Lade Inhalt...

Auszeit Muffins So tun als ob ist auch verliebt

romantische Liebeskomödie

von Anna Conradi (Autor:in) Adelina Zwaan (Autor:in)
260 Seiten

Zusammenfassung

"Als hätte ich sie selbst gegessen. Diese Muffins entspannen."

Thea hat es nicht so mit Familie und kein Glück in der Liebe. Ihr Arbeitskollege Vincent schon, bis seine Freundin ihn aus heiterem Himmel verlässt. Genau eine Woche bevor seine Eltern ihre Liebe mit einem zweiten Eheversprechen auffrischen wollen.
Allein möchte Vincent auf keinen Fall bei der Familienfeier erscheinen und überredet Thea, einzuspringen. Lügen bereiten ihr Bauchschmerzen, doch Vincent bietet im Gegenzug seine Hilfe bei dem verhassten "Buletten-Raumduft-Projekt" an.
Zögernd willigt Thea ein und begleitet ihn zu seiner Familie. Zur Entspannung fahren beide an einen See. Mit dabei sind Muffins, die es in sich haben ...

Die humorvolle Feelgood-Sommer-Romanze »Auszeit Muffins« von Anna Conradi entführt ins sonnige Berlin und gibt es jetzt als eBook bei AZ Books.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhalt

Auszeit Muffins

Musik zum Buch

Vita

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Epilog

Leseprobe

Kiss me tender

Musik zum Buch

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Bibliografie AZ Books

Impressum

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Anna Conradi

 

 

Auszeit Muffins

So tun als ob ist auch verliebt

Ein Bild, das Grafiken, Schrift, Logo, Clipart enthält.  Automatisch generierte Beschreibung

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Copyright © 2023 AZ Books

Vertreten durch AZ Books – Leipzig

c/o K. Förster Rosenweg 52 04209 Leipzig

kontakt@az-books.de Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden. Verwendung oder Verbreitung durch unautorisierte Dritte in allen gedruckten, audiovisuellen und akustischen Medien ist untersagt. Die Textrechte verbleiben beim Autor, dessen Einverständnis zu dieser Veröffentlichung vorliegt. Für Satz- und Druckfehler keine Haftung.

 

 

www.az-books.de

@autorin_adelinazwaan

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Musik zum Buch

 

Eine lieb gewordene Tradition ist die Freigabe der Musikliste zum Buch (Spotify), auf der alle Titel gelistet sind, die mich bei diesem Projekt inspiriert haben. Ich wünsche viel Freude mit einer Stunde, dreizehn Minuten purem Musikgenuss für das besondere Roman-Feeling.

 

 

Spotify-User: AZ Books

Playlist: Buch – Auszeit Muffins

 

 

Un-Unfy – Kasper Bjorke Remix von Hundreds, Kasper Bjorke

See me von Talos

When We Were Young von Hollow Coves

Circles von WILDES

Wild Roses von Of Monsters and Man

Second Hand Smoke von William Fitzsimmons

Olalla von Blanco White

Aprendi a Amar von Brytiago

Meerweh von Fabian Wegener

Feel About You von Aislin Evans

Heavenly von Cigarettes After Sex

Apocalypse von Cigarettes After Sex

Not Easy von X Ambassadors

Stuck In The Middle von Mike Posner

You Could Be Happy von Wyldest

Could You Be Loved – Bob Marley

1000 Nights von FRENSHIP

Cheerleader von OMI

Walk von Naaman

Tomorrow Will Be Gone von Axel Flóvent

Calma – Bachata Version von DJ Tronky

La Bachata von Manuel Turizo

Calm Down von Rema & Selena Gomez

Thick Skin von Just Peachy, Cleo Kelley

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vita

 

Anna Conradi (Pseudonym), 1971 in der Hansestadt Wismar geboren, lebt nach unzähligen Stationen im In- und Ausland heute in Leipzig. Seit Kindertagen von Büchern und dem Theater fasziniert, entdeckte sie ihr Herz für Liebesromane. In ihren einfühlsamen und authentischen Romanen gewährt sie einen tiefen Einblick in die innere Zerrissenheit ihrer meist bindungsunfähigen, aber charakterstarken Protagonisten.

Schreibt sie nicht, arbeitet sie bei einem kommunalen Energieversorger oder gestaltet einzigartige Grußkarten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Widmung

 

Letztlich bleiben ihre Worte nichts weiter als Worte einer Wölfin. Wenn ich zulasse, dass sie mich oder mein Leben vergiften, verliere ich und das will die Giraffe in mir unter allen Umständen vermeiden.

 

Anna Conradi

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1

cannabis-1032119_1280.png

 

Die Bässe der Musik dröhnen in meinem Magen und lassen nichts anderes zu, als mich den Klängen hinzugeben. Mein Körper verwandelt den Takt in fließende Bewegungen, die weder Sinn noch Ordnung ergeben, aber aus meinem Inneren befreit werden wollen. Die Augen geschlossen, entführt mich der Beat in eine Welt, in der Ordnung herrscht, die unversehrt ist und in der ich kinderleicht dem Rhythmus des Herzens folgen darf.

Eins mit den flackernden Lichtern, spüre ausschließlich den drängenden Takt der Musik. Und mich. So ergeht es mir andauernd, wenn ich tanze. Alle Stimmen in mir verstummen und behelligen mich nicht mit lästigen Fragen, auf deren Antworten ich jetzt sowieso keinen Bock habe.

Dopamin, Serotonin oder Adrenalin mixen in meinem Körper ein süffiges Gebräu, welches mich trunken und verzückt aus dem ermüdenden Büroalltag holt. Jeden Freitagabend zieht mich die geniale, körpereigene Droge in diesen Klub. Na ja, zugegebenermaßen zuweilen auch die vielversprechenden Jungs, die einem Flirt nicht abgeneigt sind.

Einer dieser Exemplare tanzt neben mir und bemüht sich um dauerhaften Blickkontakt. Vielleicht hat ihn mein Hüftschwung angezogen, vielleicht das vielversprechende Lächeln.

Wer weiß.

Freilich findet sich hier nicht der Mann fürs Leben. Zumindest habe ich ihn bislang nicht gefunden. Das ist keineswegs schade, denn hauptsächlich möchte ich den Stress der Arbeitswoche abbauen, mich amüsieren und auspowern.

Auf den Kopf gefallen bin ich jedenfalls nicht. Mir ist klar, dass mein Mann fürs Leben nicht ohne mich in Klubs geht. Er streift sich vor der Haustür den Ring nicht ab, den ich ihm einst in einem bewegenden Ritual auf den Finger geschoben habe.

In meiner Vorstellung hätte er nicht einmal ansatzweise das Bedürfnis, etwas angeblich Entgangenes nachholen zu müssen. Er selbst hat in schlaflosen Nächten die alles entscheidende Frage erwogen und folgende vier Wörter in seinem Geist formuliert: Möchtest du mich heiraten?

Nein, untreue Tomaten kommen mir nicht auf das Gemüsebeet und für offene Beziehungen bin ich nicht der Typ. Ich mag es zu zweit, vertrauensvoll und suche ein dafür passendes, treues Gegenüber. Finde ich diese Nadel im Heuhaufen nicht, tanze ich eben bis ins hohe Alter in Klubs und bin einem sympathischen Flirt nicht abgeneigt.

Erscheint auf den ersten Blick alles andere als rosig, finde ich aber allemal besser als eine Beziehung, die sich eines schönen Tages als Luftschloss entpuppt und in der heißen Mittagsluft verpufft. Kurzum: Ich möchte es zu einhundertneunundneunzigtausend Komma neunundneunzig Prozent aus tiefstem Herzen und restlos von der Ehe überzeugt.

Ich wünsche es mir absolut ehrlich und treu. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Punkt und fertig.

Die Ehe meiner Eltern ist mir ein mahnendes Beispiel. Für mich kommt es nicht in die Tüte, jeden Morgen am Frühstückstisch ein mürrisches Gesicht sehen zu müssen und mir vorzustellen, wie sich ein Leben ohne diesen Sitzpinkelverweigerer anfühlt. Für mich sind eine stabile Beziehung und ein aufrechter Gang überlebenswichtig.

Allerdings fangen genau hier die Probleme an. Wer heutzutage einen aufrechten Gang geht und auf den eigenen Herzschlag hört, bekommt die Härte der hungrigen Wolfsmeute zu spüren. Für Gemeinschaft ist kein Platz, obwohl sie vielerorts gebetsmühlenartig gepredigt wird.

Für Idealisten ist es die falsche Zeit und wird es zu allen Zeiten bleiben. Da mache ich mir schon lange nichts mehr vor.

So wundert es auch nicht, dass ich mich auf dieser Welt andauernd fehl am Platz fühle. Auf der Arbeit und in der Familie ecke ich an, weil ich zudem mein Herz auf der Zunge trage und fälschlicherweise glaube, in meinen Zeitgenossen Gleichgesinnte gefunden zu haben.

Hier ein aktuelles Beispiel für mein Dilemma. Auf der Arbeit benenne ich die Dinge, die besser laufen könnten und jeden anstinken, weil sie alles verkomplizieren. Ich bringe Vorschläge, wie es besser laufen würde, während sich die Kollegen bei dem anschließenden Donnerwetter aus der Chefetage klammheimlich verkrümeln. Und ich stecke die Prügel ein. Prügel im Sinne von: Ich bekomme das mieseste Projekt aller Zeiten aufgebrummt.

In meinem Fall geht es um eine Werbekampagne für ein Raumspray mit der Duftnote von Frikadellen. Kein Scheiß, ein Raumspray mit Frikadellenduft.

Abartig, oder?

Finde ich auch. Obendrein wurde von ganz oben angeordnet, dass mich kein Mitarbeiter unterstützen darf. Das waren die Worte meines Chefs.

Hat fantastisch funktioniert, Thea.

Augenblicklich mache ich mir aber keine Gedanken darüber, wie ich das Frikadellen-Duftspray-Projekt an den Mann oder die Stubenfliege bekomme, denn der Typ tanzt tatsächlich näher und mustert mich interessiert. Kein Witz, er mustert mich extrem interessiert und tanzt dafür sogar ein, zwei Extrarunden um mich herum.

Sieht so aus, als würde mein Hormonhaushalt, dank einer durchzechten Liebesnacht, endlich wieder auf Normalniveau herabsinken. Sofern er nicht durch den Flirttest fällt. Alle Themen rund um Drogen, sexistische Anmachen und ermüdende Männerthemen, wie Autorennen, Fußball oder Handwerken, schläfern um diese Uhrzeit logischerweise ein.

Nun gut. Ich schaue, ob er den Test besteht, und schenke ihm in dieser Sekunde ein hinreißendes Lächeln samt dauerhaftem Blickkontakt. Keine drei Sekunden später umfasst seine Hand meine Taille, weil mein lächelnder Mund dazu einlädt.

Yippie-yah-yeah Schweinebacke.

Die spannende Phase startet, in der zwei Menschen einen gemeinsamen Takt suchen und die von der Euphorie geprägt ist, die das fremde Gegenüber heraufbeschwört.

»Was los?«, lallt eine überlaute, betrunkene Stimme.

Schlagartig reißt sie mich aus dem Entzücken und der Schwerelosigkeit meines Geistes.

»Ich sagte, Flossen weg von meiner Braut!«

»Kein Ding, dann nimm se wech«, lallt eine mir vertraute Stimme.

Überrascht und suchend drehe ich mich um. Mitten in der tanzenden Menschenmenge entdecke ich meinen Arbeitskollegen. In der Firma teile ich mir mit ihm den kleinen, lieblosen Büroraum.

Vincent.

Stark angetrunken und auf schwankenden Beinen stehend schlägt er unbeholfen riesige Pranken fort. Die krallen sich an seinem Hemdkragen, packen ihn unsanft und schütteln ihn rabiat durch.

Willenlos, weil augenscheinlich betrunken, schlackert sein Kopf hin und her. Die Szene erinnert mich an eine Schulfreundin, die mit Hingabe Barbys Ken ähnlich durchgeschüttelt und ihm immerfort die Funktion einer Waschmaschine erklärt hat. Meiner Meinung nach einleuchtend, weil Ken sich immer gerissen davor gedrückt hat. Sein Argument: Geh mir damit vom Acker. Das ist Weiberkram, also mach du es.

Seine halbseidenen Ausflüchte habe ich voll daneben gefunden. Ken ist noch nie mein Typ gewesen. Aber der von meiner Freundin. Fatalerweise ist sie nie ihren Kinderschuhen entwachsen und hat Ken nun im Großformat zu Hause herumsitzen. Samt drei Kindern und einer ausgewachsenen Depression.

Zurück zu Vincent.

Der hängt wie ein nasser Sack an den Pranken von dem Tarzan aus dem Dschungel der Vorstadt.

»Sach ich doch, Flossen wech«, amüsiert er sich mit einem besorgniserregend dümmlichen Grinsen, welches ihm bis zu den Ohren reicht.

Was folgt, ist klar, logisch und konsequent. Das groß gewachsene Tarzan-Double zerrt Vincent mühelos von der Tanzfläche. Die gertenschlanke Jane schaut zu, schenkt ihm dafür Luftküsschen und himmelt ihren Liebsten an.

In Anbetracht seines lädierten Zustands hängt Vincent auch jetzt wie ein nasser Sack in dem muskulösen Arm des Hünen und kann sich nicht gescheit wehren. Oder fortlaufen. Wie ein Mann.

Ein nüchterner Mann. Oder wie der tollkühne Casanova, der sofort die Beine in die Hand genommen hätte, um sich nicht duellieren zu müssen.

Frei nach dem Motto: Stumpfes Kartoffelmesser gegen Samuraischwert, David gegen Goliath … zurück zu meinem Arbeitskollegen, der mit nur einer Hand problemlos von der Tanzfläche geschliffen wird.

Vincent entfährt ein stöhnendes ›Oh‹. Das ist aller Wahrscheinlichkeit nach nicht der durchaus angebrachten Furcht geschuldet, sondern dem Drehwurm, der ihn durch die stürmische Bewegung überkommt.

Kurzerhand sause ich hinterher. »Vincent?«

Gerötete Augen, die den Eindruck erwecken, er hätte seit drei Tagen keinen Schlaf bekommen, suchen mich in der Menschenmenge, als wäre meine Stimme eine Halluzination. Schlagartig erstirbt das einfältige Grinsen, nachdem mich die wenigen Hirnzellen erkennen, die trotz seines enormen Alkoholkonsums funktionstüchtig scheinen.

»Thea. Guck ma! Hah, hah, äh …«

Tanzende springen zur Seite oder werden kurzerhand mit rücksichtslosen Stößen aus dem Weg befördert. Der blonde und wutentbrannte Riese, der die Ehre seiner Dschungelkönigin verteidigt, geht für meinen Geschmack echt eine Spur zu rabiat vor und fackelt offenbar nicht lange.

»Thea! Guck ma! … Alter … Äh, Flossen wech«, lallt Vincent.

Ansatzweise wehrt er sich unkoordiniert gegen den festen Griff der Hand. Das Ergebnis seiner Bemühungen ist lachhaft, denn die stemmt ganz sicher regelmäßig einiges an Gewichten in der Muckibude und verspeist Männer wie meinen Arbeitskollegen zum Frühstück. Ungelogen, er wirkt, wie ein Schrank von einem Mann, neben dem jeder wie ein Hänfling ausschaut.

Erst recht der betrunkene Vincent.

»Stoppst du mal bitte kurz?«, frage ich den Hünen, sobald ich ihn erreiche und am Oberarm berühre.

»Was willst de?«, schreit er mir ungehalten ins Gesicht.

»Ähm, das ist mein Arbeitskollege und ganz sicher harmlos.«

»Die Assel? Harmlos? Nee.«

Prüfend sehe ich sicherheitshalber zu Vincent. Doch, doch, er ist harmlos. Er grinst mich freudestrahlend an und bekommt beide Augenlider nicht koordiniert.

»Sieh mal genau hin. Also, auf mich wirkt er harmlos.«

»Harmlos ist der erst, wenn ich ihm draußen die Fresse poliert habe und er sich merkt, wie er mit Frauen umzugehen hat.«

»Ich sagte nicht, er wäre schlau, was Frauen betrifft. Ich sagte lediglich, er ist harmlos. Schau ihn dir genau an. Der ist ganz, ganz harmlos für dich. Sogar ein Siebenjähriger wird in diesem Zustand mit ihm fertig. Glaub’s mir mal.«

»Ich poliere ihm trotzdem die Visage, weil er meine Freundin rubbeln wollte.«

»Ach, hat er das gesagt?«

Tja, das überrascht mich jetzt in der Tat. Bislang habe ich ihn nicht für derart von sich eingenommen erlebt. Fragend schaue ich Vincent an. Der schiefgelegte Kopf und das um einiges dümmere Grinsen lassen mich aufseufzen, weil sich die Wahrheit zu deutlich darstellt.

Aber was will er mit so einer aufgetakelten Bordsteinschwalbe? Egal, der interessierte Typ wäre auch nicht mein Traummann, trotzdem lasse ich mich nachher von ihm rubbeln.

Halb liegend, halb stehend erfleht Vincent mit seinen blaugrauen Augen meine Hilfe und bestätigt mit einem selten dämlichen Grinsen die Worte von Tarzan. Alkohol macht blind für die Realität scheint mir.

Andererseits ist es seine Sache, wenn er sich ausgerechnet mit Tarzans Königin paaren möchte. Da muss er eben mit den Konsequenzen leben. Platte Nase, Bruch des Kieferknochens, ausgeschlagene Zähne …

»Du wolltest seine Freundin rubbeln, Vincent?«

Abermals bestätigt er. Von seiner plötzlichen Selbstüberschätzung überfordert, ächze ich fassungslos. »Und was ist mit deiner Ivette?«

Schlagartig verzieht sich sein Gesicht zu einer Grimasse. Er heult tatsächlich, wie ein Kleinkind los, wobei der ganze Körper bebt. Selbst seine mickrige Gegenwehr erstirbt jäh, als wolle er am liebsten auf der Stelle sterben, und ist bereit, den Weg des Fleisches zu gehen.

»Oh je, der is voll startklar«, kommentiert Tarzan Vincents völlige Ergebenheit in das unausweichliche Schicksal.

Für mich erklärt es den momentanen Hang, riskant zu leben. Oder todesmutig. Wie man es nimmt.

»Ja, so was von voll startklar. Wegen ’ner Assel«, erwähne ich erklärend.

Mir fallen die heimlich geführten Telefonate während der Arbeitszeit ein. Darin ist es um Treffen mit der Familie gegangen. Darum, endlich Nägel mit Köpfen zu machen und um Zukunftspläne, die er sich rosarot mit seiner Ivette ausgemalt hat.

»Scheiße«, flucht Tarzan, weil Vincent immer enthemmter seinen Emotionen freien Lauf lässt und ihm diese peinlich zu sein scheinen.

»Du sagst es.«

Beflügelt von dem Wunsch, sich dieses Häufchen Elend schnellstmöglich vom Hals zu schaffen, schleift der Mann ihn zur Ausgangstür. Der heulend Hinterhergeschliffene leistet keinerlei Widerstand und gibt sich genüsslich seiner Verfassung hin. Unkoordiniert fuchtelt er mit den Armen in der Gegend herum und winselt, sich in seinem Elend suhlend, immerfort etwas von Ivette.

»War es das jetzt?«, höre ich hinter mir eine charmant klingende Stimme.

Der Lächelnde von der Tanzfläche sieht mich betrübt an. Unser Blickkontakt wurde rabiat an einem sehr interessanten Punkt unserer Annäherung durch dieses Häufchen Elend unterbrochen. Da ein Blick mehr als tausend Worte ausdrückt, erspare ich mir ebendiese und schaue zu Vincent.

»Sag mir wenigstens, wie du heißt.«

»Thea.«

»Schade, Thea.«

»Du sagst es.«

»Ein anderes Mal?«

»Wenn es dann auch noch passt.«

»Bin dabei. Warum heult er wie ein Schlosshund?«, fragt er mit Blick auf Hünen und Vincent, die sich in diesem Augenblick durch die Eingangstür quetschen. Keine leichte Aufgabe, denn grob geschätzt bitten an die hundert Leute geduldig wartend auf Einlass.

»Keine Ahnung, vermutlich wegen seiner Freundin. Ex-Freundin«, antworte ich zur Warteschlange sehend.

»Brauchst du Hilfe? Wir könnten ihn gemeinsam abliefern und danach … quatschen.«

»Ich schaffe ihn besser mit einem Taxi nach Hause, bevor er im Suff noch weitere Dummheiten anstellt. Wir quatschen ein anderes Mal.«

»Dann auf bald, Thea.«

»Auf bald«, verabschiede ich mich hastig.

Ich eile beiden Männern hinterher, die bereits am Bordstein ankommen. Einer sich vor Herzweh windend, der andere vom Gefühlsausbruch eines Geschlechtsgenossen absolut angeekelt.

»Ich übernehme ab hier, Tarzan. Danke.«

»Tarzan?«

Habe ich das laut gesagt? Shit.

»Ja klar, erinnerst du mich an Tarzan. Bei diesen Muskeln. Sind die natürlich oder hast du sie dir antrainiert?«

»Ich hatte die schon mit zwölf. Also eindeutig Natur.«

Zuckersüß lächele ich und klimpere obendrein effektvoll mit den Augenlidern. Du meine Güte! Wenn Vincent wüsste, wie weit ich mich hier aus dem Fenster lehne und diesen übertrieben mit Anabolika geschwängerten Körper ›bewundere‹. Echt mal. Das kann er nie wieder gut machen. Vor mir steht Hulk, der jeden Moment ohrenbetäubend und schreiend das Shirt zerfetzt. Und mein kornblumenblauer Arbeitskollege sucht sich genau dessen Eva zum Rubbeln aus.

Immerhin funktioniert meine listige Strategie. Hulk spannt die Muskeln am Brustkorb an, damit ich sie bewundere. Wenn er mich danach fragt, ob ich mal anfassen möchte, fühle ich mich genötigt, meinen Brustkorb ebenfalls anzuspannen und zu fragen: »Willst du auch mal anfassen?«

Zum Glück fragt er nicht.

»Dafür nich. Sehe ich ihn noch ma in der Nähe meiner Puppe, bekommt er definitiv meine Faust in die Fresse«, schnauft er wütend dreinblickend und hebt drohend seine rechte Pranke.

Die ist annähernd so groß wie eine Suppenschüssel aus Omas Zeiten. An dieser Stelle bin ich heilfroh, dass Vincent dieses gute Stück heute erspart bleibt.

Schwer schluckend und tief beeindruckt nicke ich. »Ich richte es ihm aus, sobald er wieder bei Verstand ist.«

Seinen Speichel abfällig ausspuckend, schaut er verachtend auf den wimmernden Vincent herab und stapft zurück in den gut besuchten Klub. Die Wartenden springen zur Seite, als käme der legendäre Hulk effektvoll vom Comic-Himmel herabgestiegen. Und jeder weiß: Wenn der durchdreht, sieht er grün.

Einmal tief ausgeatmet … Eins, zwei, drei. Danach lasse ich die Anspannung mit der Atemluft entweichen.

Wir stehen etwas abseits. Will heißen, Vincent kauert am Boden und ich stehe. Nun muss ich irgendwo mit dem Häufchen Elend hin und zücke mein Handy.

»Hallo, hier Thea Seidler, kann ich bitte ein Taxi bekommen. Ich stehe vor dem Jo-Jo. Danke. Bis gleich«, flöte ich hastig in das Handy, weil Vincent zeitgleich zur Seite rutscht und in die nahe gelegene Pfütze zu kippen droht.

Ich habe mich noch nie für sonderlich multitaskingfähig gehalten, aber an dieser Stelle scheine ich über mich hinauszuwachsen. Meine rechte Hand stützt Vincent, die linke hält das Handy ans Ohr. Glücklicherweise verkündet die freundliche Stimme der Taxivermittlung das baldige Eintreffen eines Wagens und ich widme mich vollends meinem betrunkenen Arbeitskollegen.

»Was ist los?«

»Ivette«, jammert er gedehnt und erweckt wiederum den Eindruck, er wäre fünf Jahre alt und hätte das heiß geliebte Lieblingsspielzeug im Kindergarten liegen gelassen.

»Ich bringe dich heim.«

»Ivette«, schnieft er und wirkt todtraurig. Er lässt seinen Kopf hängen, vollführt unbedachte Armbewegungen und weint um ein Haar wieder los.

»Na komm! Ich bringe dich zu deiner Ivette. Hier kannst du jedenfalls nicht bleiben. Stehst du auf, wenn ich dir aufhelfe?«

 

 

 

Kapitel 2

cannabis-1032119_1280.png

 

Die Spiegelung auf der regennassen Straße kündigt kurz darauf das sich nähernde Taxi an. Mühsam hieve ich den kraftlosen Körper meines Kollegen hinein. Ich gebe seine Adresse an, schnalle uns vorschriftsmäßig an und lehne Vincent behutsam gegen die Kopfstütze. Undeutlich brabbelt er etwas in seinen Bart hinein, was ich nicht beachte und lieber aus dem Seitenfenster zusehe, wie die Häuser und beleuchteten Straßenzüge vorbeifliegen.

Vor Vincents Wohnhaus angekommen, halten wir. An dieser Stelle bin ich heilfroh und unglaublich erleichtert, dass er vor ein paar Tagen in einem Gespräch beiläufig erwähnt hat, wo er wohnt. Ich bezahle die Fahrt und helfe dem drei Meilen gegen den Wind nach Fusel riechenden Betrunkenen auf die wackeligen Beine.

Während ich ihn gegen die Hauswand gelehnt in Position halte, suche ich das Namensschild. Der Eingangsbereich des Altbaus ist unbeleuchtet, wodurch ich große Mühe habe, die Namen zu entziffern. Endlich finde ich ihn.

Vincent Spieker.

Perfekt.

Daneben ist der mit Edding handschriftlich ergänzte Hinweis ›& Ivette‹ zu lesen. Umgehend drücke ich den Klingelknopf. Eine Weile vergeht, bevor sich eine unfreundliche Frauenstimme an der Wechselsprechanlage meldet. »Was?«

»Hallo Ivette«, trällere ich gut gelaunt. »Hier ist Thea, eine Arbeitskollegin von Vincent. Ich habe ihn sturzbetrunken in einem Klub aufgegabelt und schaffe ihn dir hinauf.«

Geräuschvoll klackt es, weil sie auflegt. Geduldig warte ich einen Moment und lausche dem erlösenden Geräusch des Türöffners. Der ertönt jedoch nicht.

Schon gut. Ganz ruhig, Thea. Kein Problem. Vermutlich zieht sie sich rasch etwas über und kommt mir helfen, um ihn gemeinsam mit mir die Treppenstufen hinaufzuschaffen.

Ich warte.

Und warte.

Auch nach weiteren Minuten tut sich nichts. Kein Licht im Hausflur, keine Schritte auf der Treppe, keine Ivette. Erneut klingele ich.

»Waaas?«

Ihre genervte Stimme und dieses langgezogene ›Waaas‹ nerven mich genauso wie sie vermutlich meine Klingelei und Hartnäckigkeit anstinkt.

»Machst du auf?«, erkundige ich mich mit einer unzufriedenen Nuance im Unterton.

»Nein.«

»Nein?«

»Richtig gehört: Nein.«

»Das kann nicht richtig sein.«

»Wieso nicht?«

»Na, er wohnt doch hier.«

»Ab heute nicht mehr.«

Erneut knackt es in der Wechselsprechanlage. Wieder legt sie den Hörer auf.

Hallo?

»Das gibt es doch gar nicht«, murmele ich und klingele nochmals.

Diesmal vorsichtshalber Sturm, um nicht überhört zu werden und sie noch ein bisschen mehr zu nerven. Mein Verhalten ist schließlich allein der Gesamtsituation geschuldet.

Mit nur einer Hand halte ich Vincent aufrecht. Die andere malträtiert den Klingelknopf, bis das Läuten hoffentlich schnell einen Kurzschluss bei Ivette verursacht.

»Willst du mir jetzt auch auf den Geist gehen?«

»Mach mal schön halblang, Ivette! Mich interessiert euer Ding nicht. Vincent ist stark angetrunken und kann nicht auf der Straße übernachten, also mach endlich auf.«

Ein ätzendes Geräusch ertönt und lässt meine Haare aufrecht stehen. Es knistert und schabt entsetzlich. Ich höre eindeutig das Kratzen eines Hörers auf vergilbter Plastik, was mir eindeutig klarmacht, dass sie die Tür nicht öffnen wird.

»Ivette«, nuschelt Vincent neben mir, als bekäme er meine Verwunderung über das wiederholte Auflegen mit.

Seine Beine wollen ihn nicht mehr tragen, was ich absolut nachempfinden kann. Auch mir sacken sie um ein Haar weg. So etwas gibt es doch nur in Träumen oder schlechten Spielfilmen.

Mit dem Rücken an der Hauswand lehnend rutscht der volltrunkene Vincent zu Boden. Wie ich dem hilflosen Möchtegern-Casanova zusehe, packt mich der Ehrgeiz. Ich versuche, eine Lanze für ihn zu brechen, und foltere für mehrere Sekunden und in regelmäßigen Intervallen den metallischen Klingelknopf, bis die Messingfarbe abscheuert.

Allein es nützt nichts. Ivette reagiert auf gar nichts mehr.

Zu den dunklen Fenstern hinaufsehend rufe ich zusätzlich mehrmals und lauthals: »Ivveetteee!«

In einigen der Fenster erkenne ich Lichter. Allerdings war ich noch nie bei den beiden zu Hause, daher weiß ich nicht genau, welche zu seiner Wohnung gehören. Rufen und nerven muss doch irgendwas bewirken, darum tue ich für meinen hilflosen Arbeitskollegen alles, was in meiner Macht steht.

»Ivveetteee!«

»Ist längst im Bette«, antwortet eine ärgerliche Stimme, nachdem ich zum x-ten Mal ihren Namen brülle.

»Sehr witzig«, lautet mein trockener Kommentar, weil jetzt jemand ein Fenster öffnet und seinen grau bewachsenen Sportplatz mit Hecke aus dem Fenster hält. Obwohl … wenigstens ein Erdenbürger reagiert auf meine geräuschvollen Bemühungen, die nichts weiter als blanke Hilferufe sind.

»Gehen Sie nach Hause und schreien Sie nicht mitten in der Nacht die halbe Nachbarschaft zusammen, junge Frau.«

»Das ist eine schöne Nachbarschaft, wenn es ihr egal ist, ob ein Nachbar vor der Haustür elendig erfriert. Ivveetteee!«, probiere ich erneut und drei Nuancen dröhnender.

»Nur zu, rufen Sie! Derweil informiere ich die Polizei.«

»Ivveetteee!«, schallt mein mittlerweile heiseres Rufen durch die Nacht.

Nichts passiert. Dummerweise setzt Nieselregen ein. Die angedrohte Staatsgewalt lässt ebenfalls auf sich warten. Immer erst eine dicke Lippe riskieren, hinter der im Endeffekt nie was dahintersteckt.

Aber so ist es ja meistens.

Mein betrunkener Arbeitskollege hockt zusammengekauert auf dem nasskalten Boden, jammert herzzerreißend vor sich her und spielt Pingpong mit meinen strapazierten Nerven. So oder so bewirke ich hier heute scheinbar nichts. Ich weiß nicht, was zwischen beiden vorgefallen ist. Eines scheint hingegen Fakt zu sein: Ivette ist sauer auf ihn.

Warum auch immer.

Doch wohin mit Vincent? Eine schnelle Entscheidung muss her, zumal ich nicht ewig im Fisselregen stehen und planlos herumschreien mag.

Kurzerhand zücke ich mein Handy aus der Hosentasche, denn ihn hier vor der Haustür abzulegen und ihn sich selbst überlassen, als wäre er ein Stück Holz, bringe ich nicht über das Herz. Die Temperaturen sind mild, schützen jedoch nicht vor einer Auskühlung. Kommt es hart auf hart, kann diese ihm schlimmstenfalls das Leben kosten. Mal ganz davon abgesehen geht es in meinen Augen gar nicht, Betrunkene sich selbst und ihrem Schicksal zu überlassen.

Deshalb nehme ich ihn für diese Nacht mit in meine Wohngemeinschaft. Da ist es trocken, warm und … egal, ich bin im Stress und habe komplett vergessen, was ich sagen wollte.

Jedenfalls kann er in aller Ruhe ausnüchtern und morgen früh seine Angelegenheit klären. Heute wird das ja offensichtlich nichts mehr. Wie auch? Er kann nicht einmal mehr aufrecht stehen oder sich gescheit artikulieren.

Es läutet und ich warte geduldig, bis sich eine Frauenstimme aus der Taxizentrale meldet.

»Guten Abend, hier Seidler. Ich stehe in der Feldstraße neun und brauche ein Taxi in die Dimitriestrasse. In fünf Minuten? Ja, wunderbar. Danke Ihnen.«

Einen heiseren Seufzer ausstoßend lege ich auf und verstaue das Handy in die Hosentasche. Bis das Taxi um die Ecke biegt, muss ich Vincent in die Höhe bekommen. Auf geht’s.

»Vincent, das Taxi kommt gleich. Kannst du aufstehen? Hier, nimm meine Hand, dann geht es einfacher. Ich bringe dich in meine WG und morgen redest du mit Ivette.«

»Vette?«

»Komm hoch. Ja, gut so und genau, morgen früh gehst du zu deiner Ivette und klärst alles mit ihr.«

»Ist im Bett«, kichert er und rülpst derart geräuschvoll, dass beinahe die Wände des Wohnhauses wackeln.

»Schon gut. Ivette ist im Bett, verstehe. Meine Fresse, da hat aber einen Clown gefrühstückt. Puh, da kommt endlich unser Taxi.«

 

C C C

 

Keine halbe Stunde später schließe ich die Wohnungstür auf und stolpere mit Vincent in den Flur. Geschätzt wiegt er Tonnen. Minimum. Ich bin völlig erledigt und schnaufe wie eine alte Dampflok bei einer zu hohen Steigung.

Im gemütlich eingerichteten Wohnzimmer sieht es romantisch aus. Klaas und Fiona sitzen bei Kerzenlicht, einem gepflegten Glas Rotwein und unterschiedlichen Knabbereien vor dem Fernseher. Beide schauen mich ungläubig an, sobald ich mit Vincent in der offenen Wohnzimmertür erscheine.

Fiona, mit der ich seit dem Studium diese Wohnung teile, reißt ihre Augen auf und kaut hektisch drei PomBären auf einmal. »Wie jetzt? Einen Nüchternen hast du dir nicht aufreißen können oder ist der als Einziger übriggeblieben? Ha, ha, du schwächelst eindeutig, Thea«, kichert sie und findet ihren Kommentar auch noch überaus witzig.

»Ich schwächele nicht, Fio. Das ist mein Arbeitskollege.«

Verständnislos schüttelt sie den Kopf und greift noch einmal in die Chipstüte. »Oh mein Gott, umso schlimmer. Wie war das noch? Im Flirt-Gesetz Paragraf drei Absatz vier steht: Fange nie was mit Arbeitskollegen an.«

»Ja, nee, klar. Darum hast du dir auch Klaas geangelt.«

Jetzt wirft sie die Chipstüte auf den Beistelltisch und schaut mich angekratzt an. »Klaas arbeitet auf Station drei und ich auf der Acht, also was willst du jetzt von mir?«

»Wie wäre es mit Hilfe? Er ist schwer.«

Mit dem Finger deute ich zu Vincent, der wie ein Schluck Wasser an mir hängt und vergeblich versucht, seine Hand zum Gruß zu heben. Klappt leider nicht, daher schaut er mich an.

Und rülpst.

Danke für die Blumen.

»Er hat sich garantiert volllaufen lassen, weil es daheim Stress gegeben hat. Seine Trulla macht die Tür nicht auf. Ach Mensch, ihr habt euren Filmfreitag«, murmele ich unter der schweren Last des großen Mannes.

Klaas springt auf, wirft Fiona einen strafenden Blick für den albernen Kommentar zu und eilt mir entgegen. Dankbar für die Hilfe übergebe ich Vincent sofort. Der grinst nochmals dümmlich und schwankt Klaas freudig, aber verworren brabbelnd in die Arme.

»Oh je, der hat es aber echt übertrieben, was?«, murmelt Fiona, die ihr brünettes Haar zu einem Dutt gezwirbelt hat und mir nun ebenfalls entgegen trabt.

»Wohin mit ihm?«, möchte der hilfsbereite und anpackende Klaas wissen.

»Das Wohnzimmer gehört heute euch. Tja, da bleibt nur mein Bett übrig. Bedauerlicherweise haben wir keine Badewanne.«

Eifrig nickt Fiona und breitet im Türrahmen stehend sicherheitshalber ihre Arme aus, um den Weg ins Wohnzimmer zu versperren. Das geht schon in Ordnung und ich bin deswegen nicht böse. Ich verstehe, warum sie auch in dieser Ausnahmesituation nicht auf ihren gemeinsamen Filmfreitag verzichten mag und das Sofa nicht freiwillig hergibt.

Ein Blick von meiner Mitbewohnerin und Freundin auf Klaas genügt, damit er ihn gehorsam in mein Zimmer befördert.

»Du solltest ihm vorher wenigstens Hände und Gesicht waschen. Wer weiß, wo er damit überall zugange war. In der Zwischenzeit organisiere ich einen Eimer«, rufe ich eilends hinterher und wende mich flugs an Fiona. »Mann, Mann, Mann, ich hatte gerade einen an der Angel.«

Fiona grinst breit und versteht endlich, warum ich unzufrieden dreinblicke. Mehr schleifend als laufend schleppt Klaas den lallenden Vincent ins Bad, um den Teil mit der Hygiene zu übernehmen, während ich einen Putzeimer im Haushaltsschrank suche.

Der bis zum Rand vollgestopfte Schrank erweist sich als widerspenstig und gibt den Eimer nicht her. Alles purzelt wahllos heraus. Nur nicht das, was ich suche.

»Blöde Kacke aber auch«, fluche ich.

Frustriert trete ich gegen Handfeger und Schaufel, die sogleich herauspurzeln. Wütend zerre ich den Eimer aus der hintersten Ecke hervor. Fiona erscheint neben mir. Sie schiebt mich zur Seite und übernimmt den Part.

»Hat er sich etwa auf der Arbeit betrunken?«, erkundigt sie sich und reicht mir den Putzeimer.

»Blödsinn. Ich habe ihn im Jo-Jo getroffen, wo er sich mit einem Schrank von Mannsbild angelegt hat. Im Suff hat er sich an dessen Freundin rangemacht. Seit dem Team-Meeting heute Morgen könnte ich alles kurz und klein hauen, so wütend bin ich auf die ganze Welt. Und jetzt kann ich noch nicht einmal gescheit Dampf ablassen und anständig Mitternachtssport treiben.«

»Wie hat dein Chef eigentlich reagiert?«

»Na, wie schon. Wie Affenärsche halt für gewöhnlich reagieren. Er hat mich nach allen Regeln der Kunst vorgeführt. Der Rest der versammelten Mannschaft hat sofort die Klappe gehalten und betreten weggeschaut. Zum Dank für meinen gewagten Vorstoß darf ich das behämmerte Frikadellen-Raumspray-Projekt übernehmen. Das, was keiner haben wollte. Es nervt mich dermaßen, dass ich mal wieder für alle in die Bresche springe und die lieben Kollegen nach dem Rüffel betreten in eine andere Richtung geschaut haben, als wäre ich nicht existent. Echt typisch.«

Tröstend berührt ihre Hand meinen Ellenbogen, doch für eine Antwort bleibt keine Zeit. Klaas benötigt Unterstützung im Bad, daher eilt sie zu ihm. Vincent jammert, lacht und rülpst, wobei die Reihenfolge ständig wechselt und von beruhigenden Worten meiner Mitbewohnerin untermalt wird.

Nachdem ich den Eimer und mehrere Geschirrtücher neben meinem Doppelbett deponiere, schleppt Klaas den Betrunkenen in das Zimmer und setzt ihn auf die Bettkante.

»Wir sollten ihn besser ausziehen.«

»Diese Entscheidung überlasse ich dir. Ich fasse ihn jedenfalls nicht an, weil ich keine Klage wegen sexueller Nötigung riskieren möchte. Vergiss nicht, er ist betrunken. Du weißt ja, wie unfreundlich Klagen mitunter enden können. Außerdem genügt mir mein grapschender Chef, der gnadenlos seine Position ausnutzt und genau weiß, dass bei einer Anzeige Aussage gegen Aussage steht«, entgegne ich abweisend, hebe abwehrend beide Hände und schlüpfe schnellstens zur Tür hinaus.

In der Küche angekommen, genehmige ich mir einen Schluck aus der geöffneten Weinflasche. Die ist vom gemeinsamen Abendessen übriggeblieben. Wohltuend kitzelt der Wein in der Kehle, erwärmt sofort den Magen und beruhigt halbwegs mein überstrapaziertes Gemüt.

Fiona kommt in die Küche geschlendert. »Machst du wieder los?«

»Mein Fang für heute Nacht hat sich durch ihn erledigt. Obendrein ist mein Bett blockiert und mit fremden Typen gehe ich prinzipiell nicht mit. Weißt du doch. Tja, da habe ich wohl Pech. Stell dir vor, seine Freundin hat nicht einmal die Tür aufgemacht. Die war voll abgebrüht. Unglaublich.«

»Hatten sie denn einen schlimmen Streit?«

»Scheint so, aber hätte ich ihn etwa volltrunken vor der Tür liegenlassen sollen? Nein, also wirklich, ein solcher Unmensch ist er nun wirklich nicht. Im Büro kam ich neulich dazu, als er trotz Handyverbot mit ihr telefoniert hat. Da konnte ich gewissermaßen eins zu eins mithören, dass es ihm ernst mit ihr ist. Für mich deutet alles darauf hin, dass er kurz zuvor um ihre Hand angehalten hat. Nachtigall, ick hör dir trapsen.«

»Oh, Mann. Dann hat er bei einer Abfuhr allen Grund, sich ordentlich einen zu genehmigen. Der arme Kerl. So etwas ist nie schön.«

»Das war mehr als einer, den er sich genehmigt hat. Und ja, da hat er den Abschuss nötig. Lassen wir ihn in Ruhe ausschlafen. Morgen früh kann er die Sache klären.«

»Er ist echt voll, aber auf irgendeine Art auch süß.«

»Du bist mit Klaas zusammen.«

»Na und? Deswegen bin ich doch nicht automatisch blind. Außerdem ist gucken erlaubt. Gegessen wird ausschließlich zu Hause. Er sieht verwegen aus. Verwegen mit Senfsoße. Lecker.«

»Wie sieht verwegen mit Senfsoße aus?«

»Abenteuerlustig, furchtlos, wagemutig, amüsant …«, schwärmt sie und verleiert kunstvoll die Augen.

»Du meinst, als ob er in einer knallbunten Shorts steckt und sein sonnengebräunter Oberkörper alle Frauen um den Verstand bringt? Ich wusste gar nicht, dass du voller Klischees steckst.«

Gemeinsam kichern wir und stellen uns Keanu Reeves in ›Gefährliche Brandung‹ vor. Ich reiche ihr die Weinflasche, damit sie ebenfalls von dem süffigen Rotwein aus Frankreich probiert. Am Rande stelle ich allerlei kühne Überlegungen an, wie Vincent am Strand mit einem Surfbrett wirkt. Zumindest, wenn er die spießigen Krawatten gegen legere Strandklamotten eintauscht.

Falls er sie eintauscht.

»Na, ihr zwei Grazien. Was tuschelt ihr hier so konspirativ?«, erkundigt sich Klaas, der die Küche betritt.

»Unanständige Sachen über dich«, antwortet Fiona honigsüß lügend, kuschelt sich in seine Seite und schaut verliebt zu ihrem Freund auf.

»Ihr zwei seid unglaublich hilfreich gewesen. Geht ihr euren Film weiterschauen. Ich bleibe hier und sehe gelegentlich nach, ob es ihm gut geht.«

»Vorsorglich habe ich ihn in die stabile Seitenlage gelegt.«

Klaas ist angehender Arzt und genau der richtige Mann zur richtigen Zeit. Er weiß, was zu tun ist.

»Danke dir, Klaas. Du bist mein Held im Erdbeerfeld.«

Hand in Hand schlendert das verliebte Paar ins gemütlich eingerichtete Wohnzimmer, wo sie leise die Tür hinter sich schließen. Ich widme mich dem restlichen Wein in der Flasche und schlurfe schlecht gelaunt zum Balkon.

Dort angekommen, lege ich meine Füße auf das Geländer, nachdem ich bequem sitze. Gedankenverloren schaue ich in die beleuchteten Fenster des Innenhofes.

Zum Glück ist der Nieselregen inzwischen weitergezogen. Alles halb so schlimm. Wäre wunderbar, ich könnte es mit den kleinen Nöten in meinem Leben genauso halten. Ob die Menschen, die hinter den Fenstern wohnen, sich das auch wünschen?

Wer braucht schon kleine und große Sorgen? Einerlei, wie nichtig sie erscheinen. Alle streben nach Glück, Reichtum, Zufriedenheit und verbinden es mit dem modernen Leben, das unsere Wegwerfgesellschaft bis zur Ohnmacht zelebriert. Auf diese riesengroße Lebenslüge trinke ich einen gewaltigen Schluck.

Zum Wohl.

Ein Seufzen entfährt meine Kehle, weil mich das unweigerlich zurück zur aufgebrummten Sonderarbeit führt. Vermassele ich dieses bekloppte Projekt, beschleunige ich meine Kündigung.

Ich bin aber auch so ein selten dämliches Rindvieh. Anstatt meine Klappe zu halten und mich gemütlich im Strom treiben zu lassen, lehne ich mich ständig zu weit aus dem Fenster. Wie so oft in der Vergangenheit. Andernfalls würde ich nicht allein auf dem Balkon sitzen. Ich hätte längst einen Mann, zwei Kinder und einen Familienhund, der nie aufs Wort hört und sich bei Autofahrten ständig übergibt.

Auf die Erkenntnis des Tages trinke ich den Rest Wein. Und zwar in einem großen Zug.

Schließlich ist es eine große Erkenntnis.

 

 

 

Kapitel 3

cannabis-1032119_1280.png

 

Atemlos schrecke ich auf. Mit Ellbogen auf dem Knie abgestützt, bin ich auf dem Balkonstuhl sitzend eingeschlafen. Ein unangenehm taubes Gefühl in meinen Fingern hat mich gottlob aus dem wirren Traum geweckt, in dem ich einen schlafenden Wolf attackiert und vertrieben habe.

Jetzt fühlt sich der Arm derart abgestorben an, als gehöre er nicht zum Rest des Körpers. Weil ich dieses Gefühl absolut nicht ausstehen kann, springe ich panisch auf und schüttele, knete und massiere hektisch die Stelle, bis das Blut ungehindert in die Fingerspitzen fließt.

Schlaftrunken schaue ich mich in dem Innenhof um. Erste Vöglein zwitschern in den Ahornbäumen, obwohl die träge Morgensonne gerade einmal ihre ersten Strahlen über die Stadt ausbreitet. Ich fühle mich wie gerädert und möchte mich liebend gerne irgendwo ausstrecken, darum schlurfe ich zurück in die Wohnung.

Die Wohnzimmertür ist noch immer geschlossen. Demnach sind die beiden Turteltauben noch nicht in Fionas Zimmer übergesiedelt. Im Halbschlaf schleppe ich meinen schlafbedürftigen Körper in die finstere Küche zurück. Blind tastend suche ich mein Handy, das irgendwo auf dem Tisch liegt. Der grelle Lichtschein des Displays zeigt mir die Uhrzeit an, nachdem ich es finde.

Es ist vier Uhr morgens durch. Ich fühle mich platt wie eine Flunder. Oder anders ausgedrückt, als wäre die komplette Nacht hindurch ein tonnenschwerer, vollbesetzter Bus genüsslich über meine Arme und Beine gefahren. Wohlgemerkt mehrmals.

Ein ätzendes Gefühl.

Kraftlos schlurfe ich zu meiner Zimmertür. Möglichst geräuschlos drücke ich die Türklinke hinab und spähe durch den so entstandenen Spalt.

Der Raum ist abgedunkelt, winzig und beinhaltet lediglich das Nötigste. Mein Doppelbett nimmt den größten Teil des Zimmers ein und befindet sich mittig an der Wand. Rechts daneben stehen ein Kleiderschrank, ein Sessel und eine Kommode mit ein paar Stumpenkerzen, die ich darauf dekoriert habe. Auf der anderen Seite des Bettes steht mein Schreibtisch. Eine ausgediente Zimmertür wurde zweckentfremdet und dient als Tischplatte. Sie ist vollkommen abgewetzt, aber unglaublich geräumig, sodass ich sie inzwischen lieb gewonnen habe und die praktische Seite an ihr zu schätzen weiß.

In meinem gestern erst frisch bezogenen Bett liegt der leise schnarchende Vincent. Er hat sich keinen Millimeter bewegt. Meine Befürchtung, er könnte sich übergeben, ist gottlob unbegründet gewesen. Zum Glück bleibt mir dadurch unangenehme Arbeit erspart.

Erleichtert, atme ich aus und schleiche näher heran. Vincent schläft tief und fest, wie ein Baby. Beruhigend, denn bei Betrunkenen weiß man ja nie.

Um ihn dennoch im Auge zu behalten und es halbwegs bequemer zu haben als auf dem schmalen, klapprigen Balkonstuhl, setze ich mich auf den Fußboden vor meinem Kleiderschrank. Nachdem er sich nach über einer Stunde nicht bewegt oder sich übergibt, fallen mir alle paar Minuten meine bleischweren Lider zu. Gelegentlich kippe ich zur Seite und fahre jedes Mal erschrocken auf.

Das ist tierisch unbequem.

Sterbensmüde und vom anstrengenden Tag erschöpft, erhebe ich mich schwerfällig. Ich streife meine Hose von den Beinen und schleiche auf Zehenspitzen zur anderen Seite des Bettes. Die weiche Matratze ruft mich förmlich zu sich. Vorsichtig setze ich mich auf das Bett und lausche mit angehaltenem Atem in die Stille des Zimmers.

Keine Regung.

Super. Er schläft seinen Rausch aus.

Vermutlich wache ich ohnehin dreimal früher auf als er. Folglich lasse ich mich behutsam auf die äußerste Kante sinken, damit er mich auch weiterhin nicht bemerkt.

Ich schwöre: Ausgesprochen himmlisch fühlt sich das an. Auf der Stelle bin ich wieder einmal in mein komfortables Bett verliebt und sinke geradezu in die Federn.

Logischerweise beschränke ich mich auf die äußerste Kante. Schnell noch eine Hand unter das Kopfkissen geschoben …

Einen herzergreifenden Atemzug später bin ich auf einen erholsamen Schlaf eingestimmt. Ich schließe meine bleischweren, vor Müdigkeit brennenden Lider und sinke immer tiefer in die himmlische Schwerelosigkeit.

Eine süßliche Wolke steigt in meine Nase. Sanft mischt sie sich in den chaotischen Traum, in dem ich auf einem Marktplatz stehe und das verhasste Raumspray an den Mann und die Frau bringe. Ein unfreundlicher Mann besprüht mich mit süßlichem Parfüm und fordert lautstark, die Produktion des hässlichen Raumsprays endlich einzustampfen.

Eine Weile dauert es, bis ich völlig bei Sinnen bin. Danach bemerke ich umso deutlicher, was tatsächlich den Duft auslöst. Genauer gesagt, wer.

Vincent.

Mit ausgestreckten Armen und Beinen liegt er neben mir. Ähnlich wie ein schlummerndes, aber schnarchendes Baby, das sich komplett der Welt ergibt. Und ich schmiege mich mit meinem Gesicht an den Oberarm dieses riesengroßen Babys.

Ups.

Mit äußerster Vorsicht hebe ich meinen Kopf an, um ihn nicht in seinem Schlaf zu unterbrechen. Fehlt noch, dass er meine peinliche Kuschelaktion mitbekommt und mich im Büro jahrelang damit aufzieht. Behutsam ziehe ich mich Millimeter für Millimeter auf die äußerste Kante des Bettes zurück und bin heilfroh, weil er von all dem nichts bemerkt.

Du meine Güte. Hier ist was los, sage ich dir.

Der frühe Morgen zeigt sich schwerfällig in ersten, hellgrauen Lichtern, die durch das nach Norden ausgerichtete und abgedunkelte Fenster dringen. Im gleichen Tempo wie die aufgehende Sonne den Samstagmorgen ausruft, nicke ich erneut ein.

Keine Wolfsmeute jagt mich, keine Straßenbahn fährt davon, keiner demonstriert gegen das grässliche Raumspray. Ausschließlich eine angenehm warme Hand schiebt sich langsam auf meine Hüfte und bleibt dort liegen.

Schlagartig erwacht, halte ich den Atem an.

Das ist kein Traum. Unaufdringlich, aber unablässig bewegt sich die Hand über meinen Oberschenkel. Offenbar sucht sie etwas. Schließlich findet und liebkost sie sachte meine Haut.

Oh Schreck!

Mein Emotionsdingsbums in der Amygdala reagiert in Millisekunden. Bis zum Knie stehen sämtliche Härchen aufrecht. Doch das ist noch nicht alles. Die sanft kreisenden Fingerspitzen beantworten meine körperlich logische Reaktion mit dem weiteren Ertasten meines Oberschenkels.

Prompt schalten sich der Thalamus und die Hirnrinde ein. Wie gewöhnlich sind sie spät dran und lassen sich ausreichend Zeit, um die Situation zu bewerten.

Wie ich schnell merke, wollen beide mehr davon. Alles andere wäre in meinem Alter und mit dreihundert Prozent Hormonstau in den Eingeweiden gewiss unlogisch.

Es besteht kein Irrtum und ich träume unglücklicherweise nicht. Mein Arbeitskollege kuschelt sich an meinen Rücken. Zwar macht er das vor Trunkenheit benebelt und mich mit Ivette verwechselnd, aber auf diese Art und Weise entstehen vermutlich eine Menge Kinder.

Ich lebe gefährlich, weil zu allem Überfluss jetzt auch noch meine Hormone auf Touren kommen. Das geht eindeutig zu weit. Zumal die Gänsehaut sich keineswegs zurückbildet und er es missversteht.

Missverstehen muss.

Energisch schiebe ich seine Hand fort und erhebe mich sachte. Pustekuchen. Die Hand schlingt sich um meine Taille und zieht mich zurück ins Bett. Vincent grunzt zufrieden und vereitelt meinen durchaus nachvollziehbaren Plan, mich klammheimlich vom Tatort zu entfernen.

»Du riechst so gut«, murmelt er, mit Gesicht in meinen Haaren versenkt.

»Hallo«, mache ich ihn auf den offensichtlichen Irrtum aufmerksam und befreie mich stürmisch aus seiner festen Umarmung. In einem beherzten Satz springe ich aus dem Bett und schaue verständnislos auf ihn hinab. »Geht’s noch?«

Verschlafen blinzelt er mich an. »Häh?«

»Geht’s noch?«, frage ich erneut und suche im Halbdunkeln meine Haushose, die irgendwo auf dem Boden herumliegt.

»Ja, geht so. Warum fragst du? Habe ich etwa was Peinliches gemacht?«

Etwas Peinliches? Iwo, eher etwas absolut Menschliches, aber deswegen noch lange kein Grund, bis zum Äußersten zu gehen.

»Ich … ich gehe besser frühstücken«, stottere ich und bleibe die Antwort schuldig.

Im Gehen streife ich umständlich die Hose über die Hüfte und stolpere ohne weitere Erklärungen aus meinem Zimmer. Schnurstracks eile ich mit zittrigen Knien in die Küche. Dort angekommen, stütze ich mich auf den Küchentisch ab und schnaufe dreimal kräftig durch.

Unter keinen Umständen möchte ich riskieren, dass er mich mit meiner peinlichen Kuschelaktion aufzieht, daher werde ich umgekehrt auch nicht mehr aufbauschen als nötig.

Oh, mein Gott, Gott, Gott!

Wie peinlich sich diese blöden, verflixten Hormone mitunter aufführen. Seit ich vierzehn bin, schlage ich mich nun schon mit denen herum. Die scheinen rein gar nichts dazuzulernen und ziehen andauernd ihr eigenes Ding durch.

Na gut, was soll’s. Schließlich muss ich noch eine Weile mit ihnen leben und klarkommen. Für den Fall, dass Vincent etwas dazu sagt, antworte ich eben, dass er eiskalte Finger gehabt hat.

Wie bitte schön möchte er nachprüfen, ob ich ihn anlüge?

»Mama, ich sterbe«, jammere ich leise vor mich her und ziehe ein ganz tragisch dreinblickendes Gesicht.

Ist das peinlich. Nein, oberpeinlich.

Ach, was! Von wegen peinlich. Er hatte nur kalte Finger. Das klingt logisch, oder?

So ein Quark. Das klingt gar nicht logisch.

Om … er hatte richtig kalte Finger. Om … eiskalte Finger. So was von eiskalte Finger.

So, mein Kleinhirn begreift hoffentlich, was hier Phase und wer von uns beiden der Chef ist. Was mache ich jetzt?

Die Wohnzimmertür steht offen. Das Liebespaar hat sich in ihr kuscheliges Nest zurückgezogen. Ich setze einen frischen Kaffee an, überfliege das übersichtliche Angebot im Kühlschrank und entscheide mich für einen angebrochenen Fruchtjoghurt.

Das ist meiner. Von gestern Abend. Und es kommt auch niemand vorbei und erbarmt sich seiner, daher opfere ich mich.

Ich setze mich an den kleinen Küchentisch und löffele genüsslich den Himbeerjoghurt. Der Tisch ist mit etlichen, teilweise unnützen Dingen vollgestellt, für die sich niemand so richtig verantwortlich fühlt und noch weniger wegräumt. An einem Wochenende schon gar nicht.

Im Türrahmen erscheint Vincent. Ich bin gerade dabei, die Knäckebrotpackung beiseitezuschieben, damit mein Kaffee einen Platz findet.

Vincent streift sich sein Shirt über den Kopf, an dem die leicht gewellten Haare ungeordnet in alle Himmelsrichtungen abstehen. Bei diesem Anblick geht prompt meine Fantasie einen klitzekleinen Schritt zu weit und ich muss sie innerlich zurückpfeifen.

Geht doch wohl nicht an, dass mir beim Anblick der zerwühlten Haare alles Mögliche durch den Kopf saust. Also bitte einmal ganz tief einatmen und an eiskalte Finger denken.

Om mani padme hum …

»Hey«, grüßt er mit einem hinreißenden Lächeln.

Eiskalte Finger.

»Hunger?«, frage ich heiser, nachdem er sich mit den (eiskalten?) Fingern durch die Haare fährt, um dort so etwas Ähnliches wie Ordnung hineinzubekommen.

Das sieht zum Anknabbern aus. Kann ich helfen? Kann ich die auch einmal kurz zerwühlen?

Thea!

Om mani padme hum …

Eindeutig, aber scheu bewegt er bejahend seinen Kopf und schaut sich neugierig in der unaufgeräumten Wohnküche um. Das hier herrschende Chaos ist am Ende der Woche typisch. Fiona sieht Klaas nur dann und kümmert sich nicht um Hausarbeit. Ehrlich gesagt nutze ich die wenige freie Zeit an den Wochenenden ebenfalls zur Erholung, statt Putzdienst zu schieben.

Ich schiebe mir einen Teelöffel voll Joghurt in den Mund, stehe auf und deute mit meiner Hand auf den leeren Sitzplatz, der meinem gegenüberliegt. »Kaffee?«

»Wenn es keine Umstände bereitet, gerne. Danke.«

Ich brauche nicht großartig nachzufragen, wie er ihn trinkt. Im Büro holen wir uns den Kaffee gegenseitig aus der Küche. Deswegen weiß ich, dass er seinen ohne Milch, zuckerfrei, schön stark und am liebsten heiß trinkt. Die Kaffeemaschine setzt sich nach dem Knopfdruck glucksend in Gang und überbrückt die peinliche Stille.

Sie brummt, zischt und röchelt. Das gibt mir genügend Zeit, um zu überlegen, wie ich behutsam den gestrigen Abend thematisiere. Ob überhaupt. Immerhin sitze ich mit ihm in einem Büro und wir teilen uns eine riesige Bonbonschale, in die jeder gelegentlich etwas hineingibt. Gut, das handhaben andere Kollegen genauso in ihren gemeinsamen Büros, aber bei Vincent habe ich den Eindruck, dass er nicht mit Ellenbogen durch die berufliche Landschaft geht. Er ist höflich und hilfsbereit, wo andere mich zugunsten einer mittelmäßigen Karriere auflaufen lassen.

»Toast oder Müsli?«

»Ähm, nichts. Nur Kaffee bitte.«

»Nur Kaffee bitte … kommt sofort.«

Mit dem dampfenden und duftenden Pott Kaffee setze ich mich. Während ich ihn langsam über den Tisch schiebe, lehne ich mich auf meinen Stuhl zurück und betrachte ihn argwöhnisch.

»Wie bin ich hergekommen?«

»Mit einem Taxi.«

»Kann mich nicht daran erinnern.«

»Das wundert mich nicht. Du warst sternhagelvoll.«

»Hm, zumindest erklärt das die Kopfschmerzen. Ähm, … ist da zwischen dir und mir …?«

»Es wäre nett, wenn wir das Thema wechseln könnten.«

»Du wirkst verärgert. Habe ich etwa was Peinliches angestellt?«

»Was Peinliches angestellt?«, pruste ich übermäßig laut los. »Du hast Riesenglück, dass ich dich gestern Abend aufgegriffen habe, sonst hätte dich der Typ im Jo-Jo auseinandergenommen.«

»Welcher Typ?«

Ich beuge mich vor, sehe in seine blaugrauen Augen und schnaube verächtlich aus. »Du erinnerst dich nicht mehr an den lebenden Schrank, der dich mit nur einer Hand aus dem Klub gezerrt hat und nach Strich und Faden verprügeln wollte? Echt nicht?«

»Nein, aber an eine Frau mit einem Schmetterling aus neonfarbenem Tüll im Haar. Und das auch nur undeutlich, weil es mir buggy war. Den Typen habe ich schließlich nicht angebaggert, sondern seine Freundin«, murmelt er, pustet in aller Seelenruhe den heißen Kaffee kalt und mustert mich, weil ich noch immer vornüber gebeugt verharre und ihn skeptisch beäuge.

»Du bist völlig irre. Hat dir das schon mal jemand gesagt?«

Schlagartig ziehen sich seine Augenbrauen zusammen. Den Blick kenne ich zu genau. Gleich kommt das genaue Gegenteil von dem, was ich als Gesprächspartner erwarte.

»Wenn das ein Kompliment ist, dankt die Firma.«

Sage ich doch.

Eine Gegenbemerkung spare ich mir. Ich lehne mich lieber zurück, lege den Kopf schräg und verkneife mir jeden denkbaren Konter. Auf mich macht er einen angeschlagenen Eindruck. Allerdings steht mir nicht der Sinn danach, ihn dreist auszuhorchen, ob er wirklich wegen der Ablehnung seines Heiratsantrages zu tief ins Glas geschaut hat und Ivette ihn deswegen nicht mehr in die gemeinsame Wohnung lässt. Ich finde, das geht mich nichts an und ist seine Privatsache, in die ich nicht hineingezogen werden möchte.

»Wegen vorhin …«, setzt er an, ohne mich dabei anzusehen.

»Schon vergessen«, unterbreche ich ihn eilends und streife mir eine daumendicke Haarsträhne zurück, die andernfalls ins Gesicht zu rutschen droht. Mit einer geschickten Bewegung, die Vincent aufmerksam verfolgt, streife ich sie hinter mein Ohr.

Unsere Blicke treffen sich. Mir bleibt ein riesengroßer Kloß im Hals stecken. Bestimmt wird es gleich mega peinlich. Daher finde ich es taktisch klug, in die Offensive zu gehen. »In deinem Zustand wollte ich dich nicht auf der nassen Straße liegen lassen und habe dich mit dem Taxi hergeschafft.«

»So schlimm?«

Meine Augenbrauen heben sich automatisch in die Höhe. Ich verkneife mir auch hier die Antwort. Mal ehrlich, was soll ich darauf antworten, was dann auch noch halbwegs gescheit klingt?

»Der Boden des Glases wurde immer tiefer und tiefer.«

»Normal unter diesen Umständen würde ich mal behaupten. Ich meine, wer braucht schon unnötigen Stress in seiner Beziehung.«

»Hast du darum keine?«

»Du bist ein kleines Genie. Noch nicht ganz ausgenüchtert, aber ein kleines, vorlautes Genie. Was machst du jetzt wegen der Sache mit Ivette?«

Am Balkonfenster bewegen sich die bodenlangen Gardinen durch einen leichten Windzug. Er beobachtet es, schlürft gedankenverloren seinen Kaffee und scheint ewig sämtliche Optionen zu durchdenken. Ich störe ungern dabei und habe reiflich Zeit.

An den Wochenenden ist bei mir nie viel los. Meistens habe ich am Samstag selten wichtige oder drängende Termine. Bei mir gibt es keine regelmäßigen Besuche bei den Eltern. Geschwister habe ich auch keine und meine Großeltern nie kennengelernt.

»Schöner Balkon, den ihr habt. Gefällt mir. Ähm, danke für den starken Kaffee, aber ich mache besser los.«

Mit meinem Kopf schnellstens bejahend erhebe ich mich umständlich, stelle meine geleerte Kaffeetasse in das Spülbecken und entsorge den geleerten Joghurtbecher. »Ich muss nachher auch noch was einkaufen und vorher fix unter die Dusche. Im Kühlschrank herrscht gähnende Leere und unter meinem Arm tummelt sich …«

»Was Lebendes?«

»Ja, aber nur von der Gattung Bakterien. Nichts … ähm, eben Bakte…«

Häh? Was rede ich da für Käse?

Bakterien? Ernsthaft? Mensch, Thea!

Peinlich berührt, schlackere ich unmotiviert mit meinen Armen herum. Angestrengt versuche ich, den Fauxpas mit einem hinreißenden Lächeln wegzuwischen. Ich sauge reiflich Luft in die Lungen, nachdem ich merke, dass es die Sache auch nicht besser macht, wenn ich planlos in der Küche herumstehe. Um ehrlich zu bleiben, macht es rein gar nichts besser.

»Wir wollten demnächst zu meinen Eltern fahren. Sie haben bald ihren vierzigsten Hochzeitstag und möchten noch einmal heiraten. Ganz romantisch.« Er reicht mir seine geleerte Tasse, die ich sofort abspüle und in die Abtropfschale lege. »Daraus wird nun nichts. Dabei haben sie sich unglaublich gefreut, Ivette endlich kennenzulernen.«

Ein plötzlicher Gedanke schießt durch meinen Kopf, darum wende ich mich zu ihm. Ich schüttele meine Hände trocken, weil ich die dumme Angewohnheit habe, dafür nicht das Geschirrtuch zu nehmen.

»Du bist mit ihr verlobt und deine Eltern haben sie noch nie gesehen? Wie geht das?«

»Nein, wir sind nicht verlobt. Dazu ist es nicht mehr gekommen, aber es ist zu vertrackt, um es in zwei Sätzen zu erklären«, entgegnet er.

In Windeseile wendet er sich zum Flur, wo er sich suchend nach seinen Schuhen umsieht. Klaas hat sie gestern Abend wohlweislich neben der Eingangstür deponiert.

»Ich dachte, ihr seid verlobt«, murmele ich ihm hinterhergehend.

Mit einem Schuh in seiner Hand richtet er sich auf und stößt einen tiefen Seufzer aus. Gott, bin ich ein Knallkopf. Noch eben habe ich mir vorgenommen, mich nicht in seine Angelegenheiten einzumischen und tue es just in diesem Moment doch.

»Schon gut, du musst mir die Geschichte nicht erklären. Ich habe im Büro Gesprächsfetzen mitbekommen und mir mit meiner glühenden Fantasie eins und eins zusammengereimt. Also, zumindest versucht … Was ich eben gefaselt habe, war reine Spekulation. Oder blühende Fantasie, die gerne mal mit mir durchgeht. Ähm, vergiss es einfach.«

Vincent öffnet die Wohnungstür, tritt über die Schwelle, dreht sich aber noch einmal zu mir um. »Schäfer hätte dich nicht vor versammelter Mannschaft heruntergeputzt, wenn ich da gewesen wäre. Ich meine, deinen Vorschlag zum Ausbau der Vertriebsstruktur finde ich ausgezeichnet und kann nicht nachvollziehen, warum er dich nie zu Ende anhört. Ich verstehe Schäfer nicht.«

Überrascht starre ich ihn an und weiß gar nicht, was ich erwidern soll. Meine blöden, ausgehungerten Hormone lassen sofort Pipi in die Augen steigen, als wäre morgen meine Menstruation fällig und ich dadurch ein nervliches, hormongesteuertes Wrack.

Vincent ist der Erste, der meine Argumente versteht. Unmittelbar nach diesem Gedanken steigt eine hässliche und schmerzende Erinnerung auf, wenn ich an unseren Geschäftsführer denke.

»Das mit Schäfer und mir ist zu vertrackt, um es in zwei Sätzen zu erklären. Vielleicht mag ich es auch gar nicht, weil … eine Frau zu sein, ist nicht immer amüsant«, stammele ich mit zittriger Stimme, die meinen bevorstehenden, hochemotionalen Ausbruch verdeutlicht. Zumindest bricht der Vulkan gleich aus, wenn wir nicht umgehend das heikle Thema wechseln.

»Lieber einmal in einer ruhigen Minute? Ich muss leider los. Danke, dass du mich nicht auf der nassen Straße liegengelassen und stattdessen in dein Bett mitgenommen hast.«

»Wenn du das auch nur einer menschlichen Seele erzählst, Vincent Spieker, bist du so was von erledigt und wirst nie wieder mit deinen unegalen Fingern in meine Bonbonschale greifen, verstanden?«, fauche ich und hebe drohend meine Faust.

»Aha, deine Bonbonschale, ja?«

Spöttisch schiebt er einen Mundwinkel in die Höhe, was immer entzückend aussieht und mich nicht umhinkommen lässt, mir einen frechen fünfjährigen Vincent vorzustellen.

Den Zeigefinger schwörend in die Luft hebend richte ich meinen Blick unbeirrt auf ihn. »So wahr ich Thea Seidler heiße. Dann, mein lieber Arbeitskollege, lernst du das Reich der Finsternis schneller kennen, als dir lieb ist. Selbst wenn du meine Idee zur Überarbeitung der Vertriebsstruktur anhören möchtest.«

Kichernd saust er lärmend und ein Lied pfeifend die Treppenstufen hinunter, während ich leise die Tür schließe.

 

 

 

Kapitel 4

cannabis-1032119_1280.png

 

Heute ist Donnerstag. Lustlos durchblättere ich die Verträge für das neue Projekt. Dazu stehe ich in dem kleinen, fensterlosen Raum, in dem Scanner und Drucker untergebracht sind. Ich muss sie kopieren, mag sie aber eigentlich nicht einmal mit den Fingerspitzen anfassen.

Wie ich vermutet habe, ist Herr Schäfer am Montag gleich nach Dienstbeginn mit den ungeordneten Unterlagen bei mir aufgetaucht. Er hat es regelrecht genossen, mir den Montagmorgen mit dieser Strafarbeit zu ›versüßen‹ und mich unverschämt angegrinst.

In meinen tollkühnen Gedanken habe ich ihm einen Schreibblock in den dümmlich grinsenden Mund geschoben. Selbstverständlich quer, damit es ordentlich wehtut. Tatsächlich habe ich minutenlang überlegt, ob ich es mit dem Standordner probiere, den ich in der Hand gehalten habe.

Da ich aber nicht sadistisch veranlagt bin, habe ich lediglich höflich geschmunzelt. Wer schiebt seinem Vorgesetzten schon tatsächlich einen Standordner in den Mund?

Ich nicht.

Ich ziehe es nur ernsthaft in Erwägung. Wenn überhaupt.

Moralisch und zeitlich betrachtet schaffe ich es erst jetzt, die hämisch grinsend überreichten Unterlagen durchzugehen und zu sortieren. In meinen Händen halte ich den Beweis, warum mir plötzlich meine Existenz in dieser Firma begrenzt vorkommt.

Der Auftrag ist Schäfers Bonuskarte und besiegelt meinen Rausschmiss. Hundertprozentig ist es die Retourkutsche, weil ich auf der letzten Weihnachtsfeier die Flosse mit dem Ehering von meinem Knie geschoben habe und nicht auf seinen ekelhaften Annäherungsversuch eingegangen bin. Jetzt macht er mir acht Stunden täglich zur Hölle, wobei ihm kein Mittel zu schäbig daherkommt.

Ärgerlich lasse ich die Papiere auf den staubigen Tisch fallen, der neben dem Drucker steht. Hastig wische ich die aufgestiegene Träne fort, die am rechten Unterlid hängt. In dieser Firma kann ich nicht länger bleiben. Nach fünf Jahren so mir nichts, dir nichts alles Erarbeitete an den Nagel zu hängen, schmerzt aber mindestens ebenso gewaltig wie diesen unschönen Zustand auszuhalten.

»Ach, hier bist du«, höre ich Vincents Stimme hinter mir.

»Was gibt es?«

»Wir gehen zu Tisch. Kommst du mit?«

»Ich habe keinen Hunger«, antworte ich wahrheitsgemäß, aber schmallippig und hole den Scanner aus dem Stand-by-Modus, um beschäftigt zu wirken.

Glücklicherweise übertönt das Geräusch des erwachten Gerätes weitere Fragen. Ganz sicher gehe ich nicht mit Schäfer und seinen Speichelleckern Mittagessen und etabliere einen nervösen Magen. Nicht einmal ansatzweise verspüre ich den Drang, seinen übertriebenen Schilderungen über die total genialen Segeltouren mit seiner Frau zu lauschen, die er nach Strich und Faden betrügt.

Derzeit mit seiner neu eingestellten Sekretärin. Die glaubt nun, dadurch etwas Besseres zu sein. Durch die Affäre fühlt sie sich in den Adelsstand gehoben und plaudert indiskret über ihre Romanze, was sie menschlich betrachtet in die Gosse befördert.

Genau genommen ertrage ich das selbstsüchtige Gesicht von meinem Chef nicht mehr. Da esse ich lieber allein in der Küche und hänge meinen abschweifenden Gedanken nach. Jedoch erst, nachdem ich den elenden Vertrag dreifach kopiert und ins Nirwana meines E-Mail-Postfaches befördert habe.

Gedankenverloren, aber und mit Blick auf die verhassten Unterlagen schlendere ich in mein Büro zurück. Um ein Haar pralle ich mit Vincent zusammen.

»Nimmst du auch ein Wasser?«, erkundigt er sich bestens gelaunt.

Die Sache mit Ivette scheint geklärt, denn auf mich wirkt er nicht todunglücklich. Aber die meisten Männer packen solche Dinge eh anders an.

Schlagartig sinkt meine Hand, in der ich die Papiere halte. Verdutzt sehe ich zu, wie er sich seine Frischhaltedose aus der Tasche nimmt und mich anschließend erwartungsvoll anschaut.

»Du bist nicht zum Würstchen-Schubert mitgegangen?«

»Nein, ich mag heute nichts von seinen waghalsigen Segeltörn-Erlebnissen hören«, antwortet er und hebt die Hand etwas höher, um eine eindeutige Geste zu machen. »Los komm, sonst ist es schneller mit der Mittagsruhe vorbei, als wir bis drei zählen können.«

Recht hat er.

Plötzlich obenauf und gut aufgelegt, pfeffere ich schwungvoll den blöden Vertrag auf meinen Schreibtisch. Meinetwegen kann er dort gerne drei Wochen vor sich her gammeln, bevor ich ihn weiter durchlese.

Schließlich habe ich noch andere Projekte zu leiten. Die bereiten wesentlich mehr Freude und blockieren meine Synapsen nicht, sondern befeuern die Klickrate bei den Botenstoffen.

Ich hole meine Brotdose und eile in die Küche. Vincent sitzt kauend am Tisch und hat ein Glas Wasser für mich bereitgestellt. Er sieht nicht auf, weil er vertieft eine Fachzeitschrift liest, die unsere Sekretärin auslegt. Marketingstrategien, Kundenbindung und allerlei Tipps für ein erfolgreiches Unternehmenswachstum.

Ich breche gleich.

»Mahlzeit«, grüße ich und ernte ein halbherziges Brummen.

 

C C C

 

In aller Ruhe kaue ich die belegte Brotscheibe und schaue gedankenlos aus dem Fenster. Der Frühling endet mild, aber ungemütlich. Kommendes Wochenende soll es dagegen herrlich werden. Es wird eine kleine Kostprobe für den kommenden Sommer, hat die Fernsehmoderatorin überglücklich geträllert.

Wohl dann. Ich beschließe, das herrliche Wetter zu nutzen, vermehrt schwimmen zu gehen oder eine ausgiebige Fahrradtour zu unternehmen. Vielleicht passt es Fiona an einem Wochenende, an dem Klaas eine Doppelschicht im Krankenhaus schiebt.

»Stört es dich?«

»Nein«, antworte ich, ohne meinen Blick von dem Ahorn abzuwenden, dessen Knospen im Vergleich zur letzten Woche deutlich an Wachstum zugelegt haben.

»Was?«

»Wie, was?«, entgegne ich mit einer Gegenfrage, weil ich gar nicht weiß, was das Thema ist. Fragend schaue ich zu Vincent.

Eigentümlich gelassen lächelt er mich an. Mag angehen, dass ich die Mimik verkehrt deute und er mich nur auf den Arm nimmt. Aber nix da. Einladend hält er mir eine Dose mit Weintrauben entgegen.

Also doch kein Spott.

»Ich meine die Stille«, erklärt er.

»Ah ja, die Stille. Ja, die ist perfekt.«

Mit einem Kopfnicken danke ich für die knackige Weintraube. Ich widme mich erneut dem Laubbaum, dessen Äste sich im Wind bewegen, als würden sie zu einer fiktiven Musik tanzen. In Gedanken pfeife ich eine eingängige Melodie und nutze gewissenlos aus, dass niemand hört, was ich für komischen Krimskrams denke.

»Vorübergehend wohne ich bei einem Kumpel.«

»Aha«, entgegne ich zerstreut und nicht ganz bei der Sache.

Bereits die ganze Woche über habe ich das Thema mit Ivette nicht angeschnitten. Nicht einmal ansatzweise gestreift. Pausenlos darüber nachgedacht, ja. Es kostet enorm Kraft, aber ich habe mich die ganzen Tage heldenhaft zusammengerissen und ihn nicht mit hunderttausend Fragen gelöchert.

Das Problem an der Sache ist Folgendes: Es weiß niemand. Was das betrifft, bin ich eine von diesen stillen Heldinnen, die dafür niemals das Bundesverdienstkreuz erhalten. C’est la vie.

»Wir sind endgültig auseinander. Ich bin für ein paar Tage bei einem Kumpel untergekommen.«

Die Traube zerplatzt zwischen meinen Zähnen. Prompt verteilt sich der süße Fruchtsaft auf meiner Zunge. »Warum zum Teufel gibt es im Frühling Weintrauben in den Supermärkten zu kaufen? Ich meine, wo in Europa reifen um diese Jahreszeit schon welche heran? Siehst du, nirgendwo. Das ist doch die falsche Jahreszeit für natürlich gereifte Weintrauben, oder? Und das bedeutet, dass sie aus Übersee kommen. Verrückte Welt.«

»Er kann mich nicht dauerhaft aufnehmen, weil seine Freundin …«

»Obendrein kann ich mir keineswegs vorstellen, dass die Arbeiter, die diese Weintrauben ernten, fair bezahlt werden. Hast du dir mal überlegt, wie unbeliebt wir uns mit unserem Konsumverhalten in der Welt machen?«

»Hörst du mir zu?«, fragt er und schiebt die Dose mit den Weintrauben über den Küchentisch.

Entnervt schiebe ich sie zurück. »Nein, danke. Ich möchte nicht für weitere, prekäre Lebens- und Umweltsituationen sorgen. Biete mir erst wieder im Herbst welche an.«

»Keine Sorge, ich wollte dich nicht fragen, ob ich bei euch einziehen darf. Mir ist klar, dass ich auf den Balkon einziehen müsste. Das wäre in der Tat prekär. Zumindest im Herbst, wenn die Weintrauben reifen.«

Erleichtert und zugleich belustigt, pruste ich los und stelle mir bildlich vor, wie er es sich gemütlich auf unserem winzigen Balkon einrichtet.

»Dachtest du wirklich, ich frage dich danach?«

»Du wolltest auf unseren Balkon ziehen?«

»Quatsch. Vorerst wohne ich bei einem Kumpel und suche mir etwas Neues. Das ist nicht das Problem.«

»Logisch«, glaube ich, zu verstehen. Ich erhebe mich, um meine geleerte Dose auszuspülen.

»Allerdings weiß ich nicht, wie ich meinen Eltern erklären soll, dass ich allein zu ihrer zweiten Hochzeit erscheine.«

»Du meine Güte, sie werden es überleben. Ist doch kein Weltuntergang. Unstimmigkeiten gibt es in jeder Beziehung. Und deine Ivette bekommt sich bestimmt schneller wieder ein, als du es momentan für möglich hältst.«

»Sie hat jemand anderen.«

Na, das nenne ich Neuigkeiten.

Entsetzt drehe ich mich um. Geistesabwesend hantiert er mit der Dose, die vermutlich das einzig greifbare Mittel ist, um seinen Frust auf irgendeine Weise zu kanalisieren.

»Es ist richtig, hundertprozentig und tatsächlich aus?«, entfährt es mir ehrlich bestürzt.

In dieser Gemütsbewegung gefangen, trete ich dichter an den grauen, schmucklosen Esstisch. Vincent sieht nicht auf, fingert lediglich hektischer an der Plastikdose herum, je näher ich trete.

»Es ist nicht schön, aber deine Eltern verstehen es bestimmt«, tröste ich nach einer Weile seines Schweigens.

Mit zutiefst niedergeschmetterten Augen blickt er nun auf und landet damit mitten in meinem Herzen. Und zwar einen Volltreffer.

Der arme, arme Kerl.

»Sie freuen sich so unglaublich, dass es endlich ernst wird. Ich kann sie unmöglich enttäuschen. Nicht an ihrem vierzigsten Hochzeitstag, verstehst du?«

Ich verstehe es nicht wirklich. Trotzdem nicke ich. Was bleibt mir anderes übrig? Soll ich einen Affentanz aufführen, mir die Haare raufen und ein Geschrei veranstalten?

Nein, nein, er bekommt das allein hin. Andauernd trennen sich Paare. Es ist hart, keine Frage und tauschen möchte ich auch nicht mit ihm, aber er kommt gewiss darüber hinweg.

Ganz bestimmt.

»Was tust du nun?«

Tausend Fragen sausen durch meinen Kopf. Zudem fällt mir nichts Gescheites ein, wie ich ihn in dieser Situation tatkräftig unterstützen könnte. Moralisch gesehen.

Nach wie vor möchte ich mich nicht in seine Beziehungskiste hängen, von der ich rein gar nichts weiß. Blöderweise hänge ich mich mit meiner Frage nach seinem Plan dennoch rein.

Mehr oder weniger.

Also, ab jetzt halte ich den Ball schön flach. In Ordnung, Thea?

»Meine kleine Schwester und ich wollten nicht in ihre Fußstapfen treten, was ihnen damals das Herz gebrochen hat. Und jetzt passiert das mit Ivette. Was kann ich an diesem denkwürdigen Tag schon vorweisen?«

»Einen Job.«

Verächtlich stöhnt er und knetet angestrengt seine Nasenwurzel. »Ein Job ist ein Job. Er dient dem Broterwerb, saugt nebenbei deine Lebenskraft aus und hält dich finanziell über Wasser. Mehr nicht. Ein Job ist selten deine Berufung oder etwas, was dein Herz komplett mit Lebensfreude ausfüllt.«

»Aber du machst ihn gewissenhaft und bist eine echte Bereicherung für das Team«, versichere ich und setze mich.

»Schön, wenn du das so siehst. Mit Anfang dreißig kann ich rein gar nichts nachweisen. Ich stehe buchstäblich mit leeren Händen da. Mit diesen fahre ich zu meinen Eltern, die sich sehnlichst eine Schwiegertochter und mindestens drei Enkel wünschen, wenn wir Kinder schon die Familientradition nicht übernehmen. Ich sehe förmlich den mitleidigen Augenausdruck meiner Mutter vor mir, die mich jedes Mal riesengroße Löcher in den Bauch fragt. Über Ivette, die nun Geschichte ist.«

»Na, höre mal. Zum Glück leben wir in einer Gesellschaft, in der jeder für sich entscheidet, wie er leben möchte, nicht die Eltern. Keine Frage, es ist blöd, wie es mit Ivette gelaufen ist, aber doch nicht das Ende der Welt.«

»Da kennst du meine Eltern schlecht. Sie machen schon seit Jahren Anspielungen über Enkel und bitten seit Wochen um einen Besuch von ihr, weil ich Dummerjan ihnen monatelang den Mund wässrig gemacht habe.«

»Tja, dann hast du eindeutig ein Problem. Hier kommt mein Rat: Suche dir schnurstracks eine neue Ivette. Die gibt es in Bars bestimmt wie Sand am Meer. Woher sollen deine Eltern schon wissen, welche Frau du anschleppst?«, frage ich kichernd und nicht ganz ernst gemeint.

Ich stehe auf und schnappe mir die inzwischen abgetrocknete Dose. Danach flitze ich zu meinem Arbeitsplatz und verstaue sie in meine Handtasche, weil die Zeit für meine Mittagspause längst verstrichen ist. Vincent, der im Türrahmen steht, beobachtet mich eigenartig.

»Mimst du jetzt etwa Sado-Schäfer? Fehlt nur noch, dass du deine Arme vor dem Brustkorb verschränkst und wie er fragst, wann ich mit den Unterlagen in sein Büro komme und mir die Anzahl der gesammelten Minuspunkte von der letzten Woche aufzähl… Was guckst du so komisch?«

Sofort lässt er seine Arme sinken, dackelt zu seinem Schreibtisch und setzt sich. Anders als sonst, versteckt er sich jedoch nicht dahinter, sondern linst wie ein Frechdachs über beide Monitore. »Und wenn du für dieses Wochenende die Ivette mimst?«

Schlagartig richte ich mich auf und betrachte ihn ungläubig, bevor meine Lippen eine Antwort formen: »Sorry, wenn ich mich gleich im Ton vergreife, aber ich frage mich schon, ob sie dir ins Gehirn geschissen haben. Andererseits hast du vielleicht gestern Mittag nur zu lange in der Sonne gesessen, Spieker.«

Nach meiner Antwort flitze ich zurück in die Küche, wo mein Wasserglas noch auf dem Tisch steht. Dort angekommen, führe ich es zum Mund und trinke hastig, denn meine Kehle fühlt sich bei diesem Angebot urplötzlich knochentrocken an.

Eine Bewegung hinter mir lässt mich herumfahren.

»Du hast doch selbst gesagt, dass ich mir eine neue Ivette suchen soll, weil meine Eltern keinen Plan über die echte Ivette …«

»Falsch. Ich habe gesagt, dass du dir jemanden suchen sollst, der ebenfalls Ivette heißt«, korrigiere ich die genial verdrehte Auslegung meiner Worte und seiner hyperaktiven Hirnaktivität.

Hektisch wackelt er mit dem Kopf und breitet zusätzlich die Arme aus. Seine geweiteten Augen drehen sich permanent im Kreis. Knallrot im Gesicht antwortet er: »Klar, die gibt es in Berlin ja auch wie Sand am Meer.«

Ist das jetzt mein Problem, oder wie?

»Du hast exakt den Punkt getroffen. Darum solltest du zum Beispiel in Frankreich suchen«, entgegne ich schroff.

»Thea, verarsche mich nicht. Die Sache ist viel zu ernst.«

»Sehe ich in deinen Augen etwa wie eine typische Ivette aus?«

»Nein, aber das weiß doch sowieso nur ich. Meine Familie ahnt nicht das Geringste.«

Über seinen dusseligen Vorschlag verärgert, ziehe ich meine Augenbrauen zusammen und schaue ihn finster bis skeptisch an. »Aber sonst ist alles in Ordnung in deinem Oberstübchen? War pillentechnisch was in deinem Frühstück?«

Verunsichert, ob uns jemand belauscht, schaut er zur Tür und tritt einen Schritt näher. Dabei senkt er seinen Kopf und die Stimme. »Ja, seit deinem Vorschlag ist wieder alles okay. Er ist geradezu genial und ich würde ihn dir nicht unterbreiten, wenn ein Risiko dabei bestehen würde, dass wir auffliegen.«

»Ach, wie umsichtig von dir«, entgegne ich eine Spur zu schrill. »Ich vermute, wir schlafen in einem Bett, halten Händchen und küssen uns vor deinen Eltern.«

»Ja und was ist dabei?«

»Hallo? Bekommst du eigentlich noch was mit, Spieker?«, zische ich über so viel Dummdusseligkeit fuchsig und dränge mich rabiat an ihm vorbei, wobei ich ihn grob anrempele.

»Nicht so hastig, Frau Seidler. Wir müssen nicht zwangsläufig in einem Bett schlafen. Diesbezüglich lasse ich mir etwas Hübsches einfallen. Schauspieler küssen sich in Filmen auch und haben nix miteinander, oder? Und Händchen halten, tut niemandem ernsthaft weh. Wir bekommen das hin. Vertraue mir. Mal ganz davon abgesehen, hast du dann zehn Steine in meinem Brett.«

An dieser Stelle zweifele ich ernsthaft, ob er noch alle Tassen im Schrank hat. Meine Fresse, da muss ja der Baum gehörig brennen, wenn er mich derart verzweifelt darum bittet, die Ivette zu spielen. Trotzdem behagt mir die Idee nicht.

»Erde an Vincent. Jemand zu Hause? Was redest du da für einen Schwachfug?«

»Mensch, Thea. Ich bin in einer absoluten Notlage. Woher soll ich auf die Schnelle sonst eine Frau finden, die Ivette heißt? Dazu noch mit I und nicht mit Y. Komm schon, bitte. Ich weiß echt nicht, was ich sonst machen soll.«

»Wie wäre es damit, deinen Eltern die Wahrheit zu sagen?«, murre ich und verschränke die Arme vor meiner Brust. »Früher oder später musst du ihnen schon beichten, dass deine Freundin deinen Ring gar nicht erst sehen will und lieber mit einem anderen Mann durchbrennt.«

Falten bilden sich an seiner Nasenwurzel. »Boah, wie du das sagst … schon gut, mache ich ja auch. Ich sage es ihnen. Aber erst nach ihrer zweiten Hochzeit. Ich möchte ihnen nicht die schöne Feier verderben, wie der Trottel der Familie dastehen und meiner Mutter vor ihrem zweiten Ja-Wort das Herz brechen.«

»Sie heiraten noch einmal?«

»Sagte ich doch vorhin bereits. Seit Monaten reden sie von nichts anderem mehr als von der feierlichen Auffrischung ihres Eheversprechens. Es kommt ein freier Redner, es gibt eine Zeremonie, eine hübsch gedeckte Kaffeetafel … das ganze schnulzige Gedöns von A bis Z.«

»Verzwickt aber auch, dass Ivette genau jetzt mit einem anderen Typen durchbrennen muss«, fluche ich und wünsche mir, ich hätte das unvernünftige Weibsbild neulich gehörig durchschütteln können, bis sie zur Vernunft kommt.

»Wem sagst du das? Ich mache dir folgenden Vorschlag: Du begleitest mich und trittst als Ivette auf. Nur dieses eine Wochenende und bis nach der Feierlichkeit. Wir überlegen uns etwas. Einen Streit zum Beispiel. Genau, wir legen einen bühnenreifen Abgang am Morgen nach der Feier hin und alles geht seinen gewohnten Gang. Die geplante Verlobung ist offiziell geplatzt und jeder ist zufrieden. Meine Familie tröstet mich liebevoll und spricht mir Mut zu, weil du eine miese Mistkuh bist. Also besser gesagt, Ivette, nicht du.«

»Das ist Käse«, wiegele ich ab.

Den Plan finde ich zu leicht zu durchschauen. Beinahe schon kindisch.

»Im Gegenzug helfe ich dir, das Konzept für das Frikadellen-Raumspray zu erstellen.«

Na, holla. Jetzt hat er meine ungeteilte Aufmerksamkeit. In Bezug auf eine deutschlandweite Plakatwerbung für dieses ekelhafte Raumspray kommt mir auf Knopfdruck jegliche Kreativität abhanden. Blöd nur, dass Sado-Schäfer es in zwei Wochen auf seinem Schreibtisch liegen haben will.

Ich bin in einer Notlage. Ebenso wie er.

»Keiner darf Wind davon bekommen«, murmele ich mit leerem Blick und leider viel lauter als ursprünglich beabsichtigt.

Sich schnell zur offen stehenden Küchentür umsehend flüstert Vincent: »Wir haben am Wochenende ausreichend Zeit, eine gute Idee zu entwerfen, obwohl ich davon ausgehe, dass meine grauen Zellen die Mitarbeit strikt verweigern. Mir schon so ein ätzendes Ding vorzustellen, dann auch noch etwas Passables auf ein Plakat zu bringen … aber du und ich, uns fällt bestimmt etwas Geniales ein. Hilfst du mir aus der Patsche, helfe ich dir auch raus. Abgemacht?«

Er lässt mir genug Platz und Zeit, damit ich mir die Antwort reiflich durchdenken kann. Hilfe bei dem Projekt wäre ausgezeichnet, aber in absehbarer Zeit bekommt Schäfer, was er mit der Aktion bezweckt.

Was dann?

»Wird das hier eine Teambesprechung oder überzieht ihr bloß ungeniert eure Mittagspause?«, fragt Schäfer, der an der Küchentür steht und vorwurfsvoll zu uns schaut. »Die geben drei Minuspunkte.«

»Sorry, aber wir führen ein Privatgespräch und haben noch Mittagspause. Spricht doch nichts dagegen, oder?«, antwortet Vincent, der mich noch immer aufmerksam beobachtet.

Da er antwortet, zieht sich der Geschäftsführer murrend zurück. Er lässt die Minuspunkte unter den Tisch fallen, statt sie in sein berüchtigtes Black-Book zu notieren. Still und leise verschwindet er im Flur, in dem an der Wand die erfolgreichsten Werbekampagnen hängen, die dieses Unternehmen auf die Beine gestellt hat.

Mein Blick ist auf den Mann vor mir gerichtet, während ich immer mehr zu diesem verlockenden, aber heiklen Deal tendiere. Eigentlich kann ich nur gewinnen und meinen Job so lange behalten, bis ich einen anderen finde. Daneben winkt ein netter Wochenendausflug und ich kann ein bisschen Ideen für meine eigene Hochzeit sammeln. Irgendwann werde ich ja hoffentlich auch mal unter die Haube kommen.

»Wo wohnen deine Eltern?«

»In Schmöckwitz.«

»Ist es schön grün dort in Schmöckwitz?«

Erleichtert, als würde ihm eine unglaublich schwere Last von den Schultern fallen schmunzelt er und ist sofort wieder obenauf. »Unglaublich grün sogar. Und ein paar Seen und Flüsse gibt es dort auch. Darf ich es dir am Wochenende zeigen?«

»Dieses Wochenende schon?«

»Das sagte ich doch. Freitagabend trifft sich die Familie.«

»Dann sollten wir vorher noch proben. Ich meine, wie wir ungeniert … Körperkontakt und so. Es muss doch täuschend echt aussehen, sonst riechen sie den Braten.«

»Oh, da hast du recht. Wir müssen unbedingt unsere Berührungsängste überwinden. Ich möchte, dass wir locker, flocker, echt und ungekünstelt wirken.«

»Du meine Fresse, da hast du recht«, schlucke ich einen riesigen Kloß den Hals hinab. Sofort krempelt sich mir der Magen auf links. Locker, flocker und ich? Was zur Hölle ist in seinem Mittagessen gewesen?

»Keine Sorge, das wird schon.«

»Mir reicht es, wenn Sado–Schäfer … Falls du meine Notsituation schamlos ausnutzen willst, lass dir gesagt sein: Spüre ich an diesem Wochenende auch nur ansatzweise irgendein Körperteil in meiner Wohlfühlzone, bist du ein mausetoter Mann«, zische ich gedämpft und entdecke erneut den Schatten an der Tür zur Küche.

Unser Chef. Er läuft bereits zum dritten Mal daran vorbei, um uns genau im Blick zu behalten. Sicherlich auch die exakte Uhrzeit.

»Wie lange dauert das Privatgespräch der Herrschaften noch?«, ruft er tatsächlich keine Sekunde später.

»Wer sagt, dass ich es ansatzweise auch nur probieren wollte? Schließlich steht ein beinahe verlobter Mann vor dir. Hast du das etwa vergessen?«

»Von wegen. Wer von uns hat sich vergessen? Ich helfe dir aber gerne auf die Sprünge: Du riechst so gut«, äffe ich ihn nach und verziehe dabei meine Augen absichtlich zu schmalen Schlitzen, aus denen ich ihn boshaft anfunkele.

Postwendend laufen seine Wangen dunkelrot an.

»Posaune das noch lauter in der Gegend herum«, zischt er ärgerlich und verlässt mit schweren Schritten die Küche.

»Nö, nö, ich übe schon einmal für das Wochenende«, kichere ich hinterhertrottend. »Es muss doch alles authentisch wirken. Locker, flocker und natürlich.«

»Du bist echt eine Bazille. Ich würde dich gewiss nicht fragen, wenn ich eine andere Frau zur Hand hätte.«

»Tja, in diesem Fall hättest du am Freitag einen Schluck weniger trinken sollen. Dann hättest du dir dort eine andere Bazille aufreißen können.«

»Die dann auch noch Ivette mit I heißt«, ergänzt er meinen Satz, setzt sich an seinen Schreibtisch und langt genüsslich in die Schale mit den Süßigkeiten.

»Da sich aber Herr Schlaumeier volle Breitseite die Kante gegeben hat, bleibe ja wohl nur ich übrig, oder?«

»Du sagst es, Ivette.«

 

 

 

Kapitel 5

cannabis-1032119_1280.png

 

Am frühen Abend stehe ich vor dem Badezimmerspiegel und putze meine Zähne. Die schlabbrigen Hausklamotten, die ich trage, sind stellenweise verbeult, teilweise porös und abgewetzt, aber ungemein komfortabel.

Auf der Arbeit trage ich Blusen, Röcke oder Hosen, die zum Business passen. Meine glatten, langen und braunen Haare nehme ich tagsüber sorgsam in der Oberpartie zurück, damit meine silbernen Perlenohrringe zur Geltung kommen.

Zu Hause zwirbele ich am liebsten meine Haare am Hinterkopf zusammen, wobei gerne einzelne Strähnen unordentlich heraushängen dürfen. Und ja, ich bin Fan von schlabbrigen Haushosen.

Ein wenig Chaos im Leben darf sein.

Hässlich anzuschauen bin ich nicht, was ich meiner makellosen Haut und einem schön geformten Mund verdanke. Die finde ich perfekt, weil sie vom durcheinandergewürfelten Rest ablenken.

Ich bin durchschnittlich groß gewachsen, habe große, braune Augen und unterschiedlich geschwungene Augenbrauen, wenn man genau hinsieht. Meine Nase ist weder zu lang noch kurz, zu breit oder schmal. Ebenso verhält es sich mit meiner Gesichtsform, die weder spitz noch viereckig, sondern eine Mischung aus allem ist.

Mir kommt es so vor, als ob Mutter Natur sich bei mir nie wirklich eindeutig entscheiden wollte. Sie hat mich mit allem versehen, was gerade zu versteigern oder überzählig gewesen ist. Na ja, oder ich habe mich rege an der Versteigerung beteiligt. In diesem Fall kann ich Mutter Natur schlecht Vorwürfe machen.

Ich spucke die Zahnpasta in das Waschbecken, als es an der Haustür klingelt. Zu dieser späten Stunde kommt noch Besuch?

»Gehst du aufmachen?«, rufe ich Fiona zu, die sofort aus ihrem Zimmer gestürmt kommt und durch den Flur trampelt.

Sie ist in Eile, denn sie erwartet einen Anruf von Klaas, von dem sie unentwegt beim gemeinsamen Abendessen gesprochen hat. So eine Woche getrennt voneinander zu wohnen, ist für Verliebte echt hart, daher kann ich das mit der Sehnsucht vollkommen nachfühlen.

»Besuch für dich.«

»Für mich?«, frage ich argwöhnisch, spüle den Mund gründlich aus und reinige die Lippen, an denen Reste der Zahnpasta kleben. Es ist gleich einundzwanzig Uhr und ich wüsste nicht, wer mich um diese Zeit mit einem Besuch bedenkt.

»Hallo Vincent. Na, nüchtern heute? Frisch rasiert und zivilisiert gekleidet, machst du ganz schön was her. Nicht schlecht, Herr Specht. Komm nur herein. Thea ist im Badezimmer. Thea, hörst du? Da ist Besuch für dich gekommen.«

»Er ist doch kein Alkoholiker«, verteidige ich meinen Arbeitskollegen, der aktuell eine harte Zeit durchlebt.

Bevor sie ihn noch mit ihrem Gequatsche vergrault oder zu einer Entziehungskur überredet, trete ich hastig in den Flur. Fio prescht manchmal gerne vor.

»Nabend Thea«, stammelt er und steht verdruckst an der Wohnungstür, die Fio soeben schließt.

»Ich schleiche mich mal, denn gleich kommt der Anruf von Klaas. Bis danni, irgendwanni, Vincent.«

»Bis dann, Fiona. Richtig?«

»Goldrichtig. Ich bin Fiona«, bestätigt sie und schlendert bis zu den Ohren grinsend in ihr Zimmer.

An der Tür angekommen, dreht sie sich zu mir um. Nachdem sich unsere Blicke treffen, hebt sie bedeutungsvoll beide Augenbrauen und zwinkert mir verschwörerisch zu.

»Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen.«

»Nur, wenn du abermals das ganze Bett einnimmst«, kontere ich Fionas Geste übergehend und nehme zugleich wahr, wie er beschämt das Gesicht senkt.

Jesus, das ist ein riesiges Fettnäpfchen, wie ich rasch bemerke.

»Keine Sorge. Ich möchte deine Gastfreundschaft und Geduld nicht überstrapazieren. Habe den ganzen Abend nachgedacht, fühle mich aber immer unsicherer, wie die in Hollywoodfilmen so tun, als ob sie sich küssen. Für gewöhnlich sehe ich Actionfilme und Thriller. Da wird nicht geküsst. Ich wollte fragen, ob wir das kurz miteinander durchgehen und nebenbei die Berührungsängste abbauen. Ich meine, wegen locker, flocker und so. Offengestanden habe ich viehisch Berührungsängste.«

Ich finde es total goldig, wie viele Sorgen er sich diesbezüglich macht und hier vor mir stehend herumstammelt. Offen gestanden kreisen mir auch so einige Gedanken durch den Kopf.

»Wie ich sagte, es ist kein großes Ding, wie im Film zu küssen. Aber wir können das heute gerne proben, damit es uns am Wochenende leichter fällt«, versichere ich und trockne meine feuchten Hände an meiner schlabbrigen Haushose ab.

Ich kann nicht behaupten, dass er sich herausgeputzt hat, aber in dieser Kluft komme ich mir lächerlich neben ihm vor. Vincent ist nicht der Typ Mann, der sofort ins Auge sticht. Ich stelle sogar die gewagte These auf, dass es Teil seiner Persönlichkeit ist.

Er wirkt nicht aufdringlich, dennoch auf eine magische Weise ungemein präsent. Mir gefällt besonders, dass er kein Macho ist, der es nötig hat, sich künstlich in den Vordergrund zu rücken. Er spricht nicht andauernd über Extremsportarten, wie der Großteil unserer Arbeitskollegen.

Anders als meine, sind seine Augenbrauen gleichmäßig gewachsen. Auch seine Gesichtsform ist eindeutig oval. Kein Mischmasch wie bei mir. Mutter Natur hat ihn mit einer sehr aparten Anmut ausgestattet.

Meist lässt er die Haare bis zum Nacken wachsen, warum er manchmal neben den anderen gestriegelten Herren im Büro deplatziert wirkt. Irgendwie gehört er ebenso wenig dazu wie ich. Darum mag ich ihn auch mehr als alle anderen Kollegen im Büro und teile gerne meine Süßigkeiten mit ihm.

»Das wäre phänomenal, denn sicher ist sicher«, murmelt er und hält mir verschämt eine kleine Plastiktüte eines Technikhändlers entgegen.

»Du hast dafür extra eine DVD gekauft?«

»Jep. Zum Glück hatten die noch auf. Das ist eine Romanze mit hoffentlich vielen Kussszenen«, frohlockt er auf die Tüte des Elektronikfachmarkts tippend.

Die Atemluft entweicht in einem kräftigen Schwall. Himmel, er wirkt nervös. Ich deute in das Wohnzimmer, welches zum Glück durch das baldige Telefonat frei bleibt, weil sich Fiona dazu in ihr Zimmer zurückzieht.

»Ich wollte zwar gerade ins Bett, aber eine Stunde hätte ich Zeit. Die Berührungsängste abzubauen, käme mir ehrlich gesagt auch äußerst gelegen. Sähe doch unglaubwürdig aus, wenn wir uns steif, wie Bretter verhalten, oder?«

»Mein Reden. Ich für meinen Teil könnte dann wirklich besser schlafen. Wir spulen einfach zu den entscheidenden Stellen vor, damit ich dich nicht unnötig von deiner Nachtruhe abhalte.«

»Weißt du, wann ich endlich wieder besser schlafen kann?«

»Nein, wann?«

»Wenn ich endlich dieses blöde Frikadellen-Projekt vom Tisch habe.«

»Geht mir mit meinem Familienwochenende genauso.«

»Wieso? Ist deine Familie denn so furchtbar?«

»Meine? Iwo, die ist super. Alles locker, flocker …«

»Verstehe.«

Offen gestanden verstehe ich nichts. Familien, die echt super sind? Gibt es das? Egal … gemeinsam schmunzeln wir uns an, was eindeutig einhellig wirkt.

»Gehe schon mal rein und suche dir einen hübschen Sitzplatz aus. Ich ziehe mir nur noch schnell etwas Gescheites an«, murmele ich und deute zur offen stehenden Wohnzimmertür.

In meinem Zimmer schlüpfe ich eilig in eine ansehnliche Haushose und fische die erstbeste Strickjacke aus dem Kleiderschrank. Probehalber schnuppere ich daran, ob sie nach Kleiderschrank müffelt.

Tut sie nicht. Fabelhaft.

Auf meinem Nachhauseweg ist mir eingefallen, dass ich ja auch noch einige, wichtige Details erfragen muss. Dinge wie die Kleiderordnung für die Feier, die Namen der Familienmitglieder und alle notwendigen Eckdaten aus seiner Beziehung mit Ivette. Das kann ich heute Abend alles erfragen und nicht erst auf der Fahrt, wenn mich ganz sicher entsetzliches Lampenfieber plagt.

Immerhin werde ich einer wildfremden Familie vorgestellt, was im Leben einer jeden Frau einschneidend ist. Auch in dem einer Fake-Freundin. Erst recht einer, die mit Familie nicht so viel am Hut hat und ihre bloß in absoluten Ausnahmesituationen besucht.

Nach wenigen Augenblicken erscheine ich im Wohnzimmer und entdecke dort Vincent, der auf dem Sofa sitzt. Ungeschickt popelt er umständlich die eingeschweißte DVD-Hülle auf.

Ich gehe zu ihm, hocke mich auf den Boden, nehme ihm vorsichtig den Film aus der Hand und übernehme diesen Part. Heilfroh darüber seufzt er herzbewegend und schaut sich wissbegierig in unserem Wohnzimmer um.

»Solche Schmachtfetzen schaue ich normalerweise nicht«, gestehe ich.

»Schmachtfetzen? Ich dachte, alle Frauen mögen solche Filme.«

»Ich habe nichts gegen gut gemachte Liebesfilme mit viel Spannung. Aber der hier ist garantiert so einfach in der Handlung gestrickt, dass ich meistens nach fünfzehn Minuten weiß, wie es ausgeht. Das nennt man gemeinhin auch Schnulze, verkauft sich aber top. Wegen der schönen Landschaftsbilder.«

»Echt?«

»Ja, ich mag eigentlich eher Thriller, weil sie viele spannende Wendungen haben. Pass auf, spaßeshalber lassen wir den Film fünfzehn Minuten laufen und du kannst mich dann für einen Test abfragen.«

»Klingt machbar.«

»Möchtest du etwas trinken?«

»Was habt ihr?«

»Wasser, Cola, Wein.«

»Ich nehme gerne Wein. Brauche dringend einen großen Schluck Mut«, erklärt er kleinlaut und wischt ununterbrochen mit seinen flachen Händen die Hosenbeine entlang.

»Geht mir genauso. Schließlich ist das nicht alltäglich, oder?«

»Nee, ganz gewiss nicht. Also bei mir nicht.«

»Wein ist eine ausgezeichnete Idee«, lobe ich den geistesgegenwärtigen Einfall und erhebe mich. »Ich brauche auch etwas Alkoholisches, um so eine krasse Hürde zu nehmen.«

»Wir tun nur so, als ob.«

»Vielleicht liegt genau darin das Problem, denn ich bin untrainiert, im so tun, als ob.«

»Das ist doch aber gut«, meint Vincent, der in die Küche hinterher trottet. »Ich meine, das ist mir eindeutig lieber, als wenn jemand knallhart und abgebrüht daherkommt.«

»Eine oder besser gleich zwei Flaschen Wein?«, frage ich mehr zu mir, als zu ihm und nehme zwei Flaschen aus dem Getränkeregal.

»Du übertreibst maßlos, aber behalte die zweite Flasche griffbereit. Nur vorsichtshalber.«

Ich knuffe ihn in seine Seite und reiche ihm den Flaschenöffner, damit er sie entkorkt. Anschließend hole ich aus dem Hängeschrank zwei langstielige Weingläser, gehe damit in die Wohnstube, wo ich den DVD-Player starte und den Film einlege. Unterdessen schenkt Vincent den Wein ein und setzt sich bequem auf das Sofa.

Der Film läuft und wir sitzen ungekünstelt nebeneinander. Für das waschechte Kino-Feeling fehlt einzig Popcorn. Mäßig interessiert verfolgen wir den Werbetrailer, der weitere Filme der Produktionsfirma anpreist. Ich möchte nicht nervös wirken und studiere daher den Klappentext, der eindeutig auf eine waschechte Liebesschnulze deutet.

Unsanft wird mir die Verpackung aus der Hand gezogen. »Schummeln gibt drei Minuspunkte«, mahnt Vincent Herrn Schäfer nachäffend und hält mir ein Glas Wein entgegen. »Zum Wohl.«

»Zum Wohl«, entgegne ich kichernd und widme mich dem Vorspann, der bekannte deutsche Filmschauspieler ankündigt.

Ich lege meine Beine quer über die von Vincent, damit wir gezielt die ersten Hemmungen abbauen. Es dauert eine kleine Weile, bis er seine Hände darauf ablegt und sich sichtbar entspannt.

Wie vereinbart stoppe ich nach der abgemachten Zeit den Film. Ich schaue zu Vincent, der immer tiefer in das Sofa gerutscht ist und sich nun behaglich darin fläzt.

»Also los, die Watte quillt«, meint er, die Ansage der Wette aus ›Verstehen Sie Spaß‹ verunglimpfend.

»Also, meiner Meinung nach, entdecken sie gleich einige Gemeinsamkeiten und damit ihre Sympathie. Das Reiten zum Beispiel, was er ja offensichtlich liebt und sie als Kind auf der Farm ihrer Eltern gelernt hat. Ich vermute, dass sie sich sachte annähern. Zumindest, bis ein Streit, ein Missverständnis oder die alte Liebe dazwischenfunkt. In dem Fall die Tierärztin. Hast du gesehen, wie sie ihn anschmachtet? Himmel, sie wird die aufkeimende Beziehung der beiden mit allen Mitteln verhindern, was ihr auch bis zu einem gewissen Punkt gelingt.«

»Tatsächlich?«

»Ja, da gehe ich jede Wette ein. Leider entgeht ihr, dass sie keine Chance bei ihm hat. Fälschlicherweise geht sie von der Vergangenheit aus, in der beide ein Paar waren. Ich sage absichtlich fälschlicherweise, weil er die Beziehung längst zu den Akten gelegt und darin nicht das gefunden hat, wonach er sich sehnt. Sozusagen nach einem gemeinsamen Herzschlag, was ich durchaus poetisch meine. Hast du eben beobachtet, wie er sie körperlich abweist? Er steht immer so da, wenn sie ihn berührt oder sonst irgendwie Körperkontakt sucht.«

»Nein, habe nicht darauf geachtet.«

»Meine kühne Vorhersage lautet daher, dass er sich für Julia interessiert und diese unsympathische Tierärztin endgültig zum Mond schießt. Wetten?«

»Um was?«

»Mir egal. Lass dir etwas Hübsches einfallen und überrasche mich damit. Aber eines solltest du wissen. Es sollte um einiges einfallsreicher sein als dieser klischeehafte Schmachtschinken.«

»Abgemacht, aber ich muss jetzt keine Vorhersage abgeben, oder doch?«

»Nicht nötig«, beruhige ich ihn, rutsche ungezwungen tiefer in das Sofakissen und drücke auf Play.

Nach einem weiteren Glas Rotwein, dem laufenden Abspann und etwas weniger von unseren Berührungsängsten, beäugt er mich misstrauisch.

»Sag bloß, du hast das Drehbuch geschrieben?«

Begeistert, weil ich diese Wette gewonnen habe, klatsche ich in meine Hände und ziehe die Beine an. Ich liebe gut eingefädelte Überraschungen.

»Nein, habe ich nicht. Aber es gibt ein paar Anhaltspunkte, mit denen ich diese Dinge in Filmen erkenne. Allerdings verrate ich vorsorglich keinen meiner Tricks, falls du weitere Wetten mit mir abschließt. Du musst wissen, ich liebe Überraschungen und bin förmlich süchtig danach.«

»Kein Ding. Meine Wettschulden löse ich immer ein. Allerdings musst du wissen, dass ich unübertroffen gut überrasche. Bei Gelegenheit wiederholen wir das. Dann stelle ich mich definitiv schlauer an.«

»Willst du jetzt Filmküsse üben oder brauchst du vorher noch einen Schluck flüssigen Mut?«, frage ich mit Blick auf die Weinflasche, die geleert auf dem Wohnzimmertisch steht.

Der von mir getrunkene Wein deutet auf reichlich Mut. Ich traue mir nun zu, mich meinem Arbeitskollegen körperlich zu nähern, weiß allerdings nicht hundertprozentig, ob das bei ihm auch der Fall ist.

»Passt schon. Spule mal bitte an die Stelle zurück, an der er zu ihr nach Hause kommt.«

In der Kapitelauswahl wähle ich die Szene und spule danach vor. Mit angehaltenem Bild deute ich auf die Lippen der Schauspieler. »Schau genau hin. Er berührt ihre Oberlippe, sie seine Unterlippe«, erkläre ich und lasse die Szene mit langsamem Tempo laufen. »Hier öffnen sie ihre Münder, legen sie verquer aufeinander, ohne dass sich ihre Zungen berühren. Da, sieh genau hin! Sie haben nicht einmal den Mund offen. Schaut doch simpel aus, oder?«

»Ach, echt. Tatsächlich, alles ist nichts weiter als Tarnung?«

»Na logisch. Es ist ihr tägliches Brot. Aber stell dir vor, es soll Schauspieler geben, die vor Kussszenen Thunfisch und Zwiebeln essen, um dem lieben Kollegen eins reinzuwürgen.«

»Ich habe vorhin Nudeln gegessen.«

»Da bin ich heilfroh und mordsmäßig erleichtert«, kichere ich belustigt und rutsche auf Knien näher heran. »Ich hatte Zahnpasta und davor Tomaten auf Brot.«

Verschämt schmunzelt er und setzt sich ebenfalls in Position. »Damit kann ich gut leben, denke ich.«

»Heute können wir es zum Glück langsam ausprobieren und notfalls auch verkorksen. Bei deinen Eltern muss aber alles perfekt funktionieren. Bist du bereit?«

»Genau darum bin ich zum Üben hergekommen«, entgegnet er meinem Gesicht nun ebenfalls näher rückend.

»Okay, also los«, flüstere ich, damit wenigstens ein bisschen romantische Stimmung aufkommt.

Vorsichtig lege ich meine Wange an seine. Das langsame Annähern erscheint mir angebracht, da ich keinesfalls in seine Augen sehen möchte. Im Grunde meines Herzens bin ich trotz des Weines scheu. Die drei Gläser Rotwein liegen bleischwer in meinem Magen, dümpeln unmotiviert darin herum und gluckern.

»Ich drehe meinen Kopf nach rechts, du deinen nach links. Auf drei«, hauche ich heiser, während der Abspann und, zum Thema des Filmes passend, spanische Musik läuft.

Mit meinen Händen, die auf seiner frisch rasierten Wange liegen, steuere ich die Geschwindigkeit. Die ist mir eine Spur zu forsch. Sicherheitshalber zähle ich flüsternd bis drei. Für meinen Geschmack ist er immer noch zu stürmisch, daher drossele ich absichtlich das Tempo und rücke ab.

»Wenn du so schnell machst, läufst du Gefahr, dass deine Lippen woanders landen. Das wäre nicht nur blöd, sondern auch verhängnisvoll.«

»Tschuldigung.«

»Du musst dich nicht entschuldigen. Möchtest du noch einen Schluck Wein?«

»Der macht es nicht besser, so viel steht fest.«

»Also noch einmal?«

»Wenn es unbedingt sein muss«, kichert er.

»Vincent, konzentriere dich, Mensch!«

Wir wiederholen die langsame Annäherung. Diesmal hält er genau vor meiner Oberlippe inne. »Gut so?«, haucht er belegt.

»Absolut perfekt. Jetzt ganz gemächlich die Lippen auflegen, aber wirklich nur vorsichtig.«

Behutsam berührt er meine Oberlippe und hält angespannt inne. »Gut so?«

»Gebratene Zwiebeln zählen übrigens auch.«

Albern kichernd rückt er ab und nippt verlegen an seinem Weinglas. »Sorry, ich mag angebratene Zwiebeln zu Nudeln.«

»Ich auch.«

»Das sagst du jetzt nur so, um mir die Scheu zu nehmen.«

»Du hast mich durchschaut. Wir wiederholen es noch einmal. Nein, besser viermal. Danach sollten wir üben, wie wir die Münder öffnen, damit es nicht zu gekünstelt aussieht«, schlage ich vor und stelle nach einem großen Schluck ebenfalls das Weinglas auf dem Tisch ab.

»Das wäre unsagbar hilfreich. Aber, das mit dem Mund öffnen, passen wir spontan an, sobald wir uns gut dabei fühlen. Für das Erste genügt mir, wenn die blöde Befangenheit verschwindet. Der Rest sollte spontan passieren. Und auch nur, wenn die Zeichen bei meiner Familie auf Misstrauen stehen. In so einem Fall haut der Kuss bestimmt rein und überzeugt jeden Skeptiker.«

»Geht klar. Noch einmal?«

Er nickt, setzt sich tapfer in Position und rückt vorsichtig dichter an mein Gesicht. Abermals berühre ich seine Wangen und atme kräftig ein. »Diesmal bitte ein Ticken schneller. Irgendwann muss es wie selbstverständlich aussehen.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739482453
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Januar)
Schlagworte
Liebesroman romantische Komödie Romantik Hochzeit Sommer Romance Liebeskomödie Komödie Urlaubslektüre Humor Liebe

Autoren

  • Anna Conradi (Autor:in)

  • Adelina Zwaan (Autor:in)

Anna Conradi (Pseudonym), 1971 in der Hansestadt Wismar geboren, lebt nach unzähligen Stationen im In- und Ausland heute in Leipzig. Seit Kindertagen von Büchern und dem Theater fasziniert, entdeckte sie ihr Herz für Liebesromane. In ihren einfühlsamen und authentischen Romanen gewährt sie einen tiefen Einblick in die innere Zerrissenheit ihrer Protagonisten. Schreibt sie nicht, arbeitet sie bei einem kommunalen Energieversorger oder gestaltet einzigartige Grußkarten.
Zurück

Titel: Auszeit Muffins So tun als ob ist auch verliebt