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Das Schicksal der Seherin

von Andrea Ego (Autor:in)
305 Seiten

Zusammenfassung

Ich bin eine Seherin - eine, die das Unrecht erkennt, zusammenführt, was zusammengehört, und trennt, was sich nicht mehr braucht. Die junge Priesterin Thanissa erfährt, dass sie als Seherin auserwählt ist, leugnet ihre Bestimmung jedoch. Auf einem heimlichen Ausflug in die Berge gerät sie in Not und wird von einem Mann gerettet. Taio gehört den Rebellen an, die ihre Heimatstadt Zefira zu zerstören versuchen, doch er hilft ihr wider Erwarten, nach Hause zu kommen. Verwirrt und gleichzeitig verunsichert von seinen Erzählungen versucht sie, ihr Leben fortzuführen. Doch nicht nur, dass er ihr nicht mehr aus dem Kopf geht, auch die Wahrheit hinter dem Wohlstand ihrer Heimat überfordert sie. Ein Bündnis mit den Rebellen scheint der einzige Weg, das Unrecht zu beenden, doch weder die Frauen von Zefira noch die Rebellen wollen die Vergangenheit ruhen lassen. Welche Opfer muss sie bringen, um den Teufelskreis zu durchbrechen?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Der Spruch des Orakels

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Badamm.

Einen Schritt weiter.

Badamm.

Wieder einen Schritt weiter.

Wie ein Berg baute sich der aus Stein gefertigte Kegel vor uns auf. Der Schein der Fackeln tauchte ihn in sanftes, flackerndes Licht und erhellte die mondlose Nacht. Schatten huschten über die Oberflächen. Frauen tuschelten. Anhija vor mir zitterte.

Wieder ein Trommelschlag, noch ein Schritt.

Die erste der jungen Priesterinnen stand direkt vor dem gähnenden Mund des Kegels, der wie ein Mahnmal in den dunklen Himmel ragte und sich dort verlor. Wir wussten nicht, was uns erwartete. Es gab Gerüchte, die davon erzählten, Priesterinnen hätten den Kegel nicht mehr verlassen. Ich erschauderte. Ihren Knochen wollte ich nicht begegnen, erst recht nicht ihren Geistern.

Der nächste Trommelschlag führte eine meiner Mitschülerinnen in die Dunkelheit hinein. Was sie wohl sah? Wie es ihr erging?

Anhija drehte sich ängstlich zu mir um. In ihren Augen stand nicht nur die Angst um ihre Freundin, sondern auch ganz besonders vor unserem Schicksal. Im Tempel ausgebildet, in den Künsten unterrichtet, fähig, Krankheiten zu erkennen und zu heilen, waren wir im Moment nicht mehr als ein Spielball des Schicksals.

Ein frischer Wind kam auf, umgarnte mein hellbraunes Haar und liess es wieder los. Auf meinen Lippen zeichnete sich ein Lächeln ab, obwohl mir nicht danach war. Ich verspürte keine besondere Lust, das nächste Opfer zu sein, das schon längst überfällig war. Ich schluckte und verdrängte den Gedanken daran. Es wird alles gut, Thanissa.

Die Trommelschläge verstummten, die Zeit dehnte sich zu einer Ewigkeit. Nicht einmal die Frauen neben mir tuschelten. Ich kannte sie, sie tratschten zu gern. Doch einmal im Jahr blieben auch ihre Zungen ruhig, nämlich dann, wenn das Orakel den Priesterinnen ihre Bestimmung verriet.

Ungeduldig verlagerte ich das Gewicht vom einen Fuss auf den anderen und versuchte, trotz der Fackeln einen Blick auf die Sterne zu erhaschen. Sie hatten mich stets beruhigt, egal, wie schlecht es mir ergangen war. Ihr sanftes Licht, das meinen Weg erhellt, aber nicht überstrahlt hatte – leise Begleiter, die niemand bemerkte, die jedoch stets da waren. Ich mochte den Gedanken.

Ein Trommelschlag, so heftig wie der erste Donner eines Gewitters, der sich mit dem grellen Licht des nächsten Blitzes mischte, liess mich zusammenfahren. Mein Herz stieg, brach aus der Brust aus und galoppierte davon.

Hälse reckten sich, die Frauen um uns herum sahen nach oben zur Spitze des Kegels. Als würde sie frei über unseren Köpfen schweben, hob sich Marnas weisses, dünnes Leinengewand vom Heim des Orakels und dem dunklen Himmel ab. Sie war wunderschön.

»Weise.«

Die Menge brach in Jubel aus. Seit fünf Jahren hatte das Orakel keine Weise mehr ernannt. Ihre Zukunft sah rosig aus: Marna durfte den wichtigsten Sitzungen der Anführerinnen beiwohnen, in deren Quartier leben und sich frei in der Stadt bewegen. Bei Fragen würde sie zu Rate gezogen.

Ein wenig beneidete ich sie, auch wenn ich wusste, wie hart sie für ihren Traum gearbeitet hatte. Nur selten entsprach das Orakel dem Wunsch der Tempelschülerin, die sich seinem Urteil stellte.

Der nächste Trommelschlag führte Dhorea in den Kegel. Während der Ausbildung war sie mir nicht besonders aufgefallen, doch die Zeit mit ihr hatte ich in guter Erinnerung. Sie war still und zurückhaltend, aber auf sie war Verlass.

»Dienerin.« Unter normalen Umständen hätte niemand ihre Stimme vernommen, doch dem Orakelkegel war es eigen, einem Klang Fülle zu verleihen, sodass er von der ganzen Stadt gehört wurde.

Die Freude fiel deutlich zurückhaltender aus. Dienerinnen gab es jedes Jahr ein oder zwei, obwohl jeweils nur fünf Priesterinnen in den Tempelmauern ausgebildet wurden, sodass sie sich nach den eigenen Fähigkeiten und dem Urteil des Orakels entfalten konnten.

Innerlich lachte ich verbittert auf. Worin lag die Freiheit, sich selbst zu entfalten, wenn doch das weitere Leben durch eine einzige, in den Kegel gebannte Stimme in eine Richtung gelenkt wurde?

Als Nächstes verschluckte die Dunkelheit Anhija. Sie warf mir einen letzten Blick zu, zögerte und ergab sich schliesslich ihrem Schicksal. Wollten wir leben, hatten wir keine Wahl. Wer sich dem Urteil des Orakels nicht stellte, verlor den Schutz und das Wohlwollen der Stadt.

Ich sandte ein Stossgebet zum Himmel und bat darum, dass Anhija eine Berufung fand, die ihr entsprach. In den letzten Jahren waren wir Freundinnen geworden. Wir hatten alles geteilt, Aufgaben zusammen ausgeführt und uns gegenseitig gedeckt, wenn wir uns vom Tempelgelände geschlichen hatten.

Ich zitterte. An den Innenflächen meiner Hände trat Schweiss aus, und ich wischte sie am einfachen Leinengewand ab, doch nur Augenblicke später hätte ich schon wieder kein Glas mehr halten können. Das Warten zog sich in die Unendlichkeit. Nicht nur, dass ich die Nächste war, auch das Schicksal meiner Freundin versetzte mich in Unruhe. Immer wieder warf ich einen Blick nach oben, um ihr Gesicht, vielleicht auch einen Zipfel ihres vom Wind aufgeblähten Kleides zu erhaschen. Doch sie blieb verschwunden.

Eine Frau ein paar Schritte hinter mir flüsterte ihrer Nachbarin Worte ins Ohr. Selbst das Wispern verstärkte die Spannung, die sich über den Platz legte, auf dem sich die ganze Stadt versammelt hatte. Die Reichen und die Schönen, die Armen und die Arbeiterinnen. Und mittendrin trommelte mein Herz lauter als die Stille.

Anhijas helles Gesicht hob sich gegen den Nachthimmel ab. Es strahlte von innen, als sie der Stadt ihre Bestimmung mitteilte: »Dienerin.« In ihren Zügen mischte sich Erleichterung mit Stolz. Sie hatte es sich so gewünscht, in den Häusern oder vielleicht gar im Tempel dienen zu können, den Menschen ihre Gesundheit zu erhalten oder zurückzuerlangen. Sie würde sich in den Dienst der Stadt Zefira stellen.

Ein wehmütiges Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Ich freute mich mit ihr, ja, dennoch … Innerlich seufzte ich und wartete auf den Trommelschlag, der mich zum Opfer machte. Es gab fast jedes Jahr ein Opfer. Nur die letzten vier Jahre hatte keine Priesterin ihr Leben als solches verloren.

Jemanden musste es treffen, irgendwann. Den anderen dreien hatte das Orakel eine Bestimmung angedacht, die sie sich erträumt hatten und mit der sie einiges erreichen konnten. Als Weise und als Dienerinnen standen ihnen viele Wege und Türen offen.

Der Trommelschlag erschütterte den Boden und fegte mich fast von den Beinen. Ich richtete meinen Blick zur Spitze des Kegels, doch Anhija war bereits verschwunden.

Mit einem letzten, tiefen Atemzug trat ich ein.

Es war dunkel, doch es roch nach Wald und Gewitterluft, nach feuchter Erde und nach … Zuhause. Entschlossen schüttelte ich den Gedanken ab. Der Tempel war mein Zuhause, und das hier roch so gar nicht nach Tempel.

»Thanissa, nun ist es also so weit.« Die wohlklingende Stimme drang durch meinen Körper und nahm meinen Geist in Beschlag. »Es freut mich ausserordentlich, dich wiederzutreffen. Als ich dich das erste Mal sah, warst du ein kleines Bündel mit mehr Haaren, als erlaubt sein müssten. Doch in dir sah ich ein Leuchten, das ich erwachen sehen wollte.«

Ich drehte mich um die eigene Achse, um der Stimme einen Namen zu geben, doch undurchdringliche Dunkelheit hüllte mich ein. Nicht einmal den Eingang erkannte ich. Ich war gefangen, dem Urteil des Orakels völlig ausgesetzt.

Ich holte tief Luft und schloss die Augen. »Wie soll das Opfer aussehen?« Niemand wusste, was sich das Orakel als Opfer für eine von uns ersann.

Ein Lachen vibrierte in meiner Brust und mischte sich mit der Angst zu einem rotierenden Klumpen, der meinen Magen in Aufruhr versetzte. »Wieso ein Opfer?«

»Weil es jedes Jahr ein Opfer gibt. Fast.« Ich sah keinen Grund, um den heissen Brei herumzureden.

Wieder lachte das Orakel. »Meine allerliebste Thanissa, eine junge Frau wie dich opfere ich doch nicht. Du wirst Zefira in eine neue Zukunft führen.«

»Ich … Was?«

»Du bist eine Seherin. Dein Herz erkennt das Unrecht, deine Ohren hören die Lüge, deine Augen sehen, wo es schmerzt.« Die Stimme des Orakels klang warm, doch die Offenbarung war wie ein Schlag ins Gesicht. Ich verlor den Boden unter meinen Füssen, taumelte.

Eine Seherin hatte es seit einer Ewigkeit nicht mehr gegeben. Ich konnte mich nicht einmal an Schriften erinnern, die von dieser Aufgabe erzählten. Man munkelte nur hinter vorgehaltener Hand darüber. Zudem, so wundervoll es auch klang, doch die Aufgabe einer Seherin lastete schwer auf ihren Schultern.

»Sie sieht nicht nur, sie verändert auch. Sie führt zusammen, was zusammengehört, und trennt, was sich nicht mehr braucht.«

»Wieso hört sich das so verlockend an, obwohl es das nicht ist?«, schlüpften mir die Worte aus dem Mund, die sich immer und immer wieder in meinem Kopf drehten. »Warum soll ich das richten, was andere verbogen haben?« Mit jedem Ton wurde die Brust enger, der Knoten im Bauch fester. Jeder Gedanke war ein Hieb in die Magengrube.

Als Seherin war ich verantwortlich. Für alles. Die Erkenntnis machte mir Angst.

»Es gibt so viele fähige Frauen in der Stadt, bitte, ernenne eine von ihnen zu deiner Seherin.«

»Ich habe keine Wahl, Thanissa. Sie sehen nicht wie du. Jede andere hätte sich an dieser Macht erfreut, dir macht sie eine Heidenangst. Am liebsten würdest du dich im Kräutergarten verstecken und dort das Ende des Sturmes abwarten, doch du bist dieses Ende, du musst die Ungerechtigkeit beseitigen.«

Meine Ohren klingelten, Hitze stieg in meinen Kopf. Ich schwankte. Frische Luft. Ich brauchte frische Luft.

Aus dem Nichts tauchte ein halbrunder, erleuchteter Durchgang auf. Ich taumelte auf ihn zu, hielt mich am Rahmen fest und zog mich hinaus. Eine Treppe führte in so engen Windungen hinauf, dass ich mich ducken musste. Ich folgte der Wendeltreppe und fand mich unverhofft auf einer Plattform weit über dem Platz wieder, auf dem die Frauen der Stadt ihre Blicke erwartungsvoll auf mich richteten.

Seherin.

Ich schluckte und schüttelte kaum merklich den Kopf. Ich wollte keine Seherin sein. Ich wollte mich im Kräutergarten des Tempels verkriechen und das Ende des Sturmes abwarten.

Entschlossen hob ich den Blick, reckte das Kinn und straffte die Schultern. »Kräuterkundige.«

Gewittertanz

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Der Tempelgarten lag ruhig da, obwohl das Gewitter in den angrenzenden Bergzügen jeden Moment niedergehen konnte. Wilde Windböen trieben die regengetränkten Wolken vor sich her. Mein Leinenkleid tanzte mit ihnen und den feingliedrigen Blüten, die meine Finger streichelten.

Rumanda, meine Lehrmeisterin, kam mit gebückter Haltung auf mich zu. Ihre Glieder waren so alt, wie meine nie werden wollten, dennoch trug sie für jeden ein Lächeln in ihrem Herzen, das die Sonne selbst an stürmischen Tagen zurückbrachte. Wie heute.

»Die Sonne auf deinen Wegen«, begrüsste ich sie. Ich deutete auf eine Bank nicht weit von uns und bot ihr meinen Arm an, um sich einzuhaken.

»Mögen die Schatten fern von deinen bleiben«, erwiderte sie.

Ich schluckte. Die Schatten hatte ich wohl selbst heraufbeschworen, als ich vor zwei Tagen meine Bestimmung verleugnet hatte. Geboren, um zurechtzubiegen, wollte ich lieber mein Kräuterwissen erweitern und an eigenen Heiltränken feilen. Ich wollte nicht, dass alle etwas von mir erwarteten, das ich nicht erfüllen konnte. Selbst das Orakel hatte mir Angst gemacht.

»So hast du mich schon lange nicht mehr begrüsst«, freute sich Rumanda und tätschelte mir dabei den Oberschenkel. »Kräuterkundige also … Das passt zu dir.«

Ich nickte langsam. »Genau das, was ich wollte.«

»Oft gedenkt uns das Orakel eine Bestimmung zu, zu der wir zwar geboren sind, die uns aber über unsere eigenen Grenzen hinausbringt. Oder denkst du, dass Marna es als Weise einfach haben wird?«

Ich schloss die Augen, lehnte mich zurück und genoss das Peitschen der windgetriebenen Haare auf meinen Wangen. Es brachte so etwas wie Normalität zurück in mein Leben. »Sie wollte immer eine Weise sein, nun hat sie ihr Ziel erreicht.«

Die alte Frau kicherte. Trotz ihres Alters versprühte sie eine Lebensfreude, die ich besonders bei jungen Frauen oft vermisste. Die Leichtigkeit trotzte Sorgen und Ängsten, Ungewissheit und Pflichten. »Ist es nicht erstaunlich, dass dieses Jahr jede ihrer gewünschten Bestimmung nachgehen kann?«

Ich zuckte mit den Schultern und versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, während ich auf die Holztür starrte, die ich seit zwei Tagen sah. Unscheinbar war sie in die Mauer eingelassen, die den Tempel vor den umliegenden Wäldern und Hügeln abschottete. Wie oft hatten wir von so einer Tür geträumt, doch da war keine gewesen. Ich hatte nicht als Einzige mehrmals gesucht. Doch seit mir das Orakel meine Bestimmung offenbart hatte, zeigte sie sich mir.

»Vielleicht hat es das Opfer schon früher eingezogen?« Die Erinnerung legte sich wie ein Seil um meinen Hals, zog sich zusammen, sodass ich kaum mehr schlucken konnte. Auch wenn ich mich locker gab. Auch wenn ich tat, als ginge es mich nichts an.

Rumanda drückte mein Bein etwas. »Wer weiss? Vielleicht wird aus einem Segen erst später ein Opfer?«

Falls sie mir Mut machen wollte, misslang es ihr. Doch ich hatte eher das Gefühl, als würde sie nach einem Geheimnis graben. Das Versteck kannte sie schon, doch sie rätselte noch über Inhalt und Tiefe.

»Des Orakels Wege sind schleierhaft«, zitierte ich ihren Lieblingsspruch und entlockte ihr damit ein Schmunzeln.

Sie erhob sich, wischte ihr weisses Kleid sauber und warf mir einen wissenden Blick zu. »Du wirst deinen Weg finden, junge Priesterin, egal, wie ungewöhnlich er ist – denn du siehst ihn.«

Wie zu einer Statue aus weissem Marmor erstarrt, blieb ich auf der Bank sitzen, während sich meine Lehrmeisterin auf den Weg in den Tempel machte. Sie mochte Gewitter nicht, die ich in vollen Zügen genoss. Wie viel wusste sie? Und vor allem: woher?

Ein entferntes Donnern riss mich aus meinen Gedanken. Der Wind kühlte mein erhitztes Gesicht. Ich war eine Sehende, eine, die Missstände behob. Es war eine angesehene Bestimmung, dennoch war es nicht das, was ich mir erhofft hatte. Ich wünschte mir, immer hinter diesen Mauern neue Tränke und Tinkturen brauen zu können, bessere Rezepturen zu entwickeln, sodass die Menschen Zefira besuchten, um meine Heilmittel zu kaufen.

Wie magisch wurde mein Blick von der unscheinbaren, plötzlich aufgetauchten Holztür angezogen. Ich war mir sicher, dass dort eine dicke Wand aus Steinblöcken war und ganz bestimmt keine Tür, die bei einem ersten Angriff nachgeben und die Feinde ungehindert in den Tempel dringen lassen würde. Noch dazu vereinigte sich hier die Stadtmauer mit der Tempelbegrenzung, sodass eine Lücke doppelt gefährlich war.

Und verlockend.

Ich erhob mich und näherte mich der Tür. Mit jedem Schritt wirkte sie noch ein wenig kleiner, als wollte sie sich vor mir verstecken. Als ich meine Hand auf die Klinke legte, erwartete ich einen Schlag. Einen Rückstoss. Irgendetwas, das mich davon abhielt, sie zu berühren, zu öffnen und die Nase an die frische Luft vor den Stadtmauern zu strecken. Doch sie liess sich öffnen, als hätte jemand sie für mich geölt. Die Angeln quietschten nicht, das Holz blieb stumm.

Vor mir sah ich die Weite der Wiese, bis sie mit einer weichen Rundung einen Hügel formte. In der Ferne ragten dunkle Berge zwischen Wald und Wolken hervor. Sie versprachen Regen, Abkühlung und Blitze. Im aufkommenden Wind wogten die Blumen, kitzelten an meinen Händen und verströmten einen betörenden Duft. Ich schloss die Augen. Der Wind heulte über die Ebene.

Meine nackten Füsse erspürten den Untergrund. Schritt für Schritt tasteten sie sich voran, über Steine, trockenes Gras und weiche Blumenbüschel. Gierig sog ich die Luft ein, die Regen und einen klaren Himmel für den morgigen Tag versprach. Ich liebte, wie der Wind mir meine Haare ins Gesicht peitschte, mit meinem Kleid spielte, daran zerrte, als würde er mich nackt sehen wollen.

Meine Hände strichen zwischen den Blumen hindurch, forderten sie zu einem Tanz auf, zärtlich und begierig zugleich. Grashalme schlugen meine Haut, helle Blütenblätter milderten die Pein.

Erste Regentropfen fielen auf mein Gesicht, während ich mich immer weiter von der Stadt und meiner sicheren Heimat entfernte. Es fühlte sich so richtig an. Die Wasserperlen zerplatzten auf meiner Haut und entlockten meiner Kehle ein befreites Lachen. Das war Leben, das war Freiheit.

Ein unbekannter Duft stieg mir in die Nase: feucht und süss und herb zugleich. Es roch nach nassem Boden, festem Gestein und Harz. Holz. Nach würzigen Nadeln. Überrascht öffnete ich die Augen.

Ich stand im Wald, nicht weit von der Wiese entfernt. Mein Mund klappte auf, als ich die kleinen Pflanzen betrachtete, die ihre Blätter direkt neben einem riesigen Baum in die Höhe reckten. Moos überwucherte Steine und tote Äste. Ein Baumstamm wies derart tiefe Risse in seiner Rinde auf, dass ich mich an ihm bis zu seiner Krone hätte hinaufziehen können.

Ich wagte einen Blick zurück. Da lag Zefira, meine Heimat, seit ich denken konnte. Noch bevor sich irgendeine Erinnerung in mir hatte festsetzen können, war ich als Angehörige des Tempels erwählt worden. Sämtliche Mädchen wurden vom Orakel ihrer Bestimmung zugeführt und nur wenige mussten die Prozedur zweimal über sich ergehen lassen – so wie ich.

Entschlossen drehte ich mich ab. Den heutigen Abend, so unfreundlich das Wetter auch war, wollte ich geniessen. Sobald meine wahre Bestimmung ans Licht kam, hatte ich nicht nur eine schwere Strafe, sondern auch unangenehme Fragen zu befürchten. Die Menschen glaubten, eine Seherin könne einen Blick in die Zukunft werfen. Doch das war Unfug. Sobald ich zurück war, würde ich in den Tempelarchiven nach Unterlagen zu den Seherinnen suchen, um selbst eine Ahnung von deren Fähigkeiten zu erhalten.

Doch der heutige Abend gehörte mir.

Ein Blitz erhellte den Wald, sein Donner folgte im gleichen Augenblick, als wollte er mich in die Knie zwingen. Der Regen prasselte auf das Blattwerk über meinem Kopf, sammelte sich auf den Blättern zu dicken Tropfen und prickelte auf meiner Haut, wenn mich einer davon traf.

Befreit lachte ich auf, drehte mich um die eigene Achse und breitete die Arme seitlich aus. Herrlich, diese Freiheit! Im Tempel hatte ich mich nie so beschwingt gefühlt. Übermütig hüpfte ich über einen Stein, lachte und tanzte den kaum erkennbaren Weg entlang, der sich den Hügel hinaufschlängelte.

Aus dem feuchten Waldboden wurde nasser Untergrund. Wie graue Bindfäden rann der Regen auf die Erde und tränkte sie mit seinem Leben spendenden Saft. Mein Herz tanzte mit mir zwischen den Bäumen hindurch, hüpfte aus der Brust und flog zu mir zurück, um mir mit einem dicken Kuss für dieses Erlebnis zu danken.

Unter meinem Fuss brach ein Ast. Ich fiel in die Tiefe. Kein Boden, kein Stein hielt mich auf. Nasses Laub klatschte gegen meine Beine. Panisch suchte ich nach einem Halt für meine Hände. Ich rutschte weiter. Wie ein Blitz durchzuckte mich Schmerz, als ich mit dem Ellbogen gegen eine Kante stiess. Einen lauten Fluch unterdrückend, tastete ich weiter, während mein Oberkörper immer tiefer in das Loch sank, das sich unter mir aufgetan hatte. Endlich packten meine Hände einen dürren, viel zu dünnen Ast. Mein Sturz verlangsamte sich, kam zum Stillstand. Für einige Augenblicke baumelte ich in der Luft.

Ein leises Knacken zerstörte die trügerische Stille und kündigte das Bersten eines weiteren Astes an. Ich fiel erneut. Mit einem Fuss kam ich auf einem Vorsprung an, hakte ein und überschlug mich. Ich schrie.

Die Welt hatte sich unzählige Male um mich gedreht, als mein Sturz zu einem Ende kam. Erst wagte ich nur zu atmen, nahm einen Atemzug nach dem anderen. Trotz einiger schmerzender Stellen gelang es meiner Lunge erstaunlich gut, nach Luft zu schnappen.

Ich setzte mich auf, befreite meinen Arm von nassem Laub und sah mich um. Über mir schimmerte der mit Gewitterwolken verhangene Himmel zwischen Wurzeln hindurch. Das Loch wirkte von hier unten so klein, dass ich mir nicht vorstellen konnte, da hindurchgepasst zu haben.

Entschlossen stand ich auf und tastete die Wände ab. Vom Regen waren sie glitschig, an einer Stelle floss sogar ein Rinnsal über die matschige Erde. Ich fand keinen Halt, an dem ich mich an die Oberfläche ziehen konnte. Selbst die Wurzeln der Bäume waren zu weit entfernt, um sie zu erreichen.

Ich kauerte mich auf den Boden. Die Feuchtigkeit drang erneut in mein Kleid und zehrte an meinen Kräften. Ich zog die Beine an und legte den Kopf auf die Knie, um meine rasenden Gedanken zu beruhigen. Ein falscher Schritt, schon lag ich in einem dunklen Loch und kein Weg führte mehr hinaus.

Über meinem Kopf donnerte das Gewitter nieder. Lichtblitze zuckten über den Himmel, erhellten den Wald und malten schaurige Schatten an die Wände meines Gefängnisses. Vielleicht morgen, wenn es heller war … Ich schluckte. An die Möglichkeit vielleicht morgen auch nicht wollte ich nicht denken.

Ich fror jämmerlich. Meine Beine waren so weich wie warmer Zuckersirup. Ich nieste. Die ganze Nacht über würde ich nicht aushalten.

Wie der nächste Blitz den Himmel durchzuckte mich die Erkenntnis. Wenn ich jetzt nicht handelte, würde ich nie mehr kämpfen. Entschlossen erhob ich mich und tastete mich an der Wand aus verfestigter Erde entlang. Die Dunkelheit nahm zu. Mit meinen Fingern ertastete ich kühlen, harten Fels, im Laufe von Generationen von Wasser bei starken Unwettern geschliffen und gerundet.

Erstaunt hielt ich inne. Schritt für Schritt hatte ich mich von der Absturzstelle entfernt. Gab es tatsächlich einen weiteren Weg aus dem Loch hinaus? Ich stolperte durch eine Höhle, immer tiefer in den Berg, und hielt mich stets links. Falls ich nicht hinausfand oder es keinen Ausweg gab, dann konnte ich mich einfach umdrehen. Wenn ich mich dann rechts hielt, konnte ich die Absturzstelle nicht verfehlen.

Und die frische Luft. Ein kalter Hauch nach feuchter, steiniger Erde schlug mir entgegen, noch kälter als die Nacht sowieso schon war. Mich fröstelte. Zu gern hätte ich mich zu einem Knäuel zusammengerollt und mich vor der Kälte und der Schwärze versteckt, doch ich durfte den Fels nicht loslassen. Ich musste weitergehen, immer tiefer. Und wenn mich meine Beine nicht mehr trugen, musste ich umkehren.

Zur allumfassenden Dunkelheit gesellte sich die Ewigkeit. Die Zeit floss unaufhaltsam dahin, das wurde uns gelehrt, doch jetzt rannte sie so schnell wie ein gefrorener Bach. Ich schluckte und zweifelte an meiner leichtfertigen Entscheidung, die Absturzstelle zu verlassen. Ich sollte umdrehen und …

Stimmen. Tiefe Stimmen. Abrupt blieb ich stehen. Derart tiefe Stimmen hatte ich noch nie gehört. Noch verstand ich kein einziges Wort, dafür waren sie zu leise. Zudem warfen die kahlen Wände ihre Sätze zurück, sodass sie einmal, zweimal, vermischt und unkenntlich an meine Ohren gelangten. Noch war es mehr ein Flüstern, doch je weiter ich mich vorkämpfte, desto deutlicher wurden sie.

Das Licht eines Blitzes erhellte die Höhle, malte gezackte Muster an die Wände und sandte einen Donner hinterher, der mir bis ins Mark fuhr. Ich erstarrte. Das Gestein unter meinen Füssen grollte mit dem Donner. Oder bildete ich mir das ein? Ich schluckte. Spätestens jetzt wünschte ich mir, die Befehle unserer Lehrerinnen befolgt und die Tempelmauern nicht verlassen zu haben. Wie dumm konnte ich sein? Dennoch, da war ein Ausgang. Mein Herz hüpfte aufgeregt und ängstlich zugleich.

Ich wartete, bis sich meine Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten, und schlich weiter. Die Stimmen waren verstummt, doch das schwache Licht verstärkte sich mit jeder Kurve, um die ich bog.

Unerwartet fand ich mich nur wenige Schritte von einem Ausgang entfernt wieder. Davor konnte ich die Schemen einer geheimnisvollen Landschaft ausmachen, geprägt von Bäumen, schroffen Felsen und einem weiten Fluss, der sich am Talboden schlängelte. Mein Mund blieb offen stehen. Einen solchen Anblick … Ich schüttelte den Kopf. So etwas hatte ich noch nie gesehen.

Die höchsten Nadelbäume kratzten an den Bäuchen der Wolken und reizten sie, ihre Wut in der Schlucht zu entlassen. Ein Blitz zuckte über den verhangenen Himmel und brachte rollenden Donner mit sich. Wie versteinert blieb ich stehen. Das Schauspiel faszinierte mich.

Meine Brust glühte schmerzhaft auf. Erschrocken keuchte ich, fasste an mein schmutziges Kleid und krallte die Finger ins Leinen. »Ich gehöre hierher.«

Vehement schüttelte ich den Kopf und schob meine Verwirrung auf das Gewitter, das sich vor der Höhle austobte. Dem Wüten der Blitze folgten Regentropfen, schwer und kühl, die aus dem dunstverhangenen Tal ein wässriges Kunstwerk zauberten. Ich trat aus der Höhle und betrachtete die fruchtbare Gegend, die sich gar nicht so weit von dem Ort entfernt befand, an dem ich aufgewachsen, der unseren Augen jedoch verborgen geblieben war.

»Vielleicht solltest du dort weg.« Ein raues Lachen erklang, dessen Tiefe mich wie die Stimmen vorher überraschte.

Ich blickte nach oben. Etwas seitlich über mir hockte jemand auf einem Felsvorsprung. Das Kinn war dunkel, die Haare kurz und irgendwie fehlten die Rundungen. Verwirrt legte ich den Kopf schief und versuchte, meine Beobachtungen in Einklang mit dem zu bringen, was ich erwartete.

»Bist du stumm? Oder taub?«

Die Stimme vibrierte in meinem Kopf nach. Ich wollte mehr von ihr, mehr von diesem Ton hören, der so warm und rau war, dass ich ihr für immer lauschen wollte. »Ich bin weder taub noch stumm«, antwortete ich. »Wenn, dann stünde ich nicht im Dienst des Tempels.«

Ein Mann! Das musste ein Mann sein! Ein erschrockener Schrei kam über meine Lippen, und ich wich einige Schritte zurück in die Höhle. Ich musste von hier verschwinden!

»Warte! Es ist zu gefährlich.«

Gefährlich war nur er. Es gab keine Männer in Zefira. Sie waren zu schwach. Wenn ein Junge dem Kindesalter entwuchs, verdankte er es den dunklen Kräften, die nach der Macht der Stadt und nach unseren Führerinnen griffen.

Als ich seine Schritte hinter mir hörte, drehte ich mich um und warf ihm wütende Blicke zu. »Geh weg, Sohn des dunklen Lichts!«, zischte ich und hoffte, es würde ihn in die Flucht schlagen.

Mit wenigen Schritten überwand er die Distanz zwischen uns und packte mich fest am Handgelenk. Ein wenig überrascht war ich ob der Wärme seiner Haut, doch bevor ich mich erholen konnte, zerrte er mich nach draussen. Ein Donnern rollte heran, tief und schäumend, ganz anders als jenes, das den Blitzen folgte. Ich sah nach hinten und wurde im selben Moment herumgeschleudert. Der Mann zog mich zur Seite, weg vom Höhleneingang, der sintflutartig Wasser ausspuckte. Es schäumte in die Tiefe, riss einen Baum mit und verschwand im Wald.

Atemlos beobachtete ich das Geschehen, bis mich ein leises Lachen aus meiner Starre riss. Ich wandte mich zu dem Mann um, der mich an sich drückte und frech grinste.

Ich stiess mich von ihm weg. »Was soll das?« Mein Herz pochte laut und viel zu schnell. Bestimmt lag es an der Gefahr, der ich um Haaresbreite entwischt war – dank seiner Hilfe.

»Wie wäre es mit einem Dankeschön?«, fragte er grinsend und suchte die Felswand ab. Flink wie eine Eidechse kletterte er auf den Vorsprung, von dem aus er mich beobachtet und angesprochen hatte. Er schien nicht einmal mit einer Reaktion zu rechnen.

Unschlüssig blieb ich stehen. Noch immer spuckte die Höhle Wasser aus und säuberte sich von Laub, kleinen Steinen und Ästen, die sich im Laufe der Zeit in ihr gesammelt hatten. Im Moment konnte ich nicht nach Hause. Bei dem Gedanken an den Tempel seufzte ich leise. Ob sie mich schon vermissten?

Unwirsch wischte ich die Erinnerung an mein Zuhause beiseite. Darüber konnte ich mir Sorgen machen, wenn ich einen Weg aus diesem Tal gefunden hatte.

Wieder wanderte mein Blick zu dem Mann über mir. Er lehnte sich gegen die Wand, ein Lächeln auf den Lippen, und beobachtete das Gewitter, das sich langsam entfernte und nur den Regen zurückliess.

Er wirkte glücklich.

Beherzt packte ich den Griff, an dem er sich hochgezogen hatte. Auch wenn er sich an die Seite von dunklen Mächten stellte, hatte er mir das Leben gerettet und war der einzige Mensch weit und breit. Im Gegensatz zu ihm mühte ich mich die zwei Manneslängen hoch und kam schnaufend auf dem felsigen Untergrund zu liegen.

Er grinste mich an, ein lustiges Funkeln erhellte seine Augen.

»Werd bloss nicht frech!« Ich rollte mich auf die Seite und setzte mich schliesslich auf. Inzwischen war ich völlig durchnässt, die Farbe meines Kleides war kaum noch zu erkennen und vermutlich standen meine Haare in alle Himmelsrichtungen ab.

Er zuckte mit den Schultern. »Das muss ich nicht. Du bist für uns beide frech genug.«

Mir blieb die Sprache weg. Wie konnte er nur so mit einer Dienerin des Tempels sprechen, noch dazu mit einer Kräuterkundigen? Ich holte Luft, um ihm meine Meinung zu sagen, doch er kam mir zuvor: »Woher kommst du?«

Täuschte ich mich oder wartete er meine Antwort gespannt ab? Seine Kiefermuskeln mahlten kaum erkennbar, doch als würde sich mein Blick daran festkrallen, fiel es mir auf. »Wie du gesehen hast, bin ich munter aus der Höhle spaziert.«

Er lachte auf. »Und wärst da drinnen verreckt, hätte ich dich nicht selbstlos gerettet.«

Wenn ich mich nicht täuschte, zogen sich seine Mundwinkel kaum merklich nach unten. Ein stürmischer Wind brauste durch meinen Bauch, fast so stark wie der Sturm vor dem Gewitter. Wusste er denn nicht, dass ich eine angesehene Priesterin im Tempel von Zefira war?

Dennoch fand ich nicht den Mut, ihm auch nur noch einen Wink zu geben. Wenn er zugehört hatte, wusste er schon zu viel. Vielleicht war es meinem schmutzigen Kleid zu verdanken, dass er mir keine Klinge an den Hals hielt. Ich kannte die Gerüchte. Es gab Rebellen in den Bergen, wilde Horden aus nackten Affen, die immer wieder gegen unsere Stadtmauern stürmten oder sich hineinschlichen.

Ich besah ihn mir genauer. Er wirkte nicht wie ein Affe. Im Grunde genommen war er sogar schön. Vermutlich. Auf jeden Fall fehlten ihm keine Zähne, und Augen hatte er auch beide noch, die Ohren waren an ihrem Platz, und er wirkte kräftig und gesund.

Ich beschloss, ihm meine Herkunft nicht zu verraten. Stattdessen versuchte ich mich an einem freundlichen Lächeln. »Vielen Dank dafür.«

Er hob eine Augenbraue und richtete den Blick auf mich. »Plötzlich so höflich?« Er schien dem Frieden nicht zu trauen. Ich musste mich in Acht nehmen, wollte ich nicht auffliegen.

Ich zuckte mit den Schultern und legte den Kopf schief. »Du hast mir das Leben gerettet. Dass ich dich so angefahren habe, lag vermutlich am Schock und an der Reise hierher.«

Nachdenklich betrachtete er mich, lächelte mich an und entspannte sich sichtlich. Ich liess meinen Atem erleichtert ziehen. Die erste Hürde war geschafft, er misstraute mir nicht mehr – jedenfalls nicht so sehr, dass er mich weiter aushorchen würde.

»Ich liebe diese Stimmung, wenn sich die Wolken an den Berghängen entleeren und die Welt reinwaschen. Und die Regentropfen auf der Haut zu spüren ist so erfrischend.«

Seine vibrierende Stimme nahm meine ganze Aufmerksamkeit gefangen. Fasziniert beobachtete ich ihn, wie er den Wolken auf der Jagd nach dem nächsten Tal zusah und dabei sanft lächelte. Als wollte er seine Worte unterstreichen, stand er auf und trat an den äussersten Rand des Vorsprungs, wo sich ein paar Grashalme mutig über den Abgrund reckten. Im Dämmerlicht prasselten die dicken Tropfen auf seine Haut, durchnässten die wilden Haare und seine Kleider. Ein befreites Lachen ergriff von ihm Besitz, schüttelte ihn durch und war für einen unendlichen Augenblick der Mittelpunkt meiner Welt.

Zu viele Fragen

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Er hat mich gerettet. Immer wieder schoss mir dieser eine Gedanke durch den Kopf. Dabei hatte ich mich durch zwei unbedachte Bemerkungen verraten. Ich zog die Beine noch näher an den Körper und legte den Kopf auf die Knie. In Zefira kursierten so viele Gerüchte über die Rebellen, die die Stadt bei jeder Gelegenheit angriffen und an der Grossen Göttin zweifelten.

Ich schluckte und warf ihm einen Seitenblick zu. Er lächelte entspannt, betrachtete den Regen und genoss dessen Rauschen im Laub der Bäume. Er wirkte friedlich und in sich gekehrt, ganz anders, als ich mir einen Rebellen vorgestellt hatte: zottelig, brummig, nur grob der Sprache mächtig.

»Wie heisst du?«, brach ich die Stille, ohne den Blick von ihm abzuwenden.

Sein Lächeln vertiefte sich kaum merklich. »Taio.«

Ich wartete, dass er nach meinem Namen fragen würde, mehr über mich herausfinden wollte. Doch er schwieg, lauschte weiter dem Regen. Schliesslich räusperte ich mich. »Willst du meinen Namen nicht kennen?«

Nun wandte er den Kopf. Seine dunklen Augen leuchteten von innen, als er meine Gesichtszüge musterte, als könnte er in ihnen alles lesen, was er wissen wollte – sogar meinen Namen. »Ist er denn wichtig?«

Ich wandte mich ab und lehnte mich nach hinten, obwohl mein Herz schon wieder so heftig schlug. Es raubte mir den Atem, ich konnte dieses aufgeregte Pochen nicht recht begreifen. »Ich denke, dass wir von unseren Eltern sehr viel auf unseren Weg durchs Leben mitbekommen. Doch nichts bleibt uns bis an unser Ende wie unser Name.«

Wieder liess er sich Zeit mit der Antwort. Vielleicht hatte er nur deshalb eine so gute Aussprache, weil er sich die Worte erst mühsam im Kopf zurechtlegte. »Einen Namen kann man auch ablegen, ebenso wie eine Vergangenheit oder eine Zukunft.« Obwohl er entspannt klang, schwang ein bitterer Hauch in seinen Worten mit.

Augenblicklich stellte ich mir vor, wie er seine Heimat verlassen hatte, vor einer unbekannten Bedrohung geflohen und am Ende hier gelandet war. Trotz meiner Neugier schaffte ich es nicht, ihn danach zu fragen. Eine unsichtbare Grenze hinderte mich daran.

»Erlebst du so was öfter? Den Regen und die Blitze?«, wechselte ich stattdessen das Thema.

Er lachte leise. Mein Herz klopfte heftiger, und ich erblühte innerlich. Ich hatte ihn zu einem Lachen verführt! Diese Schwingung setzte sich tief in meinem Bauch fort und liess mich tanzen, auch wenn ich nicht ein einziges Bein bewegte.

Taio drehte mir den Kopf zu. »Hin und wieder, wenn keine junge Frau neben mir sitzt und wie ein Wasserfall plappert.«

Überrascht starrte ich ihn an, blinzelte. In seinen Augen blitzte es übermütig auf. Das befreite Lachen riss mich mit, forderte mich zum Tanz auf und veranlasste mich für einen Wimpernschlag, alle Sorgen und Bedenken zu vergessen. Unglaublich, wie leicht sich der Moment in seiner Nähe anfühlte.

Lächelnd wandte ich mich ab, gab meinem Bauch die Zeit, die er brauchte, um sich von diesem flatternden Gefühl zu erholen. Die laute Stille, das Prasseln im Nichts – es hatte etwas Befreiendes, selbst wenn ich nur an den Berg gelehnt sass und nichts tat. Kein Unkraut zu rupfen, keine Salbe herzustellen. Ich fühlte mich angekommen.

Taio stand auf und verschwand in einer Einbuchtung im Fels, aus der er mit einem Beutel in der Hand zurückkam. »Hast du auch Hunger?«

Ich starrte auf seinen Vorrat, als würde mich sein Essen vergiften. Mein Magen knurrte. Wahrscheinlich gehörte er den Rebellen an, die ihr Leben damit verbrachten, anderen ihres schwer zu machen oder zu nehmen, wenn ihnen das Glück hold war.

»Keine Sorge«, riss er mich aus meinen Gedanken, als könnte er sie lesen. »Ich würde nicht meinen ganzen Vorrat vergiften, um dir zu schaden. Dafür esse ich zu gern.«

»Wer weiss, vielleicht hast du ja zwei Beutel mitgenommen: einen für Feinde und einen für dich.« Ich hoffte es nicht.

Er lachte leise. »Sind wir denn Feinde?«

Ja. Nein. Die Worte flogen durch meinen Kopf, wie die Schmetterlinge um den Flieder herumflatterten, wenn er dunkelrosa blühte und einen betörenden Duft im Tempelgarten verbreitete. Ein Durcheinander aus Eindrücken und Erzählungen, aus Erlebtem und Gehörtem mischte sich, sodass ich am Ende nicht mehr wusste, was ich glauben sollte.

»Ich denke nicht.« Leise seufzte ich und hoffte, dass er es nicht hörte.

Taio brachte ein Stück dunkles Brot zum Vorschein, dazu ein paar Nüsse und eine Handvoll getrocknete Früchte. Mir lief das Wasser im Mund zusammen.

»Das freut mich.« Seine Erleichterung kaufte ich ihm sogar ab. In aller Ruhe brach er das Brot und gab mir ein Stück.

Gierig biss ich hinein. Seit der Zeremonie, bei der ich zur Seherin ernannt worden war, war mir der Appetit vergangen. Manchmal brachte ich gar nur ein paar Bissen hinunter, so wie heute Mittag. Diese Lust am einfachen, aber nahrhaften Essen hatte ich schon fast vergessen.

Er beobachtete mich mit einem Schmunzeln in den Augen, sagte jedoch nichts.

»Was ist?« Verunsichert sah ich ihn an, um keine Regung zu verpassen. Ich wollte diesen Mann verstehen, der mich so leicht werden liess, dass ich am liebsten hiergeblieben wäre.

Er schüttelte den Kopf und wandte den Blick dem düsteren Himmel zu, der sich in der Dunkelheit der Nacht nicht mehr vom Tal vor unseren Füssen unterschied. »Man könnte meinen, dass die Frauen in Zefira hungern müssten.« Ein anklagender Unterton vibrierte in seiner Stimme mit, den ich diesmal nicht überhören konnte. Als hätte die Stadt sein Leben zerstört.

Ich senkte den Kopf und starrte auf meine Hände. Vielleicht hatte Zefira sein Leben ja zerstört, ohne dass ich davon wusste? Jedenfalls wirkte er nicht wie jemand, der sich der dunklen Macht verschrieben hatte – ein Wunder, denn Jungen entwuchsen dem Kindesalter nur dann, wenn sie sich von der Grossen Göttin abwandten.

Innerlich seufzend, senkte ich die Hand mit dem Brot auf meinen Schoss und schloss die Augen. Am besten verschwand ich auf der Stelle und brachte mich in Sicherheit, solange ich noch konnte. Doch dagegen sträubte sich alles in mir, jedes einzelne Haar an meinem Körper wollte hierbleiben – selbst die ausgefallenen, die sich irgendwo in meinem Kleid versteckten.

Ich schluckte den letzten Bissen Brot, doch er blieb mir im Hals stecken, als mir bewusst wurde, was er wirklich gesagt hatte: Zefira. Er hatte die Stadt genannt, mich in Verbindung mit ihr gebracht. Er wusste, woher ich stammte.

Erschrocken starrte ich ihn an, doch er schien es nicht zu bemerken. Stattdessen blickte er weiter in die Nacht hinaus, als würde er dort die Antworten auf all seine Fragen finden.

»Du weisst, dass ich aus Zefira komme?«, hauchte ich, auch wenn ich es lieber als mein Geheimnis wieder mit nach Hause genommen hätte. Die Gewissheit, dass er es wusste, machte mich verrückt. Ich konnte nur erahnen, was er mit mir vorhatte, welche dunklen Pläne sich hinter der sonnengebräunten Stirn formten.

Nachdenklich nickte er, die Lippen leicht zusammengepresst. Konnte es etwa sein, dass er es lieber nicht gewusst hätte?

Die nächste Frage fiel mir ungleich schwerer, denn sie bedeutete den Bruch zwischen uns, auch wenn es ein Uns eigentlich gar nicht gab. »Du gehörst zu jenen, die Zefira einnehmen wollen?«

Taio senkte den Blick und holte tief Luft. »Lass die Fragen bleiben, damit wir uns heute Nacht nicht streiten.« Auch das war eine Antwort, wenn auch keine, wie ich sie mir gewünscht hatte.

Seine Schwere erinnerte mich an das Orakel, das mir das Ende des Sturmes vorausgesagt hatte. »Vielleicht bleibe ich ja nicht bis morgen?«

Er lachte auf und deutete mit dem Finger zur Höhle, aus der noch immer Wasser floss, wenn auch nicht mehr so sprudelnd wie am Anfang. Dennoch riss die Strömung gefährlich stark, sodass ich meinen wahnwitzigen Plan gleich verwarf, obwohl sich meine Freundinnen und Rumanda bestimmt schon sorgten.

Ich beugte mich vor, um mir eine neue Position zu suchen. Die immer gleichen Felsknubbel drückten in meinen Rücken. »Na gut, deine Gastfreundschaft ist so überwältigend, dass ich einfach nicht anders kann, als zu bleiben«, erwiderte ich und verdrehte gespielt genervt die Augen.

Er warf mir einen nicht zu deutenden Blick aus düsteren Augen zu, ehe er sich sichtlich entspannte. »Und ich dachte, Frauen aus Zefira hätten keinen Humor.«

»Und ich dachte, Männer aus den Wäldern schlachten alle Frauen ab.«

Er blinzelte verwirrt. »Das wäre dumm. Wir brauchen die Frauen, um nicht auszusterben.«

Damit hatte er wohl recht. »Also planst du, mich gefangen zu nehmen und als Zuchtstute zu halten?«

»Zuchtstute? Also bitte, so nennen wir unsere Frauen doch nicht!« Er lachte leise, doch bei Weitem nicht so losgelöst wie noch vor wenigen Augenblicken. »Das sind Perlen – mindestens!«

Mein Blick blieb an seinem traurigen Lächeln hängen. Wieso berührte mich diese Schwere hinter seiner leichten Fassade, obwohl es mir egal sein müsste? Die Worte des Orakels dröhnten in meinen Ohren, als würde es schreiend neben mir stehen. Es hatte mich auserwählt, die Ungerechtigkeiten zu erkennen und aus der Welt zu schaffen.

Ich räusperte mich. »Was verbindest du mit Zefira?«

»Ich möchte nicht darüber sprechen.«

Genervt rollte ich mit den Augen. »Beim Fluch der Grossen Göttin, wieso blockst du alles ab?«

Er brummte und drehte den Kopf weg, als hätte ich ihn in die Enge getrieben. »Weil es keinen Unterschied macht. Zefiras Führung will nicht verhandeln und uns stattdessen ausrotten. Wieso soll ich einer unbedeutenden Frau, die sich verlaufen hat, alles preisgeben?«

Überrascht starrte ich ihn an. Er sah in mir nichts Spezielles. Einerseits beruhigte mich das, hatte ich doch das Gefühl, dass mich seit der Zeremonie alle anders anstarrten, andererseits wäre es schön gewesen, in seinen Augen wenigstens mehr als nur eine unbedeutende Frau zu sein – warum auch immer mir das wichtig war.

»Weil auch eine unbedeutende Frau einen Unterschied machen kann«, erwiderte ich sanft und meinte jedes Wort so, wie ich es sagte. Ich glaubte daran, dass jede etwas verändern konnte, auch wenn der Kampf hart und aussichtslos schien.

Verbittert schnaubte er durch die Nase. Ich hatte nicht erwartet, dass in dem Mann, der mich mit seinem unbeschwerten, herzlichen Lachen zu faszinieren vermochte, so viel Gram steckte.

»So wie die unbedeutenden Männer in euren Katakomben?«, begehrte er auf. »Die nie einen Strahl Sonnenlicht sehen und nur darauf warten, als Samenspender auserwählt zu werden? Die sich damit abfinden, eines Tages auf dem Opferaltar zu landen, um einer Zeremonie Macht zu verleihen? Tag für Tag werden ihnen die Träume genommen, und wenn die Frauen sie selbst ihrer Würde beraubt haben, werden sie kaltblütig aus dem Weg geräumt.«

Unwillkürlich wich ich zurück, rutschte zur Seite. Seinen Ausbruch hatte ich nicht erwartet, die Wut schwappte über ihn hinweg, er warf die Hände in die Luft und funkelte mich zornig an.

»Nicht ohne Grund heisst der Rote Fluss so. Es gibt eine Grube, durch die ein Arm des Flusses führt. Dort hinein wirft die Führung die Leichen, nachdem sie sie in zeremonientaugliche Stücke gehauen hat. Im Namen deiner beschissenen Grossen Göttin!«

Ein dunkler Klumpen zog sich in meinem Bauch zusammen. Erschrocken hielt ich die Luft an, um mich nicht vor Schmerzen zu krümmen. Er sprach die Wahrheit. Ich wusste es tief in mir drin – ein Funke, zum Leben erwacht, um die Veränderung einzuläuten. Doch was Taio voller Schmerz in die Welt hinausschrie, versetzte mich in Angst.

Wieder schnaubte er abfällig, lehnte sich zurück und krallte die Hand in sein Haar. »Und eine unbedeutende Frau will die Veränderung herbeiführen, um die wir seit Generationen kämpfen?«

Ich schwieg. Seinem Zorn war ich nicht gewachsen, selbst wenn ich mich als Seherin offenbaren würde. Das würde ihn höchstens dazu verleiten, mich als Geisel zu nehmen und damit irgendetwas zu erpressen. Doch auch das war keine Lösung.

Die einzige Lösung war Stille. So zog die Nacht an uns vorbei, der Regen wurde schwächer, bis nur noch das schwere Tropfen dicker Wasserperlen von Blättern in kleine Pfützen zu hören war. Die Welt kam zur Ruhe, nahm mich mit auf ihrer Reise in einen leichten Schlaf, die Kälte und Nässe ignorierend.

Vertrauen und Verrat

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Dem Rauschen des Laubs im kühlen Morgenwind hätte ich eine Ewigkeit lang zuhören können. So sanft von der Natur geweckt zu werden war mir fremd. Trotz der Gänsehaut auf meinen Armen konnte ich mich nicht von der äussersten, noch trockenen Stelle lösen. Taio hatte mir schon vor einiger Zeit angeboten, mich zu wärmen, doch nur mit den Schultern gezuckt, als ich abgelehnt hatte.

Vielleicht sollte ich sein Angebot doch annehmen.

Ich wagte einen Blick über meine Schulter, obwohl ich seine Umrisse im grauen Licht des anbrechenden Tages nur schemenhaft erkannte. Er lehnte gegen den Stein, die Arme vor der Brust verschränkt und die Beine ausgestreckt.

»Endlich genug gesehen?«, fragte er mit seiner tiefen Stimme, die mich so sehr in ihren Bann zog, dass ich manchmal vergass, seinen Worten eine Bedeutung zu geben. Passierte das bei allen Männern?

Ich neigte den Kopf zur Seite. »Regen ist etwas Kostbares. Er erhält Leben und reinigt die Welt. Diese Kraft zu erleben ist ein Geschenk«, erklärte ich mein Staunen. Dass ich solche Gewitter bisher nur hinter den Tempelmauern erlebt hatte, brauchte er nicht zu wissen.

Er setzte sich aufrecht hin und bedachte mich mit einem intensiven Blick, den ich mehr spürte denn sah. »Ich dachte, Gewitter gibt es überall.«

Ein Lächeln huschte über mein Gesicht. »Nicht in Zefira, jedenfalls nicht so oft. Wir sehen, wie der Regen in den Bergen und Hügeln niedergeht, doch in der Stadt weht einzig dieser Wind, der das Gewitter ankündigt.« Ich machte eine kurze Pause. »Lebst du hier?«

»Ist das ein Verhör?«

Tief holte ich Luft, schüttelte den Kopf und drehte mich weg. Wenn er nicht sprechen wollte, zwang ich ihn nicht dazu. Bald schon ging die Sonne auf, und ich würde mich auf den Heimweg machen – mit knurrendem Magen und dem Gefühl, etwas übersehen zu haben. Doch im Tempel sorgten sie sich bestimmt schon. »Es war nur eine Frage«, murmelte ich und wusste nicht, ob ich darum beten sollte, dass er es hörte, oder darum, dass er es nicht hörte.

»Das Tal ist unser Zuhause. Die Wenigsten mögen Gewitter und verkriechen sich in ihren Hütten, deshalb komme ich oft allein hierher, um es zu geniessen.« Sein Finger deutete auf einen Punkt in der Talsohle. »Dort leben wir. Das Dorf verschwindet unter den Baumkronen, sodass du es von hier aus nicht sehen kannst.«

Im Tal erkannte ich sowieso nichts. Der anbrechende Tag tauchte die tiefer gelegenen Stellen in ein düsteres, schummriges Licht, das Konturen und Farben schluckte. Ich schlang die Arme um meinen Oberkörper, als ein Windzug an meinem noch immer feuchten Kleid zog. Taios Decke wirkte einladend, die Vorstellung seiner Körperwärme, auch wenn es nur wenig war … Ich schluckte und wandte mich ab. Vielleicht diente er diesen unbekannten dunklen Kräften, die schwache Jungen stark machten und Zefira bedrohten. Ich durfte ihm nicht vertrauen.

Er rutschte zu mir, setzte sich hinter mich und deutete auf einen Punkt in der Nähe des Lagers. »Da ist meine Hütte. Von dort aus kann ich diesen Platz sehen, wenn ich will.«

Die tiefe Stimme so nah an meinem Ohr zu hören, löste ein wildes Kribbeln in meinem Bauch aus. Vielleicht war es nur ein Windhauch, doch ich bildete mir ein, seinen Atem auf meiner Wange zu spüren, die Wärme an meinem Rücken. Vor Aufregung brachte ich kein Wort über die Lippen.

»Wie verirrt sich eine Frau wie du hierher?«

Ich schluckte. Nicht um alles in der Welt konnte ich ihm offenlegen, dass ich direkt aus dem Tempel zu den Hügeln gerannt war. Er gehörte den gefürchteten Rebellen an. Jede Information könnte ihn weiterbringen. Würde er noch von meiner Aufgabe als Priesterin erfahren, würde er mich der dunklen Macht opfern oder als Geisel nach Zefira bringen, um etwas zu erpressen. Ich schauderte. Dann wäre wenigstens klar, weshalb das Orakel seit Jahren kein Opfer mehr ernannt hatte. Die erste Seherin in einer ganzen Ewigkeit, und sie rannte mitten in die offenen Arme der Rebellen. Das war für Generationen Opfer genug.

Ich wedelte mit der Hand in der Luft. »Zufall«, entgegnete ich und wandte meinen Blick dem wunderschönen Tal zu.

»Ich verstehe.«

Hoffentlich nicht.

»Gibt es einen Geheimpfad nach Zefira?«

Ich erstarrte. Das klang ganz sicher nach einem Verhör. Mit angehaltenem Atem betete ich zu unserer Göttin, dass er es nicht bemerkte. »Nein«, antwortete ich mit piepsiger Stimme, die jeder Maus Konkurrenz gemacht hätte.

Er lachte, doch es klang angespannt, als wollte er nicht, dass ich seine List durchschaute. Ich wandte mich ihm zu und hielt erschrocken die Luft an. Er fixierte mich mit dunklem Blick. Ehe ich ihn zu deuten wusste, lehnte er sich zurück und sah in das Tal hinunter. Ein Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab und brachte die Leichtigkeit zurück, die mich vom ersten Augenblick an fasziniert hatte.

Ich folgte seinem Beispiel und wandte mich zum Tal. Vor Staunen klappte mein Mund auf. So wunderschön, wie sich die Sonne über die entfernten Berggipfel schob, ihre Strahlen zwischen Wolken und Berge auf die sattgrünen Wälder sandte und den Vögeln erste Gesänge entlockte. Als hätte der Regen die Welt rein gespült, glitzerte sie im neuen Tag und erhellte mein Herz. Ein Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus und für einen Moment vergass ich meine Sorgen.

»Jede grössere Stadt hat Geheimwege«, gab Taio zu bedenken.

Verwirrt richtete ich meinen Blick auf ihn und zog die Augenbrauen zusammen. Im Gegensatz zu mir schien er nicht im Geringsten vom Sonnenaufgang beeindruckt, der die Schönheit meiner Heimat – oder wohl eher seiner Heimat – zum Funkeln brachte. »Wenn du es so genau zu wissen scheinst, warum fesselst du mich dann nicht einfach, verschleppst mich in dein Dorf und vierteilst mich bei lebendigem Leib?«

Er blinzelte und starrte mich an, ehe er lächelte und ein Strahlen in seine grünbraunen Augen zauberte, das leise Zweifel in mir aufkeimen liess. »Ich rette doch nicht dein Leben, um dich den Geiern zum Frass vorzuwerfen. Zudem würdest du viergeteilt noch weniger antworten.« Belustigt zwinkerte er mir zu, legte sich auf den Bauch und schwang sich über den Rand des Vorsprungs auf den Boden.

Überfordert starrte ich ihn an. Er hatte gezwinkert! Ich beeilte mich, seinem Beispiel zu folgen, und kletterte hinter ihm zur Höhle hinunter, die mir den Heimweg wies. Wortlos reichte er mir seine Hand und half mir, als ich den letzten Absatz hinuntersprang. »Danke.«

Für einen Mann grinste er viel zu frech. »Na also, so schlimm ist das doch nicht mit dem Danke.«

»Ich bin ja nicht dumm.«

Er schluckte, blickte über seine Schulter zum Rand der Büsche, die zwischen den Steinblöcken einen Platz zum Gedeihen gefunden hatten, und fuhr sich mit den Fingern durch das dunkle Haar. Noch immer hielt er meine Hand. Die Wärme zauberte mir ein Kribbeln in den Arm.

»Manche werden es denken.« Er wies auf einen Punkt seitlich den Hang hinab.

Mein Blick folgte seinem ausgestreckten Arm. Am Anfang erkannte ich nichts, doch dann entdeckte ich die drei Männer, die sich zwischen den Büschen und Bäumen hochkämpften. Vor Angst schnürte sich mir die Kehle zu, und ich wich einen Schritt zurück. »Hast du mich verraten?«

Er stemmte die Hände in die Hüften und betrachtete mich mit einem Blick, der seine eigenen Zweifel und Hoffnungen offenlegte. Zögernd schüttelte er den Kopf. Er steckte in einem ebenso grossen Zwiespalt wie ich.

Meinem Blick ausweichend, seufzte er tief. »Zufall. Manchmal suchen sie mich am Morgen, um zu jagen. Vielleicht haben sie dich auch entdeckt, gestern, als …« Er schluckte. »Als ich dich noch nicht näher kennengelernt hatte. Ich dachte stets, die Priesterinnen seien das Herz des Übels und im Herzen erkaltet.«

Priesterin. Er wusste, wer ich war. Wahrscheinlich war es ihm vom ersten Moment an klar gewesen. Entgeistert entfernte ich mich weiter von ihm, traute meinen Ohren kaum, als unsere Verbindung brach und seine Hand, die eben noch meine gehalten hatte, sank. Er verengte die Augen zu Schlitzen, in denen ich nicht lesen konnte. Hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ihm zu vertrauen, und meiner Angst, schlang ich die Arme um meinen Oberkörper.

»Doch ich glaube nicht, dass dein Herz kalt ist. Wenn du siehst, was den Männern angetan wird, wirst du handeln.« Er sah nach seinen Freunden, legte einen Finger an seine Lippen und nickte in Richtung der Höhle. »Halte dich rechts. Nach kurzer Zeit wirst du eine Einbuchtung erreichen, in der du dich verstecken kannst. Ich werde sie daran vorbeilocken und dir den Weg zum Ausgang zeigen.«

»Wieso sollte ich dir glauben?«, spie ich aus. »Du hast mich verraten!« Er gehörte den Rebellen an, diente einer dunklen Macht. Ich durfte ihm nicht glauben, sondern musste mit dem Schlimmsten rechnen.

Verunsichert fuhr er sich durch die Haare, blickte zu den fremden Männern und wieder zu mir. Dann zuckte er mit den Schultern. »Es ist Zufall. Wirklich. Ich würde doch nicht …« Mit verzweifelt verengten Augen und bittendem Ausdruck schluckte er. »Los, beeil dich!«

Ich hielt es nicht mehr aus. Kopfschüttelnd riss ich mich von ihm los, dachte an Zefiras Licht, das mich all das hier vergessen lassen würde, und rannte in die Dunkelheit hinein. Was auch immer mich hier erwartete, es konnte nicht schlimmer sein, als diesen verlogenen Männern in die Hände zu fallen.

Rechts, rief mein Kopf. Doch traute ich diesem Mann wirklich, der mich auch hätte begleiten können? Er musste vermutet haben, dass seine Freunde ihn besuchen kommen würden, und hatte mich nicht gewarnt.

Mein Herzschlag flog nur so dahin, während ich mich so schnell wie möglich vorwärtstastete. Ich erreichte eine erste Abzweigung nach rechts und hielt inne. Was, wenn er es ernst meinte?

Was, wenn er mich in eine Falle locken wollte?

Verunsichert blickte ich zum Eingang zurück. An den Wänden schimmerte das Tageslicht schon deutlich. Gestern war ich diesem Licht gefolgt, die Höhle hatte eine lang gezogene Rechtskurve beschrieben. Demnach führte mein Weg nun nach links, tiefer in das Labyrinth und die Dunkelheit hinein.

Den Bruchstücken meiner Erinnerung folgend, hastete ich weiter, so schnell es mir im Dunkeln möglich war. Zum viel zu lauten Herzschlag mischten sich die Stimmen der Männer und Taios Lachen.

»Sie wird nicht weit kommen.« Taios Stimme folgte ein Händeschlag. »Wenn sie schlau ist, wird sie in der zweiten Kuhle rechts warten.«

Zweite Kuhle rechts. Mein Atem stockte. War es ein Versehen gewesen, dass er mir ein anderes Versteck gesagt hatte, oder wollte er mich wirklich beschützen?

Ich beschleunigte meine Schritte trotz der Angst, dass ich ausrutschen oder stolpern könnte und die Männer auf mich aufmerksam machen würde. Wenn sie mich erwischten, brauchte ich mir gar keine Hoffnungen mehr zu machen. Also tastete ich mich weiter, stiess mir meinen Zeh an einem herausragenden Knubbel und unterdrückte einen Schmerzenslaut.

»He, da ist ja niemand!«, rief einer der Männer. Seine nasale Stimme liess mich schaudern. Ihm wollte ich auf keinen Fall begegnen.

»Hast du ihr die Flucht ermöglicht?«, fragte nun ein anderer forsch.

Ich schluckte. Falls Taio wegen mir in Schwierigkeiten geriet … Entschlossen schüttelte ich den Kopf und verwarf den Gedanken gleich wieder. Er hatte mich in eine Falle locken wollen, ich brauchte mir keine Sorgen um ihn zu machen. Hätte er mich früher gewarnt, wäre ich schon längst über alle Berge.

Sein tiefes Lachen verfolgte mich durch den Gang, hallte an den Wänden wider und krallte sich um meinen Brustkorb, sodass mir das Atmen schwerfiel. »Die Idiotin wird sich in den Höhlen verlaufen. Das ist keine Flucht, das ist Selbstmord«, antwortete er lauter als nötig.

»Bei uns hätte ihr Tod wenigstens einen Nutzen – und wenn es nur der ist, dass wir Zefira endlich zu einem Eingeständnis zwingen können.«

Ausser Atem drückte ich mich in eine dunkle Ecke und hoffte, dass sich mein Herzschlag bald beruhigte. Wenn ich mich blind in ein riesiges Höhlensystem stürzte, würde ich es nicht überleben, da hatte mein Retter von gestern Abend recht.

Eine bisher unbekannte Stimme lachte. Es klang beängstigend nahe. Am liebsten hätte ich mich tiefer verkrochen, doch das Gestein in meinem Rücken bohrte sich unbarmherzig in mein Fleisch. »Du hättest sie auch einfach festhalten können.«

»Wie denn?«, brummte Taio. »Ich nehme nun mal nicht immer ein Seil mit. Normalerweise fallen keine Frauen aus regengefluteten Höhlen. Hätte ich mich etwa auf sie legen sollen?«

Schatten huschten über die Wände, verzerrten sich zu Ungeheuern, die mir das Blut in den Adern gefrieren liessen. Sie hoben sich nur noch wenig von der Dunkelheit der Höhle ab, doch meine Augen hatten sich an das spärliche Licht gewöhnt. Wenn mich die Männer nur nicht entdeckten. Wenn sie einfach an mir vorbeizogen, ohne den Kopf nach links zu drehen. Dann, vielleicht, könnte ich über die Hügel zurück nach Zefira gelangen. Vermutlich war das sicherer, als mich durch die unbekannten Gänge zu schleichen.

Wieder lachte jemand. »Und ihr das Kleid hochschieben?«

Verwirrt runzelte ich die Stirn. Wieso sollte mir jemand das Kleid hochschieben, wenn er auf mir lag? Ich war so sehr in dieses Bild vertieft, dass ich die Männer im ersten Augenblick nicht entdeckte. Einer nach dem anderen ging an mir vorbei, nur zwei Armlängen entfernt. Ich hielt die Luft an, sandte ein Stossgebet zu unserer Göttin. Es konnte nicht möglich sein, dass ich eben erst zur Seherin ernannt worden war und nun sterben sollte.

Drei Männer schritten an mir vorbei, der vierte folgte in einigem Abstand. Sein Profil erkannte ich im ersten Moment: Taio. Im Gegensatz zu seinen Freunden, die sich vor Freude an der Jagd auf mich kaum zügeln konnten, wirkte er nachdenklich.

Er stoppte. Hoffentlich konnte er meinen Herzschlag nicht hören, der viel zu laut durch meine Brust tobte. Unwirklich langsam drehte er den Kopf nach links.

Ich blinzelte.

Vor Überraschung riss er die Augen auf. Einen Wimpernschlag verharrte er, dann sah er seinen Freunden hinterher, ehe er den Zeigefinger an die Lippen legte.

Wie ein Hase in der Falle presste ich mich fester an die Wand, als würde sie mich in sich aufnehmen, drückte ich nur stark genug.

Blitzschnell packte Taio meine Hand und zerrte mich aus meinem Versteck. Ein erschrockener Laut kam über meine Lippen.

Sein Kopf schnellte zu seinen Freunden herum. »Verdammt, diese blöden Steine!«, fluchte er viel zu laut. »Morgen fallen mir alle Zehen ab, blau und geschwollen, wie sie jetzt schon sind.«

Ich schluckte und ein winziger Hoffnungsschimmer stahl sich in meinen Bauch. Versuchte er gerade, mir zu helfen? Doch wieso hatte er mir dann empfohlen, mich rechts zu halten und es gleich darauf seinen Freunden erzählt?

Unerbittlich zog er mich wenige Schritte mit sich, in Sichtweite seiner Begleiter, doch die drehten sich nicht um, sondern witzelten über seine ungeschickten Füsse. Er schob mich in den nächsten Seitengang hinein und entfernte sich von mir. »Einmal links, einmal rechts«, flüsterte er und verschwand in der Dunkelheit.

Fassungslos starrte ich ihm hinterher, ehe ich mich fasste und zögernd seinem Ratschlag folgte. Er würde die anderen nicht hintergehen, um mich dann doch zu fangen. Einfacher als jetzt gerade hätte er mich nicht ausliefern können.

Die erste Abzweigung führte mich ein paar grobe Stufen hinauf. Ich konnte mich nicht daran erinnern, diesen gestern begegnet zu sein, als ich in die Tiefe gefallen war.

Aus einem schmalen Loch schimmerte Tageslicht. Beinahe hätte ich vor Erleichterung geseufzt, doch ich hielt mich zurück. Das Seufzen einer Frau hätte Taio sicher nicht schnell genug vertuschen können – falls er es überhaupt wollte. Vielleicht genoss er auch einfach die Jagd und gönnte mir nur einen Vorsprung.

Ich ging auf die Knie, als ich direkt vor dem Durchgang zum Licht stand. Auf allen vieren passte ich gerade zwischen lockerem Erdreich und feuchtem Berggestein hindurch. Wurzeln hingen in mein Gesicht. Kurz vor dem Ausgang zerriss ich ein Spinnennetz.

Dann, endlich, spuckte mich der Boden aus. Mit letzter Kraft, hungrig und schmutzig, wie ich war, zog ich mich aus der Höhle und legte mich auf den mit nassen Tannennadeln übersäten Waldboden. Ein paar Mal atmete ich tief ein und aus, roch die frische Luft und lauschte dem Gesang der Vögel. Ihnen war nichts anzumerken. Für sie ging das Leben weiter wie bisher.

Mit einem schweren Klumpen im Bauch setzte ich mich auf und sah mich um. Ein Absatz mit hüfthohen Steinblöcken führte zu einem schmalen, abfallenden Waldweg, der zwischen den Baumstämmen verschwand. Über die höchsten Baumwipfel hinweg strahlte Zefira in der Ferne, uneinnehmbar und trotzig.

Auch wenn alles beim Alten schien, sagte mir das Grummeln im Bauch, dass mein Leben ab heute ein anderes sein würde als bisher.

Zuhause

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Um meinen geheimen Hintereingang beim Tempel nicht zu verraten, betrat ich die Stadt über das breite Tor. Vielleicht verfolgte Taio meinen Weg. Selbst wenn er mir geholfen hatte, so kratzten seine Fragen nach dem Geheimweg in meinem Hinterkopf.

Bäuerinnen mit Eselskarren brachten frische Karotten und Pastinaken, Sonnenblumenkerne und getrocknetes Fleisch zum Markt. Allein der Duft trieb mir das Wasser im Mund zusammen. Seit gestern Abend hatte ich nichts mehr gegessen und die Reise forderte ihren Tribut.

Ich wollte essen. Und schlafen. Nur wusste ich nicht, was wichtiger war. Am liebsten hätte ich einen sauren Apfel vom Wagen neben mir stibitzt, doch wie ein Mahnmal ragte der Kegel des Orakels in der Mitte der Stadt auf. Es hatte mich zur Seherin berufen, um die Ungerechtigkeiten zu beseitigen, die es in Zefira gab. Bestimmt hatte es nicht damit gerechnet, dass ich nur wenige Tage später kurz davor war, einen Diebstahl zu begehen.

Niemand beachtete mich, eine schmutzige, verarmte junge Frau in einem zerrissenen Leinenkleid, deren Magen lauter grummelte, als der Ochse weiter vorne brüllte. Normalerweise grüssten mich die Frauen mindestens mit einem Kopfnicken, viele hielten einen kurzen Schwatz und fragten nach dem Leben im Tempel. Priesterinnen waren angesehen. Mit ihnen verbrachte man gern Zeit. Doch verwahrloste Frauen beachtete man nicht.

Erstaunt blieb ich stehen und suchte in schattigen Ecken nach anderen wie mir, die mit einfachen Gewändern und hungrigen Augen den Wagen hinterhersahen. Sobald ich eine schemenhafte Gestalt entdeckte, huschte sie davon oder jemand schob sich dazwischen. Ich setzte mich wieder in Bewegung, als der Blick aus den grossen, dunklen Augen eines Mädchens den meinen fesselte. Es drückte sich in die Schatten, versuchte, sich unsichtbar zu machen. Verwirrt zog ich die Augenbrauen zusammen und suchte in meiner Erinnerung nach einem ähnlichen Bild, passte dieses doch nicht zu dem, was ich von Zefira kannte. Es war eine reiche, blühende Stadt, in der es genug für alle gab.

Die Wangen, das Schlüsselbein, sämtliche Knochen stachen hervor, so abgemagert war sie. Hatte sie denn niemanden, der sich um sie kümmerte? Ihre Mutter, eine Tante, vielleicht die Schwester? In ihren Augen lag eine Hoffnungslosigkeit, die selbst mir das Herz schwer werden liess. Dennoch lag darin die Kraft, niemals aufzugeben. Bis zu ihrem letzten Atemzug würde sie für sich selbst einstehen, für ihre Überzeugung kämpfen – und am Ende wohl alles verlieren.

Verwirrt wandte ich mich ab, überfordert von der Entschlossenheit in ihren Bewegungen. Sie atmete den Widerstand, obwohl sie vermutlich gerade deswegen auf der Strasse lebte, von den Frauen Zefiras übersehen.

Ich eilte zwischen den Häusern zum Tempelplatz, hinter dem sich der Tempel wie ein Bollwerk erhob. Zwischen dem Platz und dem imposanten Gebäude schwammen in einem lang gezogenen Teich Fische in allen Formen und Farben. Seerosen betörten mit ihrer Schönheit, während sich an den Tempelwänden duftende Rosen emporrankten. Eine breite Brücke schwang sich über das Wasser und lud in den Tempel ein, obwohl der Bevölkerung bis auf den Saal der Zeremonien sämtliche Türen verschlossen blieben. Unter der brennenden Mittagssonne hatten die Priesterinnen selbst diesen Zugang versperrt, da sich die Hitze ansonsten im Inneren stauen und die abendliche Hymne an unsere Grosse Göttin zu einem einsamen Gesang verkommen lassen würde. Keine Frau setzte sich freiwillig in einen heissen Raum und lauschte der Stimme der Ersten Priesterin, wenn sie derselben Huldigung auch einen Tag später wieder beiwohnen konnte. Das Leben der Stadt war so eng mit dem Tempel verknüpft, dass der Besuch der Hymne so alltäglich war wie der Umtrunk in einem Gasthaus.

Schweren Herzens trat ich zum riesigen Eingang, der mir bisher nicht so übergross vorgekommen war. Mit diesem Leinenkleid, dessen ockerfarbene Fetzen meinen Körper bedeckten, und den aufgerissenen Händen glich ich nicht der Tempelschülerin, die ich war.

Ein winziger Durchgang in der Stadtmauer hatte mich hierhergebracht, vor die verschlossenen Tore meines Heims. Auch wenn ich wusste, dass ich willkommen war, fühlte ich mich ausgeschlossen. Mit zitternder Hand griff ich den schweren Löwenkopf, Zefiras Wappentier, und klopfte zweimal gegen das eisenverstärkte Holz. Eine Weile geschah nichts, dann huschten Schritte über den Steinboden im Inneren, und die Pforte neben dem Eingang öffnete sich einen Spaltbreit.

Als ich Rumanda erkannte, lächelte ich erleichtert. Meine Lehrmeisterin blinzelte verwirrt, stiess einen erfreuten Schrei aus und die Tür auf. Ihre Arme drückten mich fest an sich, für einen Moment hob sie mich gar in die Luft.

»Hör auf, ich bin zu schwer«, wehrte ich mich.

Nur zögerlich entliess sie mich aus der Umarmung, und sofort vermisste ich ihre Nähe und die Wärme, die sie mir aus tiefstem Herzen entgegenbrachte. Sie wandte sich ab, doch in ihren Augen meinte ich ein verräterisches Glitzern zu sehen.

»Der Göttin sei Dank für deine Rückkehr.« Sie machte eine kurze Pause, in der sie mich nachdenklich musterte. »Wasch dich, kleide dich neu und finde dich im Zimmer unserer Mutter ein. Sie verlangt nach dir.«

Fragen lagen mir auf der Zunge, die ich vor wenigen Tagen noch nicht einmal zu denken gewagt hatte, geschweige denn sie laut auszusprechen. Doch Rumanda war vermutlich nicht die Frau, die mir die Antworten geben konnte. Unsere Mutter wusste mehr, hörte mehr und sah mehr.

Noch brauchte ich Zeit, um meine Gedanken zu sortieren. »Ich bin müde und möchte mich ausruhen. Doch ich bin gern bereit, die Fragen später zu beantworten.«

»Unsere Mutter ist aufgebracht und wünscht alles über dein Verschwinden zu erfahren. Sofort.« Rumanda schob mich durch die Seitentür, am göttlichen steinernen Kreis im Saal der Zeremonien vorbei zu den Kammern der Priesterinnen. Auch wenn unser Leben einfach war und dem Wohl der Stadt diente, waren die Räume sauber und die Gänge trocken, das Essen gut und ausgewogen. Doch Luxus kannten wir nicht.

»Zudem hat Anhija ein Mädchen im Haus der Heilung, für die sie einen Trank benötigt«, eröffnete mir meine Lehrmeisterin so geduldig, als würde sie dem fünfjährigen Ich erklären, dass es sich nicht allein von Mandelmus ernähren konnte.

Es war ein versteckter Auftrag an mich und der Hinweis, dass meine Freundin grosse Hoffnungen in mich setzte. Im Tempel lebten drei weitere Kräuterkundige, die alle mehr Erfahrung gesammelt hatten als ich. Dennoch hatte Anhija mich gewählt.

Innerlich seufzte ich, als ich hinter Rumanda in den engen Hinterhof trat. Die Sonnenstrahlen fielen so steil ein, dass sie sogar den mit einem beigen Mosaik gekleideten Steinboden berührten. Als hätte die Göttin selbst Hand beim Bau angelegt, fügte sich der Brunnen in der Mitte nahtlos in die Gestaltung ein.

Notdürftig wusch ich mir die Hände und das Gesicht, ehe ich in meinem Zimmer ein neues Gewand holte und den Waschraum im Keller aufsuchte. Trotz der schwülen Wärme draussen kühlte sich niemand sonst hier, sodass ich mich in Ruhe auf das Treffen mit der Tempelführerin vorbereiten konnte.

Sie wünschte Antworten. Doch auch in mir stellten sich immer neue Fragen, seit ich gestern aufgebrochen war, um ein Gewitter zu erleben und als arme Frau in die Stadt zurückzukehren. Bestimmt konnte unsere Mutter sie beantworten.

Vielleicht hatte das Orakel doch recht und ich war eine Seherin – oder ich wurde zu einer. Noch hatte ich nicht das Gefühl, dass ich wirklich das wahrnahm, was es mir prophezeit hatte, und doch drängten sich Zweifel auf, über die ich vor vier Tagen noch gelacht hätte. Es war zum Verrücktwerden.

Neu gekleidet und sauber trat ich hinter Rumanda ins Zimmer unserer Mutter. Der Boden war aus beigem Sandstein gefertigt, der die einfallenden Sonnenstrahlen einfing und mit dem warmen Licht eine freundliche Atmosphäre verbreitete. An den Wänden hingen Bilder unserer Göttin, wie sie den Kampf gegen die dunklen Kräfte gewann und uns Frauen schützte. Ihr Sieg hatte den Grundstein für Zefiras Wohlstand gelegt, die als einzige Stadt weit und breit den Naturgewalten und der sommerlichen Hitze zu trotzen vermochte. Das Leben nach den Gesetzen der Grossen Göttin vollbrachte dieses Wunder.

Unwillkürlich fragte ich mich, ob Männer an der Seite der Göttin gekämpft hatten. Auch diese hätte sie vor der Macht bewahren können, sodass wir Seite an Seite leben könnten. Stattdessen lungerten nun Horden von wilden Männern in den Hügeln vor Zefiras Stadtmauern, den richtigen Moment abwartend, um nach den Waffen zu greifen.

»Die Sonne auf deinen Wegen«, holte mich die Stimme unserer Mutter in die Gegenwart zurück.

Als ich mich zu ihr umdrehte, blickte ich direkt in die hellgrauen Augen, die sich wie ein Speer tief in meine Seele bohrten, um mir sämtliche Geheimnisse zu entreissen. Der versteckten Aufforderung folgend, setzte ich mich im Schneidersitz zu ihr und meiner Lehrmeisterin auf ein am Boden liegendes Kissen.

»Mögen die Schatten fern von Euren bleiben«, antwortete ich und zwang mich, die Augen nicht niederzuschlagen, auch wenn ich mich ausgeliefert fühlte.

Unsere Mutter musterte mich aufmerksam. Jeder ihrer Bewegungen schien ein kaum sichtbarer, dunkelgrauer Schatten zu folgen, wie Nebel oder Rauch. »Wo warst du? Wir haben uns Sorgen gemacht.«

Ich zwang mich, meinen Blick von den rauchartigen Schwaden loszureissen. »Im Wald. Das Gewitter hat mich so überrascht, dass ich in die Hügel floh und mich versteckte. Und dann habe ich mich verlaufen«, fügte ich eilig hinzu und verfluchte mich selbst für meine Dummheit. Natürlich fragte unsere Mutter nach meinem Verbleib, nachdem sie nach meinem Verschwinden vermutlich halb Zefira auf den Kopf gestellt hatte. Dennoch hatte ich keine passende Geschichte vorbereitet, obwohl ich es hätte wissen müssen.

Die zweifelnd hochgezogenen Augenbrauen liessen mich wissen, dass sie mir nicht glaubte. »Im Wald in den Hügeln also.«

Seelenruhig trank sie aus ihrer flachen Teetasse, ohne mich aus den Augen zu lassen. Was hätte ich dafür gegeben, hinter ihre Stirn zu blicken und ihre Gedanken zu kennen.

»Hast du etwas Neues gesehen?«

Ja, einen Mann. So gut es ging, versteckte ich meine Unsicherheit hinter einem entschuldigenden Lächeln. »Nein.«

Die Gesichtszüge unserer Mutter entspannten sich ein wenig. Sie legte die Hände auf ihre Knie und musterte mich nun um Welten freundlicher als zuvor, sogar die hellgrauen Augen funkelten aufmunternd. Doch der Nebel blieb. Kaum merklich schüttelte ich den Kopf und verdrängte das Trugbild.

»Ich wünsche, dass du mich morgen auf meinem abendlichen Spaziergang begleitest«, unterbrach sie meine Gedanken. »Da das Orakel auch mich als Kräuterkundige auserwählt und das Leben mich einiges gelehrt hat, möchte ich dich in die Geheimnisse des Tempels einweihen. Es freut mich ausserordentlich, dass uns das Orakel eine so fähige und neugierige Nachfolgerin gesandt hat.«

Mein Lächeln erstarb. Unsere Mutter wollte niemanden an ihrer Seite, wenn sie bei Einbruch der Nacht durch die Strassen wandelte. Nie. Keine Priesterin ahnte auch nur, wo sie ihre Kreise zog, wen sie traf und was sie versprach. Das konnte kein gutes Zeichen sein.

»Natürlich«, stammelte ich. Ich musste hier weg. »Darf ich mich entschuldigen? Meine Freundin Anhija bat mich um Hilfe bei einem Heiltrank.«

Ich musste so schnell wie möglich verschwinden. Je länger ich unter ihrem Blick stand, desto tiefer würde sie in meine Seele dringen und entdecken, was ich wusste.

Sie würde von meinen Zweifeln erfahren. Von der Angst vor dem, was sie für mich vorgesehen hatte. Von der Begegnung mit Taio, von der Flucht aus der Höhle. Immer wieder gingen mir die Erlebnisse durch den Kopf, doch bevor ich sie jemandem anvertraute, wollte ich mir selbst im Klaren über ihre Bedeutung sein.

In ihren Augen sammelte sich ein tiefes, dunkles Schimmern, das nach einem Riss in meiner Deckung suchte, als ahnte sie bereits, dass meine Erzählung weit von der Wahrheit entfernt war. »Gib dein Bestes.«

Ich sprang auf und hastete aus dem Raum, schlug die Tür hinter mir zu, lehnte mich dagegen. Meine Beine zitterten. Am liebsten hätte ich mich hier und jetzt auf den Boden gekauert und mich vor mir selbst versteckt.

Unsere Mutter machte mir Angst. Doch ich konnte keine Ewigkeit auf dem Boden sitzen und Löcher in die Luft starren, sonst würden meine Lügen noch viel schneller auffliegen. Mit noch immer klopfendem Herzen stiess ich mich von der Tür ab und machte mich auf den Weg zum Haus der Heilung.

Als ich nun durch die Strassen ging, nahmen mich die Leute wieder wahr, ganz im Gegensatz zu vorhin. Verständnislos schüttelte ich den Kopf. Wie konnte man andere Menschen nur derart nach ihrem Äusseren beurteilen?

Vermutlich hatte selbst ich es getan, als ich noch eine Priesterin gewesen war, die sich hinter den Tempelmauern hatte verkriechen wollen und doch zum Ende des Sturmes berufen worden war. Nun hatte sich selbst das geändert.

Das Haus der Heilung lag nicht weit vom Tempel entfernt, doch ich wählte den Weg über den Marktplatz, um mir etwas Zeit zu erschleichen. Auch wenn ich den ganzen Morgen mit meinen Gedanken allein gewesen war, reichte es mir noch nicht. Ich war verwirrt, überfordert, und vor allem wurde ich aus Taio nicht schlau – und erst recht nicht aus dem Kribbeln, das ich in seiner Nähe verspürte.

Das Lächeln einer Marktfrau riss mich aus meinen weit umherschweifenden Gedanken. Sie streckte mir einen Apfel entgegen und zwinkerte mir zu. »Ihr seht aus, als könntet Ihr etwas Aufmunterung gebrauchen.«

Ich dankte ihr, wechselte ein paar Worte und ging weiter. Einer Priesterin halfen die Frauen gern, denn sie dienten der Gesellschaft. Ihre Hände heilten, die Tinkturen schenkten Kraft, sie verrichteten Arbeiten, die sonst niemand gern ausübte oder das Wissen dazu gar nicht hatte. Sie halfen der Führung mit vorausschauenden Ratschlägen und Hinweisen aus der Geschichte. Das Leben in der Stadt baute auf den wenigen Frauen auf, die sich der Gesellschaft hingaben.

Und ich war jene, die die anderen belog.

Als ich in den Apfel beissen wollte, fiel mein Blick auf das Mädchen, das mich bei meiner Rückkehr so unverwandt angesehen hatte. Noch immer versteckte sie sich in den Schatten, die die Nachmittagssonne zwischen die gelbbraunen Häuser zauberte. Ihre Augen schienen noch dunkler und tiefer, ein düsterer Ausdruck huschte über das kindliche Gesicht. Kurz entschlossen ging ich auf sie zu und kauerte mich vor sie hin, den Apfel fest in der Hand.

In ihren Augen flackerte es trotzig auf, als wüsste sie genau, dass ich das verwahrloste Ding von heute Morgen gewesen war und nun als Priesterin wieder in Zefiras Licht stand.

Ich streckte die Hand mit dem Apfel aus. Misstrauisch zog sie die Augenbrauen zusammen und drückte sich tiefer in die Schatten, obwohl die Hausmauer sie an einer Flucht hinderte. Mit einem Lächeln setzte ich an, sie aufzumuntern, doch ehe ich mich’s versah, hatte sie die Frucht geschnappt, war aufgesprungen und davongerannt.

Verdutzt starrte ich ihr hinterher. Undankbares Ding. Doch meinen Gedanken zum Trotz breitete sich von meinem Bauch ein warmes Glühen aus, das mir ein ehrliches Lächeln ins Gesicht zauberte. So einfach war es also, Glück zu finden – indem ich einem armen Mädchen in der Gasse einen Apfel schenkte.

Beschwingt brachte ich den Rest des Weges hinter mich. Kaum hatte ich das Haus betreten, entdeckte ich Anhija und schloss sie in eine feste Umarmung.

»Schön, dass du so schnell kommen konntest.« Ihre Augen strahlten, und sie fasste meine Hand, um mich zu ihrer Patientin zu ziehen. Die Vorhänge liessen nur wenig Licht eindringen und im Zimmer herrschte eine schwere Atmosphäre, als wollte die Krankheit nicht weichen. Ein bitterer Duft lag in der Luft, unterschwellig nur und doch so penetrant, dass ich die Nase rümpfte.

Ich setzte mich zu der jungen Frau, die sich mit schweissnassem Gesicht von der einen Seite zur anderen wälzte. Neben ihrem Bett standen eine Schüssel und Tücher bereit, sollte sie wieder erbrechen.

Ich setzte mich zu ihr auf die harte Matratze, strich ihr die nassen Haare aus dem Gesicht. »Was hat sie?«, fragte ich Anhija, ohne den Blick von der Patientin zu wenden.

»Sie trägt ein Kind unter dem Herzen, doch sie kann keine Nahrung bei sich behalten. Wenn es noch lange so weitergeht, wird sie das Kind nicht austragen können.«

»Möge sie eine gesunde Tochter zur Welt bringen.« Die Worte fielen mir heute unerwartet schwer, schienen auf meiner Zunge zu kleben und meinen Mund nicht verlassen zu wollen. Warum eine Tochter? Es gibt gesunde Männer, rief mir mein Unterbewusstsein zu.

Es gab einen Grund, wieso die Jungen schwächer wurden, sobald sie sich zu Männern wandelten, nur hatte ihn noch niemand gefunden. Irgendwann verschwanden sie, bevor sie heranwuchsen.

Taio hatte von Katakomben gesprochen, von unsäglichen Qualen, die die Frauen von Zefira gefangenen Männern zuführten. Einerseits sträubte sich mein ganzes Wesen gegen diese Vorwürfe, andererseits … Ich glaubte ihm. Für ihn war genau das die Wahrheit. Meist lag die echte Wahrheit doch irgendwo zwischen zwei Ansichten, versteckt inmitten von Gefühlen, Eindrücken und eigenen Erlebnissen.

Ich seufzte und schüttelte die düsteren Gedanken ab. »Ich werde einen beruhigenden Tee zusammenstellen. Eine Tinktur zum Einatmen sollte kurzfristig helfen, und vielleicht Tropfen zur Stärkung …«, sinnierte ich, nicht sicher, ob die angedachte Medizin helfen würde.

Bisher war ich mir noch nie unsicher gewesen, stets hatte mir unsere Grosse Göttin die Ruhe geschenkt, dass ich die richtige Wahl treffen würde.

Verwirrt stand ich auf und strich über den Rock meines Leinenkleides. »Ich werde alles vorbereiten.«

Ich floh aus dem Gebäude. Diese Unsicherheit hielt ich nicht aus. All die Fragen, die Ungereimtheiten, die sich mir seit einigen Tagen zeigten und nicht vertreiben liessen. Hinzu kam das Gefühl, dass sich die Göttin gegen mich wandte, indem sie mir den Zugang zu ihrer Weisheit verwehrte. Es war zum Verrücktwerden! Wütend und verzweifelt beschleunigte ich die Schritte, bis ich den Tempelgarten erreicht hatte.

Summend und voller Insekten lag er vor mir, der einfach strukturierte Garten mit seiner Vielzahl an Kräutern und Blumen, mit Gemüse und Bäumen, deren Äste sich im Herbst unter der Last der reifen Früchte bogen. Er entlockte mir ein Lächeln. Schon seit ich mich erinnern konnte, fühlte ich mich hier aufgehoben. Es war kein Wunder, dass ich mir ein Leben als Kräuterkundige gewünscht hatte.

Mit jedem gesammelten Blatt fiel ich ein wenig mehr in Trance, jede gezupfte Blüte beruhigte mein Herz. Nun tat ich das Richtige. Ich half einer jungen Frau, die sonst ihr Kind verlieren würde – oder gar ihr Leben. Ich wollte mein Wissen in ihren Dienst stellen und alles tun, damit es ihr die nächsten Mondzyklen gut ging. Kräftig sollte das neue Leben in ihrem Bauch heranwachsen und Zefira stolz machen. Ein wenig rügte ich mich selbst, dass ich an der Liebe und Hilfe unserer Grossen Göttin gezweifelt hatte. Sie lebte in mir, wirkte durch mich, sodass die Heilmittel ihre Wirkung entfalten würden.

Rumanda gesellte sich zu mir. Als wüsste sie genau, welche Tinktur ich zubereiten wollte, erntete sie die richtigen Kräuter. Wir wechselten kein einziges Wort. In der steinernen Hütte in einer Ecke des weitläufigen Gartens säuberten wir die Zutaten von Erde und Schmutz, zerkleinerten sie, legten sie ein und mischten sie miteinander.

Schliesslich seufzte Rumanda. »Du hast gelogen.«

Ich erstarrte in der Bewegung, so laut wie heute Morgen in der Höhle pochte mein Herz.

»Du wusstest, dass sich ein Gewitter nähert. Wie kannst du da überrascht werden?« In aller Seelenruhe schnitt sie die Pfefferminzblätter in winzige Stücke, als würden wir uns über das Wetter unterhalten – nur dass es diesmal kein belangloses Thema war, sondern Stein des Anstosses.

Ich schluckte und wandte mich dem Haufen aus bunten Blütenblättern zu, die für ihre stärkende Wirkung bekannt waren. »Ich dachte, es würde beim Wind bleiben.«

»Und wie kommt es, dass dich niemand beim Stadttor gesehen hat?« Nun war sie es, die die Arbeit unterbrach. Ihre warmen Augen musterten mich, doch ausnahmsweise zog sie die Brauen zusammen, als könnte sie mir nicht ganz trauen.

Ich gab auf. Rumanda war besser als jede Spionin. Seufzend legte ich das Messer weg und lehnte mich seitlich gegen die Arbeitsplatte. »Ich fand einen Durchgang in der Mauer und ehe ich mich’s versah, stand ich im Wald. Blitz und Donner und Regen gingen über den Wäldern um Zefira nieder, die Tropfen prasselten auf meine Haut. Es war so berauschend. Ich habe getanzt, Rumanda.« Mit jedem Wort strahlte ich ein bisschen mehr, meine Stimme erhellte sich. Die Erinnerung an das Gewitter entlockte meinem Herzen einen Freudensprung aus seinem Gefängnis hinaus.

»Der Wald ist gefährlich, Thanissa. Sieh dich vor«, gab die Lehrmeisterin zu bedenken.

Ich nickte, den Blick gesenkt. »Ich weiss. Die Rebellen.« Über Jahre hinweg hatten uns die Lehrmeisterinnen gelehrt, dass die Männer in den Hügeln unvorstellbares Leid über jede von uns bringen würden, geriet man in ihre Fänge. Ihre Gier nach Macht sei unersättlich, der Wunsch nach Leben lasse die Männer zu dunklen Mächten beten. Doch obwohl mein Zusammentreffen mit Taio auch freundlicher hätte verlaufen können, hatte ich vom unvorstellbaren Leid herzlich wenig gespürt.

Unsicher schluckte ich und fasste mir ein Herz. Wenn nicht Rumanda, dann konnte ich niemanden fragen. »Was, wenn wir uns in ihnen täuschen?«

Die alte Lehrmeisterin verengte die Augen zu zwei schmalen Schlitzen. »Die Rebellen sind neidisch. Sie verhandeln mit bösen Mächten, die uns ins Verderben stürzen wollen, indem sie uns mit schönen Augen und verlogenen Worten verführen. Halte dich von ihnen fern, mein Kind, denn sie werden deine Seele vergiften.«

Ergeben nickte ich und machte mich wieder an die Arbeit. Immerhin hatte ich Anhija versprochen, dass ich ihr die Arzneien noch heute bringen würde.

Drohender Dolch

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Nachdem ich Anhija die versprochene Tinktur, die Tropfen und den Tee vorbeigebracht hatte, nahm ich einen Umweg durch die Stadt. Mir widerstrebte die Vorstellung, mich still wie ein Mäuschen hinter den Tempelmauern zu verstecken und so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Nichts war in Ordnung.

Im Dämmerlicht erwachte der Markt zu neuem Leben, nachdem die flimmernde Hitze des Tages nach und nach von Zefira abliess. Auf der Suche nach einem hübschen Kleid, einer edlen Brosche oder Gewürzen schlenderten Frauen zwischen den Ständen, besahen sich in aller Ruhe die Güter. Eine friedliche Stimmung herrschte über dem Marktplatz. Ich mochte den abendlichen Müssiggang, in dem ich mich manchmal selbst verlor.

An einem Stand mit bunten Federn blieb ich stehen. Den Tempeldienerinnen war es nicht gestattet, vor den Toren des Tempels Schmuck oder andere Statussymbole zu tragen. Wir dienten der Stadt und strebten nicht nach weltlichen Gütern. Immerhin ging es uns hinter den Tempelmauern gut, wir hatten zu essen, froren nicht und bekamen genug Kleider, um nicht nackt durch die Strassen zu huschen. Heute trieb mir der Gedanke allerdings einen bitteren Geschmack auf die Zunge, den ich auch mit Schlucken nicht loswurde.

Anhijas Patientin trug ein Kind unter dem Herzen, das mit der Hilfe eines Opfers seinen Weg zu ihr gefunden hatte. Vielleicht war es ein Mädchen, so wie unsere Mutter stets betete – ein Mädchen, das das Schicksal dieser Männer nicht bessern würde. Auch sie würde im Strudel der Stadt gefangen sein und nichts gegen die Macht ausrichten können, die uns lenkte.

Ich warf einen langen Blick auf das Regierungsgebäude, das über alle anderen Dächer hinausragte. Einzig die Kuppel des Tempels und das Orakel waren höher. Im Gegensatz zum Haus der Grossen Göttin streckte es sich fensterlos in die Höhe, ein heller Klotz, der nicht einlud, einzutreten. Dennoch führte eine Tür ins Innere.

Bei wichtigen Anlässen zeigte sich die Führung auf einem ins Gebäude eingelassenen Balkon, die Decke von Säulen gehalten. In den Zwischenräumen platzierten sich die fünf Frauen, die der Regierung angehörten. Um ihre Unabhängigkeit und die unvoreingenommenen Entscheidungen zu bezeugen, trugen sie Masken, die ihre Gesichter verbargen. Insgeheim vermutete ich, dass sie sich nicht zu erkennen geben wollten, doch mit meinen Zweifeln war ich allein. Hinter den Masken könnte jede stecken – vielleicht sogar ein Mann. Rein theoretisch. Ich neigte den Kopf zur Seite und versuchte, es mir vorzustellen, doch es entlockte mir nur ein müdes Lächeln. Kein Mann würde der eigenen Art Leid zufügen.

Ich wandte mich zum Gehen, als eine hochgewachsene, verhüllte Gestalt meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie trug einen Mantel, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, und verbarg damit ihr Antlitz. Doch das kräftige Ausholen der Beine und der beschwingte Gang kamen mir so bekannt vor. Es erinnerte mich an das Rauschen von Regen.

Taio? Er konnte doch nicht …

Ich schluckte, unentschlossen, ob ich der Gestalt und den beiden Frauen folgen sollte, die sie freundlich lächelnd begleiteten. Eigentlich hatte ich bereits mit dem Rebell abgeschlossen, denn Zefiras Vergangenheit hatte uns zu dem gemacht, was wir waren: Feinde. Wenn er es denn war. Vielleicht täuschte ich mich auch.

Ich wollte nicht, dass wir verfeindet waren. Es musste doch einen Weg geben, mit den Rebellen Frieden zu schliessen und das uns vorgeworfene Leid zu beseitigen oder zu beweisen, dass es keine Katakomben gab, in denen Männer gefoltert wurden. Ich wollte aus dem ständigen Hass und den Anschuldigungen fliehen und einen Pfad finden, wie Frauen und Männer nebeneinander leben konnten, ohne dass sie sich schadeten.

Ich wollte die Bitterkeit in seinem Inneren auflösen, Stück für Stück, bis er wieder so befreit lachen konnte wie im Regen.

Entschlossen folgte ich den dreien. Sie hielten mal hier und mal dort, kauften süsses Mandelmus und eingelegte Aprikosen, die einem auf der Zunge klebten, dazu jede Menge Mehl. Ich zog die Augenbrauen zusammen, als die Gestalt den schweren Sack schulterte und von der Verkäuferin einen misstrauischen Blick erntete.

Die Kapuze rutschte von ihrem Kopf, ein dunkler Haarschopf lugte hervor, und ich erhaschte einen Blick auf ihr Profil. Mein Herz machte einen Satz. Taio! Er war es wirklich! Wie kam er nur auf die bescheuerte Idee, hier aufzutauchen? Das war viel zu gefährlich.

Eilig zog ihm eine der Frauen die Kapuze wieder ins Gesicht. Nicht nur sie atmete erleichtert aus, als sie sich verstohlen umsah, ob ihre Deckung aufgeflogen war. Die andere zischte ihm irgendetwas zu.

Ich näherte mich ihnen, noch immer unschlüssig, wie ich ihn ansprechen sollte. Am liebsten hätte ich ihn in eine ruhige Ecke gezerrt und in Ruhe mit ihm gesprochen, doch seine Begleiterinnen würden das nicht zulassen.

Sie verliessen den Markt und bogen in die breite Strasse ein, die zum Stadttor führte. Ich trottete hinterher und hielt erstaunt inne, als sie einem Seitenweg folgten.

In nicht allzu langer Zeit würden die Tore zum Schutz vor den Rebellen geschlossen. Doch wenn diese bereits hinter den Mauern waren, half kein versperrter Eingang. Was, wenn die drei einen Überfall planten?

Mit heftig pochendem Herzen beschleunigte ich meine Schritte und folgte ihnen in die dunkle Gasse. Gerade noch sah ich, wie eine Tür ins Schloss fiel. Die Rebellen waren verschwunden. Sicheren Schrittes trat ich zu dem Haus, linste um eine Ecke. Ein offenes Fenster im Erdgeschoss! Erleichtert über mein unerwartetes Glück schlich ich mich näher. Geflüsterte Worte drangen an meine Ohren, sie klangen eindringlich und voller Liebe. Hatte Taio etwa eine Freundin in Zefira?

»… gefährlich. Du solltest mich nicht besuchen kommen. Wie oft habe ich dir das schon gesagt?«, fragte eine Frau leicht verärgert, doch in ihrer Stimme schwang neben dem Vorwurf auch Erleichterung mit.

Taios Lachen hätte ich aus hundert anderen herausgehört. »Ich bin kein Kind mehr und kann ganz gut auf mich selbst aufpassen. Ich musste dich einfach wiedersehen.«

Die Frau seufzte, eine kurze Pause entstand. »Ich liebe dich, mein Junge, und freue mich, dich wohlauf zu sehen. Doch in letzter Zeit … Ich habe das Gefühl, als würden mich Augen verfolgen. Die Führung weiss immer noch nicht, wohin du verschwunden bist. Sie beobachtet mich auch nach all den Jahren noch. Finden sie heraus, dass du mich regelmässig besuchst …«

»Mir wird nichts geschehen, Mama. Versprochen.«

Die Frau war seine Mutter. Befreit atmete ich aus, und ein Lächeln huschte über mein Gesicht, auch wenn ich mir das nicht erklären konnte. Er war ein Mann, ein Rebell, einer, der mir schaden wollte – oder es wenigstens wollen müsste. Wieso freute es mich dann, dass er seine Mutter besuchte?

»Ich bin noch aus einem anderen Grund hier«, eröffnete Taio ihr. »Wir suchen nach einer friedlichen Lösung. Die Gewalt, das ständige Hin und Her – es muss ein Ende finden.«

Er sprach mir aus der Seele, doch seine Mutter stiess die Luft bitter aus. »Für eine friedliche Lösung sind die Fronten zu verhärtet.«

»Deshalb müssen wir etwas ändern.« Er klang zuversichtlich, abgeklärt. »Ich habe eine Priesterin getroffen, hellbraunes Haar und braune Augen.«

Erschrocken, dass ich in seiner Erzählung Platz fand, hielt ich die Luft an und lauschte noch angestrengter. Ich wollte kein einziges Wort verpassen. Das Pochen meines Herzschlags in den Ohren dröhnte wie die Trommelschläge des Orakels.

Er seufzte. »Ich habe ihr das Leben gerettet. Vielleicht … Jemand muss den ersten Schritt machen.«

Seine Mutter seufzte. »Sieh dich vor, Taio. Sie ist eine Priesterin und der Führung verfallen. Wenn du ihr vertraust, kannst du dir gleich selbst einen Dolch ins Herz rammen.«

Bei ihrem harten Urteil formte sich ein Klumpen in meinem Bauch. Sie urteilte über mich, ohne mich zu kennen. Offensichtlich misstraute sie der Führung, und doch lebte sie in Zefira, aus welchen Gründen auch immer.

Taio seufzte. »Bitte, wenn etwas mit ihr ist, lass es mich wissen – auch wenn es dir nicht gefällt.«

Sie verabschiedeten sich voneinander und nur wenige Augenblicke später traten die beiden Frauen und der Rebell aus dem Haus. Sie versteckten sich unter ihren Kapuzen und in den weiten Gewändern, eilten auf das Stadttor zu, ohne sich noch einmal umzusehen.

Ich blieb ihnen auf den Fersen, nahm jedoch eine Abkürzung und überholte sie. Gerade als ich auf die offene Strasse trat, kamen sie hinter der Biegung hervor.

Entschlossen setzte ich ein Lächeln auf und ging auf sie zu. Ich musste wissen, was sie planten und wie oft sie sich nach Zefira trauten. Mit jedem Schritt schlug mein Herz heftiger und drohte mir den Atem zu rauben. Hoffentlich brachte ich überhaupt noch ein Wort über die Lippen.

»Die Sonne auf Euren Wegen«, begrüsste ich die drei.

Unsicher warfen sich die beiden Frauen Blicke zu, deren Bedeutung ich nicht einmal erahnen konnte, während ihr Begleiter erstarrte. Er schüttelte seine freie Hand und drehte sie, als würde er irgendetwas verstecken.

»Mögen die Schatten fern von Euren bleiben«, erwiderte eine der Frauen zögerlich.

Ich ging noch einen Schritt auf sie zu und deutete zum Stadttor, das hinter der nächsten Kurve lag. »Ihr wollt doch nicht jetzt noch durch die Felder gehen? Die Rebellen sollen in letzter Zeit wieder vermehrt zugeschlagen haben.« Es war eine Lüge. Die letzten Wochen hatte ich von keinem Übergriff gehört, was ungewöhnlich war. Mindestens alle zehn Tage gab es einen Zwischenfall, und waren es nur erschrockene Reisende auf dem Weg hierher.

Die zweite Frau lachte freudlos, dabei trat sie von einem Bein auf das andere. »Es ist kein weiter Weg.« Sie betrachtete ihre Freundin, erhoffte sich Hilfe von ihr.

»Ihr könntet Euch ein Zimmer nehmen und …«

Ehe ich auch nur noch einen Gedanken formen konnte, stand Taio so nah vor mir, dass ich seinen Atem auf meinem Gesicht spürte. Die Augen glühten unheilvoll, als er den Kopf etwas hob und sich zu erkennen gab.

»Lass uns in Ruhe«, zischte er, sodass die anderen ihn nicht hörten. Gleichzeitig schnellte seine Hand nach vorn und stoppte nur wenig vor meinem Bauch.

Zitternd blickte ich nach unten. Ein Dolch trennte uns voneinander, bedrohte mich. Meine Beine bebten so stark, dass ich fürchtete, unter meinem eigenen Gewicht zusammenzubrechen. Mühsam die Fassung bewahrend, schluckte ich und nahm die Herausforderung seines Blickes an. Innerlich musste er wie ein Vulkan brodeln, heiss und zerstörerisch, doch ich glaubte nicht, dass er mir wirklich etwas antun würde.

»Wieso bist du hier? Hätte dich jemand entdeckt, als du den Sack auf die Schultern gezerrt hast, sässest du jetzt im Kerker.«

Ein böses Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen und sandte mir einen eiskalten Schauder den Rücken hinab. »Dann bist du eine denkbar schlechte Priesterin, wenn du mich erkannt hast und nicht auslieferst.«

Sein Dolch an meinem Bauch verharrte regungslos, und doch stachen mich seine Worte ebenso kalt, wie ich mir das Metall vorstellte. »Genau wie du, als du mich vor deinen Freunden versteckt hast?« Ich machte eine kurze Pause und erinnerte mich an seine eindringlichen Worte. »Jemand muss den ersten Schritt wagen.«

Er blinzelte, und für einen Wimpernschlag glaubte ich, wieder den warmherzigen Mann vor mir zu haben, den ich kennengelernt hatte. Doch dann verdüsterten sich seine Augen wieder. »Wieso solltest du uns aufhalten, wenn du uns nicht schaden willst?«

Ich schluckte, um ein wenig Zeit zu gewinnen. Aus seiner Sicht ergab es absolut keinen Sinn, sie anzusprechen, wenn ich sie doch ziehen lassen wollte. Wahrscheinlich dachte er, ich wollte nur Zeit schinden, damit mir Wächterinnen halfen, ihn und seine zwei Begleiterinnen festzunehmen.

Langsam schüttelte ich den Kopf. »Wenn du das von mir denkst, dann hast du es nicht anders verdient, als in den Wäldern zu hausen.« Ich trat einen Schritt zur Seite und gab ihnen den Weg frei.

Sollte er doch dorthin verschwinden, wo die Mandeln wuchsen. Ich hatte keine Lust, mir derartige Vorwürfe machen zu lassen, noch dazu so unbegründete. Aus tiefstem Herzen hoffte ich, dass er meinen funkelnden Blick auf sich spürte.

Taio senkte den Kopf und winkte seinen Begleiterinnen. Die eine setzte sich zögernd in Bewegung, die andere musterte mich intensiv.

»Was war das eben?«, fragte sie mit leicht zitternder Stimme.

Ich trat auf sie zu und kramte dabei in meinem Beutel mit den Kräutern und Salben, die ich oft benutzte. Mir fiel die kleine Dose mit Rosmarinsalbe in die Hand und unwillkürlich grinste ich.

»Es tut mir leid, Euch aufgehalten zu haben. Da in letzter Zeit die Rebellen ihr Unwesen trieben, können wir nicht sicher sein, dass sie sich nicht in die Stadt schleichen, um uns an unseren empfindlichsten Stellen zu treffen.« Ich machte eine kurze Pause, um ihren Puls ein wenig zu beschleunigen. So, wie Taio mich gerade angefahren hatte, durften sie ruhig ein wenig leiden – und dafür beten, dass ich sie nicht verriet.

Er wirbelte zu mir herum. Sein Dolch drückte in meinen Rücken, eindringlich und erbarmungslos.

Ich ignorierte die stumme Drohung und drückte der Frau vor mir das Döschen in die Hand. »Salbt diese hässliche Frau einmal täglich damit ein. Es reinigt ihre Haut, sodass sie sich ebenfalls zeigen kann.« Ich beugte mich zu ihr hinüber und senkte die Stimme, als wollte ich nicht, dass Taio uns hörte. Doch ich sorgte dafür, dass er es vernahm, laut und deutlich. »Doch gegen den Mundgeruch müsst Ihr wohl ein anderes Rezept finden. Pfefferminztee kann da helfen.«

Ehe er auf meine Provokation reagieren konnte, ging ich an der Frau vorbei und war damit ausserhalb seiner Reichweite. Er knurrte und entlockte mir damit ein feines Lächeln. Hoffentlich sah er das auch.

Freundlich hob ich die Hand zum Gruss. »Ich wünsche Euch eine gute Heimreise. Und sollten sie Euch am Tor aufhalten, so zögert nicht, ihr Gesicht zu zeigen. Ich bin sicher, sie werden Euch ziehen lassen. Niemand will das über Nacht in seiner Nähe wissen.« Ich deutete auf Taio.

Es war kindisch und gemein, einer Priesterin nicht würdig, und doch konnte ich mich nicht zurückhalten, ihn zu ärgern. Er hatte mich mit einem Dolch bedroht und unterstellte mir, ihn verraten zu wollen.

Wieder brummte Taio. »Sie hat Ohren«, flüsterte er so laut, als wollte er sichergehen, dass ich auch jedes Wort verstand.

Eilig fasste ihn die Frau, der ich das Rosmarindöschen gegeben hatte, am Arm und zog ihn die Strasse hinab. »Wir sollten gehen. Es ist schon dunkel.«

Gemeinsam eilten sie der ersten Frau hinterher und sahen nicht mehr zurück, doch ich beobachtete sie, bis sie hinter den Häusern verschwanden. Eine seltsame Leere machte sich in mir breit. Ich hatte ihn wiedergetroffen, doch ich hatte mir mehr erhofft – besonders nach dem, was er bei seiner Mutter gesagt hatte.

Seufzend blickte ich in Richtung des Tempels, schüttelte jedoch den Kopf. Meine Füsse trugen mich den Rebellen hinterher, um die letzte Kurve bis zum Tor, dessen schmiedeeisernes Gitter halb heruntergelassen war. Die beiden Wächterinnen diskutierten mit einer der Frauen, während Taio und die andere Begleiterin etwas abseits standen und nur hin und wieder einen Blick auf das weite Feld vor Zefira wagten. Ihren Durst nach Freiheit und dem Wind um die Nase konnte ich regelrecht fühlen.

Die eine Wächterin, eine Frau Mitte zwanzig, mit kecker Kurzhaarfrisur und feurigem Blick, gestikulierte wild mit den Händen. »… müssen sie sehen. Es ist spät, und Ihr seid verdächtig. Eine hässliche Frau? Dass ich nicht lache!« Grob stiess sie die Frau zur Seite und griff nach Taios Kapuze, die ihm tief ins Gesicht hing.

Schnell wie eine Schlange packte er ihr Handgelenk, ehe sie ihn enttarnen konnte. Für einen Moment verharrten sie, sie erschrocken, er voller Entschlossenheit, sich und seine beiden Freundinnen sicher aus Zefira zu führen.

Endlich erreichte ich sie und stellte mich direkt vor der aufbrausenden Wächterin auf. Sie liess von Taio ab und fixierte nun mich mit ihrem funkelnden Blick. »Ihr gehört an einen anderen Ort, Priesterin«, wies sie mich harsch zurecht.

Ich nickte lächelnd. »Natürlich, Wächterin. Doch ich kann bezeugen, dass diese Frau hässlicher ist als alles, was Ihr jemals sehen werdet. Bitte, tut Euch diesen Gefallen und vertraut meinem Urteil.«

Wenigstens ein wenig besänftigt wirkte sie nun. »Und woher wollt Ihr das wissen?«

»Ich habe sie behandelt. Vielleicht kann eine Kur aus sanften Massagen mit Rosmarinsalbe ihr Antlitz so ebnen, dass sie ansehnlich wird.« Auch wenn es mir schwerfiel, hielt ich ihrem Blick stand. Lügen lag mir definitiv nicht.

»Habt Ihr die vielen Haare an ihrer Hand gesehen?« Das Entsetzen, das ich zu verbreiten versuchte, drang endlich zu ihr durch und spiegelte sich in der zu hohen Stimme.

»Glaubt mir, das Gesicht ist noch viel schlimmer. Voller Haare.« Dank seines kurzen Bartes schwindelte ich nicht einmal.

Sie seufzte und warf Taio einen langen, intensiven Blick zu, als könnte sie so durch den Stoff seiner Kapuze blicken. »Wieso seid Ihr dann noch hier, wenn Ihr die Behandlung bereits abgeschlossen habt?«

Eilig suchte ich in meinem Beutel nach getrockneten Pfefferminzblättern, die bei der ersten Berührung bereits einen erfrischenden Geruch verbreiteten. »Ich habe vergessen, ihnen etwas gegen den Mundgeruch mitzugeben.« Innerlich betete ich, dass sie nicht wusste, wie viele verschiedenste Sorten Minze an jeder Strassenecke wucherten.

Die Wächterin brummte, Taios Grummeln nicht unähnlich. Noch einmal musterte sie mich genau, ehe sie seufzte, ihrer Kumpanin einen fragenden Blick zuwarf und nickte. »Na gut, dann geht.« Sie spuckte auf den Boden und nickte in Richtung der Felder vor Zefira, die Hände in die Hüften gestemmt. »Kommt nur nicht noch einmal auf die Idee, die Stadt so spät zu verlassen.«

Taios Begleiterin nickte nachdenklich. »Ich danke Euch, Priesterin. Sollten wir wieder etwas brauchen, werden wir Euch um Rat bitten.«

Ich wusste nicht, ob das eine versteckte Drohung war oder ob ich mich geehrt fühlen sollte. Zögernd nickte ich und verabschiedete sie in die dunkle Nacht.

Hoffentlich lauern ihnen die Rebellen nicht auf. Noch im selben Augenblick wusste ich, dass sie die Rebellen am allerwenigsten zu fürchten hatten.

Das Gitter rasselte und schlug mit den Zacken in den Boden ein, als Taio und die beiden Frauen auf der anderen Seite standen. Sie sahen nicht zurück, doch ich folgte ihnen mit meinen Blicken und hoffte insgeheim, dass es nicht das letzte Mal gewesen war, dass ich ihm über den Weg lief. Auch wenn er sich mir gegenüber unmöglich verhalten hatte, verstand ich es aus seiner Sicht. Dennoch … Er hätte den beiden Frauen erklären können, dass wir uns kannten. Zumindest seinen Freunden gegenüber war man ehrlich.

Noch immer verspürte ich nicht besonders viel Lust, nach Hause zurückzukehren. Rumanda würde schon wieder den Tempel nach mir absuchen. Seit meinem Verschwinden wachte sie wie eine Glucke über mich. Ein Wunder, dass sie mich allein zu Anhija hatte gehen lassen.

Ich suchte das Haus der Heilung auf. Vermutlich lag meine Freundin noch wach und dachte über die Geschehnisse des Tages nach. Nach dem Orakelspruch hatte sie beschlossen, die nächsten Jahre im Haus der Heilung zu dienen. Es erfüllte sie, sich um Kranke zu kümmern und sie auf dem Weg der Genesung zu begleiten.

Nach meinem Klopfen bat mich ein junges Mädchen herein und führte mich ohne Umschweife zu Anhija. Als ich eintrat, setzte sich die Schwarzhaarige auf, und ein freudiges Lächeln huschte über ihr Gesicht.

Ich schloss sie in eine enge Umarmung, froh darüber, endlich wieder in ihrer Nähe zu sein. Im Gegensatz zu ihrer Kammer waren selbst die Zimmer im Tempel gut ausgestattet, doch das schien ihr nichts auszumachen.

»Die Sonne auf deinen Wegen«, begrüsste ich sie.

»Mögen die Schatten fern von deinen bleiben.« Ihr Blick blieb einen langen Moment an meinen Augen hängen, ehe sie neben sich auf das Bett klopfte und mich zu einem netten Schwatz einlud. »Was ist los?«

Vielleicht war der Schwatz doch nicht so nett. Ich seufzte. »Du wusstest schon immer, wenn mich Sorgen plagten.«

Sie lächelte, sagte jedoch nichts. Am liebsten hätte ich sie nach ihrem Befinden gefragt, hätte sie ausgehorcht und dadurch ein Stück Normalität erlebt.

»Hast du dich auch schon einmal gefragt, wieso die Jungen irgendwann schwächer werden? Kaum beginnen sie zu wachsen, werden sie schwach und kränklich.« Ich seufzte tief, um meinen Sorgen Ausdruck zu verleihen, doch es gelang mir nicht. Was ich in meinem Herzen trug, die schwere Last einer Seherin, konnte ich nicht teilen. Ich musste sie allein tragen.

Anhija zuckte mit den Schultern, als ginge es sie nichts an. »Ihre Körper sind nicht gemacht, um gross zu werden. Das wissen wir seit Generationen.«

Ihr fester Blick schien sich in meine Seele vorzudrängen. Ich schluckte. »Was, wenn du einem Mann begegnen würdest, der die Grosse Göttin anbetet?«

Sie zögerte mit der Antwort. »Ich glaube nicht, dass ihr ein Mann mit vollem Herzen dient. Stets würde ich einen Funken der dunklen Macht dahinter erwarten, den er geschickt verbirgt.« Sie setzte sich näher zu mir und legte mir eine Hand auf den Oberschenkel. »Deine Gedanken sind gefährlich, Thanissa. Bitte, trage dir und deinem Wohl Sorge.«

Die Aufgabe einer Seherin

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Die Bibliothek lag verlassen vor mir, niemand störte oder beobachtete mich, als ich an den vielen, unübersichtlichen Gängen vorbeiging und nach einem Anhaltspunkt suchte, der mich zu den gesuchten Schriften führte. Zuoberst im Tempel lagerte unser Wissen. Jenes, das alle vergessen hatten, verstaubte und vielleicht irgendwann neu entdeckt wurde. Sonnenlicht flutete die Gänge. Die perfekte Zeit zum Lesen also.

Ich musste endlich wissen, was es mit den Seherinnen auf sich hatte, doch da ich bei der Zeremonie gelogen hatte, konnte ich niemanden fragen. Deshalb musste ich mich durch die Schriften und Unterlagen wühlen.

Ich seufzte und zog wahllos eine Schriftrolle heraus. Staub wirbelte auf, ich nieste. Die Schrift handelte von einer Priesterin, die an der Wechselwirkung von Kräutern geforscht hatte. An jedem normalen Tag hätte ich mich voller Begeisterung auf die Erkenntnisse gestürzt, doch die Zeit bis zum Sonnenuntergang musste ich nutzen, ehe ich unsere Mutter auf ihrem Spaziergang begleiten würde.

Je weiter ich kam, desto unsicherer wurde ich. Ich würde mehr als ein Leben brauchen, um alles zu sichten und das in Erfahrung zu bringen, was ich wissen musste.

Unvermittelt fiel mein Blick auf das eine Regal, in dessen hölzerne Stirn ein grobes Abbild des Orakels geschnitzt war. Mit neuer Hoffnung und einem breiten Grinsen trat ich darauf zu. Ich zog ein dickes Buch heraus, pustete den Staub von den Blättern und schlug es auf. Es beschrieb das Orakel, welche Entscheidungen es bisher gefällt hatte und welche Hinweise es bei schwierigen Fragen liefern konnte. Ich überflog einige Seiten, blätterte weiter, las wieder. Das Orakel selbst schien eine komplexe Angelegenheit zu sein.

Ich schloss das Buch und zog ein dünneres hervor. Als ich die Übersicht las, stockte mein Atem. Etliche Bestimmungen waren aufgeführt, von einfachen wie Marktfrau oder Bäuerin bis hin zu den komplexeren wie einer Wächterin. Über die Priesterinnen und deren Bestimmung wurde in einem umfassenden Kapitel berichtet. Mit zitternden Händen blätterte ich nach hinten, beachtete die Dienerinnen, Weisen und Kräuterkundigen nicht, sondern widmete mich der zweitletzten Aufgabe:

Seherin

In der Gemeinschaft kommt einer Seherin eine Aufgabe zu, die die der anderen in ihrer Komplexität und Eigenart weit übersteigt. Einer Seherin fallen Missstände auf, und sie will diese beheben. Ihrem Herzen folgt sie treu und aufrecht, die Augen hält sie stets offen, ihre Ohren hören die Anliegen und nehmen sie ernst. Aus ihrem Mund fliessen Worte des Trostes, doch mehr als alles andere läuten Seherinnen Veränderungen ein.

Eine Priesterin kann sich nicht weiterbilden, um vom Orakel zur Seherin auserwählt zu werden. Es ist ihr von der Grossen Göttin gegeben.

Verwirrt las ich die Zeilen ein zweites und dann ein drittes Mal. Was hier stand, sickerte nur langsam zu mir durch. Wie schon damals im Kegel des Orakels wollte ich nicht annehmen, was es bedeutete. Es ist ihr von der Grossen Göttin gegeben. Hatten also meine Beobachtungen nichts mit meiner Bestimmung zu tun? Dass ich Taio sowieso über den Weg gelaufen wäre?

In zwei weiteren Schriften fand ich noch Hinweise zu den Seherinnen, doch in keiner erfuhr ich Neues. Mit einem Seufzen räumte ich die Unterlagen auf, als sich die Tür öffnete. Eilige Schritte huschten durch den Raum, vor mir verborgen, doch ich selbst hielt mich möglichst leise. Ich wollte nicht entdeckt werden. Ein Besuch in der Bibliothek müsste bei unseren Lehrmeisterinnen angekündigt werden, was ich nicht getan hatte.

»Farina, komm! Die Zeremonie startet gleich.« Ungeduld schwang in der Stimme der Priesterin mit.

»Gleich«, antwortete eine zweite. »Unsere Mutter meinte, wir sollen das Opfer mit den alten Gebeten durchführen. Die abgeänderte Version hatte offenbar keinen Einfluss auf das Verhältnis zwischen Mädchen und Jungen, dafür empfingen weniger Frauen ein Kind.«

»Trotzdem, wir müssen unten sein, bevor die Frauen in den Saal der Zeremonien strömen.«

»Jaja, mach dir keine Sorgen. Ich habe es ja schon.«

Nur wenige Augenblicke und ein erleichtertes Seufzen später verliessen sie das Zimmer, doch ich rührte mich noch immer nicht.

Ein Opfer. Mädchen und Jungen.

Ich riss mich aus meiner Schockstarre und eilte den beiden hinterher, folgte dem Hall ihrer Schritte, bis ich ein Priesterinnengewand um die Ecke flattern sah. Ich hatte sie eingeholt!

Sie hasteten durch die Gänge bis zum Saal der Zeremonien und verschwanden hinter dem schweren Vorhang, der das Vorbereitungszimmer unserer Mutter vom Saal trennte. Unsicher hielt ich einen Moment inne. Ohne Erlaubnis der Tempelführerin war es uns nicht gestattet, diesen Raum zu betreten. Doch die letzten Tage hatte ich so viele Frevel begangen, dass einer mehr auch keinen Unterschied mehr machte.

Geschickt schlüpfte ich zwischen Vorhang und Steinmauer hindurch. Kühler Wind schlug mir entgegen, die Luft roch feucht und leicht faulig, als hätten die Bäuerinnen vor den Stadttoren den Mist ausgebracht und der Wind einen Hauch des Geruchs ins Zimmer getragen. Angewidert verzog ich das Gesicht und hoffte, dass es sich nicht verstärken würde.

Zu meinem Erstaunen befand sich hinter dem Vorhang lediglich ein unscheinbarer Raum mit einem einfachen Holztisch und passendem Stuhl. Die Sitzfläche war nicht einmal gepolstert, wie es unserer Mutter würdig gewesen wäre. An der Wand stand ein einfaches Regal mit den Utensilien, welche unsere Mutter häufig für Zeremonien verwendete.

Obwohl ich keine weitere Tür entdeckte, waren die beiden Priesterinnen verschwunden. Neugierig trat ich ein. Die Sonne schien durch das dicke Glas, das Licht verzerrte sich und malte seltsame Muster auf den Boden. Wie in den Innenhöfen und wichtigen Zeremonienräumen führte ein Mosaik das Auge zum Mittelpunkt des Raumes. Der Weg sollte den Geist beruhigen und Zweifel vertreiben. Bei mir funktionierte es heute nicht.

Vom Regal her drangen Stimmen bis zu mir. Gelächter. Erschrocken hielt ich die Luft an und wollte fliehen, doch meine Beine gehorchten mir nicht. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich zu der Stelle, schluckte.

Zu meiner Erleichterung wurden die Stimmen leiser, und ich atmete aus. Einen Augenblick zögerte ich, doch ich konnte dieses Geheimnis nicht ruhen lassen.

Mit wild klopfendem Herzen trat ich zum anderen Ende des Regals. Vor mir öffnete sich ein schmaler Spalt und ging in eine mit einzelnen Fackeln beleuchtete Treppe über. Mein Mund klappte auf. Ein Geheimgang! Ich warf einen Blick zurück, betrachtete die kleine Kammer, die unsere Mutter stets zur Zeremonienvorbereitung nutzte und damit vermutlich ein viel grösseres Geheimnis hütete.

Auf leisen Sohlen folgte ich der lang gezogenen Treppe nach unten, an deren Ende eine schmale Tür auf mich wartete. So einfach sie wirkte, so stabil war sie. Ich drückte mich dagegen, ohne einen Laut schwang sie auf.

Feuchtschwüle Luft umfing mich, ein beissender Gestank lag in der Luft, und da war noch etwas anderes, das ich nicht benennen konnte. Dominant und vielschichtig. Ein wenig erinnerte es mich an den lauernden Nebel, der unsere Mutter umgab. Mein Puls beschleunigte sich.

Vor mir tat sich ein Gewölbe auf, ähnlich einem breiten Gang, dessen Decke von wuchtigen Säulen getragen wurde. Zu beiden Seiten des gemauerten Kellers schlugen mit Gittern versehene Kerker schwarze Löcher in die beigen Wände, wie zusammengenähte Münder, die lautlos schrien. Allein der Anblick jagte mir einen Schauder über den Rücken. In regelmässigen Abständen ersetzte eine feste Tür die dunklen Zellen, doch was dahinter vor sich ging, wollte ich erst gar nicht wissen.

Ein schwaches Wimmern drang an meine Ohren. Ich wandte den Kopf nach links, als es wieder ertönte. Neugierig und doch ängstlich näherte ich mich den Gitterstäben. Mit jedem Schritt verstärkte sich der beissende, faulige Gestank. Mein Kopf schrie danach, auf der Stelle kehrtzumachen und zu verschwinden, das alles zu vergessen und niemals ein Wort darüber zu verlieren. Doch mein Herz weinte, fühlte mit jedem Schlag, dass das hier nicht rechtens war. Hier geschah etwas, von dem fast niemand wusste. Vielleicht wurden Tiere gequält oder zu Zuchtzwecken gehalten. Das würde wenigstens den Gestank erklären. Doch weshalb in einem lichtlosen Kerker, aus dem all die Fäkalien abtransportiert werden mussten? An der Erdoberfläche lebten Tiere gesünder und die Haltung gestaltete sich wesentlich einfacher.

Nur schwach drang das Licht der nächsten Fackel in die Zelle, in der fauliges Stroh Teile des Bodens bedeckte. In einer Ecke lag ein Eimer, um die Notdurft zu verrichten, doch die Scheisse darin war trocken. So oft wurde er nicht genutzt – oder nicht gewechselt.

Kein Tier benutzte einen Kessel, um seine Notdurft zu verrichten. Das kannte ich nur aus Erzählungen von gefangenen Heldinnen, die sich abenteuerlich aus ihren Zellen befreiten.

Das Wimmern schwoll zu einem ängstlichen Weinen an. Raschelnd entfernte sich eine Gestalt mit blassen, haarlosen Beinen von mir und verschwand in der dunkelsten Ecke. Mehr als Haut und Knochen war an dem unbekannten Wesen nicht mehr dran. Es wirkte viel menschlicher, als ich mir wünschte.

Ich ging in die Knie, um ihm die Angst zu nehmen. »Keine Sorge, ich tu dir nichts.« Hätte ich doch nur einen Apfel oder eine Karotte mitgenommen.

Ein Knurren liess mich zusammenfahren. Es kam ebenfalls aus der schwarzen Ecke, in die kein Lichtstrahl reichte. Ich sprang auf und wich zurück, bis ich wieder in der Mitte des Ganges stand. Was auch immer das war, ich wollte ihm nicht begegnen. Meine vor Angstschweiss feuchten Hände rieb ich am Kleid trocken.

Unsicher warf ich einen Blick den Gang entlang und zurück zu der Zelle, in der diese merkwürdigen Wesen hausten. Das Knurren machte mir nicht sonderlich Mut, also schluckte ich und entfernte mich weiter von der rettenden Tür zum Tempel, als mir ein riesiges Tor zu meiner Linken auffiel. Es war mit Eisenbeschlägen verstärkt, die mächtigen Eichenbohlen waren dicker als mancherorts ein Boden. Allein bei ihrem Anblick wurde mir kalt, und ich wollte davonrennen. Was auch immer dahinter lag … Ich wich einen Schritt zurück, obwohl ich es mit eigenen Augen sehen musste, diese Macht, die Finsternis, die rauchartig aus diesem Raum drang.

Schritt für Schritt kämpfte ich gegen meinen inneren Drang an und näherte mich dem Tor. Das Schloss war nicht verriegelt, die eine Hälfte gar einen Spaltbreit offen und liess einen lächerlich warmen Lichtschein in den Gang treten. Ehe ich einen Blick hineinwagte, lauschte ich. Gedämpfte Stimmen, ein Murmeln aus vielen Kehlen.

Mit einem tiefen Atemzug drückte ich das Tor etwas weiter auf. In der Mitte des kreisrunden Raumes versammelt, die Köpfe gesenkt, standen sechs verhüllte Gestalten. Sie sangen fremde Worte in einer Melodie, die mich schaudern liess. Taios Vorwürfe blitzten in meiner Erinnerung auf: Sie töten, um die Macht einer Zeremonie zu verstärken.

Ich erschauderte, wollte zurückweichen, doch meine Beine versagten mir den Dienst. Direkt über meinem Kopf fand das Fest der Empfängnis statt. Sämtliche Frauen, die im kommenden Frühjahr ein Kind in ihrem Schoss willkommen heissen sollten, waren versammelt und lauschten unserer Mutter. Vor meinem inneren Auge sah ich sie, wie sie die Hände hob, einen entrückten Ausdruck auf dem Gesicht, und spürte die Kraft, die sie verbreitete.

Wie bei meiner Ankunft im Tempel. Nachdem ich meine Prüfungen abgelegt hatte. Vor meinem Gang zum Orakel vor ein paar Tagen. Unzählige Momente, in denen ich mich gefragt hatte, woraus sie diese immense Kraft gewann. Nun kannte ich die Antwort und gab Taio recht: Manche Fragen sollte man nicht stellen.

Nicht weit von mir entfernt befand sich eine Säule, die das hohe Gewölbe trug. Ich huschte hinüber, drückte mich an den kalten, grob behauenen Stein.

Vorsichtig streckte ich den Kopf hinter der Säule hervor. Eine Gestalt hob einen Arm mit einem Dolch, dessen Klinge eine leichte Krümmung aufwies. Das Metall wirkte dunkel und stumpf, wies Flecke auf.

Noch immer hallte das Gebet durch den Raum, schien meinen Kopf schwer werden zu lassen. Ich schloss die Augen, meine Gedanken kreisten. Wie magisch wurde ich von diesem Singsang angezogen. Ich wollte hinein, mich in ihre Mitte stellen und mein Leben hingeben, um der Grossen Göttin zu dienen.

Erschrocken zuckte ich zusammen, drückte mich wieder an die Säule und hielt mir die Hand vor den Mund. Das war eine Opferung. Jemand wurde getötet. Nicht irgendjemand, sondern ein Mann. Vielleicht fast noch ein Kind, jünger als ich, möglicherweise auch ein alter Mann mit weissen Haaren und von Altersflecken übersäten Händen.

Der Gesang wurde intensiver, als würden sie ihn in einen tranceartigen Zustand locken. Mit jedem Wort schwankte auch ich. Ich musste dorthin, mein Leben geben, mich opfern, damit die Frauen gesunde Mädchen gebaren. Noch fester presste ich die Hand auf meinen Mund, schluckte, doch die Tränen brannten mir in den Augen. Leise schluchzte ich.

Mein Herz blieb stehen. Wenn mich jemand gehört hatte, dann … Doch die Augen fielen mir wieder zu. Ich war so müde. Die Anstrengungen der letzten Tage schrumpften meinen Widerstand, die Verlockung durch die Ode an die Göttin, die in ihrer Weisheit so mächtig und stark war, dass niemand ihrem Willen entkommen konnte, zwang mir ihren Willen auf.

Kein Mann verdiente es, am Leben zu sein.

Falsch.

Männer strebten nach zu viel Macht, nach Einfluss. Sie am Leben zu lassen, vergrösserte das Leid der Frauen.

Falsch.

Ohne Männer waren wir stark.

Falsch.

Die Rebellen mussten vertrieben, ihr Gedankengut vernichtet und ihre Saat zerstört werden. Dafür brauchte Zefira gesunde, kräftige Mädchen, die den immerwährenden Kampf gegen die dunkle Macht und ihre Auswüchse bekämpften.

Falsch.

Taio hatte mir geholfen und sich dafür selbst in Gefahr gebracht, obwohl er in mir nur eine unbedeutende Frau sah.

Mein Herz schlug schmerzhaft heftig in meiner Brust, sandte ein Leuchten aus, das mich erfüllte und meine Gedanken mit einem Schlag von diesen betörenden Worten befreite.

Langsam öffnete ich die Augen. Ich stand zwischen zwei verhüllten Gestalten und streckte derjenigen mit dem Dolch das Handgelenk hin, als würde ich sie darum bitten, mich ebenfalls zu opfern. Gierige Schwaden aus schwarzem Nebel spielten um meine Handgelenke. Erschrocken sprang ich zurück, prallte gegen eine Frau. In ihr erkannte ich eine Priesterin, die ich nur selten gesehen hatte. Sie erwachte aus ihrem Gebet, blinzelte und sah sich um, noch immer benebelt von der eigenen Melodie.

Zitternd wich ich bis zur Mauer zurück, presste mich gegen den kühlen Stein. Die aus der Trance erwachte Frau trat an meine Stelle und streckte der anderen ihren Arm hin, als hätte ihr Erwachen sie in den gefährlichen Bann gezogen, aus dem ich mich hatte befreien können.

Ich wollte sie rufen, sie aus ihrem Nebel reissen, doch meine Kehle blieb stumm. Leer gefegt wie ein kahler Baum nach einem Herbststurm beobachtete ich, wie der krumme Dolch durch den Hals eines jungen Mannes und über das Handgelenk der Priesterin schnitt.

In meinem Inneren spürte ich den Sog, der von den beiden Opfern zu unserer Mutter und von ihr zu den jungen Frauen drängte, ihnen die Kraft des Leibes schenkte. Sie waren ausersehen, neues Leben zu bringen, von Toten unterstützt.

Ich drehte mich weg und rannte aus dem Opferraum, hinein in die dunkle, faulige, feuchtschwüle Luft, die von den Zellen her zu mir drang. Mit zitternden Beinen drückte ich mich gegen die Wand und fürchtete, dass ich den Verstand verlieren und wie eine Wilde durch die Katakomben rennen würde.

Ich krallte mich an einen Gitterstab, atmete tief ein und aus, die Augen weit aufgerissen, den Blick auf einen Punkt in weiter Ferne gerichtet. Ich schmeckte Blut, im Hals stach die kleine Anstrengung wie feinste Nadeln.

Um mich herum waren Männer. Es mussten Männer sein, die hier gefangen gehalten wurden. Alles andere ergab keinen Sinn. Doch warum wollte der Tempel keine Männer an der Erdoberfläche, wo es doch nur wenige Manneslängen darunter nur so von ihnen wimmelte?

Ich zwang mich, die stützende Wand zu verlassen. Hier unten hatte ich nichts zu suchen. Ich war eine einfache Priesterin, die ihrer Bestimmung nicht folgen wollte. Doch vielleicht zwang mich die Bestimmung, zu der zu werden, die ich nicht sein wollte.

Bei der Zelle mit dem Knurren und dem Winseln hielt ich inne. Nun lag das Wesen, das ich nicht erkannt hatte, bei den Gitterstäben. Dünne Haut überzog die Knochen an den Beinen, ein Lendentuch verbarg das Nötigste. Die Augenhöhlen waren so tief eingefallen, dass dem Jungen die Augäpfel genauso gut hätten herausgestochen sein können. Er erblickte mich, stöhnte und streckte die Hand nach mir aus, den Mund zu einem gequälten Schrei geöffnet.

Ich kreischte meine Angst in die Welt hinaus. Es verfolgte mich in meiner Erinnerung, als ich aus dem Gang floh, die Treppe in das geheime Zimmer nahm und an den verzückten Frauen im Saal der Zeremonien vorbei in den Tempelgarten rannte. Den Schrei hörte ich selbst dann noch laut und deutlich, als ich selbst verstummt war.

Verbotene Fragen

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Der frühe Abend brachte Wolken und einen stets wechselnden Wind mit sich, doch kein Regentropfen wusch die Tränen und salzigen Spuren auf meiner Wange fort.

Gerechtigkeit. Ich war eine Seherin, die das Unrecht sah.

Mit einem Zittern fuhr ich durch meine zerwühlten Haare und schloss die Augen, öffnete sie jedoch augenblicklich wieder, als die schrecklichen Bilder in mir hochkamen.

Männer. Ausgewachsene, starke Männer, die in diesen Katakomben gequält wurden. Menschen.

Menschen!

Ich schluchzte und spürte neue Feuchtigkeit auf meinen Wangen. Wieso musste ausgerechnet ich das entdecken? Wieso hatte ich mich nicht an die Gesetze gehalten und so weitergelebt wie bisher? Es hätte mein Leben vereinfacht.

Für einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, mir etwas Branntwein aus der Kräuterküche zu holen und damit meine Erinnerungen zu ertränken. Doch sie würden zurückkommen. Niemand konnte mir die Bilder nehmen, die sich in meinen Kopf gebrannt hatten: Wie die Priesterinnen sämtliche sich in Hörweite befindlichen Menschen zu willenlosen Opfern machten, wie ein stumpfer Dolch ausgefranste Wunden schnitt und das Leben einer Priesterin und eines Mannes der Grossen Göttin opferte. Wusste sie davon?

Dem Kindesalter entwachsend, erkrankten alle Jungen und verschwanden irgendwann. Vielleicht war der Mann mit den ausgezehrten Augenhöhlen auch zwei oder drei Jahre jünger als ich und eines der verschwundenen Kinder. Verschwunden, nachdem man ihm nicht mehr helfen konnte, so sagten sie.

Ich schüttelte meine Schultern, um sie vom Gewicht meiner Entdeckungen zu befreien, doch sie klebten so stark an mir, dass ich sie nicht loswurde. Wie brennendes Pech drang das beklemmende Gefühl ein, wo immer es nur konnte, und verursachte ein Feuer, das ich nicht mehr beherrschen konnte. Vielleicht, wenn ich lange genug wartete …

Erst als ich Rumanda zwei Gartenwege weiter entdeckte, nahm ich ihre Schritte wahr. Ihr Blick ruhte schwer und anschuldigend auf mir, als ahnte sie, was ich getan hatte. Dabei konnte sie nichts erfahren haben. Niemand hatte mich gesehen – jedenfalls niemand, der noch lebte.

Wortlos setzte sich meine Lehrmeisterin neben mich. Gemeinsam schwiegen wir, beobachteten die wogenden Ringelblumen im Wind, sogen den Duft von Rosmarin und Lavendel ein.

»Gab es einmal Männer in Zefira?«, brach ich die Stille, ohne Rumanda anzusehen.

Sie holte tief Luft, als wollte sie sich die Antwort überlegen, herausfinden, wieso ich eine solch ungewöhnliche Frage stellte. Doch genauso, wie ich als Kräuterkundige dem Tempel hatte dienen wollen, folgte sie ihrem Eid als Lehrmeisterin, jede Frage zu beantworten. »Die Gründerinnen von Zefira haben den Ort, der vorher hier war, vernichtet. Glaubt man den Schriften, haben sie gegen Männer gekämpft.«

»Waren diese schwach?«

Leise lachte Rumanda in sich hinein. »Da sie gekämpft haben, würde ich behaupten, dass sie eher stark waren. Weshalb das plötzliche Interesse an diesem Thema?«

Ich durfte nicht lügen, doch ich durfte mich auch nicht ungefragt in die Bibliothek schleichen, Zefira verlassen oder einem Mann zur Flucht verhelfen. »Ich habe einen Jungen auf der Strasse gesehen, schwach und zerbrechlich. Da kamen die Fragen einfach so.«

»Und deshalb heulst du dir die Seele aus dem Leib, ohne unsere Mutter oder die Grosse Göttin um Hilfe zu bitten?« Sie klang angespannt, als wüsste sie nicht so recht, wie sie durch meine Schale brechen konnte.

»Sie würden mich nicht verstehen. Immerhin sind sie es, die stets sagen, Männern sei kein langes Leben vergönnt, solange sie dem Pfad der Göttin folgen. Doch wenn sie zu einer anderen Macht beten, erreichen sie das Erwachsenenalter.«

Was, wenn unser Glaube der falsche war? Wenn die Göttin einfach nicht den richtigen Weg für Männer bot? Trotz meiner Zweifel wusste ich, dass es eine dritte, noch viel schlimmere Möglichkeit gab. Doch sie zu denken war zu gefährlich. Die Göttin würde mich augenblicklich aus dem Tempel werfen. Oder töten.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752121131
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (November)
Schlagworte
Bestimmung Unterdrückung Verbotene Liebe Kampf Magie Schicksal Gerechtigkeit Episch Fantasy High Fantasy

Autor

  • Andrea Ego (Autor:in)

Die Autorin Andrea Ego entdeckte schon in ihrer frühesten Schulzeit Bücher für sich. Das Abtauchen in fremde Welten hat sie von Beginn weg fasziniert. In ihrer Jugendzeit hat sie mit dem Schreiben begonnen und seither hat es sie nie mehr so richtig losgelassen. Andrea liebt neben dem Schreiben ihre Familie über alles, die Schweizer Berge, Schokolade, ihren Garten und das Fotografieren.
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Titel: Das Schicksal der Seherin