das Ganze musste hier und jetzt enden.

Borengars Wache neigte sich dem Ende zu, als sein Widersacher sich Faeruns Leiche widmete.

Mit zusammengebissenen Zähnen beobachtete der Runenkrieger, wie seinem Kampfgefährten die Rüstung und die Waffen abgenommen wurden. Als die Kerzen entzündet wurden, war ihm klar, dass Faerun im Tod keinen Frieden finden sollte. Der Verräter wollte seinen Körper reanimieren.

Noch einen weiteren Untoten konnte Borengar sich nicht leisten, der Kampf würde auch so schon schwer werden. Außerdem war er es dem Toten schuldig, die Schändung seiner Überreste zu verhindern. Kurzentschlossen zückte der Runenkrieger seine Axt und schritt in die Halle. Sein Gegner hatte ihm den Rücken zugewandt, er las etwas in dem Buch auf dem Lesepult.

Wenn er nah genug herankäme, könnte er ihn mit der flachen Seite der Axt niederschlagen. Nicht ohne Grund jedoch trägt niemand, der Wert auf Verstohlenheit legt, ein Kettenhemd.

Der Verräter hörte das leise Geräusch von Metall auf Metall und drehte sich um.

Ein vernarbtes, faltiges Gesicht mit einer schmutzigen Hakennase. Grüne Augen starrten ihn mit hitziger Intensität unter ergrauenden Brauen an.

“Hallo, Waffenbruder”, schnarrte er.

“Ich wusste, dass jemand von unserem Schlag den Weg hierher finden würde. Ich hatte nur gehofft, es würde noch etwas dauern.”

“Wir sind keine Waffenbrüder”, entgegnete Borengar, aus der Fassung gebracht von der Selbstsicherheit und Arroganz seines Gegenübers.

Er sprach laut, damit seine Gefährten ihn hörten und begriffen, dass der Kampf unmittelbar bevorstand.

“Nicht? Tragen die Runenkrieger denn nicht mehr diese Farbe?”

Der zottelige, ungepflegte Bart ruckte nach vorne, deutete auf den nagelneuen Wappenrock, den Borengar voller Stolz trug.

Der Zorn kochte in ihm hoch und er rief: “Ich bin ein Runenkrieger, ich beschützen das Volk der Zwerge mit Axt und Wort. Ihr seid ein Nekromant! Ein Mörder und Eidbrecher. Ihr habt Tod und Verderben über mein Volk gebracht und die Ruhe der Toten gestört! Wir beide haben nichts gemein!”

Der Verräter wirkte eher amüsiert als betroffen.

"Wie ist dein Name?", fragte er.

"Ich bin Borengar. Wie lautet der Eure?"

Eine hochgezogene Augenbraue.

"Nur Borengar? Kein Ehrenname? Offenbar hat man mir junges Gemüse geschickt. Ich, verehrter Borengar, bin Fjalla Scharfzunge, der Feurige und der Wissende."

Seine Stimme wurde mit jedem Wort weicher und voller.

Sie hob und senkte sich in präziser Betonung und wurde eine Melodie, der man leicht zuhören mochte.

Fjalla mochte lange allein gewesen sein, doch er hatte die hohe Kunst des Sprechens, ein Eckpfeiler der Ausbildung jedes Runenkriegers, nicht verlernt.

"Willkommen in meinem bescheidenen kleinen Reich. Meinem Exil, auch wenn ich eine Aversion gegen dieses Wort verspüre."

Fjalla schien noch nicht gewillt zu sein, seine infernalischen Kreationen auf Borengar zu hetzen, also konnte dieser versuchen, noch mehr Informationen zu erlangen.

“Wozu dieses Versteck? Wozu diese Untoten in Maschinen verbauen?“

Ein breites Lächeln erschien auf Fjalla's Gesicht.

“Ah, meine Kreationen… Meisterwerke, nicht wahr?

Der Gipfel der Errungenschaften gleich mehrerer Disziplinen.

Weißt du, junger Borengar, wie alle Runenkrieger übte ich mich in diesen Disziplinen und erforschte die Magie.

Aber nur über Magie zu lesen bringt einen nicht weit auf dem Pfad zur Erkenntnis. Erkenntnis ist jedoch der Schlüssel zum Erfolg, das hat man dich sicher gelehrt.

Ich war ehrgeizig genug, mein Wissen zu erweitern. Ich tat es, um meinen Meistern besser dienen zu können.

Haben sie es mir gedankt? Nein! Sie verstießen mich, nicht nur aus den Reihen der Runenkrieger, sondern auch aus dem Königreich!

Also suchte ich einen Ort, an dem ich ungestört weiter forschen konnte.

Wenn der Herr der Runen erst sieht, über welche Macht ich verfüge, wird er zu mir gekrochen kommen, damit ich die Tore zu seinen Hallen verteidige.

Ich habe noch nicht entschieden, ob ich ihm diesen Gefallen erweisen werde.”

Er lachte ausgelassen.

Borengar starrte ihn erschüttert an. Dieser Zwerg war nicht nur ein Verräter, er war wahnsinnig, der Realität entflohen.

“Wie habt Ihr es geschafft, die Untoten mit einer Aura der Furcht zu umgeben und selbst nicht davon getroffen zu werden?“

Ein Versuch war es wert.

Fjalla öffnete den Mund um zu antworten, als plötzlich Lärm durch den Torbogen drang.

Lautes Geschrei und Waffengeklirr.

Fjalla fuhr herum und rief: “Ein Angriff! Ha! Es ist an der Zeit, meine Macht zu demonstrieren.”

Er begann etwas in der Sprache der Magie zu rufen und schien Borengars Anwesenheit völlig vergessen zu haben.

Er durfte die anderen Monster nicht aktivieren!

Borengar machte einen Satz nach vorne und schwang seine Waffe mit der flachen Seite des Axtkopfes voran.

Fjalla sah die Bewegung aus den Augenwinkeln und duckte sich unter dem Schlag hindurch.

Zumindest sorgte die Attacke dafür, dass sein Zauber unterbrochen wurde und er musste die Worte erneut sprechen.

Borengar nutzte den Schwung seines ersten Schlages, drehte sich um die eigene Achse und ließ die Axt von rechts oben herabsausen.

Sein Gegner machte einen Schritt nach hinten und entging so dem Hieb.

Borengar war zu langsam gewesen. Fjalla beendete seinen Befehl und seine Schöpfungen setzten sich schockierend ansatzlos in Bewegung. In einem Moment noch reglos wie Statuen, im nächsten bewegten sich unsichtbare Mechaniken mit leisem Klicken, Dampf schoss aus zahlreichen Öffnungen und die Untoten schossen blitzartig nach vorne. Der Troll, die beiden Spinnen und beide Goblins bewegten sich auf den Lärm draußen zu, während der Untote Zwerg sich neben seinen Meister stellte, wie ein bedrohlicher Leibwächter.

Er war größer als jeder Zwerg, den Borengar je gesehen hatte.

Die schwarze Plattenrüstung umhüllte ihn vollständig, lediglich die blassen, grauen Augen leuchteten hinter einem Sehschlitz im Visier hervor.

Die Arme endeten nicht in Händen, sondern in langen, gebogenen Klingen, deren Form Borengar an die Beine von Gottesanbeterinnen erinnerte.

In der Brust war ein komplexes Uhrwerk eingelassen.

Eine Schwachstelle, die der Runenkrieger sich sogleich einprägte. “Mach dich nicht lächerlich, Borengar”, sprach Fjalla, seine Selbstgefälligkeit war unübersehbar.

“Du kannst mich nicht besiegen. Du hast keine andere Wahl, als mir zu dienen. Entweder als Untoter, oder als mein Adept. Ich würde letzteres vorziehen.”

Borengar beachtete ihn gar nicht, sondern fixierte sein Ziel, rollte die Arme um, die Muskeln zu lockern, und stellte sich breitbeinig hin, den Kopf tief zwischen die Schultern gezogen.

Fjalla’s Stimme nahm einen flehenden Unterton an.

“Ich bitte dich, sei vernünftig! Du bist voreingenommen, beschränkt durch das Dogma deiner Herren, aber du bist schlau und fähig.

Wenn du wahre Weisheit und unerschöpfliches Wissen suchst, musst du zu neuen Ufern aufbrechen und die Welt aus einer anderen Perspektive betrachten. Ich kann dir dabei helfen.”

Die Zeit des Redens war vorbei.

Der Runenkrieger duckte sich tief und sprang nach vorne, die Axt nah am Körper. Der Metallzwerg hob die Klingenarme, doch Borengar sprang zwischen ihnen hindurch und hämmerte seine Axt in das Uhrwerk an der Brustplatte.

Der fremdartige Stahl der Brustplatte gab nicht nach, doch die Zahnräder blockierten. Er riss die Waffe wieder heraus, zusammen mit mehreren verborgenen Bauteilen, und duckte sich links unter dem herabfallenden Arm des Konstruktes hindurch.

Dann wirbelte er gegen den Uhrzeigersinn herum, den Schildarm ausgestreckt, und schlug seinen Schild gegen die Seite des Monsters. Es traf auf eine schwarze Klinge, die an der Schulter des Gegners befestigt war. Das Holz hatte dem unbekannten Stahl nichts entgegenzusetzen und die Klinge fuhr nur Millimeter von Borengars Fingern entfernt hindurch.

Der Metallzwerg drehte sich schwungvoll herum und Borengar, dessen Arm noch in der Schlaufe seines Schildes festhing, wurde mitgeschliffen.

Rasch schnitt er die Lederriemen mit der Axt durch, um freizukommen.

Dann musste er einer Reihe von Hieben ausweichen, bis sich erneut eine Lücke auftat.

Er duckte sich unter einem hoch gezielten Schlag hindurch und trieb die Axt beidhändig in den Rücken des Untoten.

Auch dort waren zahlreiche Zahnräder zu sehen und Borengars Angriff riss sie brutal aus ihrer Verankerung.

Die Bewegungen des Metallzwerges wurden langsamer, ruckartiger, das Zischen und Klicken in seinem Innenleben wurde unregelmäßiger. Als es sich zu Borengar umdrehte, erkannte er seine Chance.

Er ließ die Axt fallen und zog stattdessen ein langes Messer aus seinem Gürtel. Dann sprang er den Koloss frontal an.

Mit der linken Hand griff er nach dem gepanzerten Nacken und zog sich nach oben, mit der rechten stieß er das Messer durch den Augenschlitz und tief hinein in das rechte Auge. Ein Ruck durchlief das Wesen und es verharrte reglos, den rechten Klingenarm noch zum Schlag erhoben.

Das Klicken und Zischen im Innern wurde langsamer und verebbte schließlich.

Ein Konstrukt ausgeschaltet, blieben noch fünf.

Hinter sich hörte Borengar einen zornigen Aufschrei und er wirbelte herum, um sich der größten Bedrohung zu stellen.

Fjalla schäumte vor Wut und brüllte ihn an, dass er die Arbeit von Monaten zerstört hatte.

Bei seinem Anblick blinzelte Borengar verblüfft. Eben noch hatte der abtrünnige Runenkrieger eine einfache Robe getragen, doch nun steckte er in einer Rüstung aus bleichen, sich überlappende Platten, die matt schimmerten wie polierte Knochen.

Wie war er so schnell in eine Rüstung geschlüpft?

Schatten umwaberten den Harnisch und kündigten von mächtiger Magie. Zusätzlich waren die Knochen - Borengar war sich sicher, dass diese Rüstung gänzlich aus Gebeinen geschnitzt war - über und über mit zwergischen Runen versehen.

Ein Sinnbild der Verbrechen, für die Fjalla verbannt worden war.

Die Hohe Kunst der Runenmagie, kombiniert mit den verbotenen Künsten war unglaublich mächtig - und unglaublich grausam.

In den Händen hielt Fjalla eine lange Hellebarde, der Schaft war aus dem schwarzen Metall seiner Konstruktionen, das Axtblatt und die Speerspitze aus Knochen, umwabert von den gleichen Schatten wie die Rüstung.

“Du hast mich um ein Meisterwerk gebracht!”, spie er Borengar entgegen.

“Jetzt musst du als Ersatz herhalten!”

Mit diesen Worten schwang er seine Waffe horizontal gegen Borengars Mitte.

Dieser warf sich rücklings nach hinten, rollte sich herum und rappelte sich rechtzeitig wieder auf, um die Hellebarde erneut auf sich zurasen zu sehen.

Der Runenkrieger hob die Axt und parierte den Hieb.

Die knöcherne Klinge glitt vom runenverstärkten Holz ab und die Speerspitze der großen Waffe schoss auf ihn zu.

Die dünne Klinge glitt mühelos durch das Geflecht seines Kettenhemdes und bohrte sich in seinen Bauch.

In dem Augenblick, in dem der Knochen seine Haut durchstieß, wurde es Borengar schwarz vor Augen.

Schmerz flammte in seinem Innern auf und er schrie, als er zu Boden ging. Auf dem Rücken liegend tastete er nach seinen Augen. Sie waren offen, doch es war, als hätte jemand sämtliche Lichter in dem Raum gelöscht.

Eine undurchdringliche Schwärze verhüllte ihm die Sicht.

Verdammte Schattenmagie!

Die Wunde blutete stark, doch der junge Zwerg war sich sicher, dass keine lebenswichtigen Organe getroffen waren.

Keuchend vor Schmerz rollte er sich herum und erhob sich auf alle Viere, tastete blind nach seiner Waffe.

Nach einer gefühlten Ewigkeit landete seine Hand auf dem vertrauten Stück Holz.

Wankend kam er auf die Beine, angestrengt auf seinen Gegner lauschend.

Er rechnete damit, jeden Moment von der Hellebarde gespalten zu werden, doch es kam kein Angriff.

“Du bist ein Narr, Borengar“, sagte Fjalla, seine Stimme kam von rechts.

Er drehte sich in die Richtung, die Axt schützend vor sich haltend. Offenbar wollte der Verräter ihn noch ein bisschen verhöhnen, bevor er ihm den Todesstoß versetzte.

“Du hättest alles haben können. Wissen, Macht, Unabhängigkeit.

Aber du ziehst es vor, die Scheuklappen zu behalten und von unnahbaren Meistern an der kurzen Leine gehalten zu werden!

Wie kurzsichtig. Doch keine Sorge, schon bald wirst du die Dinge mit völlig anderen Augen sehen.”

Fjalla kicherte über seine eigene Bemerkung.

Ein gedämpfter Schritt zur Rechten und ein Zischen in der Luft. Borengars jahrelang geschulte Reflexe übernahmen die Kontrolle.

Er riss seine Waffe hoch und verlagerte sein Gewicht auf den hinteren Fuß. Krachend schlug die Hellebarde gegen seine Abwehr. Fjalla spielte noch immer mit ihm.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752134025
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Februar)
Schlagworte
Sammelband Magie Zwerg Zwerge Fantasy Meister der Runen Fantasie Runenkrieger Runenmagie Runen Episch High Fantasy Erzählungen Kurzgeschichten

Autor

  • Patrick Huber (Autor:in)

Patrick Huber wurde 1990 in Tuttlingen geboren. Als Sohn eines Soldaten wohnte er mal hier, mal dort. Nach dem Abitur machte er eine Ausbildung zum Hörgeräteakustiker in Traunstein. 2018 wechselte er in die Industrie und zog in das Nürnberger Land. Ein Jahr später heiratete er seine Freundin Daniela und erfüllte sich den Traum, Autor zu werden. Neben seiner Arbeit in einem Otoplastiklabor veröffentlicht er nun jeden Monat eine Kurzgeschichte aus der Fantasyreihe "Meister der Runen".
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Titel: Meister der Runen - der Chronik erster Teil