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Die Seele des Bösen - Finstere Erinnerung

Sadie Scott 1

von Dania Dicken (Autor:in)
302 Seiten
Reihe: Sadie Scott, Band 1

Zusammenfassung

In der kalifornischen Kleinstadt Waterford hat die Polizei es selten mit schlimmeren Verbrechen als Fahrraddiebstählen zu tun, bis eines Abends die Leichen einer vierköpfigen Familie in ihrem Haus gefunden werden. Ein Unbekannter hat tagelang mit seinen Opfern zusammen gelebt, bevor er sie brutal ermordet hat. Polizistin Sadie erhält zum ersten Mal die Gelegenheit, ihre Ausbildung an der FBI Academy zu nutzen. Mit ihren Kollegen Phil und Matt versucht sie, ein Profil des Familienmörders zu erstellen. Ihn zu finden, ist ihr ein ganz persönliches Anliegen: Vor fünfzehn Jahren wurde auch Sadies Familie getötet — von ihrem eigenen Vater ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Klamath Falls, Oregon: Fünfzehn Jahre zuvor

 

Inzwischen klang die Stimme ihrer Mutter fast schrill. Tränen brannten in Kims Augen, während sie an die Decke starrte. Er würde Mum wieder schlagen. Das tat er immer. Viel zu oft hatte sie ein blaues Auge oder sogar Flecken am Hals. Würgemale.

Das Licht der Laterne vorn an der Straße leuchtete ins Zimmer. Der Baum vorm Fenster warf Schatten, die sich im Wind bewegten. Manchmal fand Kim das unheimlich, aber im Moment bereitete der Streit ihrer Eltern ihr ernstere Sorgen.

„Bist du wach?“, fragte Kristy leise von der anderen Seite des Zimmers.

„Ja“, erwiderte Kim. „Wie soll man denn da schlafen?“

„Allerdings.“ Kristy schlug die Decke zurück und setzte sich aufrecht.

„Was machst du?“

Ihre Schwester antwortete nicht gleich, weil ein Tobsuchtsanfall ihres Vaters sie beide zusammenzucken ließ.

„Ich will nicht, dass er sie wieder schlägt“, sagte Kristy.

„Willst du da jetzt runtergehen?“, fragte Kim erschrocken. „Was, wenn er dann hochkommt?“

„Er kommt nicht hoch.“ Kristy sagte das, als wäre das eine unumstößliche Tatsache, aber Kim hatte da ihre Zweifel. Dennoch stand Kristy unbeeindruckt auf und schlich auf leisen Sohlen zur Tür. Ein Lichtspalt fiel ins Zimmer, als sie die Tür einen Spalt breit öffnete. Sofort wurde aus dem undeutlichen Gebrüll von unten ein klar verständlicher Streit.

„Du kannst froh sein, dass es nicht dich getroffen hat! Aber mach nur so weiter ...“ donnerte ihr Vater.

„Du bist ja krank!“, schrie ihre Mutter. „Lass mich los!“

Resigniert schloss Kim die Augen. Es war wieder so weit, dass er Mum weh tun würde. Das darauffolgende dumpfe Geräusch und der erstickte Aufschrei bestätigten ihre Befürchtung.

„Das muss aufhören“, murmelte Kristy. Als sie einen Fuß aus dem Zimmer setzte, fuhr Kim hoch.

„Nicht!“, zischte sie. Weil sie die Ältere war, fühlte Kristy sich immer verantwortlich und wollte schlichten. Von Toby konnten sie das auch kaum erwarten, schließlich war er erst sechs. Aber Kristy war schon vierzehn und träumte bereits davon, auszuziehen und allem zu entfliehen. Kim wollte nichts lieber, als ihre Schwester zu begleiten. Doch das würde noch ein Traum bleiben, denn sie waren beide zu jung.

Vermeintlich unerschrocken verschwand Kristy auf dem Flur. Unruhig schlich Kim ihr hinterher. Als sie die Zimmertür wieder öffnete, sah sie ihre Schwester oberhalb der Treppe stehen. Nach einem weiteren Schritt erkannte sie ihre Eltern unten im Flur. Dad hatte Mum rückwärts gegen die Tür gedrückt. Ihre Haare standen wirr ab, ihre Augen waren tränennass. Von ihrem Vater sah Kim nur den Rücken.

Die Schusswaffe hinter seinem Gürtel bemerkte sie erst, als er danach griff, die Waffe entsicherte und sie ihrer Mum vors Gesicht hielt. Er zwang sie dazu, den Mund zu öffnen und schob den Lauf der Waffe hinein. Für einen Moment vergaß Kim zu atmen. Auch Kristy rührte sich nicht.

„Du gehst ganz bestimmt nicht zur Polizei“, sagte ihr Vater bedrohlich leise. Nackte Angst stand in den Augen ihrer Mutter geschrieben. Mit dem Mut der Verzweiflung rannte Kristy die Treppe hinunter.

Dann knallte es.

Kim machte einen Satz zurück, bis sie den Türrahmen im Rücken spürte. Kristy schrie markerschütternd laut und ging fast in die Knie. Über das Treppengeländer hinweg sah Kim weit verspritztes Blut auf der weiß lackierten Haustür, spürte ihr Herz für einen winzigen Moment nicht mehr schlagen.

Kristy wimmerte hysterisch, war auf den untersten Treppenstufen in sich zusammengesackt. Ängstlich machte Kim einen Schritt nach vorn, bis sie ihre Schwester sehen konnte. Sie kauerte vor den Füßen ihres Vaters, der neben der Leiche ihrer Mutter stand und die Waffe auf seine eigene Tochter richtete.

Kim wollte schreien, aber sie konnte nicht. Sie krallte die Finger ins Geländer und schnappte nach Luft.

„Ich hätte euch längst alle umbringen sollen“, sagte ihr Vater. Zitternd hob Kristy den Kopf und sah ihm direkt in die Augen.

„Du bist ein feiges Schwein“, sagte sie, von Schluchzern unterbrochen.

„Feige nennst du mich?“ Mit der rechten Hand holte er aus und schlug Kristy quer übers Gesicht. Er traf sie so heftig, dass sie rücklings gegen die Wand flog und benommen die Treppe hinunterrutschte. Sofort packte ihr Vater sie, warf sie zu Boden und trat ihr in den Magen. Kim zuckte zusammen.

„Du bist genau so ein Miststück wie deine Mutter“, zischte er. „Wird Zeit, dass du stirbst. Aber erst gleich.“

Erneut schlug er Kristy, bevor er sich über sie kniete. Sie strampelte wie wild und schrie, denn inzwischen war sie wieder bei Sinnen.

„Lass mich in Ruhe!“, kreischte sie, aber sie hatte keine Chance. Wie gelähmt beobachtete Kim, was geschah. Schon wieder. Sie hatte es schon einmal gesehen, als ihr Vater geglaubt hatte, allein mit Kristy zu Hause zu sein. Kim war fast in ihr gemeinsames Zimmer geplatzt und hatte etwas gesehen, das sich wie Säure in ihre Erinnerung geätzt hatte. Etwas, von dem Kristy sie beschworen hatte, es niemandem je zu sagen. Unter Tränen hatte sie Kim das Versprechen abgerungen, als sie ihr Höschen im Waschbecken vom Blut gesäubert hatte.

Und Kim hatte es ihr versprochen. Sie wusste nicht mehr, warum. Vielleicht hätten sie dieser Hölle entrinnen können, wenn sie doch etwas gesagt hätte.

Aber jetzt war es zu spät. Kristy schrie und weinte. Reglos starrte Kim auf die Szene, die sich neben ihrer toten Mutter abspielte. Das Blut rann langsam an der Tür entlang nach unten. Es war einfach überall.

Impulsiv drehte sie sich um und rannte zurück in ihr Zimmer, lief zum Wandschrank und öffnete eine Tür. Zitternd und ängstlich setzte sie sich unter Pullover und Hosen und zog leise weinend die Tür hinter sich zu. Sie ertrug diesen Anblick nicht mehr. Sie wusste auch nicht, was sie tun sollte. In der oberen Etage gab es kein Telefon. Handys besaßen sie alle nicht.

Ihr fiel nicht ein, was sie tun konnte, um ihren Vater zu stoppen. Um das zu stoppen. Um dafür zu sorgen, dass er aufhörte.

Ihre Zimmertür stand immer noch einen Spalt weit offen, so dass sie das Weinen und die Schreie ihrer Schwester hören konnte. Schluchzend krallte Kim die Finger ins Haar und wiegte sich hin und her. Sie musste doch etwas tun. Sie musste Kristy helfen. Sie musste nach Toby sehen. Sie musste die Polizei rufen.

Aber sie rührte sich nicht. Sie war nicht wie Kristy. Wie gelähmt saß sie da und versuchte, die Bilder aus ihrem Kopf zu verbannen. Die Bilder davon, wie ihr Vater neben der Leiche ihrer Mutter kniete und ...

Plötzlich knarrte eine der Dielen neben der Treppe. Entsetzt schrak Kim hoch und hielt die Luft an. Das musste Toby sein. Sekundenbruchteile später bestätigte ein Schrei ihren Verdacht.

„Lauf weg, Toby!“, schrie Kristy, bis ihre Stimme brach. Dann knallte es wieder. Kim schrie auf und merkte erst da, dass sie sich die Lippe blutig gebissen hatte. Toby schrie noch immer. Also war nicht er es, den ihr Vater getroffen hatte.

„Du kleiner Scheißer!“, brüllte ihr Vater. Ein weiterer Schuss übertönte Tobys Geschrei und unterbrach es abrupt. Kim fuhr hoch und wagte kaum zu atmen. Auf der Treppe hörte sie Schritte.

„Kim“, sagte ihr Vater mit zuckersüßer Stimme. „Hast du dich versteckt?“

Noch ein Schritt. Am ganzen Körper angespannt kniete Kim im Schrank und überlegte fieberhaft. Er würde sie auch erschießen. Er hatte gerade Mum, Kristy und Toby erschossen, da würde er bei ihr bestimmt nicht aufhören.

Das Garagendach. Es war ihre einzige Chance.

Ohne lange zu überlegen, sprang sie auf und rannte aus dem Zimmer. Ihr Vater hatte nicht damit gerechnet und die Waffe nicht so schnell erhoben, wie Kim über den Flur zum Schlafzimmer ihrer Eltern rannte. Sie betete, dass das Fenster nicht wieder klemmte, drehte die Haken zur Seite und stemmte das Fenster mit der Kraft der Verzweiflung hoch. Ihre geringe Körpergröße kam ihr zugute, als sie sich hastig durch die Fensteröffnung zwängte. Ein weiterer Schuss ertönte und die Scheibe splitterte. Panisch sprang Kim aufs Garagendach, prallte unsanft auf und purzelte über die Schindeln. Nichts bremste ihren Sturz, deshalb fiel sie vom Dach und landete auf dem Bauch. Fast hätte sie sich einen Zahn ausgeschlagen, ein stechender Schmerz zuckte durch ihre Nase. Doch damit hielt sie sich nicht auf, sie kämpfte sich unter Tränen hoch und stolperte weiter. Sie musste weg.

Der nächste Knall schmerzte. Dass es nicht der Knall selbst, sondern die Kugel war, begriff sie nicht gleich. Ein heftiges Stechen machte sich in ihrem Rücken bemerkbar und bremste ihre Schritte. Etwas Heißes lief über ihre Haut. Ihr wurde schwarz vor Augen und sie ging erneut zu Boden.

Sie landete auf der Seite, aber sie schrie nicht. Sie konnte nicht. In Todesangst starrte sie hoch zum Schlafzimmerfenster ihrer Eltern. Da stand ihr Vater noch und beobachtete sie. Kim begriff und blieb reglos liegen, biss sich auf die Zunge, stellte sich tot.

Sekunden später verschwand er. Sie wollte aufstehen, aber sie konnte nicht. Der Schmerz strahlte überallhin aus. Tränen strömten über ihre Wangen, hilfesuchend schaute sie sich um. Bei einigen Nachbarn war noch Licht. Oder wieder? Kim wollte schreien, aber mehr als ein Wimmern brachte sie nicht zustande. Das Blut lief ihr in den Kopf, der schmerzhaft dröhnte, denn sie lag mit dem Kopf nach unten auf der abschüssigen Auffahrt. Ihr Atem schlug Wolken, denn es war kalt. Es roch, als läge Schnee in der Luft. Schnee ...

Im Augenwinkel nahm sie einen Lichtschein wahr. Es war warmes Licht, wirkte nicht bedrohlich, hatte eine Farbe zwischen orange und gelb.

Es wurde heller.

Erst nach einigen Augenblicken begriff Kim, dass es im Wohnzimmer brannte. Flammen schlugen hinter dem Fenster hoch, leckten an den Vorhängen.

Vor ihren Augen tanzten Sternchen. Sie glaubte an Einbildung, als sie Sirenen hörte. Das alles musste Einbildung sein.

Dann fielen ihre Augen zu und sie verlor das Bewusstsein.

 

 

Waterford, Kalifornien: heute

 

„Das nächste Mal blinken Sie besser beim Abbiegen“, sagte Phil mit einem Augenzwinkern zu der jungen Mutter, die mit hochrotem Kopf wieder in ihren Wagen stieg. Sadie warf ihm einen zweifelnden Blick zu, allerdings so, dass nur er es merkte.

„Was denn?“, fragte Phil. „So ein Blinker ist doch keine Sonderausstattung!“

Ohne etwas zu erwidern, stieg Sadie wieder in den Streifenwagen. Phil folgte ihr und warf die Tür hinter sich zu.

„Wer den Schaden hat, braucht wie üblich für den Spott nicht zu sorgen“, murmelte Sadie.

„Wenigstens ist gleich Schichtende, so dass wir uns nicht mit weiteren Blechschäden herumschlagen müssen“, sagte Phil, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen.

„Zum Glück.“

Phil startete den Motor, drehte den Wagen und fuhr zurück zum Police Department. Auf der Hauptstraße herrschte reger Feierabendverkehr. Die Sonne stand bereits so tief, dass sie ihnen in die Augen schien. Phil klappte seine Sonnenblende herunter und blickte sehnsüchtig zu Taco Bell hinüber.

„Enchiladas?“ fragte Sadie, der sein Blick wie üblich nicht entgangen war.

„Vielleicht Tacos“, sagte er. „Gleich. Und bei dir?“

„Ich bin bei Fanny und Norman.“

„Oh, ich wünschte, meine Mum würde mich auch noch bekochen!“

Sadie grinste. „Komm doch mit.“

„Ein anderes Mal gern. Soll ich dich dort absetzen?“

„Ist das nicht ein Umweg?“

Phil machte eine Handbewegung. „Ein klitzekleiner.“

„Gern, warum nicht.“

Es war tatsächlich kein großer Umweg. In einer Stadt wie Waterford wäre ein großer Umweg auch schwierig geworden, denn so groß war die Stadt gar nicht. Sie lag im kalifornischen Central Valley inmitten von Weinbergen, eine halbe Autostunde von Modesto entfernt. Außer der High School, dem Police Department und dem Tuolumne River gab es in dieser Stadt nichts, was nennenswert gewesen wäre. Und doch bezeichnete Sadie sie als Heimat.

Minuten später waren sie am Ziel. Phil hielt vor dem Haus und nickte ihr zu. „Schönen Abend noch und bis morgen dann.“

„Ja, bis morgen“, erwiderte Sadie und stieg aus. Langsam fuhr Phil davon. Sadie atmete tief durch und ließ sich die Abendsonne ins Gesicht scheinen, bevor sie zu Fannys und Normans weißgestrichenem Haus ging. Auf der Veranda vor dem Haus standen einige Blumenkübel, die Tante Fanny hingebungsvoll pflegte. Norman schalt sie dafür, dass sie das ohnehin knappe Wasser zum Blumengießen verschwendete, doch sie hörte nicht darauf.

Sadie klopfte an die Tür, öffnete dann Fliegen- und Haustür und betrat das Haus. Sie hatte gerade erst einen Schritt hinein gemacht, als Onkel Norman vor ihr stand.

„In Uniform?“ Dann hob er die Stimme. „Schatz, die Polizei ist hier!“

„Soll in die Küche kommen!“, schmetterte es von dort zurück. Je näher Sadie der Küche kam, desto deutlicher konnte sie den Duft von Maccaroni and Cheese riechen. Ihre Tante drehte ihr den Rücken zu und streute noch ein wenig Käse über die Auflaufform.

„Fanny, du bist die Beste“, sagte Sadie und umarmte ihre Tante von hinten. „Ich muss dich leider aufgrund eines Verstoßes gegen das Delikatessengesetz festnehmen. Du kochst zu lecker.“

„Du hast ja noch gar nicht probiert“, antwortete Fanny unbeeindruckt, wusch sich die Hände und umarmte Sadie dann. „Schön, dass du da bist. Heute in Uniform?“

„Phil hat mich gerade hier abgesetzt.“

„Du hättest ihn mitbringen sollen“, sagte Norman tadelnd. Er war ein hochgewachsener, schlaksiger Mann; so groß, dass er schon seit vielen Jahren unwillkürlich etwas krumm ging. An seine Glatze hatte Sadie sich immer noch nicht gewöhnt.

„Ich habe ihn sogar eingeladen, aber er wollte nicht“, erwiderte Sadie.

„Banause“, ereiferte Norman sich.

„Jetzt hör schon auf, Sadie immer verkuppeln zu wollen!“, mahnte Fanny streng.

„Aber jetzt sieh dir unsere Sadie doch an! Haben die Jungs hier alle Tomaten auf den Augen?“

„Du weißt doch, dass das alles nicht so einfach ist“, murmelte Fanny. „Sadie, setz dich doch. Möchtest du Limonade mit Eis?“

„Oh ja“, erwiderte Sadie und setzte sich an den bereits gedeckten Tisch, der in den Erker hineinragte. Norman folgte ihr mit einem Glaskrug voller Limonade. In der anderen Hand hielt er einen Becher mit Eiswürfeln.

„Ist Phil denn nicht dein Typ?“, bohrte er weiter, während er Eiswürfel in Sadies Glas rutschen ließ.

„Nein, Phil ist nicht mein Typ“, antwortete Sadie gelassen. „Er ist mein Partner. Und, wie du vielleicht vergessen hast, hat er bereits eine Freundin.“

„Und die ist nicht das Mädchen mit den rötesten Haaren in ganz Waterford?“ Verächtlich schüttelte er den Kopf. „Und so schöne Sommersprossen hast du auch.“

„Jetzt hör schon auf“, ermahnte Sadie ihn scherzhaft. „Ein Feuermelder ist nichts gegen mich!“

„Du bist eben etwas Besonderes.“

„Und du bist eine besondere Nervensäge!“ Fanny nahm ebenfalls am Tisch Platz. Norman schenkte auch ihr Limonade und Eiswürfel ein.

„Wie geht es dir denn?“, versuchte Sadie, das Thema zu wechseln und musterte ihren Onkel gespannt.

Er fuhr sich demonstrativ über die Glatze. „Ziemlich luftig da oben. Heute ist ein guter Tag, ich habe Hunger und habe alles drin behalten. Beste Voraussetzungen also für Mac and Cheese!“

„Fannys Maccaroni sind sowieso meine Leibspeise“, sagte Sadie belustigt, wurde dann aber gleich wieder ernst. „Das ist doch gut, Norman. Die Ärzte kriegen dich schon wieder hin.“

„Richtig. Die Heilungschancen sind bei frühzeitiger Erkennung von Hautkrebs ja nicht schlecht. Du weißt, ich bin ein Optimist!“

„Das ist auch richtig so“, stimmte Fanny zu.

„Wie geht es Gary und Sandra?“, erkundigte Sadie sich.

„Bestens. Gary hat vorgestern hier angerufen und angeregt, dass wir demnächst einen gemeinsamen Grillabend machen.“

„Oh ja, das klingt ja hervorragend“, fand Sadie.

„Sandra geht es ebenfalls gut, aber sie ist ja auch erst im siebten Monat. Die beiden freuen sich schon riesig auf das Kind.“

Sadie lächelte. „Ich auch, dann werde ich Tante.“

„Ja, nachdem wir uns da weder bei dir noch bei Joanna Hoffnung machen dürfen ...“ stichelte ihr Onkel.

„Norman, jetzt hör aber auf! Sadie wird es uns schon wissen lassen, wenn sie jemanden gefunden hat“, ermahnte Fanny ihren Mann. Der Duft aus der Küche wurde immer stärker. Sadie spürte, wie ihr Magen laut vernehmlich knurrte. Fannys Mac and Cheese war eine ihrer besseren Kindheitserinnerungen.

Bis zum Essen sprachen sie über Normans Chemotherapie, um das leidige Thema pünktlich abzuschließen. Es hatte wie ein Faustschlag in Sadies Magen gesessen, als sie von seiner Krebserkrankung erfahren hatte. Der Gedanke, dass ihr Onkel, der immer wie ein Vater für sie gewesen war, möglicherweise daran sterben würde, war unerträglich für sie. Das durfte nicht passieren. Das durfte es einfach nicht. Aber lebensfroh, wie er war, trug er die Diagnose mit Fassung und unterzog sich der aufreibenden Behandlung, ohne zu klagen. Ihrer Tante merkte Sadie öfter an, dass das alles sie sehr mitnahm.

Endlich trug Fanny die Nudeln auf und verteilte sie auf den Tellern. Beim bloßen Geruch lief Sadie das Wasser im Munde zusammen. Die cremige Soße war einfach wundervoll und die würzigen Schinkenstückchen ...

Für einen Moment war es totenstill, während sie zusammen die Nudeln genossen. Die Abendsonne leuchtete durchs Erkerfenster herein und tauchte alles in ein goldenes Licht. Sadie mochte den Spätsommer. Sie hatte große Lust, an die Küste zu fahren und auf den Pazifik zu blicken, irgendwo nördlich von San Francisco, wo die Küste besonders beeindruckend war. Und das war sie nicht nur dort.

Als sie auch ihren Nachschlag verputzt hatte, lehnte sie sich zufrieden auf ihrem Stuhl zurück und lächelte. „Danke, Fanny. Das war einfach köstlich!“

Norman nickte zustimmend und aß weiter. Er hatte noch immer etwas auf seinem Teller, während Fanny bereits fertig war.

„Noch ein wenig Eis zum Nachtisch?“, fragte sie.

„Beim nächsten Fitnesstest werde ich grandios versagen“, prophezeite Sadie.

„Nein, das wirst du nicht.“ Seufzend beugte Fanny sich vor. „Warum verteilst du hier Strafzettel für Falschparker? Warum machst du nicht etwas aus deiner Ausbildung?“

„Fanny ...“ Händeringend suchte Sadie nach Worten. „Ich bin zufrieden, wie es gerade ist. Jetzt wo Onkel Norman krank ist, will ich nicht weggehen. Und das müsste ich, um das einsetzen zu können, wovon du sprichst.“

„Ja, aber Waterford? Willst du für immer hierbleiben?“

„Es gefällt mir hier“, behauptete Sadie. „Hier seid ihr. Hier sind meine Freunde. Hier ist alles, was ich kenne! Und weggehen bedeutet nicht San Francisco oder Los Angeles. Das bedeutet Quantico. Virginia. Das will ich nicht. Ich bin noch nicht soweit.“

„Lass das Mädchen in Ruhe“, sagte Norman.

„Ach, das sagt der Richtige“, wehrte Fanny sich. „Kind, wir wollen doch nur dein Bestes. Du musst nicht unseretwegen hierbleiben.“

„Schon gar nicht meinetwegen“, sagte Norman. „Ich bin ein alter Mann! Aber der Krebs kriegt mich nicht klein. Eher besiege ich ihn! Du kannst ruhig gehen, wohin du willst.“

„Ich will aber gar nicht gehen“, beharrte Sadie. Während Fanny abräumte und das Eis auf den Tisch stellte, starrte Sadie auf das Muster in der Tischdecke. Das war alles lieb gemeint von den beiden, aber das stand gerade nicht zur Debatte. Ja, sie hatte Kriminologie und Psychologie studiert. Sie hatte als Zweitbeste des ganzen Jahrgangs abgeschlossen. Sogar ihre Bewerbung beim FBI war von Erfolg gekrönt gewesen und ihr Training in der Academy auch. Und ja, sie verteilte jetzt trotzdem wieder Strafzettel in Waterford.

Sie war noch nicht soweit.

Nachdem sie zwei Kugeln Eis verputzt hatte, blickte sie demonstrativ auf die Uhr. „Ich werde dann mal nach Hause gehen. Die Katzen verhungern sicher schon.“

„Ich fahre dich“, sagte Norman.

„Nicht nötig“, erwiderte sie.

„Ich bestehe darauf.“

Sadie gab sich geschlagen. Dankbar umarmte sie ihre Tante und verabschiedete sich von ihr, bevor sie mit Norman das Haus verließ und sie sich in seinen alten Pickup setzten, der blubbernd ansprang. Zwar hätte sie auch laufen können, aber sie wollte sein Angebot nicht ausschlagen.

„Und du bist wirklich glücklich hier?“, fragte er, während er rückwärts ausparkte.

„Ja, warum denn nicht? Es geht mir gut, wirklich. Macht euch keine Sorgen.“

„Das tun wir aber. Weißt du, Gary hat bald eine richtige kleine Familie und selbst Joanna ... na ja, sie scheint glücklich zu sein mit dem, was sie macht.“

„Ist sie“, sagte Sadie. „Ganz bestimmt sogar.“

„Ja, wahrscheinlich. Aber ... Kind, wir machen uns doch nur Sorgen.“

„Ich weiß, Norman. Aber das müsst ihr wirklich nicht. Ich werde nicht Phil heiraten und ich werde auch nicht immer mit meinen Katzen allein bleiben.“

„Das will ich auch hoffen“, sagte er augenzwinkernd. „Sadie, ich will nur, dass du weißt, dass du immer zu uns kommen kannst. Zu mir.“

Sie seufzte ergeben. „Als könnte ich das je vergessen! Ihr wart immer so gut zu mir. Besser als ... na ja.“

„Ich weiß schon“, sagte Norman. „Aber meiner Schwester mache ich keinen Vorwurf. Sie hatte ja auch keine Ahnung.“

„Lass uns davon aufhören“, bat Sadie hastig. Sie war froh, als sie schließlich in ihre Straße einbogen. Mit einer Umarmung verabschiedete sie sich von ihrem Onkel, bevor sie ausstieg. Inzwischen war die Sonne untergegangen. Nachdenklich blickte sie dem Pick-Up hinterher, bevor sie die Haustür aufschloss und von zwei maunzenden Bestien umgarnt wurde, die ihr mit jedem Ton mitteilten, dass ihr Napf schon viel zu lang leer war.

„Ich weiß ja, ihr beiden“, sagte sie, warf die Haustür hinter sich zu und ging schnurstracks in die Küche, um dort eine Dose Katzenfutter zu öffnen. Das Gemaunze ging weiter, bis der Napf auf dem Boden stand und die Katzen sich darum versammelt hatten.

„Guten Appetit, ihr zwei, ich gehe mal duschen“, sagte sie, hängte den Schlüssel ans Schlüsselbrett und löste ihren Zopf. Schon auf dem Weg ins Schlafzimmer oben zog sie ihre Uniform aus, warf die Kleidungsstücke aufs Bett und schälte sich auf dem Weg zum Bad aus ihrer Unterwäsche. Verschwitzt, wie sie war, wurde es wirklich Zeit für eine Dusche.

Sie zog den Badewannenvorhang zurück, drehte das Wasser auf und legte ihr Handtuch bereit. Bis dahin war das Wasser angenehm warm.

Weil sie nur die kleine Lampe über dem Spiegel eingeschaltet hatte, duschte sie im Dämmerlicht. Als sie sich Shampoo in eine Handfläche träufelte, fiel ihr Blick unwillkürlich auf die Quernarben an ihren Handgelenken. Sie waren schon so alt, dass sie inzwischen kaum noch zu sehen waren. Aber sie verrieten etwas über sie, das sie nicht nur lieber vergessen hätte, sondern von dem sie sich wünschte, dass es nie passiert wäre.

Sadie hielt das Gesicht unter den Wasserstrahl, während sie sich das feuerrote Haar einshampoonierte. Inzwischen hatte sie sich mit ihrer Haarfarbe angefreundet und sie mochte auch ihre Sommersprossen. Die gehörten zu ihr und waren nicht schlimm. Zwar konnte sie Normans Faszination nicht nachvollziehen, aber ihr Onkel war voreingenommen und blind vor väterlicher Liebe.

Sie hatte manches Mal gezweifelt, ob sie diese Liebe verdiente. Sie hatte ihrer Familie so vieles zugemutet und deshalb ein schlechtes Gewissen. Vermutlich verging das nie.

Genüsslich ließ sie das warme Wasser über ihre Haut laufen, als sie sich die Haare ausspülte. Nachdem sie die Spülung einmassiert hatte, seifte sie sich von Kopf bis Fuß mit Duschgel ab. Die kreisrunde Narbe an ihrem Rücken, über die ihre Finger dabei glitten, spürte sie kaum. Sie hatte sich daran gewöhnt.

 

 

Mittwoch

 

Sadie erwachte, als Mittens von ihrem Bett sprang und mit einem dumpfen Aufprall auf dem Boden landete. Auf leisen Pfoten schlich die Katze aus dem Schlafzimmer und verschwand. Figaro hingegen hatte gerade beschlossen, sich noch einmal umzudrehen und zusammenzurollen. Er war ein grauer Tigerkater, der Sadie irgendwann zugelaufen war. Eines Morgens hatte er maunzend vor ihrer Haustür gesessen und um Futter gebettelt. Er war ziemlich abgemagert gewesen und hatte nicht sehr gesund gewirkt, so dass die tierliebe Sadie keinen Augenblick gezögert und ihn hereingeholt hatte. An diesem Tag hatte sie frei gehabt, so dass sie ihn kurzerhand vom Tierarzt hatte durchchecken lassen. Sie hatte ihn gefüttert und ihm einen warmen Platz vorm Kamin angeboten, den er sofort dankbar angenommen hatte und nun sein Zuhause nannte. Wenig später hatte Sadie ihm zur Gesellschaft die schwarze Katze Mittens aus dem Tierheim geholt. Mittens war eine kleine Diva, aber die beiden kamen gut zurecht. Durch ihre Katzenklappe gingen sie ein und aus und bereicherten nun Sadies Leben. Sie hatte damals ohnehin überlegt, sich ein Haustier anzuschaffen, um nicht allein zu sein. Und nun hatten die beiden Katzen im Haus das Sagen, wie Mittens ihr Augenblicke später unmissverständlich miauend aus der Küche zu verstehen gab.

Sadie stöhnte gequält, aber weil sie wusste, dass Mittens nicht aufhören würde, stand sie auf und streckte sich. Mit einem halben Auge beobachtete Figaro sie dabei, wie sie das Schlafzimmer verließ, und folgte ihr Augenblicke später. Wenn es irgendwo etwas zu essen gab, war Figaro auch dort. Im Halbschlaf machte Sadie den beiden ihr Futter fertig und stattete dann dem Bad einen Besuch ab. Als sie sich eine Schale Cornflakes in der Küche machte, waren die Katzen schon längst fertig und hatten es sich nebenan auf dem Sofa gemütlich gemacht.

„Ihr habt ein Leben“, murmelte Sadie und begann, in ihren Cornflakes zu löffeln. Ihre Katzen waren wirklich zu beneiden. So ein Leben hätte Sadie auch gern gehabt. Aber dieses Glück hatte sie nicht. Sie hatte niemanden, der sie fütterte, streichelte und ihr einfach ein Zuhause anbot. Dafür musste sie selbst sorgen.

Während ihres Frühstücks leistete der Radiosprecher ihr Gesellschaft. Ansonsten war es recht still im Haus. Das war es meistens, wenn die Katzen nicht gerade Streit anzettelten. Das geschah aber nur selten. Ohnehin war es ein eher kleines Haus, aber Sadie genügte es. Schließlich war sie allein.

Es rührte sie, dass Norman sich deshalb Sorgen machte, denn immerhin war sie nun schon sechsundzwanzig. Das wäre nicht weiter bemerkenswert gewesen, aber Sadie hatte in ihrem ganzen Leben noch keinen Freund gehabt. Das machte Norman schon eher Sorgen. Dabei war es nicht, dass Sadie abgeneigt war. Aber sie wusste genau, wenn sie jemanden an sich heran ließ, würde er irgendwann Fragen stellen. Das war auch sein gutes Recht. Jeder würde Fragen stellen zu der Narbe auf ihrem Rücken. Jeder würde fragen, warum sie bei Onkel und Tante groß geworden war. Das war ganz natürlich. Aber Sadie wollte dazu nichts sagen. Nie mehr.

Nach dem Frühstück widmete sie sich der Hausarbeit. An diesem Tag hatte sie Spätschicht, deshalb konnte sie bis zur Mittagszeit alles erledigen, was über die letzten Tage liegengeblieben war. Sie machte die Wäsche, räumte ein wenig auf, fuhr zwischendurch zum Einkaufen. Das war auch der hauptsächliche Verwendungszweck ihres alten Toyota, denn sie wohnte so nah am Police Department, dass sie oft zu Fuß zur Arbeit ging.

Bepackt mit Tüten voller Waren aus dem Supermarkt kehrte sie kurz vor Mittag nach Hause zurück und räumte alles weg. Sie hatte ihr kleines Haus in freundlichen hellen Farben eingerichtet, alles war weitläufig und offen. Manchmal war es ihr trotzdem zu groß, aber sie wollte nicht immer allein leben. Gerade erst hatte sie ihrer besten Freundin Tessa angeboten, doch bei ihr einzuziehen. Sie und Tessa und die Katzen – das hätte ihr gefallen.

Das Radio dudelte noch immer, während sie sich schnell etwas zum Mittagessen warm machte. Figaro streunte maunzend um den leeren Napf und verlangte nach Aufmerksamkeit und Nachschub.

„Nein, du verwöhnter Kater“, sagte Sadie gelangweilt, während sie in ihrem Chili rührte. „Du hast noch genug Cracker. Nimm die.“

„Mau“, erwiderte Figaro wenig überzeugt. Schließlich gab Sadie doch nach und öffnete die nächste Dose Katzenfutter, die sie eigentlich hatte geben wollen, bevor sie zur Arbeit ging. Mittens und Figaro versammelten sich schmatzend um den Napf.

Minuten später hatte auch Sadie ihr Mittagessen fertig. Sie beobachtete die Katzen und hörte die Radionachrichten, während sie ihr Chili con Carne verspeiste. Ein FedEx-Transporter hielt gegenüber bei den Nachbarn und lieferte dort etwas ab. Es war ein ganz normaler Tag, ein vollkommen langweiliger Mittwoch.

Nach dem Mittagessen spülte Sadie noch schnell und beobachtete dabei den Postboten, der die Straße entlang ging und die Post verteilte. Schließlich zog Sadie ihre Uniform an, verabschiedete sich von ihren Katzen und verließ das Haus, um sich auf den kurzen Weg zum Police Department zu machen. Die Sonne schien von einem fast wolkenlosen Himmel und es war sehr warm, aber zum Glück wehte ein kühlender Wind.

„Hey, Sadie“, grüßte der Postbote sie, als sie ihn überholte.

„Hallo, Mark“, erwiderte sie mit einem Lächeln. In Waterford kannte man sich.

An gepflegten Vorgärten vorbei ging sie bis zur Hauptstraße, die von kleinen Läden gesäumt war. Von da an hatte sie es nicht mehr weit bis zum Police Department. Sie musste keine Viertelstunde laufen, bis sie dort war.

Vor der Tür traf sie Ted, der seine wohlverdiente Zigarette nach Dienstschluss rauchte. Er grüßte sie mit einer Kopfbewegung und lächelte. „Hi, Sadie.“

„Hi, Ted“, erwiderte sie. „Bei dem Wetter könnte man glatt auf die Idee kommen, sich in den Pool zu legen, nicht?“

„Könnte man, aber ich muss mit dem Wagen in die Werkstatt. Das wird heute nix mit Pool.“

„Dann viel Erfolg“, sagte sie, bevor sie das winzige Gebäude betrat. Nicht jeder blickte auf oder grüßte sie, als sie sich ins Büro begab. Das nahm Sadie jedoch nicht persönlich, denn ihre Kollegen waren in die Arbeit vertieft. In einer Ecke hatte Phil sich an den Schreibtisch gesetzt und las in einer Akte. Sadie ging zu ihm hinüber und blieb vor dem Tisch stehen.

„Hi“, sagte er, ohne den Kopf zu heben. „Wie war es gestern Abend?“

„Sehr nett, und bei dir?“

„Du hattest recht. Enchiladas. Bin mit Jessy hingefahren.“

Sadie lächelte. „Das klingt doch gut. Was steht heute an?“

„Mike hat mit Papierkram gedroht, aber die Drohung konnte ich gerade noch abwenden. Er hat uns für den Streifendienst eingeteilt.“

„Gut“, fand Sadie.

„Da habe ich ja Glück!“, schreckte eine Stimme von hinten die beiden auf, die Sadie nur zu gut kannte. Sie drehte sich um und grinste in Tessas Richtung.

Ihre beste Freundin seit Schulzeiten war ähnlich zierlich wie Sadie, ansonsten jedoch ein vollkommen anderer Typ. Sie trug ihr schwarz gefärbtes Haar sehr kurz geschnitten und hatte es seitlich gekämmt. Eine ihrer Ponysträhnen war blau. In der Augenbraue, der Nase und der Unterlippe war sie gepierct, trug ein enges Tanktop und, dem Wetter völlig unangemessen, ihre üblichen schweren Stiefel.

„Der Nerd ist da“, sagte Phil grinsend.

„Dir auch einen schönen Tag“, erwiderte Tessa ungerührt und legte eine Laptoptasche vor ihm auf den Tisch. „Läuft wieder.“

„Was war denn los?“, fragte Sadie.

„Das Übliche. Jede Menge Malware, Pop Up-Zeug und sowas. Keine Viren, aber eine Menge Schrott, der so einen Rechner schon mal lahmlegen kann.“ Zufrieden verschränkte sie die Arme vor der Brust.

„Danke, dass du ihn wieder flott gemacht hast.“

„Klar. Rechnung an Mike?“, fragte Tessa.

Sadie nickte. „Wie immer. Bei dir alles gut?“

Tessa verdrehte die Augen. „Gestern Abend habe ich noch Zeug von Stacey in meinen Schubladen gefunden. Wenn das noch lange so weitergeht, gibt es bald ein zweites Freudenfeuer.“

Phil lachte. „Du verbrennst die Sachen deiner Ex?“

„Klar, im Grill auf der Terrasse. Was glaubst du denn?“, erwiderte Tessa.

Sadie tauschte einen amüsierten Blick mit Phil. „Keine faulen Kompromisse, oder?“

„Die Kuh hat mit einer anderen rumgemacht! Und zwar, ohne mir was zu sagen. Das geht gar nicht. Sie hätte diese Tiffany ja mitbringen können, aber nein ...“

Während Phil lachte, suchte Sadie den Blick ihrer Freundin. „Im Ernst, zieh doch zu mir. Muss ja nicht für immer sein.“

„Ich weiß das ja total zu schätzen, Sadie, aber ich würde immer wieder jemanden mitbringen. Willst du das?“

„Warum denn nicht? Ich habe gern Leben im Haus. Billiger wäre es für uns außerdem.“

„Ja, mal sehen. Lass mich erst mal Staceys letzte Sachen verbrennen, okay?“

„Klar“, erwiderte Sadie belustigt.

„So, ich muss dann wieder. Wollen wir am Wochenende einen Weiberabend machen? So mit Popcorn und schlechten Filmen?“

„Bin dabei!“ Sadie nickte sofort.

„Sehr gut. Ich ruf dich an! Bis dann.“

Mit schnellen Schritten rauschte Tessa davon und verließ das Polizeigebäude. Fasziniert blickte Phil ihr hinterher.

„Deine Freundin ist lustig“, fand er.

„Tessa ist in Ordnung“, erwiderte Sadie.

„Klar, so meinte ich das nicht. Ich meinte wirklich, dass sie lustig ist.“

„Das stimmt.“

„Sollen wir?“

Sadie nickte und holte ihr Funkgerät aus einer Schublade. Auf ihrem Weg nach draußen verabschiedeten sie sich von den Kollegen und stiegen in einen der Streifenwagen.

Tessa war Sadies Freundin, seit sie denken konnte. Sie hatte in der Schule am Tisch gleich neben Sadie gesessen und die Lehrer mit frechen Kommentaren provoziert. Mit ihrem Bruder war sie bei ihrer Mutter, einer extravaganten Künstlerin, aufgewachsen und immer recht eigen gewesen. In der Pubertät hatte sie eine schwere Zeit durchgemacht, als ihr bewusst geworden war, dass sie sich statt für Männer für Frauen interessierte. Sadie war der erste Mensch gewesen, dem Tessa das anvertraut hatte und es hatte nie zur Diskussion gestanden, dass sie sich von Sadie mehr erhoffte. Das hatte sie nie getan, denn Sadie war einfach nicht ihr Typ.

Genau wie ihr Bruder interessierte Tessa sich sehr für Technik und Computer. Nach ihrem Highschool-Abschluss hatte sie begonnen, in Estebans Computerladen an der Hauptstraße zu arbeiten. Sie hatte ein Händchen für streikende Computer und war gut darin, Viren und andere Probleme aufzuspüren oder defekte Hardware zu reparieren. Nun arbeitete sie schon seit einigen Jahren in dem Laden und plante parallel noch ein Fernstudium in Informatik, weil sie, wie sie sagte, nicht immer für Esteban die streikenden Laptops von Hausfrauen oder Schuljungen reparieren wollte. Sie wäre gern gleich nach der High School ans College gegangen, doch ihre allein erziehende Mutter hatte das nicht finanzieren können und so ging Tessa nun eben einen Umweg. Sadie war froh, dass sie einander auch nicht verloren hatten, als sie begonnen hatte, Kriminologie zu studieren. Im Anschluss hatte sie die Polizeischule besucht und danach begonnen, bei der hiesigen Polizei zu arbeiten. Das Fernziel hatte damals gelautet: FBI Academy, Quantico.

Und tatsächlich hatte die Academy sie im letzten Jahr angenommen. Sie hatte die Ausbildung durchgezogen, aber dann hatte Norman erfahren, dass er Krebs hatte. Sadie hatte vor der Wahl gestanden, sich für mindestens drei Jahre zu verpflichten oder sich doch in der Nähe der Familie aufzuhalten und war deshalb erst einmal nicht beim FBI geblieben – sehr zum Verdruss ihrer Ausbilder.

Virginia war viertausend Kilometer von zu Hause entfernt. Zwar war Einsamkeit nicht neu für sie, aber schon während ihres Studiums hatten Fanny, Norman, Gary und Tessa  ihr gefehlt ... das hatte sie nicht auf Dauer gewollt. Schon gar nicht in diesem Moment, da Norman seine Familie um sich brauchte.

Vielleicht irgendwann mal.

„Willst du nicht mal fahren?“, riss Phil sie aus ihren Gedanken.

„Wieso, du machst das doch gut“, sagte sie grinsend.

Er lachte. „Ich meine ja nur. Falls dir langweilig wird.“

„Mir ist nicht langweilig.“

„Kaum zu glauben. Streifendienst in Waterford ...“

Als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Ich mag Streifendienst in Waterford.“

„Im Ernst?“ Fragend zog er eine Augenbraue in die Höhe. „Es ist doch total öde hier. Ich würde wegziehen, aber komischerweise gefällt es Jessy hier ja auch.“

„So komisch ist das nicht. Ich bin hier aufgewachsen. Hier sind meine Familie und Freunde.“

„Klar ... aber du warst an der FBI Academy. Wer kommt bitte zurück, um dann in Waterford Blechschäden aufzunehmen?“

„Ich“, sagte Sadie unbeeindruckt. „Das will ich ja nicht für immer machen. Sag ich ja nicht.“

„Schon klar. Ich wundere mich nur immer. Warum wolltest du dann an die Academy?“

Unwillkürlich zog Sadie die Schultern hoch. „Weil ich Verbrecher nicht nur einsperren will. Ich will verstehen, wie sie ticken. Das kann uns ja auch hier zugute kommen.“

„Verstehen, wie sie ticken?“

„Ja, um Täterprofile erstellen zu können. Ist doch gut, wenn das hier jemand kann.“

Phil setzte den Blinker und bog ab. „Das stimmt. Aber in solchen Momenten fällt mir immer auf, wie wenig ich eigentlich über dich weiß. Ich kenne Fanny und Norman und ich weiß, dass du zwei Katzen hast. Das ist alles.“

Sadie lächelte scheu und starrte aus dem Fenster. „Da gibt es auch nicht viel mehr zu wissen.“

„Wo hast du gelebt, bevor ihr hergekommen seid?“

„In Oregon“, sagte Sadie.

„Aber Fanny und Norman haben nicht immer hier gelebt, oder?“

„Nein. Wir sind erst nach zwei Jahren hierher gezogen.“

Phil warf ihr einen mitfühlenden Blick zu. „Tut mir echt leid wegen deiner Familie.“

„Das ist lange her“, murmelte Sadie. „Ich habe nie ganz begriffen, warum ich den Brand als Einzige überlebt habe, aber ich denke auch nicht mehr darüber nach.“

„Schlimme Sache.“ Etwas Besseres fiel Phil nicht ein.

„Willst du Jessy eigentlich heiraten?“, wechselte Sadie schnell das Thema, bevor Phil weitere Fragen stellen konnte.

„Klar, wieso nicht. Bald. Irgendwann.“ Dieses Thema behagte ihm nun überhaupt nicht, deshalb spielte er den Ball zurück. „Und du?“

„Gib mir wen zum Heiraten und ich mach’s“, sagte Sadie lapidar.

Phil grinste, während er langsam am Basketballplatz vorbeifuhr und die Jugendlichen beobachtete. Ab und zu waren sie schon dorthin gerufen worden, weil Jugendliche sich stritten. Auch Prügeleien hatte es schon gegeben, jedoch nur selten. Im Moment war jedoch alles ruhig.

Die beiden fuhren weiter und nahmen einen heruntergekommenen mexikanischen Imbiss unter die Lupe, vor dem öfter Drogendealer gesehen wurden. Tatsächlich hielten sich unter der Markise drei zwielichtig wirkende junge Männer auf, so dass Phil in der Nähe parkte und langsam und entspannt ausstieg.

„To serve and protect!“, rief einer der Jungs ihnen zu. Auch Sadie stieg langsam aus.

„Hey Jungs“, sagte Phil. „Was geht ab bei euch?“

„Bei uns?“, fragte ein anderer. „Nicht viel. Wir chillen ein bisschen und gleich gibt’s was zwischen die Beißer!“

„Kann man hier gut essen?“, erkundigte Phil sich.

„Aber ja, Mann! Die Hütte sieht schäbig aus, aber wir wollen die Bude ja auch nicht mieten!“ Der Halbwüchsige lachte.

„Was würdet ihr empfehlen?“

„Die Guacamole ist der Hammer! Und der Mojito ...“

Sowohl Sadie als auch Phil war schnell klar, dass diese Jungs nichts zu verbergen hatten. Zwar kannten sie es schon, dass natürlich gerade Kriminelle sehr unbefangen mit der Polizei plauderten, um keinen Verdacht zu erregen, aber die drei jungen Männer waren harmlos. Schließlich ging Phil in den Imbiss, um etwas zu trinken zu kaufen. Sadie lehnte sich an die Motorhaube und blinzelte in die Sonne.

„Sie haben total krasse Haare, Lady“, sagte der erste der Jungs. Sadie drehte ihm den Kopf zu.

„Danke“, erwiderte sie.

„Nein, im Ernst. Die sind voll schön, so in der Sonne. Gibt’s nicht oft.“

„Das stimmt. Meine Vorfahren sind Iren, da kommt das wohl her.“

„Cool. Mein Großvater war Schotte, Mann. Aber ich war da noch nie.“

Augenblicke später war Phil zurück und sie fuhren weiter. Die Jungs blickten ihnen noch kurz hinterher, aber dann waren sie auch schon wieder abgebogen und fuhren weiter durch die Straßen der Kleinstadt.

„Wir können ja mal was zusammen unternehmen“, sagte Phil ins Schweigen hinein.

„Gern. Woran hast du gedacht?“

„Weiß nicht, vielleicht einen Ausflug nach Frisco oder Monterey?“

„Oh ja.“ Sadies Augen leuchteten. „Ich liebe San Francisco. So eine wundervolle Stadt.“

„Ja, allerdings. Ich würde gern dort leben.“

„Das hätte was.“

Im Radio dudelte nichtssagende Popmusik. Sie fuhren mit offenen Fenstern und beobachteten das Treiben auf den Straßen, das im Fünfminutentakt zunahm. Kinder kamen aus der Schule, die ersten Pendler kehrten nach Hause zurück. Das zu sehen, wirkte immer sehr beruhigend auf Sadie. Normalität war etwas, das sie liebte. Sie sehnte sich danach.

Als sie an eine Kreuzung fuhren, fiel ihnen in einem Wagen ein Mann im Anzug auf, der etwas auf seinem Handy zu tippen schien. Phil schaltete die Warnbeleuchtung des Streifenwagens ein und fuhr bei Grün zu dem Wagen in der Querstraße hinüber, um davor zu parken. Der Mann ignorierte ihn, bis Phil ausstieg und auf ihn zuging. Dann öffnete der Mann zumindest sein Fenster.

„Sir, Sie dürfen beim Autofahren ihr Handy nicht benutzen“, begann Phil. „Sie dürfen telefonieren, aber keine Nachrichten schreiben.“

„Officer, es ist sehr wichtig“, erwiderte der Mann nach einem kurzen Augenblick.

„Mag sein, aber Sie legen das jetzt bitte weg.“ Phil sagte das ruhig, aber nachdrücklich und tatsächlich tat der Mann, worum Phil ihn gebeten hatte. Schließlich erwiderte er Phils Blick ungerührt.

„Was kann ich für Sie tun, Officer?“

„Sie können jetzt zwanzig Dollar Strafe zahlen.“

„Zwanzig Dollar?“

Phil nickte. „So sieht’s aus.“

Sadie hörte nicht hin, während der Mann eine Diskussion anzetteln wollte. Allerdings ließ Phil sich nicht darauf ein, verteilte seinen Strafzettel und setzte sich schließlich wieder kopfschüttelnd in den Streifenwagen. Der Verkehr floss um sie herum.

„Wichtigtuer“, brummte Sadie.

„Du sagst es. Dass man am Steuer telefonieren darf, finde ich auch nicht richtig.“

„Nein, in der Tat.“

Die beiden fuhren weiter. Eine ereignislose Stunde später hielt Phil an einem Sandwichladen, um sich etwas zu kaufen. Sadie folgte ihm und bevorratete sich mit einem Sandwich, denn sie wusste, irgendwann würde sie auch Hunger bekommen.

Sie übernahm das Fahren, damit Phil in Ruhe essen konnte, und meinte, eine gewisse Zufriedenheit erkennen zu können. Vielleicht war ihm das auch wichtig, weil er schon bei Konfrontationen mit Menschen voraus ging. Darauf legte er allerdings selbst Wert, denn ihnen beiden war klar, dass Menschen auf einen männlichen Polizisten grundsätzlich anders reagierten als auf eine Frau. Für Sadie war das in Ordnung, sie bezog es nicht auf sich, dass Phil manchmal ernster genommen wurde. Wenn sie ehrlich war, legte sie auch keinen Wert darauf, mutig voran zu preschen, wenn es um eine fünfköpfige Straßengang ging. Zwar verfügte sie über die notwendigen Fähigkeiten, um damit fertig zu werden, aber sie machte sich da nichts vor: Sie war verletzlicher.

Und das ließ sie grundsätzlich den Rückzug antreten.

Es begann zu dämmern. Als es dunkel war, hielten sie an einem Café, um eine Pinkelpause einzulegen. Während Phil mit der Kellnerin plauderte, suchte Sadie die Toiletten auf. Als sie zurückkehrte, war Phil gerade verschwunden.

„Hallo, Dorothy“, begrüßte sie die Kellnerin ebenfalls freundlich.

„Ihr seht entspannt aus“, stellte die Angesprochene fest.

„Ja, es ist ein ruhiger Tag.“

„Das ist doch auch schön. Wie geht es dir?“

„Bestens, und selbst?“

„Ich brauche Urlaub“, tat Dorothy kund. „Letzte Woche hatte ich zwei Tage lang Migräne. Schrecklich!“

Sadie stimmte ihr zu. Mittlerweile war sie geübt in Smalltalk. Es war gut, wenn man als Polizist über diese Fähigkeit verfügte – zumindest, wenn man in einer Kleinstadt wie Waterford aktiv war. Die Leute kannten einen, man kannte sie. Und, was noch viel wichtiger war, die Menschen vertrauten einem. Sie riefen die Polizei bei häuslicher Gewalt und bei Fahrraddiebstählen. Sadie nahm alles gleich ernst.

Das Funkgerät an ihrem Gürtel rauschte. „Zentrale an Wagen 36, bitte kommen.“

Sadie griff nach ihrem Funksender und drückte den Sendeknopf. „36 hört.“

„Wir haben einen möglichen 187 am Curran Drive. Die Hausnummer ist 24. Nachbarn haben den Notruf gewählt. Fahrt ihr hin?“

„Sind schon unterwegs“, funkte Sadie zurück und lief an Dorothy vorbei zu den Toiletten. „Phil! Die Zentrale hat uns einen 187 gefunkt!“, rief sie über den Gang. Sekunden später wurde die Tür geöffnet und Phil kam zum Vorschein.

„Einen 187? Sicher?“

Sadie zuckte mit den Schultern. Beim Rausgehen grüßten sie die verdutzte Dorothy, gingen rasch zum Streifenwagen und fuhren los.

Phil warf seiner Partnerin einen irritierten Blick zu. „Ein Mord? Hier?“

„Keine Ahnung“, erwiderte Sadie. Sie konnte es selbst nicht glauben, denn seit sie in Waterford ihren Dienst verrichtete, hatte es dort keinen Mord gegeben.

Vier Minuten später waren sie am Ziel. Es war eine ruhige Seitenstraße in einem Wohngebiet mit sauberen Auffahrten und gepflegten Vorgärten. Sie hielten vor dem Haus mit der Nummer 24. Auf dem gegenüberliegenden Grundstück standen ein Mann, eine Frau und ihr halbwüchsiger Sohn in der Auffahrt. Eine normale Durchschnittsfamilie, die versuchte, den amerikanischen Traum zu leben.

„Officer“, sagte der Mann sofort. „Gut, dass Sie da sind!“

„Haben Sie angerufen?“, fragte Phil.

„Ja, das waren wir. Mein Name ist Mark Newport. Unsere Nachbarn, die Blooms ... unser Sohn wollte vorhin rübergehen, um bei Nick Bloom ein Videospiel abzuholen. Wir hatten die Familie gar nicht mehr gesehen ...“ stammelte der Mann nervös.

„Ich hab geklopft“, sagte der Junge, der etwas gefasster klang. „Aber die Tür war nur angelehnt, deshalb ging sie gleich auf. Ich hab gerufen und bin dann rein. Dachte, das ist okay, weil ich ja manchmal da bin. Alles war dunkel und keiner war da ... aber es roch so komisch. Ich wollte dann oben in Nicks Zimmer nachsehen, ob er da ist, und da habe ich ihn gefunden. Er war tot.“

„Hast du sonst noch jemanden gesehen?“, fragte Sadie.

Der Junge schüttelte den Kopf. „Jedenfalls niemanden, der noch am Leben war ...“

„Wer wohnt alles dort?“, fragte Phil.

„Tom, Marge und die beiden Kinder“, sagte Mr. Newport. „Nick und Amy. Wir haben sofort angerufen, als Dave zurückkam und sagte, er hätte Nick tot gefunden!“

„Wir sehen uns das an“, sagte Phil, während Sadie sich langsam umdrehte und zu dem Haus hinüber starrte. Es lag dunkel da, ein Baum stand gleich davor neben der Auffahrt.

Genau wie damals bei ihr zu Hause.

Wie ferngesteuert ging sie los, hörte gar nicht auf das, was Phil mit der Familie besprach. Vor der Garage der Blooms parkte ein Familienvan. Bevor Sadie die Auffahrt betrat, tastete sie nach ihrer Taschenlampe und der Waffe. Die Haustür stand noch zur Hälfte offen, deshalb genügte ein leichter Tritt. Lampe und Waffe hielt Sadie mit ausgestreckten Armen vor sich und hielt instinktiv die Luft an, um nicht ihren eigenen Atem zu hören.

Sie konnte nicht warten. Es war ihr unmöglich. Obwohl sie es besser wusste, hing sie dem Gedanken nach, dass sie vielleicht noch jemanden finden würde. Lebend.

Doch alles war totenstill. Sadie überlegte, aber dann entschied sie sich, nach einem Lichtschalter zu suchen. Mit rechts hielt sie immer noch die Waffe vor sich, während sie mit der anderen Hand die Taschenlampe festhielt und nach einem Lichtschalter tastete. Neben dem Türrahmen wurde sie fündig, das Licht im Flur flammte auf.

„He, was machst du denn?“, fragte Phil von hinten. „Jetzt warte gefälligst auf mich!“

Sadie erwiderte nichts. Sie ließ die Stille im Haus auf sich wirken, hörte dabei aber das Blut in ihren Ohren rauschen und ihren Herzschlag. Beides erschien ihr ohrenbetäubend laut in der ansonsten herrschenden Geräuschlosigkeit.

In diesem Haus war kein Leben mehr, das spürte sie schon jetzt. Sie wusste, wie sich der Tod anfühlte.

„Sehen wir uns das Erdgeschoss an“, sagte Phil leise. Sadie nickte, ohne ihm wirklich zuzuhören. Sie ging voraus, obwohl inzwischen auch Phil seine Waffe in der Hand hielt. Ihr Herz raste.

Vor nicht allzu langer Zeit hatte noch jemand das Wohnzimmer benutzt. Vor dem Sofa lagen Verpackungsfolien und Papierchen. Auf dem Couchtisch stand eine leere Pappschale, in der sich noch eine Gabel befand. Quer auf dem Fußboden lag eine Wasserflasche.

Vorsichtig schauten Sadie und Phil sich um, nahmen das benachbarte Arbeitszimmer und die Küche unter die Lupe. Das Arbeitszimmer war sauber, aber die Küche erinnerte an eine Müllhalde. Überall stand schmutziges Geschirr, Besteck und Müll lagen herum, der Mülleimer quoll über. Die benutzte Pfanne stand verkrustet auf dem Herd. Es roch ziemlich übel.

„Gehen wir nach oben“, murmelte Phil. Sadie sagte noch immer kein Wort. Ihr Schock war zu groß. Sie hatte Fotos solcher Tatorte während ihrer Ausbildung gesehen, aber die Realität war anders. Viel schlimmer. In der Luft lag der süßliche Geruch von Verwesung. Nur leicht, aber deutlich wahrnehmbar.

Nacheinander erklommen sie die Treppe nach oben. Das Zimmer des Jungen, Nick, erreichten sie zuerst. Sadie blickte an Phil vorbei, dann stockte ihr der Atem.

Nick saß neben der Heizung und war mit Handschellen daran gekettet. Oder zumindest das, was von ihm übrig war. Unter dem vielen Blut an den Überresten seines Kopfes konnte Sadie sehen, dass man ihn geknebelt hatte. Der scharfe Geruch von Urin lag in der Luft. Nick war mit äußerster Brutalität totgeschlagen worden, ohne Rücksicht auf Verluste.

„Mein Gott“, murmelte Phil. Sadie starrte einfach nur. Sie fühlte sich innerlich taub, während sie automatisch den Rückzug antrat und versuchte, das Bedürfnis zu schreien zu unterdrücken. Immer noch die Waffe in der Hand, ging sie mit schweren Schritten zum nächsten Zimmer hinüber. Was sie dort sah, entlockte ihr unwillkürlich einen Schluchzer. Sie schlug die linke Hand vor den Mund und spürte, wie ihr die Knie weich wurden.

Ein Mädchen, vermutlich Amy, lag nackt auf ihrem Bett, an allen vieren gefesselt. Obwohl ihr kalt vor Entsetzen war, betrat Sadie vorsichtig das Zimmer. Das blonde Mädchen war nicht so brutal erschlagen worden wie ihr Bruder, sondern mit einem Kabel erdrosselt. Ihre blutunterlaufenen Augen starrten gespenstisch an die Decke. An Hand- und Fußgelenken war Blut getrocknet. Auch sie war geknebelt.

Trotzdem hörte Sadie in ihrem Kopf Schreie.

Kristys Schreie.

Eine Träne löste sich aus ihrem Auge und kullerte über ihre Wange. Amy Bloom war auch etwa vierzehn Jahre alt, zumindest war das Sadies Vermutung.

Sie konnte einen leisen Schluchzer nicht unterdrücken. Einen Augenblick später spürte sie Phils Hand auf ihrer Schulter. Eine nette Geste, wie sie fand, aber er wusste ja gar nicht, warum dieser Anblick sie so berührte. Reglos stand sie da und starrte auf die tote Amy. Phil löste sich langsam von dem Anblick und ging weiter. Sadie hingegen konnte sich nicht bewegen. Sie umklammerte die Waffe in ihrer Hand und spürte, wie alles vor ihren Augen verschwamm. Ein vergewaltigtes und ermordetes Mädchen ...

Ein dicker Kloß im Hals schnürte Sadie die Luft ab, ihr war heiß und ihre Haut kribbelte. Zwar war keine akute Gefahr erkennbar, aber das machte keinen Unterschied für sie. Nicht im Haus einer toten Familie.

Aufgewühlt wischte sie die Tränen an ihrer Uniform ab, löste sich aus ihrer Starre und folgte Phil. Er war nicht weit gekommen, sondern stand gerade hinter der Tür des Elternschlafzimmers und rührte sich nicht. Sadie rang immer noch mit sich und versuchte, sich nicht von ihren Gefühlen überwältigen zu lassen, was für einen kurzen Moment ihre gesamte Konzentration erforderte.

Was sich ihr im Elternschlafzimmer offenbarte, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Sie sah den Rücken einer nackten Frau, übersät von Blut und Wunden. Schnitte. Das getrocknete Blut hatte alle Farben zwischen rot und fast schwarz. Die Frau war an der Gardinenstange festgebunden, die sich inzwischen unter dem Gewicht der Toten verdächtig durchbog. Mit Blick auf Phil stellte Sadie fest, dass er kreidebleich war. Im Gegensatz zu ihr hatte er so etwas noch nie gesehen.

„Wo ist der Vater?“, brach sie das Schweigen. Phil reagierte nicht gleich, deshalb ging sie an ihm vorüber ins Bad der Eltern. Es war leer. Als sie sich wieder umdrehte, stand Phil immer noch kreidebleich mitten im Raum und starrte auf die Tote.

Sie musste weitermachen. Das war ihre verdammte Aufgabe. Für einen kurzen Moment konzentrierte Sadie sich aufs Atmen und versuchte, den Geruch zu ignorieren, dann wurde sie ruhiger.

„Ich sehe mal im Keller nach“, murmelte sie.

„O ... kay“, stammelte Phil und tastete nach seinem Funkgerät. „Ich rufe alle.“

Sadie erwiderte nichts. Sie fühlte sich taub, während sie nach unten ging und die Tür zum Keller öffnete. Eine dumpfe Ahnung ließ sie glauben, dass sie den Vater dort finden würde. Eine Ahnung – und der Gestank, der von unten herrührte.

Wie durch Watte hörte sie von oben Phils Stimme, während sie nach unten stieg und mit der Taschenlampe in dem finsteren Kellergewölbe herum leuchetete, bevor sie endlich einen Lichtschalter fand.

Als das kalte Neonlicht aufflammte, erkannte sie, woher der Gestank rührte. In einer Ecke lag die Leiche des Vaters, die bereits verweste. Auch von weitem erkannte Sadie Maden und hörte das Summen von Fliegen.

Reflexhaft würgte sie, aber sie schlug die Hand vor den Mund und rannte wieder nach oben, um am Tatort bloß keine Spuren zu hinterlassen.

Glücklicherweise befand sich die Kellertür in der Nähe der noch offenen Haustür, so dass sie das Haus ohne Schwierigkeiten verlassen und in der frischen, warmen Abendluft stehenbleiben konnte. Zitternd steckte sie ihre Waffe weg und konzentrierte sich dann erneut aufs Atmen. Frische Luft. Keine Verwesung. Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte empor zu den Sternen.

Eine tote Familie. Sie hatte noch nie einen Mordfall bearbeitet – und dann musste es ausgerechnet eine tote Familie sein.

Sie gab ihren weicher werdenden Knien nach und setzte sich auf die Trittstufen vor der Haustür. Kurz zuvor war ihr noch heiß gewesen, jetzt war ihr eiskalt. Mit zitternden Fingern fuhr sie sich durchs Haar und versuchte, die Vergangenheit nicht hochkommen zu lassen. Nicht jetzt. Nicht bei ihrem ersten großen Fall, in dem sie sich beweisen konnte ...

Doch es half nicht. Heiße Tränen strömten über ihre Wangen, ein heftiges Zittern überlief sie. Angespannt schnappte sie nach Luft und fuhr mit den Händen durch ihr feuerrotes Haar. In ihrem Kopf waren die Schreie ihrer Mutter, ihrer beiden Geschwister. Nur zu gut konnte sie sich vorstellen, was Amy und Nick Bloom ausgestanden hatten. Und ihre Eltern.

Als sie Schritte auf der Treppe im Haus hinter sich hörte, wischte sie sich schnell die Tränen ab, stand auf und atmete tief durch. Sie durfte sich nichts anmerken lassen.

Doch Phil stürzte an ihr vorbei, ohne auf sie zu achten. Er hielt sich am Geländer der Veranda fest und würgte, aber er übergab sich nicht. Keuchend stand er da und versuchte, wieder zu sich zu kommen. Nun war es Sadie, die ihm beruhigend über den Rücken strich.

 

 

Ein Tag zuvor

 

Sie fragte sich, ob sie das überleben würde.

Eigentlich glaubte sie nicht mehr daran, denn er hatte schon bei ihrem Vater und ihrem Bruder kein Erbarmen gezeigt. Wahrscheinlich war es nur eine Frage der Zeit.

Von nebenan konnte sie ihre Mutter schmerzerfüllt stöhnen hören. Zwar wusste sie nicht, was der Mann mit ihr gemacht hatte, aber es konnte nichts Gutes sein. Nicht nach dem zu urteilen, was sie gehört hatte ... die Schläge und das Wimmern. Und das Stöhnen des Mannes.

Sie verstand nicht, warum der Mann das tat. War er einfach nur böse? Jemand, der so etwas tat, musste böse sein. Böse und gestört.

Sie hätte misstrauisch werden müssen, als sie nach Hause gekommen war. Da war es so seltsam still im Haus gewesen. Sonst dröhnte immer Musik aus Nicks Zimmer und Mum telefonierte ganz oft. Aber da war es totenstill gewesen.

Doch noch bevor sie sich hatte fragen können, was passiert war, hatte der Mann hinter ihr gestanden und sie überwältigt. Er hatte sie ins Wohnzimmer gebracht, zu Mum und Nick, und ihr gedroht, dass er beide umbringen würde, wenn sie sich wehrte. Sie hatte es geglaubt, denn Mum und Nick waren an Stühle gefesselt und geknebelt gewesen. So wie sie Minuten später auch.

Im Augenwinkel hatte sie Dads Füße gesehen. Er hatte hinter dem Wandvorsprung gelegen – tot, wie sie schnell erkannt hatte.

Das hatte ihnen allen Angst gemacht. Besonders Mum. Sie hatte ja versucht, sich zu wehren, doch vergebens. Der Mann hatte ihr schnell klar gemacht, was geschehen würde, wenn sie nicht gehorsam war. Entweder hatte er Nick bedroht oder sie. Das hatte Mum einlenken lassen.

Er hatte keinerlei Mühen gescheut, um ihnen allen klar zu machen, dass es ihm ernst war. Er hatte sie einzeln und nacheinander in ihre Zimmer gebracht und dort gefesselt. Ans Bett. Genau so, wie sie jetzt dort lag.

Aber er hatte sich Zeit gelassen. Er verfolgte einen genauen Plan. Jeden Abend hatte er sie zum Abendessen nach unten geholt, nacheinander und sehr vorsichtig. Er hatte sie an den Stühlen festgebunden, um sie unter Kontrolle zu halten. Zum Essen hatte er ihnen jeweils die rechte Hand losgebunden, denn er hatte gesagt, dass er sie nicht einzeln füttern wollte.

Das war ihm wichtig gewesen, jeden Abend. Sie hatten immer zusammen gegessen. Und dann hatte Dad auch nicht mehr hinter dem Mauervorsprung gelegen. Dad war fort.

Mum hatte versucht, Fragen zu stellen. Aber er wollte nicht reden. Für jedes Wort, das ungebeten gesprochen wurde, gab es eine Strafe. Mum hatte schon am ersten Abend erfahren, welche. Amy hatte immer noch ihre Schreie im Ohr. Später hatte er es dann getan, ohne es als Strafe zu meinen. Er hatte nachts im Bett ihrer Eltern geschlafen ... mit Mum. Und Dad war tot.

Mum hatte ihn gefragt, warum er das tat. Daraufhin hatte er sie geschlagen, aber eine Antwort hatte er nicht gegeben.

Er hatte sie alle geschlagen. Das hatte er getan, um sie einzuschüchtern, und Amy hatte Angst vor ihm. Sie konnte gar nicht anders. Den ganzen Tag lag sie in ihrem Bett, hatte Hunger und Durst, und nur abends holte er sie nach unten, um mit ihnen zu essen. Schweigend.

Aber jetzt war schon der dritte Abend in Folge, wo er das nicht mehr tat. Sie bekamen nur noch etwas zu trinken. Doch bis jetzt wusste Amy nie, ob es ein gutes Zeichen war, wenn er die Treppe hochkam, oder ein schlechtes. Denn er kam nicht immer mit Wasser. Manchmal kam er auch aus anderen Gründen.

Beim letzen Abendessen hatte Mum schon nackt am Tisch gesessen. Das hatte Amy nicht überrascht, denn zuvor hatte er auch ihr schon weh getan. Das tat er nicht nur mit Mum.

Inzwischen lag sie seit zwei Tagen nackt auf ihrem Bett und versuchte immer noch, Hunger und Angst zu ignorieren. Sich zu wehren, hatte ja doch keinen Sinn.

Das hatte sie an Nick gesehen. Nach diesem letzten Abendessen hatte er den Mann angegriffen. Er hatte Mum helfen wollen, irgendetwas tun wollen.

Der Mann hatte ihn nicht sofort dafür bestraft. Das hatte er erst am Abend vorher getan. Amy hatte mit angehört, wie er nebenan auf Nick eingeschlagen hatte. Sie hatte die erstickten Schreie ihres Bruders gehört und andere schlimme Geräusche ... und dann war Nick still gewesen. Ganz plötzlich. Sie hatte ihn niemals wieder gehört.

Ihr Bruder war tot. Das hatte der Mann ihr nicht sagen müssen, als er kurz darauf zu ihr gekommen war, um ihr wieder weh zu tun. Sie hatte noch Blutspritzer in seinem Gesicht gesehen.

Jetzt waren es nur noch sie, Mum und er. Sie konnte nicht glauben, dass Dad und Nick tot waren. Sie verstand auch nicht, warum. Warum nur hatte der Mann das getan? Er war in ihr Haus eingedrungen und hatte alles zerstört. Er quälte Mum, er war unglaublich brutal, hatte ein grausames Blitzen in den Augen.

Sie hörte seine Schritte auf der Treppe. Ihre Augen weiteten sich und sie begann, panisch zu atmen. Ihre Atemzüge gingen flach und schnell. Was würde er jetzt tun? Brachte er Wasser?

Als sie ihn vor sich in der Tür stehen sah, gefror ihr das Blut in den Adern. Er starrte sie an, was ein entsetzliches Gefühl war. Schließlich lag sie nackt da.

Jetzt würde er ihr wieder weh tun.

Erst da sah sie, dass er eine Schnur in den Händen hielt. Ängstlich fragte sie sich, was er damit tun würde und begann, erstickt zu wimmern, als er näher kam. Todesangst ergriff sie, als er sich über sie beugte und ihr die Schnur um den Hals legte. Ihre Blicke trafen sich.

Würde er es so beenden?

Sie wusste die Antwort, als er an den Enden der Schnur zog und ihr die Luft abschnürte.

 

***

 

Ständig flammten Blitzlichter auf. Sadie hörte immer wieder den Auslöser der Kamera. Inzwischen steckte sie, wie jeder andere Anwesende auch, in einem weißen Ganzkörperanzug, um den Tatort nicht zu verunreinigen. Auf der Straße waren mehrere Autos, unter anderem der Wagen des Coroners, geparkt. Die Spurensicherung war immer noch damit beschäftigt, kleine Nummern im ganzen Haus verteilt aufzustellen. Dort, wo sie schon fertig waren, schoss Polizeifotograf Matt Whitman seine Fotos. Auch er steckte natürlich in einem Anzug, so dass er bei seinen sportlichen Verrenkungen gleich noch komischer aussah.

Aber dafür hatte Sadie gerade keinen Sinn. Innerlich rang sie um Fassung und versuchte, professionell zu wirken. Wie sie an Phil sehen konnte, war das angesichts dieses Tatortes schwierig genug, aber sie musste gerade dagegen ankämpfen, dass die Eindrücke sich mit ihren Erinnerungen vermischten. Es war so nah dran ...

Mit vor der Brust verschränkten Armen lehnte sie am Türrahmen zur Küche und beobachtete Matt bei seiner Arbeit. Er war ein paar Jahre älter als sie, hatte kurzes dunkelblondes Haar, war der sportliche, durchtrainierte Typ. Sadie fand ihn durchaus gutaussehend.

„DNA im Becher“, kommentierte er die leere Lasagne-Pappschale.

„Hoffentlich“, sagte Sadie. „Aber selbst wenn, ich mache mir keine großen Hoffnungen auf einen Treffer.“

„Wer weiß“, sagte Matt. „Ich habe schon die dümmsten Täter erlebt.“

„Der hier war nicht dumm“, erwiderte Sadie. „Alles andere als das. Er hat eine ganze Familie ermordet.“

„Allein?“

Nachdenklich blickte Sadie ins Nichts. „Die DNA-Analyse wird es zeigen.“

„Klar. Aber hast du eine Vermutung?“

Sie überlegte. „Ich glaube, es war nur einer.“

„Wieso?“ Matt kniete sich vor den Couchtisch und machte ein weiteres Foto.

„Wirst du gleich sehen, wenn du in den Keller gehst. Der Vater ... der ist schon länger tot.“

„Riecht man.“

„Matt ...“ Gequält verdrehte Sadie die Augen.

„Was denn? Du musst zugeben, dass der unverkennbare Geruch einer Leiche hier in der Luft liegt.“

„Wird man so, wenn man täglich Leichen fotografiert?“, fragte sie kopfschüttelnd.

„Äh, wenn ich mich recht erinnere, hast du doch die FBI Academy absolviert. Da hast du bestimmt Schlimmeres gesehen als ich hier in meinem Job“, erwiderte er unpräzise.

„Ich habe aber selten so etwas gesehen wie das hier.“

„Okay, sehe ich ein. Aber wieso war es nur einer, wenn der Vater länger tot ist?“

„Die Zeit ist das Geheimnis“, sagte Sadie. „Mehrere Täter hätten sich über die Dauer nicht so organisiert verhalten.“

In der Bewegung hielt Matt inne und blickte zu ihr auf. „Wie lang soll das denn hier gegangen sein?“

„Ich weiß nicht, da musst du den Pathologen fragen. Aber wenn du mich fragst, hat der Täter sich hier eingenistet.“

„Spitze.“ Matt ließ die Kamera sinken und nickte. „So, hier wären wir fertig. Sollen wir dann gleich in den Keller?“

„Von mir aus. Die Spurensicherung ist unten bestimmt fertig.“

Sadie behielt Recht: Im Keller war niemand, als sie der Treppe nach unten folgten. Sie ging voran und musste immer noch schlucken, als sie unten ankamen und ihnen der Verwesungsgeruch entgegenschlug. Ihr entging nicht, dass sogar Matt kurz die Miene verzog und nur sehr zögerlich auf die Leiche zuging.

Der Vater war brutal erstochen worden. Allerdings hatte der Täter ihn nicht einfach nur erstochen, sondern einem Overkill gleich hingerichtet. Er hatte unzählige Male auf den Mann eingestochen. Blut war auf seiner Kleidung getrocknet und die bräunliche Farbe war auch der dominierende Eindruck, der sich den beiden Polizisten offenbarte. Blut – und die vielen Maden, die sich auf der Leiche bereits niedergelassen hatten.

„Und das am späten Abend“, sagte Matt seufzend. Er begann, wieder Fotos zu machen, während Sadie überlegte. Der Vater hatte für den Täter keine Rolle gespielt - außer einer: Er musste beseitigt werden. Mutter und Tochter waren Opfer sexueller Übergriffe geworden. Zu Nick fiel ihr noch nichts ein.

„Guckst du mir jetzt die ganze Zeit zu?“, riss Matt Sadie aus ihren Gedanken.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich denke nach. Das alles ist derart brutal ... das macht der Täter nicht zum ersten Mal.“

„Nee, sieht nicht danach aus“, stimmte Matt zu. „Aber ich kenne keinen ähnlichen Fall.“

„Ich auch nicht. Mal sehen, was Phil macht.“

„Ich drehe dann mal weiter meine Doku über Fliegenmaden.“

Kopfschüttelnd zog Sadie eine Augenbraue in die Höhe. „Wirklich, Matt. Du bist pietätlos.“

„Ist nur der tägliche Galgenhumor“, erwiderte er und drückte erneut den Auslöser. Sadie wandte sich ab und verließ den Keller. Die Tür stand offen, ein Absperrband flatterte vor der Veranda im Wind. Sehen konnte sie draußen niemanden.

Im Flur befand sich außer ihr auch niemand, deshalb blieb sie nachdenklich stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. Der Spurenlage nach zu urteilen, hatte der Täter sich Zutritt zum Haus verschafft, als Erstes den Vater beseitigt und dann die übrige Familie in seine Gewalt gebracht. Er hatte tagelang in dem Haus gelebt, alle unter seiner Kontrolle gehabt. Allerdings fragte Sadie sich, ob das niemandem aufgefallen war. Hatte niemand die Kinder in der Schule vermisst? Was war mit den Eltern?

Von oben hörte sie Stimmen und Schritte, deshalb ging sie hinauf. Im Zimmer des Jungen fand sie den Coroner, Phil und zwei weitere Kollegen. Der Coroner betrachtete Nicks Leiche nur von weitem, rührte sie aber nicht an, solange Matt seine Fotos nicht geschossen hatte.

„Waren Sie schon im Keller?“, fragte Sadie.

Der Coroner nickte. „Sie wollen wissen, wie lang der Mann tot ist, richtig?“

„Können Sie das bestimmen?“

„So um die zehn Tage werden es wohl sein.“

„Zehn Tage!“, staunte Sadie. Zehn Tage lang hatte der Täter die Familie unter seiner Kontrolle gehalten. Er hatte in dem Haus gelebt und niemand hatte ihn bemerkt oder die Familie vermisst. Ob er das aktiv beeinflusst hatte?

Sie stellte sich neben Phil, um den toten Jungen zu betrachten. Inzwischen war ihr Kollege nicht mehr ganz so grün im Gesicht, aber glücklich wirkte er auch nicht.

Nick Bloom war brutal totgeschlagen worden. Von seinem Gesicht, seinem ganzen Schädel war nicht viel übrig. Das war ähnlich wie beim Vater, vielleicht sogar noch brutaler. Beim Vater hatte es dem Täter gereicht, ihn zu erstechen, während er Nick mit roher Gewalt ermordet hatte. Wortlos ging Sadie hinüber in Amys Zimmer und betrachtete die strangulierte Leiche. Dieser Mord wiederum trug sehr deutlich die Handschrift eines sexuellen Sadisten, der es genoss, zu spüren, wie jemand starb. Er hatte viel Kraft eingesetzt, sich Zeit genommen, ihren Tod miterlebt. Das hatte er zu seinem persönlichen Lustgewinn getan.

Gedankenversunken ging Sadie ins Schlafzimmer der Eltern, um die Leiche der Mutter zu betrachten. Sie musste sich daneben stellen, um sehen zu können, dass auch die Mutter geknebelt und gewürgt worden war – aber der Mörder hatte sie auch geschlagen und ebenfalls mit einem Messer traktiert.

Der Täter musste organisiert sein, denn er war bis jetzt mit seinen Handlungen davongekommen. Dennoch hatte er keine Handschrift – jedenfalls keine, die Sadie erkennen konnte. Er hatte jedes Familienmitglied anders getötet. Vieles würde auch erst die Obduktion preisgeben.

Doch brandgefährlich war der Täter allemal. Er hatte das nicht zum ersten Mal getan und er war auch noch nicht fertig. Er würde es wieder tun.

Mit einem Male fühlte Sadie sich hellwach. Zwischen all den Ruhestörungen und Wohnungseinbrüchen hatte sie nicht vergessen, was sie in der Academy und am College gelernt hatte. Auf einmal war alles wieder da.

Als sie zu den anderen zurückkehrte, kam ihr Matt entgegen. Er betrat Nicks Zimmer, das die anderen inzwischen verlassen hatten. Durch die Tür zu Amys Zimmer beobachtete Sadie, wie der Coroner die Leiche des Mädchens oberflächlich betrachtete.

„Genaueres kann Ihnen der Gerichtsmediziner sagen“, meinte er zu Phil, „aber wenn Sie mich fragen, wurde das Mädchen vergewaltigt.“

Sadie fand das ziemlich offensichtlich, und das nicht nur aufgrund der Hämatome an Amys Beinen. Sie fragte sich nur, warum jemand so etwas tun würde. Wer schikanierte eine ganze Familie, hielt sie gefangen und ermordete sie dann?

Ein Kollege der Spurensicherung spurtete die Treppe hoch, zwei Stufen auf einmal nehmend. Atemlos blieb er vor Sadie stehen.

„Unten steht der Nachbarsjunge. Wollen Sie mit ihm reden?“

Sie nickte sofort und folgte der Treppe nach unten. Vor dem Absperrband stand Dave und warf Sadie einen Blick zu, den sie bei einem Jungen dieses Alters noch nie gesehen hatte. Traurig traf es nicht, auch nicht schmerzerfüllt. Der Junge war zutiefst entsetzt.

„Sie sind alle tot, oder?“, fragte er. Um die Distanz zu verringern, duckte Sadie sich unter dem Absperrband durch und stellte sich zu ihm. Der Wind spielte mit ihrem Haar, als sie langsam nickte.

„Ja, die ganze Familie.“

„Ich hatte ja keine Ahnung ... ich habe, als ich vorhin in Nicks Zimmer gegangen bin, nur kurz das Licht angemacht. Als ich ihn gesehen habe, bin ich sofort wieder weggelaufen. Das war einfach schrecklich, ich konnte mir das nicht ansehen. Und auf etwas anderes habe ich gar nicht geachtet.“

„Wann hast du Nick denn zuletzt gesehen?“, erkundigte Sadie sich.

„Das ist bestimmt zwei Wochen her. Ich habe die ganze Familie nicht gesehen, aber ich habe auch nie darauf geachtet. Das Auto stand immer da und abends war dort Licht. Es sah alles so aus wie immer“, erklärte Dave.

„Ist dir dort sonst jemand aufgefallen? Ein Mann, den du nicht kanntest, oder vielleicht sogar mehrere?“

„Nee. Sie können mal meine Eltern fragen. Es ist nur ...“

Sadie wartete ab, dass der Junge seinen Satz zuende brachte, doch das tat er nicht. Ermutigend sah sie ihn an. „Kann ich dir helfen?“

„Na ja, ich meine ... denken Sie, dass er viel gespürt hat?“

Ganz automatisch verzog Sadie die Lippen zu einem gequälten Lächeln und seufzte. Sie hasste es, zu lügen. „Ich denke nicht, Dave. Es sah zumindest nicht so aus.“

„Und ... die Familie? Denken Sie, das war so ein Gestörter?“

„Wir wissen es noch nicht. Geh nach Hause, Dave, und versuch, nicht dran zu denken. Wir kommen noch mal auf dich und deine Familie zu, irgendwann in den nächsten Tagen.“

„Okay. Danke, Officer.“ Mit gesenktem Kopf stand er da und holte tief Luft. „Denken Sie, Sie kriegen den Täter?“

Sadie wusste nicht, was sie erwidern sollte, aber schließlich packte sie der Kampfgeist. „Wir werden sehen. Gut möglich. Ich werde auf jeden Fall alles dafür tun.“

„Danke.“ Dave lächelte kurz, dann ging er, die Schultern hochgezogen und die Hände in die Hosentaschen vergraben. Mitfühlend blickte Sadie ihm nach, bevor sie wieder ins Haus ging. Matt hatte sich inzwischen bis in Amys Zimmer vorgearbeitet und machte gerade eine Nahaufnahme ihres kalkweißen Gesichts.

„Ihr solltet euch Mühe geben, den Kerl zu kriegen“, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. Der Auslöser klickte noch einmal.

„Wir geben unser Bestes“, erwiderte Sadie. Matt machte noch ein Foto, ehe er die Kamera sinken ließ, um Sadie anzusehen.

„Du solltest auch immer noch mit mir essen gehen.“

„Matt ...“ Hilflos suchte sie nach Worten, während sie sich fragte, ob das wirklich sein Ernst war.

„Was denn? Ja, ich habe manchmal blöde Sprüche drauf. Aber du weißt, eigentlich bin ich ganz in Ordnung.“ Er setzte seinen schönsten Dackelblick auf, so dass Sadies Gewissen gleich noch schlechter wurde.

„Ja, das ist es nicht ...“ begann sie.

„Was ist es dann?“, fragte er. Es interessierte ihn wirklich, denn er verstand es nicht. Sie liefen sich immer wieder über den Weg, arbeiteten häufig zusammen. Zuallererst waren ihm ihre wundervollen roten Haare aufgefallen, dann hatte er festgestellt, dass sie wirklich nett war. Aber seine Einladungen zu einem Essen schmetterte sie stur ab, ohne das je zu begründen.

„Es hat nichts mit dir zu tun. Wirklich nicht“, setzte sie erneut an. Mit leiserer Stimme fuhr sie fort: „Eher mit mir.“

„Erzähl mir bei einem Teller leckerer Pasta davon“, beharrte er.

„Ich will dir aber nicht davon erzählen. Du möchtest das nicht hören, glaub mir“, sagte sie kopfschüttelnd.

„Überlass das mal mir; ich bin erwachsen“, hielt er dagegen. „Das entscheide ich selbst. Gib mir nur eine Chance! Wenn du mich widerlich findest, sag es mir jetzt, aber ansonsten gib mir eine Chance.“

Entnervt schloss Sadie die Augen. Sie standen gerade vor der brutal zugerichteten Leiche eines jungen Mädchens und Matt wollte sie zum Essen einladen. Er meinte das tatsächlich ernst.

„Mal sehen“, sagte sie. Mehr wollte sie sich nicht entlocken lassen. Nicht jetzt und hier.

„Das ist zumindest kein Nein“, stellte Matt fest.

„Lass uns woanders darüber reden“, schlug sie vor. „Gerade ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür.“

„Okay.“ Matt seufzte ergeben und fuhr fort, Fotos zu schießen. Als Sadie sich umdrehte, bemerkte sie Phil in der Tür. Er warf Sadie einen fragenden Blick zu, weil er nur den Schluss der Unterhaltung gehört hatte, aber sie ging darüber hinweg.

„Die Spurensicherung meinte, dass jetzt alle gehen sollen, die nicht unbedingt hier sein müssen. Gemeint waren auch wir“, sagte er.

Eigentlich wollte Sadie protestieren, aber dann tat sie es doch nicht. Die Kollegen hatten vermutlich recht – je weniger Ermittler durch den Tatort trabten, desto besser. Und außerdem hatten sie gerade tatsächlich keine spezielle Funktion. Die Kollegen mit dem Fingerabdruckpuder, der Coroner, auch Matt – jeder hatte seine Aufgabe. Phil und Sadie hingegen standen nur herum.

„Fahren wir“, sagte Phil, woraufhin Sadie nickte.

„Wir sehen uns, Matt“, sagte sie zum Abschied.

„Klar. Gute Nacht, ihr beiden.“

„Bye“, sagte Phil, dann verließen die beiden das Haus. Inzwischen war auch der Leichenwagen der Pathologie eingetroffen. Fragend blickte Sadie sich um und suchte nach dem Gerichtsmediziner, konnte ihn aber nicht finden. Sie stieg in den Streifenwagen und zuckte fast zusammen, als Phil die Fahrertür geräuschvoll zuwarf.

„Ich bringe dich nach Hause“, sagte er mit eisiger Stimme.

„Ist unsere Schicht schon vorbei?“

Er nickte. „Schon längst. Ich will einfach nur nach Hause.“

Sadie entging sein frostiger Tonfall nicht. „Alles in Ordnung?“

Phil schloss die Augen und schlug leicht mit dem Kopf gegen den Sitz. „Heute Nacht werde ich kein Auge zumachen.“

„Ja, das war ... das war grässlich“, sagte sie stockend.

„Das trifft es noch nicht ganz. So etwas Furchtbares habe ich noch nie gesehen.“

Darauf erwiderte Sadie nichts. Gesehen hatte sie damals nicht alles, aber genug gehört. Doch das konnte sie ihm nicht sagen.

Phil drehte den Schlüssel im Zündschloss und fuhr langsam los. Der Blick in den Rückspiegel offenbarte einen regelrechten Fuhrpark mit zahllosen Blinklichtern. Die Häuser in der Nachbarschaft waren hell erleuchtet, vor manchen Haustüren standen Menschen und redeten. Sadie fragte sich, ob wirklich niemand gemerkt hatte, was bei der Familie vorgefallen war. Tagelang ...

„Ich hoffe, wir kriegen den Kerl“, murmelte Phil.

„Das hoffe ich auch. So etwas darf nicht noch einmal passieren.“

„Nein. Das ist ziemlich abartig ...“

Sadie war nicht überrascht, dass Phil so geschockt war. Seine Ausbildung hatte ihn auf so etwas nicht in dem Maße vorbereitet, wie sie es während ihrer Ausbildung erfahren hatte. Während der kurzen Fahrt war er ziemlich wortkarg, bis er schließlich vor Sadies Haus hielt, um sie aussteigen zu lassen.

„Bis morgen“, sagte er.

„Viele Grüße an Jessy“, sagte Sadie. „Immerhin ist sie jetzt zu Hause, wenn du kommst.“

„Ja. Zum Glück.“

„Bis morgen.“ Sadie stieg aus, warf die Tür leise zu und ging ins Haus. Mittens und Figaro empfingen sie wie üblich und konnten es kaum erwarten, bis Sadie ihnen frisches Katzenfutter in den Napf gegeben hatte. Während die Katzen laut schmatzten, warf Sadie einen Blick in den Kühlschrank und nahm die Wasserflasche heraus. Sie hielt sich nicht damit auf, sich etwas in ein Glas einzuschenken, sondern trank direkt aus der Flasche. Das löschte zwar den Durst, aber trotzdem fühlte sie sich innerlich wie tot.

Die Tränen kamen ganz von selbst. Zitternd stellte Sadie die Wasserflasche weg und stützte sich auf die Arbeitsfläche. Sie schloss die Augen, weinte aber trotzdem.

Fünfzehn Jahre lang hatte sie jetzt versucht, wegzulaufen und die Nacht zu vergessen, die ihr Leben zerstört hatte. Ihren Vater, der ihre ganze Familie ermordet hatte – beinahe auch sie selbst. Norman und Fanny hatten immer gehofft, dass sie es überwinden würde, fern von ihrer Heimat und dem Ort, an dem all das geschehen war. Die Schläge, die Gewalt, die Nacht der Schreie und Flammen.

Aber es hatte Sadie immer begleitet. Während Gary sich immer um seine Cousine bemüht hatte und ihr ein großer Bruder gewesen war, hatte Joanna Sadie zunehmend gemieden und kritisiert. Das konnte Sadie sogar verstehen, denn sie hatte viel Aufmerksamkeit von Norman und Fanny gebraucht. Sie war jahrelang zu einem Kinder- und Jugendtherapeuten gegangen, der versucht hatte, ihr dabei zu helfen, mit all diesen Erfahrungen zu leben. Mit den seelischen Verletzungen durch die Prügel ihres Vaters, mit den Erinnerungen an Kristys Angst, ihre Scham, ihren Missbrauch. Sie hatte lernen müssen, ihrer eingeschüchterten Mutter keine Schuld zu geben, denn letztlich war auch sie ihrem brutalen Ehemann zum Opfer gefallen. Und sie hatte lernen müssen, sich selbst nicht die Schuld dafür zu geben, dass ihr Vater Toby umgebracht hatte. Jahrelang hatte sie sich mit dem Gedanken gequält, dass sie ihn nur hätte aufhalten, ihren Bruder hätte verstecken müssen. In der Therapie hatte sie gelernt, dass sie vermutlich tot wäre, wenn sie das versucht hätte.

Es gab nichts, was eine Elfjährige hatte tun können. Sie konnte froh sein, dass zumindest sie mit dem Leben davongekommen war, obwohl auch sie beinahe verblutet wäre. Norman, Fanny und ihre Kinder waren schließlich ihre neue Familie geworden, hatten ihr ein anderes Leben geschenkt, sie geliebt und gefördert. Sadie wusste, dass Norman seine tote Schwester in ihr sah.

Aber alle Bemühungen und auch die Therapie, die Sadie jahrelang gemacht hatte, hatten nicht verhindern können, dass sie sich zerrissen und einsam fühlte und mit fünfzehn einen Selbstmordversuch begangen hatte. Erneut hatte sie von Norman und Fanny jegliche Liebe und Aufmerksamkeit erhalten, die sie sich nur denken konnte, aber dafür hasste Joanna sie jetzt. Fanny und Norman hatten sich jahrelang so intensiv um Sadie gekümmert, dass ihre eigene Tochter ihnen vorwarf, daneben vernachlässigt worden zu sein. Etwas, das Gary nur ein müdes Grinsen entlockte, denn er teilte die Einschätzung seiner Schwester nicht. Er sagte immer, dass Joanna eben selbst gern im Mittelpunkt stand.

Aber Sadie hatte nicht das Gefühl, bislang irgendwo angekommen zu sein. Sie hatte immer fleißig für die Schule gelernt, einen guten Abschluss gemacht und war sogar vom FBI angenommen worden. Denn ein Gedanke trieb sie an: Sie musste verhindern, dass andere Kinder die Erfahrungen machen mussten, die sie ertragen hatte. Sie wollte alles wissen über Menschen wie ihren Vater. Wollte sie finden und stoppen.

Doch sie hatte Norman und Fanny nicht einfach verlassen können – nicht jetzt, da Norman ernsthaft erkrankt war. Während ihrer kurzen Zeit auf der anderen Seite des Landes hatte sie ihre Familie schmerzlich vermisst und deshalb beschlossen, erst einmal nach Waterford zurückzukehren. Niemand konnte ihr die Qualifikation nehmen, aber sie brauchte einfach noch Zeit. Sie hatte sich nicht gewappnet gefühlt, es mit solchen Tätern wirklich schon aufzunehmen, ihnen beruflich gegenüberzutreten, sie unschädlich zu machen.

Bis jetzt. Bis zu dem Moment, in dem eine andere tote Familie sie in Waterford heimsuchte und wachrüttelte.

Ihre Hand fühlte sich kalt an, als sie sich die nassen Wangen abwischte und versuchte, nicht länger zu weinen. Jetzt war nicht die Zeit, zu weinen. Jetzt war die Zeit, auf die Sadie ihr Leben lang gewartet hatte.

 

 

Donnerstag

 

Mit einer entschlossenen Bewegung öffnete Sadie die Tür und betrat das Department. Sie war nicht überrascht, dass dort ein Summen wie in einem Bienenstock in der Luft lag. Zahlreiche Kollegen waren bereits bei der Arbeit, denn inzwischen wusste jeder von dem Familienmord, auf den sie und Phil am Vorabend gestoßen waren.

Zahlreiche Blicke ruhten auf ihr, während sie zu einem freien Schreibtisch ging. Mit einer Tasse Kaffee in der Hand ging Monica an ihr vorbei, blieb dann aber stehen.

„Wie geht es dir?“

Überrascht blickte Sadie auf. „Gut, wieso?“

„An deiner Stelle hätte ich kein Auge zugemacht.“

Ein kurzes Lächeln huschte über Sadies Lippen. „Ich habe auch nicht sehr viel geschlafen, aber hauptsächlich deshalb, weil ich nachgedacht habe.“

„Nachgedacht?“, wiederholte Monica verdutzt.

„Ja, ich habe mich gefragt, was für ein Täter eine ganze Familie ermordet.“

Angesichts dieser doch sehr nüchternen Aussage zog Monica eine Augenbraue in die Höhe. „Und, Erkenntnisse?“

„Noch nicht. Vielleicht gleich. Deshalb bin ich hier.“ Sadie schaltete den Computer an und schaute ihm beim Hochfahren zu.

„Viel Erfolg“, sagte Monica und ging zu ihrem Platz. Sadie achtete nicht weiter darauf, aber sie fühlte sich unbehaglich. Als sie den Kopf hob, spürte sie, dass auch viele der anderen Kollegen sie ansahen. Einige tuschelten.

Sie beschloss, nicht darauf zu achten und wählte die FBI-Datenbank an, deren Zugang sie seit der Ausbildung behalten hatte. Während ihrer Zeit an der Academy hatte sie Stunden damit verbracht, sich dort durch Fallakten zu klicken und die Merkmale verschiedener Täter und ihrer Taten zu studieren. Schon in der Nacht war ihr ein Name eingefallen, den sie unbedingt noch einmal überprüfen musste: Dennis Rader, der BTK-Killer. Er war einer der bekanntesten amerikanischen Serienmörder und hatte zwischen 1974 und 1991 insgesamt zehn Menschen getötet. Zwar hatte er es in der Hauptsache immer auf Frauen abgesehen, aber er hatte bei seinen Einbrüchen in Häuser auch Männer und Kinder getötet. Sadie hatte sich daran noch erinnert und wollte nachsehen, ob BTK ihr nicht irgendwie in den aktuellen Ermittlungen helfen konnte.

Sie scrollte durch die umfagreiche Fallakte. Über BTK war eine Menge bekannt, der Fall war gut untersucht. Auch er hatte verschiedene Tötungsmethoden benutzt, seine Opfer stranguliert oder erstochen. Und er hatte seine Opfer lange gestalkt. Ein Umstand, den Sadie auch für die Blooms annahm. BTK hatte die Unterwäsche seiner Opfer gestohlen und manchmal auf ihre Leichen masturbiert, also war ein sexueller Hintergrund gegeben.

„Mit dir hätte ich eigentlich erst zur Spätschicht gerechnet.“

Sadie hob den Blick und sah direkt in Mike Eamons Gesicht. Mike war ihr Chef, ein gemütlicher Mittfünfziger mit kleinem Bauchansatz und großer Erfahrung.

„Hallo, Mike“, erwiderte Sadie. „Mich hat zu Hause nichts gehalten. Ich wollte unbedingt etwas nachsehen.“

„Wie geht es dir und Phil?“, erkundigte Mike sich anteilnehmend.

„Mir geht es gut. Für Phil kann ich nicht sprechen, aber soweit ich weiß, kommt er später sowieso.“

„Ja, das dachte ich mir ...“ Er setzte sich auf die Kante ihres Schreibtisches. „Ihr müsst sagen, wenn ihr etwas braucht. Das war gestern Abend bestimmt nicht leicht.“

„Es war nicht das, womit wir gerechnet hatten. Dementsprechend traf uns das ziemlich unvorbereitet“, erwiderte Sadie nüchtern.

Mike grinste schief. „Das kann ich mir denken. Was machst du denn schon hier?“

Sie drehte ihren Bildschirm. „Ich frage ähnliche Fälle ab, um herauszufinden, warum jemand so etwas tut.“

„Ah“, machte Mike. „Nicht schlecht. Sag nicht, du hast schon einen Ansatz.“

„Nein, das noch nicht“, erwiderte sie kopfschüttelnd. „Aber ich habe Ideen.“

„Dann bist du der erste Mensch hier im Department. Alle anderen sind noch ratlos.“

„Kann ich mir vorstellen. Ich bin nur bei einer Sache ziemlich sicher.“

„Und die wäre?“

„Das war nicht die erste Tat.“

„Meinst du? Das würde bedeuten ...“ Mike sog scharf die Luft ein. „Ist der Kerl ein Serienmörder?“

„Halte ich für möglich.“

„Hm“, machte Mike und verzog sich ohne einen weiteren Kommentar in sein Büro. Stirnrunzelnd blickte Sadie ihm hinterher, konzentrierte sich dann aber wieder auf ihr Vorhaben.

BTK hatte die Behörden in Atem gehalten, indem er die Medien mit einbezogen hatte. Er hatte Briefe an einen Fernsehsender geschrieben und Erklärungen abgeliefert, sich selbst Bill Thomas Killman genannt – aber die Abkürzung BTK stand tatsächlich für bind, torture, kill. Der Name war Programm, dachte Sadie düster. Abhängig von dem, was die Obduktion ergab, war das in ihrem Fall auch nicht weniger zutreffend.

Einen entscheidenden Unterschied gab es jedoch: Dennis Rader hatte nicht in den Häusern seiner Opfer gelebt. Er hatte sie gestalkt und dann ermordet. Bei ihnen war das anders.

Sie fütterte die Suchfunktion der Datenbank mit anderen Stichworten und erhielt neue Ergebnisse. Leonard Lake und Charles Ng hatten Mitte der 1980er Jahre ebenfalls zwei Familien ermordet, um ihrem Ziel, Frauen zu entführen und gefangen zu halten, näher zu kommen. Sie hatten die Familien aus dem Weg geräumt und die Frauen auf Lakes Ranch verschleppt, um sie dort gefangen zu halten, zu foltern und zu ermorden. Bei den Vergewaltigungen hatten sie sich gegenseitig gefilmt.

Sadie verzog das Gesicht. Sie erinnerte sich düster an den Fall von der Academy und mochte sich diese Hölle für die Opfer gar nicht vorstellen. Aber auch diese Täter hatten nicht bei den Familien gelebt und wie Rader hatten sie nicht nur Familien ermordet. Eine genaue Anzahl der Opfer stand gar nicht fest. Sie hatten ihre Opfer entweder erschossen oder erstochen. Die Gewaltbereitschaft, die diese Täter an den Tag gelegt hatten, schockierte Sadie. Und es erschreckte sie auch, zu lesen, dass das alles gar nicht so weit von Waterford entfernt geschehen war. Trotzdem half es ihr nicht weiter, denn es war entweder um Sexualverbrechen an Frauen gegangen – oder um Raubmorde an Männern. Insgesamt ähnelte der Modus Operandi jedoch nur leicht der Tat, die sie gerade untersuchen mussten.

Ihre Suche führte sie weiter zu Yang Xinhai, den so getauften Monster Killer aus China. Zwischen 1999 und 2003 hatte er insgesamt fünfundsechzig Morde begangen. Und das, wo China doch so gern leugnete, dass es auch dort solche Fälle gab. Serienmorde waren ganz und gar kein uramerikanisches Phänomen, wie Sadie wusste.

Mitten in der Nacht war der Killer in die Häuser der Familien eingebrochen, hatte seine Opfer mit Schaufeln oder anderen Gelegenheitswaffen ermordet und die Frauen vergewaltigt.

Nachdenklich stützte Sadie den Kopf in die Hände. Es ging immer um die Frauen. Ihr Eindruck am Vorabend war auch gewesen, dass es die Mutter am härtesten getroffen hatte. Der Vater hatte beseitigt werden müssen und dass die Tochter da war, hatte der Täter bereitwillig ausgenutzt, aber die Mutter hatte er gefoltert.

Zuguterletzt stieß Sadie auf Anatolij Onoprienko, den man in der Ukraine nur das Biest getauft hatte. Innerhalb von sieben Jahren hatte er zweiundfünfzig Menschen getötet und war dafür sogar zum Tode verurteilt worden, allerdings hatte man die Strafe ausgesetzt. Nachts hatte er einsame Höfe überfallen und dort ganze Familien mit Waffen wie Messern, Schaufeln oder abgesägten Schrotflinten getötet. Außerdem hatte er seine Opfer beraubt. Er hatte Leichen zerstückelt und verbrannt. Inzwischen war er jedoch selbst im Gefängnis einem Herzinfarkt erlegen, wie Sadie nicht ganz ohne Erleichterung feststellte.

Aber half ihr das weiter? Konnte sie aus irgendeinem dieser Fälle etwas ziehen, das ihr aktuell nützlich war? Ohne das Obduktionsergebnis würde das schwierig werden. Klar war nur, dass Familienmorde durch Fremde nicht allzu häufig waren, aber wenn sie vorkamen, waren sie immer besonders schlimm. So auch jetzt.

„Ukraine?“, fragte Will, während er hinter Sadie vorbeiging.

„Andere Familienmorde“, erklärte sie knapp.

Er blieb stehen. „Hab schon gehört, dass du gestern mit Phil dort warst. Heftige Sache. Jetzt bin ich schon seit über zwanzig Jahren bei der Polizei, aber sowas hab ich noch nie gesehen.“

„Wir wurden ja auch mit einem 187 gerufen. Da hatten wir auch etwas anderes erwartet als das ...“

„Schlimm“, sagte Will kopfschüttelnd und wollte noch etwas hinzufügen, aber da betrat Matt mit seiner Fototasche das Department und steuerte zielstrebig auf Sadie zu.

„Du bist ja auch schon da“, stellte er fest.

„Sieht so aus“, erwiderte sie.

„Lässt dir das also auch keine Ruhe.“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.

„Nein. Ebensowenig wie dir?“

Matt nickte bloß. „Du weißt, ich bekomme wirklich viel zu Gesicht, aber so etwas ist die absolute Ausnahme. Ich dachte, ich bringe Mike schon mal die Fotos.“

„Kann ich die auch haben?“, fragte Sadie.

Er hielt ihr eine Speicherkarte hin. „Hast du ein Lesegerät?“

Mit einem Nicken steckte sie die Karte in den passenden Schlitz an der Seite des Laptops. Nachdem sie die Fotos auf den Rechner kopiert hatte, reichte sie Matt die Karte zurück. Will hatte sich inzwischen verdrückt.

„Sonst alles okay?“, erkundigte Matt sich kameradschaftlich.

Eine Augenbraue in die Höhe gezogen, seufzte Sadie. „Ja, warum fragt mich das jeder?“

Arglos zuckte Matt mit den Schultern. „Reine Anteilnahme.“

„Ja, ich weiß. Aber ich bin Polizistin, so etwas gehört zu meinem Job.“

„Hm. Stimmt“, sagte er und überlegte, doch dann entschied er sich anders. „Ich bin mal bei Mike.“

„Okay“, sagte sie und öffnete den ersten Ordner mit Fotos. Da war es ihr ganz recht, wenn Matt ihr nicht im Rücken saß. Die Bilder dieser toten Familie wollte sie sich lieber allein ansehen.

Jetzt alles am Bildschirm zu sehen, war anders als der leibhaftige Anblick. Es fiel ihr nicht mehr so schwer, diesen grauenvollen Bildern standzuhalten.

Die ersten Fotos zeigten den Jungen. Er war in wütender Raserei erschlagen worden. Sadie fragte sich, was der Grund dafür war. Vielleicht hatte er versucht, Mutter und Schwester zu beschützen. Allerdings hatte sie Dave tatsächlich am Vorabend gnädig angelogen. Es hatte nur niemand gehört, wie Nick gestorben war, weil der Täter ihn geknebelt hatte. Sadie war sich sicher, dass er ansonsten furchtbar geschrien hätte.

So wie seine Schwester und Mutter auch. Diese Schreie kannte sie.

Schnell nahm die Fotos aller Leichen genau unter die Lupe, um die Erinnerung nicht wieder hochkommen zu lassen. Jedoch gewann sie keine Erkenntnisse, die sie am Vorabend nicht auch schon gehabt hätte. Bevor sie dazu kam, die übrigen Fotos zu betrachten, stand Matt wieder vor ihr.

„Wenn du Mike was zu den Fotos sagen willst – er hat sie jetzt.“

„Okay“, erwiderte sie und wollte weiter die Fotos durchgehen, spürte dann jedoch Matts erwartungsvollen Blick auf sich.

„Was ist los?“, Interessiert blickte sie zu ihm auf.

Matt lächelte verlegen. „Du schuldest mir immer noch eine Antwort.“

„Das stimmt“, gab sie zu, denn sie wusste sofort, was er meinte.

„Hast du am Wochenende Zeit?“

Sie schüttelte den Kopf. „Mein Onkel hat Geburtstag.“

„Nächste Woche?“

„Ja, vielleicht ...“ Sadie seufzte. „Keine Ahnung.“

„Nein, schon okay. Sag doch einfach, wenn du nicht willst“, sagte er bissig und verschränkte die Arme vor der Brust. Das tat ihr leid. Sie wollte ihn doch gar nicht vor den Kopf stoßen.

„Sorry, Matt“, sagte sie ehrlich bedauernd. „Nicht jetzt, das ist alles.“

„Schon klar.“ Zwar wandte er sich schon zum Gehen, aber Sadie wollte nicht, dass er sich jetzt verletzt verzog. Sie setzte ihm nach.

„Ich würde dir sagen, wenn ich dich nicht leiden könnte.“

Er blieb stehen und drehte sich um. „Aber was ist dann so schwer daran?“

„Eine Menge“, murmelte sie leise, aber er verstand es trotzdem.

„Na ja. Deine Entscheidung.“ Diesmal ging er wirklich. Seufzend strich Sadie ihr Haar hinters Ohr zurück. Er musste sie ja für eine dumme Kuh halten.

Inzwischen bemühte er sich schon eine ganze Weile um sie. Es kam immer wieder vor, dass sie zusammen arbeiteten oder er Fotos ins Department brachte. Eigentlich gehörte er zum Modesto Police Department, war selbst ausgebildeter Polizist mit einem Händchen für Fotografie. Sadie wusste nicht viel über ihn, aber eigentlich mochte sie ihn mit seiner großen Klappe.

Sie war nur nicht bereit, jemanden so nah an sich heranzulassen, wie es dann unvermeidlich der Fall gewesen wäre. Er hätte Fragen gestellt. Fragen, die sie ihm unmöglich beantworten konnte. Außer Fanny, Norman, Gary und Joanna wusste niemand, wer sie wirklich war – nicht einmal Tessa. Sie hatte es nie erzählt. Zwar war sie bei Tessa mehrmals kurz davor gewesen, hatte es dann aber trotzdem nicht getan. Nicht nur, weil sie es eigentlich nicht durfte, sondern weil sie es auch gar nicht wollte. Die Narbe auf ihrem Rücken vereinfachte es nicht gerade, Stillschweigen darüber zu bewahren; beim Sportunterricht in der Umkleidekabine war sie aufgefallen, aber Sadie hatte behauptet, dass die schwielige Narbe von einer Verätzung kam. Bislang hatte es jeder geglaubt. Trotzdem versuchte sie, die Narbe tunlichst zu verbergen, um gar nicht erst in Erklärungsnot zu geraten.

Die Erklärung, die jeder kannte, hatte man ihr als Elfjährige immer wieder eingeschärft. Sie kam aus Oregon, was stimmte, und ihre Familie war bei einem Hausbrand ums Leben gekommen. Das stimmte immerhin zum Teil. Es tat Sadie leid, dass sie lügen musste, aber sie sah keine andere Möglichkeit. Tessa hatte es immer akzeptiert, aber sie hatten sich als Kinder kennengelernt und da hatte sie keine weiteren Fragen gestellt. Matt jedoch war Polizist und nicht auf den Kopf gefallen. Und ganz davon abgesehen wollte sie niemanden anlügen, der sich ernsthaft für sie interessierte und ihr Gefühle entgegenbrachte. Das hatte Matt einfach nicht verdient.

Nach fünfzehn Jahren sah sie jedoch auch keine Möglichkeit, wie sie offen und ehrlich mit der Angelegenheit umgehen sollte. Das hatte sie noch nie gemacht, deshalb fühlte sie sich überfordert. Zumal sie ohnehin nicht verstand, was Matt an ihr fand. Ein so gut aussehender Mann ... er hätte jede haben können. Das schien er jedoch etwas anders zu sehen.

Er hatte eine Freundin gehabt, als sie sich damals kennengelernt hatten. Einer von Sadies ersten Fällen war ein Einbruch gewesen und Matt war aus Modesto gekommen, um Fotos zu machen. Schon damals hatte er eine große Klappe gehabt und immer einen lockeren Spruch auf den Lippen, was Sadie nicht auf Anhieb sympathisch gewesen war. Aber je öfter sie zusammengearbeitet hatten, desto deutlicher hatte sie gespürt, dass er in Ordnung war. Irgendwann hatte sie aufgeschnappt, dass er wieder Single war. Dass er ein Auge auf sie geworfen hatte, war ihr zum ersten Mal vor vier Monaten aufgefallen. Bei jedem Besuch im Department hatte er auch sie besucht, sich mit ihr unterhalten, sie irgendwann zum Essen eingeladen. Bisher hatte sie aber immer abgelehnt. Sie sah einfach keine Lösung für ihr Problem.

Sadie hasste sich dafür, denn eigentlich wäre sie gern mit Matt ausgegangen. Sehr gern sogar. Es wurde ja auch langsam mal Zeit, dass sie sich mit einem Mann traf, denn ihre Vergangenheit hatte sie schon immer davon abgehalten, sich auf eine Beziehung einzulassen. Eine Tatsache, die ihr sehr weh tat und die vor allem Tessa nicht verstehen konnte. Natürlich nicht.

Und je länger sie zögerte, desto schwieriger wurde es natürlich. Mit inzwischen sechsundzwanzig Jahren hatte sie noch nie einen einen Mann auch nur geküsst. Sie fragte sich, was Matt wohl dachte, wenn er das erfuhr. Noch kannte sie ihn nicht gut genug, um ihn dahingehend einschätzen zu können. Zwar hatte er eine große Klappe, aber er verletzte niemanden absichtlich. Mit seinem Altersvorsprung von acht Jahren war er länger im Polizeidienst und entsprechend erfahrener. Die Fotografie war sein Steckenpferd und er liebte es, sich fit zu halten. Soviel wusste sie über Matt Whitman.

Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken. Sadie meldete sich und war wenig überrascht, am anderen Ende von einem der typischen Tessa-Redeschwälle überrollt zu werden.

„Ich dachte, ich probiere es mal bei dir im Büro und höre, was bei euch so läuft. Vorhin war im Radio von einer ermordeten Familie die Rede, hier in Waterford! Ist das zu fassen? Hast du das mitbekommen?“

„Sicher“, erwiderte Sadie und wollte noch etwas hinzufügen, aber Tessa hatte bereits wieder angesetzt.

„Das ist der Hammer, damit hätte ich nie gerechnet! Bist du in die Ermittlungen involviert?“

„Ich habe die Familie gestern mit Phil gefunden“, sagte Sadie, nun da die Chance gekommen war.

Das brachte Tessa tatsächlich für einen Moment zum Schweigen. „Oh mein Gott.“

„Ja, das trifft es ganz gut.“

„Du meine Güte. Das muss doch total schlimm gewesen sein! Im Radio hieß es, der Täter hätte die Eltern und die Kinder getötet, nachdem er in dem Haus gelebt hat.“

„Das vermuten wir zumindest bisher“, bestätigte Sadie.

„Ist ja schrecklich! Aber jetzt ist es doch gut, dass Mike dich hat, denn mit so etwas kennst du dich doch aus. Fandest du es gestern sehr schlimm, das zu sehen?“

Wieder so eine typische Tessa-Frage, dachte Sadie kopfschüttelnd. „So etwas lässt niemanden kalt.“

„Klar. Weißt du, eigentlich rufe ich ja wegen unserem Mädelsabend an. Geht das klar?“

„Das geht klar.“ Der abrupte Themenwechsel brachte Sadie nicht aus der Fassung.

„Super! Erzählst du mir dann von dem Fall?“

Seufzend schloss Sadie die Augen. „Entgegen deiner Annahme kann ich darüber nicht wie ein Waschweib tratschen.“

„Nicht auch nur ein bisschen?“

Ergeben lächelte Sadie. „Doch, ein bisschen schon. Mal sehen, okay?“

„Okay.“

„Wann soll ich denn da sein?“

„Ich würde sagen, so gegen sieben. Ich freu mich schon! Machen wir uns Popcorn und sehen uns dann schlechte Filme an?“

„Auf jeden Fall! Ich freue mich auch.“

Tessa verabschiedete sich und legte auf. Sadie freute sich, dass ihre Freundin angerufen hatte, und wandte sich wieder den Überlegungen zu ihrem Fall zu.

War wirklich die Mutter das Ziel gewesen? Sie war auch gespannt auf den Bericht der Spurensicherung und dachte wieder einmal daran, dass die Realität nicht war wie CSI. In der Realität gab es nicht schon am nächsten Tag alle Berichte, eine abgeschlossene Obduktion und eine vollständige Toxikologie. Das hätte ihr gefallen, aber so war es nun mal nicht.

Sie überlegte hin und her und es war noch nicht einmal Zeit für die Mittagspause, als Phil das Department betrat und lachte, als er Sadie an ihrem Schreibtisch entdeckte.

„Und ich dachte, ich wäre zu früh“, sagte er. „Ich wollte mal hören, ob wir den Mörder schon haben.“

„Schön wär’s“, erwiderte Sadie. „Aber wir könnten etwas dafür tun. Soweit ich weiß, hat noch niemand mit den Nachbarn gesprochen.“

„Dann los“, sagte Phil motiviert. Sadie folgte ihm sofort auf den Parkplatz, wo sie sich in einen Streifenwagen setzten und zum Curran Drive fuhren. Auch jetzt war noch sichtbar, dass etwas vorgefallen war. Das Haus war mit Absperrband eingezäunt, von weitem konnten sie das polizeiliche Siegel an der Tür erkennen. Ansonsten war es eher still in der Straße.

Sie klingelten zuerst bei den Newports, die sie am Vorabend gerufen hatten. Die Mutter öffnete den beiden und bat sie sogleich herein.

„Sie haben sicher noch Fragen“, mutmaßte sie.

„So ist es“, bestätigte Phil und nahm als erster auf dem Sofa Platz, als Mrs. Newport ihnen angeboten hatte, sich zu setzen. Sadie setzte sich etwas langsamer und schaute sich um. Es war das typische Wohnzimmer einer Mittelstandsfamilie mit Familienfotos über dem Kaminsims und gepflegten Pflanzen vor den Fenstern.

„Ich kann auch Dave gern rufen, wenn Sie wollen. Er ist in seinem Zimmer. Seine Verfassung war gestern so schlecht, dass mein Mann und ich beschlossen haben, ihn heute nicht zur Schule zu schicken. Heute Nacht hatte er Alpträume“, erklärte Mrs. Newport.

„Das kann ich verstehen“, sagte Sadie mitfühlend. „Wir wissen ja, was er gesehen hat. Er war gänzlich unvorbereitet.“

„Uns hat er gesagt, Nick wäre erschlagen worden und alles sei voller Blut gewesen. Eine furchtbare Vorstellung“, sagte die Frau.

„Es war wirklich kein schöner Anblick“, sagte Phil. „Es ist gut, dass er das Haus sofort wieder verlassen hat.“

„Ja, er hatte Angst, dass der Mörder noch dort ist. Ich bin so froh, dass ihm nichts passiert ist ...“

„Mrs. Newport“, begann Sadie nach einer kleinen Pause. „Ist Ihnen etwas am Haus der Blooms aufgefallen? War dort irgendetwas seltsam? Wissen Sie noch, wann Sie die Blooms zuletzt gesehen haben?“

„Darüber habe ich schon nachgedacht. Ich meine, natürlich wohnt die Familie genau gegenüber, aber man sitzt ja nicht den ganzen Tag am Fenster und beobachtet, was die Nachbarn tun. Ich kann mich erinnern, dass ich Amy das letzte Mal vor etwa zehn Tagen gesehen habe. Vor ein paar Tagen habe ich mich natürlich schon gewundert, dass das Auto in der Auffahrt steht und ich niemanden mehr zu Gesicht bekommen habe, aber abends war drüben wie immer Licht. Mir ist nichts seltsam vorgekommen. Nicht so, dass ich misstrauisch geworden wäre.“

„Haben Sie auch mit Ihrem Mann darüber gesprochen?“

„Ja, aber er kann natürlich noch weniger dazu sagen, er ist ja tagsüber immer weg. Nein, wirklich ... ich hätte das nie für möglich gehalten, aber scheinbar war drüben tagelang etwas nicht in Ordnung und wir haben es nicht gemerkt. Ich habe mich immer gefragt, wie so etwas möglich sein soll ...“ Fassungslos schüttelte Mrs. Newport den Kopf.

„Der Mörder hat sich ja darum bemüht, dass Sie es nicht merken“, sagte Sadie.

„Ja, aber wenn ich mir vorstelle, dass er dort tagelang bei ihnen war und ... das ist verrückt. Einfach schrecklich!“

„Aber Ihnen ist kein Fremder aufgefallen?“, fragte Phil.

„Nein, nichts. Bis Dave gestern Abend nach drüben gegangen ist, waren wir vollkommen ahnungslos.“

Phil versuchte es trotzdem noch mit einigen weiteren Fragen, aber es war zwecklos. Schließlich holte Mrs. Newport ihren Sohn, damit er ebenfalls einige Fragen beantworten konnte. Dave war sichtlich übermüdet und wirkte ziemlich blass, das fiel Sadie sofort auf. Mit hängenden Schultern setzte er sich aufs Sofa und sah die beiden Polizisten an.

„Ich hoffe, Sie finden diesen Mörder“, sagte er.

„Wir sind schon dabei“, sagte Phil. „Dave, ist dir etwas bei den Nachbarn aufgefallen?“

„Nein, eigentlich nicht. Ich hab mich zwar gewundert, dass ich weder Nick noch den Rest der Familie gesehen habe, aber man denkt sich ja nichts dabei. Ich bin gestern auch nur rübergegangen, weil Nick mir sagte, dass er mir das Spiel schon am Wochenende zurückgeben wollte. Aber er ist ja nicht gekommen. Deshalb dachte ich gestern, ich hole es mir einfach. Aber dann ...“

Phil stellte ihm noch einmal die Fragen, die der Junge eigentlich am Vorabend schon beantwortet hatte. Ihm war nichts aufgefallen, es war still gewesen, die Tür offen. Der strenge Geruch war ihm aufgefallen, aber er hatte nicht damit gerechnet, was er vorfinden würde. Deshalb war er unerschrocken weitergegangen und entsetzt gewesen, als er seinen Freund tot aufgefunden hatte.

„Erst da hat alles Sinn ergeben“, sagte er. „Ich bin sofort wieder abgehauen.“

Das half nicht weiter. Sadie und Phil überlegten sich zahlreiche Fragen, aber am Ende erfuhren sie nichts Neues. Den Newports war nichts aufgefallen, was ihnen helfen würde. Gar nichts.

Deshalb machten die beiden sich unverrichteter Dinge wieder auf den Weg und klingelten an den Häusern in der Nachbarschaft. Erklären mussten sie sich niemandem, natürlich wusste schon jeder, worum es ging.

Aber nachdem sie gut zwei Stunden in den Häusern aller Nachbarn verbracht hatten, die sie antreffen konnten, waren sie trotzdem genauso schlau wie vorher. Niemand hatte etwas bemerkt, was Sadies Verdacht nährte, dass der Täter das nicht zum ersten Mal machte. Dafür war er zu gut.

„Ist doch wie verhext“, sagte Phil, als sie vor dem Haus der Blooms standen. Es war versiegelt, aber die beiden hatten den Schlüssel und weitere Siegel dabei.

„Ich muss da noch mal rein“, sagte Sadie und blickte hoch zum Haus.

„Okay“, sagte Phil. „Ich komme mit. Was hast du denn vor?“

Sadie schüttelte unbestimmt den Kopf, während sie das Siegel brach und die Tür aufschloß. „Ich weiß nicht, ich muß mir das einfach noch mal ansehen.“

Phil nickte und folgte ihr in Haus. Der Verwesungsgeruch lag immer noch in der Luft, auch wenn keine Leichen mehr dort waren. Ansonsten war nichts aufgeräumt, die Spurensicherung hatte nichts angefasst.

Der Täter musste dort gelebt haben. Sadie konnte sich das Grauen der Familie kaum vorstellen. Sie begriff auch nicht, warum in der Nachbarschaft wirklich niemand gemerkt hatte, was dort vor sich ging, aber der Täter hatte eben aufgepasst.

Das machte der nicht zum ersten Mal. Das war völlig ausgeschlossen. Allein eine ganze Familie tagelang unbemerkt unter Kontrolle zu halten, erforderte einiges.

Aber warum tat er das?

Sadie ging in die obere Etage und betrat nacheinander die Zimmer der Kinder. Warum ein solcher Hass gegen Nick? Der sexuelle Übergriff gegen Amy leuchtete ihr ein, auch der gegen ihre Mutter. Aber wenn der Vater lästig gewesen war, warum hatte der Mörder den Sohn nicht auch getötet?

Sie fand es erschreckend, die leeren Zimmer der Kinder zu sehen. In Nicks Zimmer war immer noch getrocknetes Blut an der Wand zu sehen, viele kleine Spritzer. Gegenüber stand sein Schreibtisch mit einem riesengroßen Computerbildschirm. Er hatte viele Computerspiele besessen, die standen daneben im Regal. Über seinem Bett hingen Bandposter. Er hatte Korn gemocht und Papa Roach.

Einfach ausgelöscht, ein ganzes Leben. Sadie ging wieder hinüber in Amys Zimmer. Es war das typische Teenagerzimmer eines amerikanischen Mädchens. Auch Amy hatte sich Poster an die Wand gehängt, da hingen Taylor Swift und Katy Perry. Es gab einen kleinen Schminktisch in einer Ecke, einen nicht ganz so beeindruckend großen Computer wie Nicks, CDs in einer Ecke und ziemlich kitschige Bettwäsche, das war auf Amys Kissen noch erkennbar. An ihrem Bett hingen noch die Stricke, mit denen der Täter sie gefesselt hatte. Es war ein metallenes Bettgestell mit Schnörkeln und Blumenverzierungen.

Während Sadie auf dem Flur stand, musste sie daran denken, dass sie nie die Gelegenheit gehabt hatte, in ihr Elternhaus zurückzukehren. Ihr Vater hatte es ja niedergebrannt. Sadie hatte nichts behalten – nur ihr eigenes Leben.

Und in dieses Haus würde die Familie auch nie wieder zurückkehren. Sadie fand es traurig.

Sie ging hinüber ins Elternschlafzimmer. Phil blieb hinter ihr stehen und blickte sich nachdenklich um.

„Warum tut jemand so etwas?“

Sadie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es noch nicht. Vielleicht wollte jemand seine Allmachtsfantasien ausleben. Oder sich zum Familienvater machen. Keine Ahnung ... da die Nachbarn nichts gesehen haben, werden wir ja auch nicht erfahren, wie er aussieht.“

Seufzend verschränkte Phil die Arme vor der Brust. „Ich habe das dumpfe Gefühl, dass wir die Sache nicht aufklären.“

Überrascht drehte Sadie sich zu ihm um. „Meinst du?“

„Ich meine, was haben wir?“

„Nicht viel, das stimmt. Aber wenn ich Recht habe, ist er ein Serientäter.“

Phil holte tief Luft. „Hier bei uns?“

„Danach fragt der nicht“, sagte Sadie.

„Ich bin froh, dass du fast beim FBI gelandet wärst“, sagte Phil. „Ich glaube, das können wir gerade gut brauchen.“

 

 

Freitag

 

Mit einem Glas Wasser in der Hand setzte Sadie sich an ihren Schreibtisch und öffnete die VICAP-Datenbank. Am Vorabend hatte sie sich widerwillig mit Kopfschmerzen nach Hause verabschiedet, nachdem sie mit Phil vergeblich versucht hatte, in dem Haus der Familie noch irgendwelche Hinweise zu finden. Der Täter war ein Phantom, wirklich niemand hatte ihn bemerkt. Sadie konnte es den Leuten nicht verübeln, sie hatte auch Besseres zu tun, als ständig vor dem Fenster zu sitzen und zu beobachten, was die Nachbarn so taten.

Allerdings hatte sie sich vorgenommen, in der Schule der Kinder nachzufragen und bei den Arbeitsstellen der Eltern, denn dort musste ihr Fehlen aufgefallen sein. Sie verstand auch nicht, dass der Täter das Risiko eingegangen war, auf diese Weise entdeckt zu werden, denn die Möglichkeit, dass jemand nach der Familie suchte, bestand durchaus. Auch das ließ sie vermuten, dass er das nicht zum ersten Mal machte.

Jetzt wollte sie wissen, wann es begonnen hatte. In VICAP gab sie die Merkmale der Tat ein: Eine vierköpfige Familie war das Ziel. Nach der Ermordung des Vaters wurden die übrigen Familienmitglieder tagelang gefangen gehalten, es wurden unterschiedliche Tötungsmethoden angewandt, die Mutter wurde gefoltert.

Sadie beschränkte die Suche auf Kalifornien und war überrascht, dass die Datenbank sofort einen Treffer ausspuckte. Sie fand einen Fall in Yreka, ganz in der Nähe der Grenze zu Oregon.

Sadie öffnete die Fallakte. Bislang galt der Fall als nicht aufgeklärt, war also durchaus relevant. Aufmerksam überflog sie die Fallbeschreibung.

Anders als in ihrem Fall hatte ein aufmerksamer Nachbar die Polizei alarmiert, weil er die Familie seit drei Wochen nicht gesehen hatte. Die eintreffenden Beamten waren von entsetzlichem Gestank begrüßt worden, denn die Familie war zu diesem Zeitpunkt schon fast zwei Wochen tot gewesen. Es war zur Weihnachtszeit vor anderthalb Jahren passiert, weshalb es so lang gedauert hatte, bis es zumindest dem Nachbarn aufgefallen war.

Auch in diesem Fall hatte der Vater erschlagen im Keller gelegen. Dem Verwesungszustand war zu entnehmen gewesen, dass er deutlich länger als die übrigen Familienmitglieder tot gewesen war. Ebenso wie im Haus der Blooms herrschte auch in diesem Haus ein ziemlicher Dreck. Der Täter hatte eine Weile dort gehaust.

Anders als bei den Blooms hatte der Täter den Sohn erhängt. Die Polizisten hatten ihn auf dem Dachboden gefunden. Sadie betrachtete ein Foto der Leiche, das ihr einen kalten Schauer über den Rücken jagte. So junge Menschen durften nicht tot sein, das war einfach falsch.

Die Leiche der Tochter war ertränkt in der Badewanne gefunden worden. Bei der Obduktion war herausgekommen, dass sie missbraucht worden war – genau wie ihre Mutter, die man bäuchlings ans Bett gefesselt gefunden hatte. Sie war erstochen worden.

Es gab Unterschiede, doch Sadie bemerkte sofort auch die Gemeinsamkeiten. Die waren zu auffällig, um sie einfach zu ignorieren.

Es gab Fotos vom Haus und allen Leichen. Die Ähnlichkeit zum Fall der Blooms war frappierend. Ein hübsches Haus einer Mittelstandsfamilie, kein Haustier, eine ähnliche Auffindesituation. Aufmerksam betrachtete sie alle Fotos. Der Täter hatte seine Opfer alle geknebelt, ebenfalls mit Klebeband. Sperma war sichergestellt worden und ein genetischer Fingerabdruck war hinterlegt, aber es hatte keinen Treffer gegeben. Sadie wusste, dass sie das genetische Profil unbedingt anfordern musste. Der Fall war verdammt ähnlich, das konnte sie nicht ignorieren.

„Guten Morgen zusammen“, dröhnte Mikes Stimme durchs Department. „Gleich um neun setzen sich alle, die interessiert sind, im Besprechungsraum zusammen, um eine Ermittlungskommission im Mordfall Bloom zu bilden. Zum Glück werden wir von Beamten der Mordkommission in Modesto unterstützt.“

Sadie war wie elektrisiert. Zwar arbeitete sie gerade als einfache Polizistin, aber Mike wusste um ihre Ausbildung und würde ihr bestimmt nicht die Chance verweigern, an den Ermittlungen mitzuwirken. Sie musste einfach. Und wo war überhaupt Phil? Er würde sich diese Chance bestimmt auch nicht entgehen lassen.

Es war schon zehn vor neun. Hastig gab sie einen Druckauftrag für den Fall aus, den sie in VICAP entdeckt hatte, und ging zum Drucker, um das Papier abzuholen. Auf dem Rückweg fiel ihr Blick auf Matt, der gerade hereinkam. Ihn begleiteten zwei Männer in Zivil, die Sadie für die anderen Polizisten aus Modesto hielt. Matts Blick streifte sie kurz, aber dann wandte er sich wieder seinen Begleitern zu und ignorierte Sadie.

Geschah ihr recht, dachte sie, und kehrte zu ihrem Schreibtisch zurück. Er bemühte sich nun schon so lang um sie und sie dankte es ihm mit einer Missachtung, die er natürlich nicht verstehen konnte. Dafür musste eine Lösung her. Vielleicht lohnte es sich wirklich, es mal zu riskieren ... aber dann brauchte sie einen Plan, wie sie mit Matt umgehen und was sie ihm sagen konnte.

Er ging mit seinen Kollegen auf Mike zu und schüttelte ihm die Hand. Über den Rand ihres Bildschirms hinweg linste Sadie zu ihnen hinüber und ärgerte sich, dass sie nichts verstehen konnte. Schließlich kam sie sich albern vor, stand auf und ging hinüber in den Besprechungsraum, wo sie ihr Glas abstellte und die Ausdrucke hinlegte. Unruhig blickte sie auf die Uhr und fragte sich, wo Phil blieb. Das durfte er sich nicht entgehen lassen!

Doch um drei Minuten vor neun, als der Besprechungsraum sich bereits gefüllt hatte, erlöste er sie aus ihrer Ungewissheit. Er kam herein und winkte ihr, als er sie entdeckte.

„Was ist denn hier los?“, fragte er.

„Komm rein und setz dich“, sagte Sadie gleich. „Es wird eine Ermittlungskommission für den Mordfall gebildet.“

„Ja, und?“

„Alle Interessierten sind aufgerufen.“

Auch jetzt verstand Phil nicht gleich, aber er ging zu Sadie hinüber und nahm neben ihr Platz. „Aber ich bin Streifenbulle.“

„Na und? Wir haben die Toten entdeckt, das kann niemand ignorieren.“

„Stimmt auch wieder.“

Mike, Matt und die fremden Polizisten kamen herein. Drei weitere Kollegen waren noch vor Ort, aber das war alles.

„Guten Morgen“, sagte Mike in die Runde. „Hier sind, wie angekündigt, die Kollegen der Mordkommission aus Modesto, Joe McCarthy und Andrew Hill. Sie werden uns im Mordfall Bloom unterstützen.“

Die beiden Männer waren um die vierzig, einer von ihnen trug eine Krawatte. Alle Anwesenden nutzten die Pause für eine kurze Begrüßung, dann ergriff Mike wieder das Wort.

„Sadie und Phil, es ist gut, dass ihr hier seid. Schließlich habt ihr die Toten entdeckt und könnt auf jeden Fall bei den Ermittlungen behilflich sein, ebenso wie Mr. Whitman. Habt ihr schon weitere Schritte unternommen?“

„Ja, wir haben gestern mit den Nachbarn gesprochen“, sagte Phil. „Ob Sie es glauben oder nicht, aber niemand will irgendetwas gemerkt haben.“

„Wäre nicht das erste Mal“, sagte der Polizist, den Mike als Joe McCarthy vorgestellt hatte. Er trug sein dunkles Haar kurz geschnitten.

„Wir müssen noch bei den Schulen der Kinder und den Arbeitsstätten der Eltern nachfragen“, ergänzte Sadie. „Dort muss irgendetwas aufgefallen sein.“

McCarthy nickte. „Das denke ich auch. Erzählen Sie uns doch von vorgestern, von der Auffindesituation. Was ist Ihnen in dem Haus aufgefallen?“

Phil ergriff wieder das Wort und Sadie hörte ihm zu, während sie versuchte, nicht zu Matt zu starren, der ihr genau gegenüber saß. Zum Glück ignorierte er sie umgekehrt ebenfalls.

„Haben Sie noch etwas zu ergänzen, Officer Scott?“, fragte schließlich Andrew Hill.

Sadie nickte sofort und hob den Ausdruck hoch, den sie vor sich abgelegt hatte. „Ja, ich glaube, dass dieser Täter das nicht zum ersten Mal gemacht hat.“

„Das dachten wir uns auch. Wie sind Sie zu diesem Schluss gekommen?“

„Er hat das kaltblütig und professionell gemacht. Das war alles durchdacht und niemand hat etwas gemerkt. Das konnte nicht das erste Mal sein. Vorhin habe ich VICAP durchsucht und einen Fall gefunden, der diesem auffällig ähnlich ist.“ Sadie überflog das Blatt und las vor, was ihr aufgefallen war.

„Sie sollten wissen, Officer Scott hat die FBI Academy absolviert“, erklärte Mike.

„Tatsächlich?“, sagte McCarthy staunend. „Das könnte durchaus nützlich sein.“

„Ich würde Sie auch sehr gern unterstützen“, sagte Sadie und spürte, wie die Röte ihr zu Kopf stieg. „Ebenso wie mein Kollege Phil Richardson, oder?“

Phil nickte sofort. „Absolut.“

„Okay“, sagte McCarthy. „Was ist mit Ihnen, Whitman?“

„Jederzeit“, erwiderte Matt achselzuckend. „Wenn ich helfen kann.“

„Sie haben schon eine Menge gesehen, das dürfte nützlich sein“, meinte Andrew Hill. An den Schläfen war er bereits ergraut. „Sonst noch jemand?“

Mike blickte ebenfalls in die Runde, aber die übrigen Kollegen winkten ab.

„Wir wollten nur mal hören, ob es schon Erkenntnisse gibt“, sagte Will. „Ich hätte Sie unterstützt, wenn Bedarf gewesen wäre, aber Richardson und Scott sind wahrscheinlich die richtigen Ansprechpartner.“

„Das denke ich auch“, stimmte Mike zu. „Ich werde natürlich auch dabei sein, aber ich denke, damit sind wir dann auch schon gut aufgestellt.“

McCarthy nickte. „Officer Scott, was war Ihr Schwerpunkt an der Academy?“

„Ich hatte schon am College Vorlesungen in Psychologie und Verhaltensforschung. Das habe ich an der Academy noch vertieft. In der Theorie weiß ich, wie man Täterprofile erstellt“, erklärte sie.

Der Kriminalpolizist nickte anerkennend. „Das ist wirklich gut und wird uns mit Sicherheit nützlich sein, vor allem, wenn Sie sagen, dass niemand den Täter gesehen hat. Ich weiß zwar vom Gerichtsmediziner, dass er DNA-Spuren sichern konnte, aber das muss uns ja nicht zwingend weiterhelfen.“

Sadie entging nicht, wie aufgeregt Phil auf einmal wirkte. Sie freute sich, dass es ihr gelungen war, ihn mit in die Ermittlungskommission zu holen. Er hatte sich doch immer so bitterlich beschwert, dass Streifendienst langweilig war. Das war jetzt vorbei.

Und Matt war auch im Team. Das konnte ja spannend werden.

„Der Gerichtsmediziner hat für den Mittag schon erste Erkenntnisse angekündigt“, sagte Andrew Hill. „Außerdem sollten wir uns um die Arbeitsstellen und die Schulen der Kinder kümmern, das stimmt. Wer übernimmt was?“

„Wir machen die Schule“, sagte Phil eifrig. Sadie nickte sofort, so dass McCarthy und Hill anboten, die Arbeitsstellen unter die Lupe zu nehmen. Matt wollte sie begleiten.

„Wir treffen uns dann wieder hier, wenn wir fertig sind“, sagte Hill. Sie standen gleich alle auf und machten sich auf den Weg zu ihren Autos. Von weitem beobachtete Sadie, wie Matt bei McCarthy einstieg. Sie nahm neben Phil im Streifenwagen Platz.

Kaum dass er die Fahrertür geschlossen hatte, begann Phil, breit in Sadies Richtung zu grinsen. „Das ist der Hammer! Danke, dass du vorhin an mich gedacht hast. Wir ermitteln in einem Mordfall!“

„Dachte mir, dass dir das gefällt“, sagte Sadie.

„Das ist Wahnsinn! Endlich passiert hier mal was.“

Sadie konnte seinen Enthusiasmus nur begrenzt teilen, aber sie wusste, warum er sich so freute. Er hatte es sich wirklich verdient.

Sie machten sich auf den Weg zum School District. In einer Kleinstadt wie Waterford mussten sie die Schule, die die Kinder besucht hatten, nicht erst ausfindig machen.

Es war gerade Pause zwischen den Schulstunden, als sie dort eintrafen und den Wagen auf dem Parkplatz abstellten. Die herumlaufenden Kinder musterten sie neugierig. Für Sadie war es wie eine Reise in die Vergangenheit, denn sie war hier selbst jahrelang zur Schule gegangen. Das war noch nicht so lang her, als dass die Schule sich sehr verändert hatte. Phil schaute sich ähnlich neugierig um. Hinter dem Schulgelände stand immer noch die Halfpipe von früher, direkt davor lag ein Teil des Sportplatzes. Das Schulgebäude selbst hatte vor einigen Jahren einen neuen Anstrich bekommen. Sadie blinzelte in die Sonne.

Als ehemalige Schüler wussten sie, wo das Sekretariat zu finden war. Selbst die Sekretärin war noch dieselbe wie zu ihrer Zeit.

„Wen haben wir denn da?“, fragte die Dame mit der akkuraten Föhnfrisur prompt. Inzwischen ging sie auf die sechzig zu.

„Guten Tag, Mrs. Bodine“, übernahm Phil die Begrüßung. „Wie geht es Ihnen?“

„Ach, die ganzen verdammten Blagen treiben einen noch in den Wahnsinn“, erwiderte sie nicht ganz ernst gemeint. „Sind Sie wegen der Bloom-Kinder hier?“

„Richtig“, erwiderte Phil.

„Was wissen Sie über das Fehlen der beiden?“ fragte Sadie.

„Nun, nicht viel, ehrlich gesagt. Gleich am ersten Morgen, als die beiden nicht erschienen sind, kam hier eine E-Mail an, unterschrieben mit dem Namen des Vaters. Darin stand, dass beide sich einen Magen-Darm-Virus eingefangen hätten und bis auf Weiteres zu Hause bleiben würden. Also nichts Ungewöhnliches eigentlich.“

„Sie lassen Entschuldigungen per Mail also gelten?“, fragte Phil.

„Bei den Eltern, die sich bei der Anmeldung der Kinder dafür entschieden haben, ja. Sie geben die Mailadresse an, die der gültige Absender sein soll und das war’s. In den allermeisten Fällen klappt das prima. Natürlich gibt es vereinzelte Schwänzer, die das System missbrauchen, aber die hat es ja immer schon gegeben. Ich hatte keinen Grund, den Inhalt dieser Mail anzuzweifeln. Deshalb traf es mich gestern wie ein Schlag, als es hieß, die Kinder seien tot.“

„Natürlich, da müssen Sie sich keinen Vorwurf machen“, sagte Sadie. „Haben Sie die Mail noch? Können Sie sie für uns ausdrucken?“

„Aber natürlich“, sagte Mrs. Bodine und setzte sich wieder an ihren Computer, um der Bitte nachzukommen. Ihre Kollegin kümmerte sich in der Zwischenzeit um die Belange einiger Schüler.

„Also hat der Täter sich Gedanken darüber gemacht“, sagte Sadie halblaut zu Phil. „Er muss den Computer der Blooms benutzt und Mails verschickt haben. Bei den Eltern hat er es bestimmt genauso gemacht.“

„Das nehme ich auch an. Damit kommt man heutzutage wohl durch.“

Mrs. Bodine kehrte zurück und reichte ihnen ein Blatt Papier. „Hier, bitte sehr. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“

„Nein, das war es schon“, sagte Phil.

Die Sekretärin zwinkerte ihnen zu. „Schön, zu sehen, wenn aus den Schülern von damals die Polizisten von heute werden. Viele Kids gehen ja weg und kommen nicht wieder. Das ist schade.“

„Hätten Sie damals gedacht, dass ich mal Polizist werde?“, fragte Phil.

„Muss ich darauf antworten?“ Mrs. Bodine lachte.

Die Schule konnte ihnen ansonsten nicht weiterhelfen, deshalb verabschiedeten Sadie und Phil sich und setzten sich mit dem Ausdruck ins Auto, um ihn gemeinsam zu studieren. Jetzt hatten sie ein Datum. Die Mail war morgens früh vor genau elf Tagen verschickt worden.

„Ist ja der Wahnsinn“, murmelte Phil. „So lang ist der Täter damit durchgekommen.“

„Das wundert mich auch“, sagte Sadie. „In dem anderen Fall, den ich vorhin entdeckt habe, hat der Täter extra die Weihnachtsferien abgewartet, um nicht so schnell entdeckt zu werden.“

„Klingt schlüssig. Warum hat er diesen Vorteil hier aufgegeben?“

„Weil er es eilig hatte. Er wollte seine Triebe sofort befriedigen“, erwiderte Sadie und studierte den Inhalt der Mail. Sie wirkte vollkommen normal, genau wie das, was man erwartet hätte. Da hätte sie auch keinen Verdacht geschöpft.

„Fertig“, sagte Phil. „Was machen wir jetzt?“

„Wir könnten im Department weiter nach ähnlichen Fällen suchen.“

„Gute Idee. Die anderen werden bestimmt noch ein Weilchen brauchen.“

Davon ging Sadie auch aus. Schweigsam blickte sie aus dem Fenster, während Phil den Wagen vom Parkplatz lenkte.

„Was ist eigentlich mit dir und Matt los?“, fragte er an der nächsten Ampel.

Irritiert sah Sadie ihn an. „Mit mir und Matt? Was soll denn los sein?“

„Na, ich meine, dass er ein Auge auf dich geworfen hat, ist ja keine Neuigkeit, aber plötzlich tut er so, als wärst du Luft für ihn.“

Ertappt senkte Sadie den Blick. „Du merkst auch alles.“

„Ich bin Polizist“, erwiderte Phil grinsend.

Sadie grinste ebenfalls kurz, wurde dann jedoch gleich wieder ernst. „Du hast noch nie etwas dazu gesagt.“

„Nein, weil es mich eigentlich nichts angeht. Aber ich gebe zu, neugierig bin ich doch. Hast du ihm eine Abfuhr gegeben?“ Er zögerte kurz. „Du musst nicht antworten.“

Aber Sadie tat es trotzdem. „Na ja ... ich wollte ihm keine Abfuhr geben. Ich kann nur nicht viel damit anfangen, wenn er mich neben dem Bett einer Toten, die auch noch in diesem Bett liegt, nach einem Date fragt.“

„Ja, das kann ich verstehen.“ Nach kurzem Zögern fügte Phil hinzu: „Mach es trotzdem.“

Fragend runzelte sie die Stirn. „Wieso?“

„Weil er gut zu dir passen würde.“

„Findest du.“ Das war keine Frage, sondern laut ausgesprochene Skepsis.

„Ja, finde ich“, erwiderte Phil und starrte stur weiter geradeaus auf die Straße.

Sadie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Phil war ihr Freund, sie fuhren nun schon so lang zusammen Streife und verstanden sich gut. Natürlich hatte er gemerkt, was los war; er war ja weder blind noch dumm. Aber sie wusste trotzdem nicht, was sie tun sollte und überlegte, ob sie das Thema bei Tessa anschneiden sollte. Nur wie?

Jetzt sprach sogar Phil sie darauf an. Jeder wunderte sich, warum sie allein war und Dates ablehnte. Sie hatte sich so sehr abgeschottet, dass sie es gar nicht in Erwägung zog. Dass ein Mann sich um sie bemühte, löste nicht viel in ihr aus. Das war doch nicht normal.

Phil lenkte den Wagen auf den Parkplatz des Departments. Als sie aus dem klimatisierten Wagen stieg, merkte Sadie erst, wie heiß es inzwischen geworden war. Gemeinsam gingen sie wieder hinein und wunderten sich nicht, als sie die anderen Ermittler dort nicht vorfanden.

„Wir wissen jetzt also, wann der Täter aufgetaucht ist“, sagte Phil und setzte sich. „Das ist zwölf Tage her. Eine ganz schöne Zeit.“

„Und er ist nicht dumm, er ist auf die Idee gekommen, jedes Familienmitglied an den Stellen zu entschuldigen, wo sie erwartet wurden – und zwar so, dass es nicht aufgefallen ist.“

„Nein, er ist wirklich nicht dumm. Aber er ist jemand, den umgekehrt auch niemand vermisst. Wenn er sich dort unbemerkt einnisten kann ... Wer würde so etwas tun?“

„Die Frage ist eher: Warum? Wenn wir das wissen, können wir auch sagen, wer es war.“

„Stimmt“, sagte Phil. „Wie hast du den anderen Fall vorhin gefunden?“

Sadie zeigte es ihm. Sie öffnete VICAP und demonstrierte ihm, auf welche Schlüsselmerkmale sie geachtet hatte. Erneut gab sie die Parameter ein und reproduzierte die Suche. Phil nickte zufrieden, als der Fall erneut auftauchte.

„Aber es ist nur der eine“, sagte er dann. „Woher wollen wir denn wissen, ob es noch mehr Fälle gibt?“

„Wir müssen die Parameter anpassen“, sagte Sadie und reduzierte um einige weitere Suchkriterien. Es reichte ihr, Familien zu finden, die in ihrem eigenen Haus ermordet aufgefunden worden waren. Die Anzahl der Familienmitglieder war ihr gleich und sie fragte auch nicht ab, nach welcher Zeit die Toten gefunden worden waren. Obwohl sie den Suchzeitraum auf die letzten zehn Jahre begrenzt hatte, erschienen erstaunlich viele Fälle.

„Ist ja irre“, staunte Phil. „Damit hätte ich nicht gerechnet.“

„Ich sehe auch, wo die ganzen Fälle herkommen“, sagte Sadie gleich. „Die aufgeklärten Fälle habe ich nicht herausgefiltert. In unserer Ergebnisliste sind jetzt auch all die Fälle, in denen Familienmitglieder die Familien ermordet haben.“

Also startete sie die Suche neu. Nun waren die Ergebnisse nicht mehr so zahlreich. Trotzdem würde da einiges auf sie zukommen. Sadie überlegte, ob es nicht Sinn machte, auf das Ergebnis der DNA-Analyse zu warten, aber man konnte ja nicht sicher sein, dass es auch in allen Fällen, die auf den Täter zurückgingen, wirklich DNA-Spuren gegeben hatte. Vielleicht war er anfangs vorsichtiger gewesen.

Sie würden ein Täterprofil brauchen, das stand für Sadie inzwischen fest. Nur wusste sie nicht, wo sie anfangen sollte. Profilerstellung? Ähnliche Fälle suchen? Auf die DNA-Ergebnisse warten? Ihr fehlte die praktische Erfahrung.

Phil nahm ihr bis dahin die Entscheidung ab. Er klickte sich durch jeden Mordfall, den VICAP auf den Bildschirm gebracht hatte, und überflog die Fälle.

„Wenn du mich fragst, sind der tote Vater und die sexuellen Übergriffe jeweils die Schlüsselelemente“, sagte er.

Sadie nickte langsam. „Das glaube ich auch. Und der Umstand, dass er irgendwann begonnen hat, bei den Familien zu wohnen. Vielleicht von Anfang an.“

„Also suche ich nach Fällen ... mit sexuellen Übergriffen.“ Phil hatte den Kopf in die Hände gestützt und murmelte gedankenversunken vor sich hin. Gleichzeitig griff Sadie nach einem Spiralblock und begann, Stichworte aufzuschreiben: Serientäter, Machtbedürfnis, Hass auf Frauen, sexuelle Aggression, ungehemmte Brutalität. Er war nicht festgelegt in seinen Mordwaffen, lebte in den Häusern der Familien, ging sorglos mit seiner DNA um, stellte sich aber ansonsten geschickt an und war bislang noch nicht erwischt worden. Das sprach für seine Intelligenz.

Aber warum dominierte und ermordete er Familien? Wie alt war er, welchen Hintergrund hatte er? Ging er noch einem Beruf nach? Hatte er seine eigene Familie verloren?

Bevor es ihr gelang, weitere Erkenntnisse aufzuschreiben, kehrten McCarthy und Matt ins Department zurück und steuerten gleich auf Sadie und Phil zu.

„Was gab’s bei Ihnen?“, fragte McCarthy.

Phil hielt den Ausdruck der E-Mail hoch. „Vor elf Tagen wurden die Kinder in der Schule per Mail entschuldigt. Also wird der Täter vor zwölf Tagen aufgetaucht sein.“

McCarthy nickte. „Das haben wir auch gerade erfahren. Wir waren in der Firma, in der Mr. Bloom gearbeitet hat. Da ging auch vor elf Tagen eine Mail ein, in der die Rede von einer Krankheit war, die die ganze Familie erwischt hat.“

„Die Daten muss der Täter ja schon von der Familie selbst erfahren oder herausgesucht haben“, murmelte Phil.

„So wird es sein. Hill wird auch gleich hier sein, schätze ich. Ich bin auch gespannt, was der Gerichtsmediziner bis jetzt zu berichten hat.“ McCarthy holte Luft. „Und was machen Sie gerade?“

„Wir suchen in VICAP nach ähnlichen Fällen“, sagte Phil.

„Ich mache mir erste Notizen zu einem möglichen Profil“, erwiderte Sadie.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739318431
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Dezember)
Schlagworte
Kleinstadt USA Profiling Zeugenschutz Kalifornien Polizistin Serienmord Familienmord Krimi Ermittlungen Psychothriller Ermittler

Autor

  • Dania Dicken (Autor:in)

Dania Dicken, Jahrgang 1985, schreibt seit ihrer Kindheit. Die in Krefeld lebende Autorin hat in Duisburg Psychologie und Informatik studiert und als Online-Redakteurin gearbeitet. Mit den Grundlagen aus dem Psychologiestudium setzte sie ein langgehegtes Vorhaben in die Tat um und schreibt seitdem Psychothriller mit Profiling als zentralem Thema.
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Titel: Die Seele des Bösen - Finstere Erinnerung