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Der Feuervogel von Istradar

von Ria Winter (Autor:in)
300 Seiten
Reihe: Feuervogel-Chronik, Band 1

Zusammenfassung

*1.Platz des tolino media Newcomerpreises 2021* Zwei Frauen auf der Suche nach einem gestohlenen Wunder ... Als Firaya beim Einbruch in die Festung von Istradar erwischt wird, rechnet sie mit dem sicheren Tod. Doch anstatt sie zu verhaften, schlägt die Gardistin Alina ihr einen Handel vor: Sie lässt Firaya davonkommen, wenn diese ihr hilft, den gestohlenen Feuervogel zu finden, dem mystische Kräfte zugeschrieben werden. Der Diebstahl des legendären Schatzes droht Istradar in einen Krieg mit dem Zaren zu stürzen, den Alina um jeden Preis verhindern will. Mit Firayas Hilfe taucht sie in die Unterwelt der Stadt ein. Doch die Frau selbst ist für Alina fast so ein großes Rätsel wie der Feuervogel. Je näher sie einander kommen, desto mehr fühlt Alina sich zu ihr hingezogen, auch wenn diese Gefühle ihre Welt auf den Kopf zu stellen drohen. Firaya hütet jedoch ein großes Geheimnis. Gibt es für die beiden eine gemeinsame Zukunft, wenn der Feuervogel den Himmel in Brand setzt?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


  

 

Besuche Ria Winter im Internet:
www.riawinter.de




Inhaltswarnungen findest du auf der letzten Seite dieses E-Books.

 

 

 

© 2020 Ria Winter


Martha Wilhelm

Am Diggen 38b

21077 Hamburg

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung der Autorin wiedergegeben werden.

 

Umschlaggestaltung: Christin Giessel, www.giessel-design.de

Lektorat: Rabea Güttler

Satz: saje design, Bonn

Karte: Amalia Zeichnerin

   

Für Anna. 


Für alle, die schon mal dachten, es sei zu spät, um etwas auszuprobieren und sich selbst neu zu entdecken. Es ist okay, nicht auf alles eine Antwort zu haben.

 


„Es sät der Schweif des Feuervogels

Den Wahn in unsres Landes Brust.

Mit dem Versprechen seines Fluges

Entfacht er eine Mordeslust.

 

Die Äcker ruhn, die Sensen schweigen,

Die Bauern starren wie entrückt.

Bis unser Fürst das Schwert ergreifet

Und dieses Biest vom Himmel pflückt …“

 

– Auszug aus „Der Tod des Feuervogels“


Kapitelzierde


Prolog

 

Den Feuervogel von Istradar zu sehen bedeutete, Wunder und Wahn zu riskieren. Zahllose Geschichten warnten davor, sich ihm zu nähern – und ebenso viele schilderten die Reichtümer und Zauberwerke, mit denen derjenige belohnt wurde, der eine seiner Federn gewann. Vor zweihundert Jahren hatte der Großfürst von Istradar der Gefahr ein Ende bereitet und das Wundertier getötet.

Doch ein Fragment seiner Macht lebte weiter …

„Keine Angst, meine geschätzten Gäste. Euer Verstand ist nicht in Gefahr.“

Großfürstin Oksana lächelte. Sie war so schön wie ein Heiligenbild und ebenso unnahbar. Die Fürsten und Fürstinnen, die aus ganz Istradar zum Empfang in den Kreml geströmt waren, hingen an jedem ihrer Worte. Einzig Fürst Vadim, der Abgesandte aus Radagrad und damit der wichtigste Gast des Tages, wandte seinen Blick nicht vom verhüllten Podest hinter der Großfürstin ab.

„Seit zwei Jahrhunderten hat niemand diesen Schatz zu Gesicht bekommen“, sagte sie. Ihre seidige Stimme trug mit Leichtigkeit durch den blühenden Innenhof, in dem sich alle versammelt hatten. „Doch heute, zu Ehren der neuen Allianz zwischen Istradar und Radagrad, will ich ihn mit euch teilen – das letzte Wunder der Welt, der Feuervogel von Istradar!“

Eigenhändig riss sie das samtene Tuch vom Podest.

Der kostbare Vogel hockte auf einer Stange, als könnte er sich jeden Moment in die Lüfte erheben. Die lebensgroße Sperberstatue war mit Gold, Diamanten, Saphiren und Onyxsteinen verziert. Der Sonnenschein fing sich in den sorgsam eingefassten Edelsteinen und ließ den Rubin auf der Stirn des Sperbers wie eine Flamme lodern.

Ein aufgeregtes Raunen ging durch die Gäste. Alle streckten sich in die Höhe, um einen Blick auf den Schatz des Großfürstentums zu erhaschen. Doch nur Fürst Vadim durfte zwischen den Wachen hindurchgehen und sich die Statue aus der Nähe ansehen. Ein seltsames Lächeln spielte über sein Gesicht.

„Juwelen und falsche Federn“, sagte er leise. „Ist das alles, was vom mächtigsten Wundertier des Landes übrig geblieben ist?“

„Oleg der Große versenkte den Kadaver in der Istra, um die Menschen für alle Zeiten vor der Raserei zu schützen, in die der Feuervogel sie trieb“, erklärte Oksana. „Aber sein Blut fiel auf diesen Rubin. Ist er nicht wundervoll? Ein angemessenes Geschenk für den Zaren von Radagrad, meint Ihr nicht?“

Vadim sagte nichts. Um das Podest herum verneigten sich die anderen Gäste vor der Statue und dem blutbefleckten Rubin. Kein anderer versuchte auch nur, sich ihm zu nähern. Oksana hielt nichts von alten Geschichten und Aberglauben, doch die versammelten Fürsten und Fürstinnen wollten nichts riskieren. Wer wusste schon, ob der Wahnsinn des Feuervogels nicht doch im Rubin überdauerte? Sein satter Glanz hatte etwas Lebendiges an sich.

Die Diebin stand unbemerkt zwischen den hohen Gästen und betrachtete ebenso wie sie das, was vom Wundertier übrig geblieben war. Sie verstand die Angst mancher Menschen vor der Macht eines wahren Wunders. Aber je länger sie diesen Rubin ansah, desto mehr kam sie zu dem Schluss, dass ihn niemand fürchten musste.

Er war wunderschön. Aber er war eine Fälschung.


Kapitelzierde


Die Diebin

 

Der öffentliche Empfang im Kreml hatte Firaya die perfekte Gelegenheit geboten, sich in die Festung einzuschleusen. Sie mischte sich einfach unter die Dienerinnen, die jeden Tag vor Sonnenaufgang am großen Rusalka-Tor darauf warteten, kontrolliert und eingelassen zu werden. Viele der üblichen Wachen waren zum Hafen abbestellt worden, um das Chaos in den Griff zu bekommen, das durch die Ankunft der zahlreichen hochstehenden Gäste entstanden war. Diejenigen, die heute am Tor Dienst hatten, waren nicht geübt darin, die Gesichter der Fremdländerinnen auseinanderzuhalten.

„Das ist Zaya“, hatte Aziza einem der Männer erklärt, als sie an der Reihe waren. Das Mädchen hatte nervös gelächelt, aber ihre Stimme klang ruhig. „Sie kann nicht so gut Zhan sprechen, aber sie hat geschickte Hände und die brauchen wir heute in der Küche.“

Firaya senkte den Blick demütig, spürte aber, wie der Wachmann sie musterte. Nachdem sie so viele Jahre in Hosen verbracht hatte, fühlte sie sich in dem schlichten Rock verletzlich und angreifbar. Sie musste sich daran erinnern, ruhig zu atmen und die Schultern nicht abwehrend hochzuziehen.

„Solange sie ihre Hände vorher gut wäscht“, sagte der Wachmann schließlich mit einem verächtlichen Schnauben. Aziza zwang ein Lachen hervor. Firaya atmete.

Ein anderer Zhan tastete sie auf Waffen ab. Firaya ließ auch das über sich ergehen. Es kam ihr gelegen, dass sie schon über dreißig Sommer zählte und kein junges Mädchen mehr war, bei dem der Wachmann beherzter zupacken mochte. So ließ er sie passieren, ohne die Dietriche und die anderen Einbruchswerkzeuge zu entdecken, die sie an der Innenseite ihrer Oberschenkel und in ihrem falschen Zopf versteckt hatte.

Der Kreml, die Festung am Ufer der Istra, beherbergte in seinen hohen Steinmauern nicht nur den Wohn- und Regierungssitz der Großfürstin, sondern auch die Verwaltung des Reiches, die Münzprägeanstalt, die Kasernen der Elitegarde der Sperber und weitere wichtige Gebäude. Die einfachen Bürger aus der Stadt am anderen Flussufer bekamen selten Zutritt zum Herz von Istradar. Firaya selbst hatte vor diesem Tag noch nie einen Fuß hineingesetzt.

Mit gesenkten Köpfen huschten sie und Aziza über die gut gepflegten Wege, an bunt verputzten Häusern und blühenden Innenhöfen vorbei. Aziza verbeugte sich vor allen Zhanka, die sie trafen. Firaya tat es ihr gleich, auch wenn sich alles in ihr dagegen sträubte. Aber hier und heute war die Herablassung der Zhanka gegenüber allen Fremdländern ihr größter Vorteil. Als eine unscheinbare Batyr im Dienstrock war sie innerhalb dieser Mauern so gut wie unsichtbar.

Der Glockenturm verkündete die frühe Stunde. Die Großfürstin und ihre Gäste waren vermutlich noch im Bett, aber im Rest des Kreml brach mit den ersten Sonnenstrahlen eine große Betriebsamkeit aus. Aziza führte Firaya schnurstracks in die Hauptküche, wo sie sich in den nächsten Stunden bedeckt halten sollte.

Die Küchenfrauen bedachten sie mit neugierigen Blicken, aber niemand sprach sie an. Aziza hatte ihnen eine ähnliche Geschichte erzählt wie dem Wachmann am Tor: Firaya sei eine Freundin, die dringend Arbeit brauche. Dass sie angeblich kein Zhan sprach, wunderte niemanden. Im Gegensatz zu den Wachmännern konnten sie sehr wohl Fremdländer auseinanderhalten und erkannten Firaya als Angehörige der Batyr – eines Volkes, das seine Steppe nur selten und nie für lange verließ. Aber zumindest hier spielte ihre Herkunft keine Rolle. An einem Tag wie diesem gab es für alle mehr als genug zu tun.

Es gefiel Firaya, die Wartezeit mit dem Scheuern von Pfannen und Töpfen zu verbringen, während das vielsprachige Geschnatter um sie herum wogte. Die Gesprächsfetzen in Genn oder Tarak fühlten sich vertrauter an als die harten Silben der Zhanka.

„Meint ihr, wir kriegen ihn zu Gesicht?“, fragte eine mehlbestäubte Genn ihre Freundinnen.

„Er ist verflucht“, zischte eine von ihnen. „Jeder, der ihn ansieht, verliert auf der Stelle den Verstand!“

„Erzähl keinen Unsinn! Dann wäre doch die Großfürstin längst dem Wahnsinn verfallen. Und warum sollte der Zar ihn haben wollen, wenn er verflucht ist?“

„Wenn es Unsinn ist, warum hat Oleg der Große ihn dann damals getötet?“

„Damals war er vielleicht eine Gefahr, aber heute doch nicht mehr. Oder hast du auch Angst davor, dass dich das gebratene Hähnchen zu Tode pickt?“

Gelächter lief durch die Reihe der Mädchen. Auch Firaya musste schmunzeln.

„Ich will ihn trotzdem nicht sehen“, sagte das zweite Mädchen stur. „Zweihundert Jahre alte Knochen gehören auf den Friedhof, nicht auf ein Podest.“

„Wir wissen nicht einmal, ob es Knochen sind“, mischte Aziza sich ein, während sie mit resoluter Miene Teig knetete. „Niemand weiß, wie er aussieht, das macht es ja so spannend! Ich geh auf jeden Fall hin. Wann werden wir sonst wieder die Chance haben, den Feuervogel zu sehen?“

Firaya rieb sich geistesabwesend über die tätowierten Kranichfedern auf ihrem Handgelenk. Auch in ihrem Volk gab es viele Geschichten über den Feuervogel. Sie war nicht wegen des Reichsschatzes hier, aber sie musste sich eingestehen, dass sie neugierig war. Vielleicht würde sie einen Blick auf das Wundertier erhaschen können – oder zumindest auf das, was von ihm übrig war, ob nun alte Knochen oder ein blutiges Bündel Federn.

Für einen Moment lauschte Firaya in sich hinein und ließ den Atem in ihrer Brust kreisen. Sie war so ruhig wie die Oberfläche der Istra bei Nacht. Das Einzige, was ihr Sorgen bereitete, war Aziza. Das Mädchen war keine der erfahreneren Nachtigallen und immer noch sichtlich nervös über ihre Rolle als Menschenschmugglerin. Aber das musste Firaya in Kauf nehmen, dafür, dass niemand ihr Tun hinterfragte oder Details zu ihrem Auftrag wissen wollte. Sie hatte die Fragen in Azizas Augen gelesen, aber je weniger das junge Mädchen eingeweiht war, desto geringer die Gefahr – für sie beide. Weder die Sperber noch Latifa und die restlichen Nachtigallen durften je erfahren, dass Firaya heute hier gewesen war.

Die Sonne stand schon über den Kreml-Mauern, als der Empfang offiziell eröffnet wurde. Aziza überredete das ängstliche Küchenmädchen dazu, Firaya an ihrer Stelle das Essen auftragen zu lassen. So musste sie ihr Verschwinden aus der Küche nicht erklären. Und wenn sie erst mal so tief in den Kreml vorgedrungen war, konnte sie sich endlich an die Arbeit machen.

Der Empfang fand im Fliederhof statt, einem großen Innenhof zwischen dem Audienzhaus und einigen Verwaltungsgebäuden. Blühende Hecken umgaben den Hof, der mit Flieder- und Lindenbäumen durchsetzt war. Im Schatten der Bäume standen Holzbänke, auf denen die Gäste essen, reden und den süßen Duft genießen konnten. Ein Musiker entlockte den Saiten seiner flügelförmigen Gusli beschwingte Töne.

Die Gäste stolzierten in Seidentaft und Brokat umher wie bunte Vögel. Die Sommersonne glänzte auf perlenbestickten Ärmeln und Kragen. Alles, was in der Stadt und im Umland Rang und Namen hatte, war gekommen, um die neue Allianz zwischen Istradar und Radagrad zu feiern und dabei auch einen Blick auf den Feuervogel zu erhaschen.

„Welcher davon ist der Fürst aus Radagrad?“, fragte Firaya Aziza leise, während sie sich mit einem halben Dutzend anderer Küchenfrauen vorsichtig einen Weg zu den langen Speisetischen bahnten.

„Der mit dem Ebereschewappen.“ Aziza nickte in Richtung einer Gruppe, die sich um einen Mann in purpurnem Kaftan versammelt hatte. „Fürst Vadim, die rechte Hand des Zaren. Ihm gehört die große Strug im Hafen. Damit fahren sie nach dem Lindenfest wieder zurück nach Radagrad.“

Firaya riskierte einen Blick in die Richtung des Fürsten und prägte sich für alle Fälle sein Gesicht ein. Sein Schiff hatte sie bereits vom Fluss aus ausgekundschaftet – eine prächtig geschmückte Strug unter schwerer Bewachung. Zu gut bewacht, um sich für ihr Vorhaben an Bord zu schleichen. So viel sie auch im Kreml riskierte, hier waren ihre Chancen besser.

Doch anstatt den nächsten Teil ihres Plans auszuführen, verharrte Firaya unentschlossen.

„Siehst du die Großfürstin?“, fragte sie Aziza, während sie frischen Kwas aus einem Krug in aufgereihte Tonbecher goss. Aziza reichte die vollen Becher an vorbeigehende Gäste und verbeugte sich. Der Blick ihrer flinken dunklen Augen huschte durch die Menge.

„Ja, dort drüben – oh, ich glaube, sie enthüllt gleich den Feuervogel!“

Ihr aufgeregter Tonfall ließ Firaya aufsehen. In der Mitte des Hofs, sorgfältig von Lindenpollen befreit, erhob sich ein Podest. Vier Sperber standen darum verteilt, aber die Wachen waren nicht nötig: Die Menschen hielten von selbst Abstand und warfen nur verstohlene Blicke auf den verhüllten Schatz. Wie den Küchenmädchen gingen auch ihnen wohl die alten Schauergeschichten durch den Kopf. Von ihrer Position aus konnte Firaya nicht viel erkennen, aber zwischen den bunten Kleidern der Gäste blitzten Kettenrüstungen hervor: die Leibwache der Großfürstin. Und in ihrer Mitte, über die Helme hinausragend, entdeckte Firaya die Spitzen eines hohen Kopfschmucks.

Kurzerhand stellte sie einige gefüllte Becher auf ein Tablett und stieß Aziza mit der Hüfte an. Das Mädchen weitete erschrocken die Augen, folgte ihr dann aber tiefer ins Getümmel hinein.

Die Gäste beachteten sie kaum, auch wenn sie ab und zu nach einem Becher Kwas griffen. Alle zog es in Richtung des Podests, um einen Blick auf den Feuervogel zu erhaschen. Firaya schnappte Bruchstücke von Unterhaltungen auf. Wenn Sperber in der Nähe waren, hörte sie nur Lob über die Klugheit der Großfürstin, die diese wertvolle Allianz geschmiedet hatte. Sobald die Elitegarde der Großfürstin weitergezogen war, klangen die Gespräche auf einmal ganz anders.

„Sie ist nicht einmal aus Istradar. Ich verstehe nicht, warum der Zar eine Hexe aus Konsk gegen den rechtmäßigen Throninhaber unterstützt.“

„Weil sie ihm alles gibt, was er haben will – sogar den Reichsschatz! Und sieh nur, wie sie dem Abgesandten schöne Augen macht. Er genießt bestimmt eine ganz besondere Gastfreundschaft.“

„Ha, nicht bei ihr! Oksana liegt doch nur bei Frauen. Ihre Garde besteht nicht durch Zufall nur aus lauter hübschen Weibern …“

Firaya und Aziza waren gerade an den zwei Fürsten vorbei, die dieses Gespräch führten, als der Wortwechsel abrupt abbrach. Als Firaya einen Blick zurückwarf, sah sie, dass ein Sperber neben den beiden aufgetaucht war. Die Gardistin hatte in der Tat ein hübsches Gesicht, das in diesem Moment aber in einem eisigen Ausdruck erstarrt war.

„Ich bitte Euch, mir zu folgen, meine Herren. Kommandantin Sima wird sehr daran interessiert sein, Eure Meinung über die Großfürstin zu hören.“

Hatten die Männer eben noch über Oksana gesprochen wie über eine läufige Hündin, so spiegelte sich nun Entsetzen in ihren Mienen. Firaya verfolgte nicht weiter mit, wie sie ihre Unschuld beteuerten, rechnete ihnen aber keine großen Chancen aus. Oksana ging mit harter Hand gegen solche Schwätzer vor. Seit sie vor fünf Jahren ihren Ehemann gestürzt und aus der Stadt gejagt hatte, war das Reich gespalten zwischen ihren Anhängern und der treuen Gefolgschaft des Großfürsten. Kasimir hatte sich in die ihm ergebenen westlichen Landesteile zurückgezogen, immer wieder kam es zu Gefechten. Umso wichtiger war der Großfürstin nun das Bündnis mit dem Zaren, um ihre Macht zu festigen.

Firayas Schritte wurden langsamer, als sie dorthin kamen, wo sich die meisten Gäste drängten. Sie nutzte die Gelegenheit und belauschte weitere Gespräche. Deswegen war sie zwar nicht hier, aber es war gut zu wissen, wer Oksanas Herrschaft in Frage stellte. Irgendwann stieß Aziza ihr unauffällig einen Ellbogen in die Seite. Das Mädchen starrte in Richtung des Podests. Zwischen ihnen und den bewaffneten Leibwächterinnen standen noch Reihen von Fürsten und Fürstinnen, aber endlich hatte Firaya einen guten Blick auf die Frau, deren eiserner Wille sie alle hier versammelt hatte: die Großfürstin.

Oksana war eine ungewöhnlich große Frau und gab eine imposante Gestalt ab in ihrer goldbestickten Brokatrobe, auf der sich Sperber und Hecht jagten – die Wappentiere von Istradar. Sie ging schon auf ihr dreißigstes Lebensjahr zu, doch die gepuderten Wangen und die schwarz nachgezogenen Augenbrauen verliehen ihrem Gesicht eine jugendliche Frische. Ihr Haar, das in Zöpfen rund um ihren hohen Kopfschmuck geflochten war, schimmerte wie poliertes Kupfer. Es war in Istradar bei Leibesstrafe verboten, sich die Haare rot zu färben, um der Großfürstin nachzueifern, aber die Zhan-Mädchen in der Stadt zerrieben trotzdem Blätter des Hennastrauchs und färbten ihr Haar damit, das sie dann stolz unter ihren Kopftüchern trugen.

Hexe, Thronräuberin, Männerhasserin – im Volk hatte Oksana viele hässliche Namen. Doch ebenso groß wie die Missgunst war auch die Verehrung, die ihr zuteilwurde, vor allem von den Frauen im Kreml, die unter der Herrschaft von Oksanas Ehemann gelitten hatten. Und dann waren da natürlich noch die Sperber, die ihr ergeben bis zum Tod waren.

Firaya sah die Herrscherin zum ersten Mal leibhaftig vor sich. Und der Hass, der in ihrer Brust aufschäumte, drohte für einen Moment, die glatte Oberfläche ihrer Gefühle in einen tobenden Fluss zu verwandeln.

„Senk deine Augen!“, zischte Aziza neben ihr und Firaya gehorchte instinktiv. Sie spürte einen prüfenden Blick in ihrem Nacken. Ihr ganzer Körper spannte sich an.

Doch niemand näherte sich oder rief Befehle, sie zu ergreifen. Es schien, dass ihre wahren Gefühle immer noch ihr Geheimnis waren. Als Firaya vorsichtig wieder hochsah, hatte die Großfürstin zu reden begonnen und niemand beachtete die beiden Dienerinnen in der Menge. Aziza stieß einen erleichterten Atemzug aus.

„… das letzte Wunder der Welt, der Feuervogel von Istradar!“, verkündete die Großfürstin und enthüllte mit einer eleganten Geste den Schatz.

Aziza schnappte nach Luft. Doch das satte Leuchten des Rubins beeindruckte Firaya nicht sonderlich. So viel Geflüster, so viel Rätselraten um den Feuervogel und nun das. Keine Knochen. Kein Bündel Federn. Bloß ein blutbeflecktes Juwel als Schmuck einer Statue.

Dann fiel ihr etwas anderes auf. Unwillkürlich trat sie einen Schritt vor und ignorierte, dass Aziza sie am Arm zurückzuhalten versuchte.

Firaya hatte sich nicht wegen des Feuervogels in den Kreml geschlichen. Aber nun schien ihr das Schicksal genau das zu präsentieren, wonach sie seit Jahren suchte – eine Möglichkeit, die Großfürstin zu vernichten.


Kapitelzierde


Der falsche Schatz

 

„Ich habe etwas anderes erwartet“, kommentierte Aziza leise. „Der Rubin ist sehr schön, aber er wirkt nicht gerade wie einem Märchen entsprungen.“

Kein Wunder, dachte Firaya. Er ist ja nicht einmal echt.

Aziza und sie hatten sich unauffällig aus der Menge ums Podest entfernt, doch Firayas Gedanken kreisten weiterhin darum.

„Was ist denn?“, fragte das Mädchen besorgt.

„Er wurde wirklich gestohlen“, murmelte Firaya. „Es war nicht bloß ein Gerücht.“

„Was? Wovon redest du?“

„Vom Feuervogel.“

Aziza runzelte die Stirn. „Aber hier ist er doch!“

Aber er war es nicht. Nachdem Firaya den Edelstein genauer betrachtet hatte, war sie sich sicher. Es war ein kostbarer Stein, keine Frage, aber er konnte damals nicht mit dem Blut des Feuervogels in Berührung gekommen sein. Die Großfürstin hatte gelogen.

Als Firaya nichts weiter sagte, zog Aziza sie mit sich in den Schatten der Bäume. Firaya ließ es zu. Ihre Gedanken überschlugen sich.

Oksana hatte den Feuervogel zum Pfand ihrer Allianz mit Radagrad gemacht. Der Zar war bekannt dafür, alles zu sammeln, was von den Wundertieren und Geisterwesen übrig geblieben war, die einst das Zhan-Reich durchstreift hatten. Es war kein Geheimnis, dass erst der Feuervogel ihn dazu bewogen hatte, sich mit Oksana und nicht mit ihrem Ehemann zu verbünden.

Als vor einigen Wochen Gerüchte aus dem Kreml sickerten, dass der Feuervogel gestohlen worden sei, fürchteten alle um die junge Allianz. Aber Firaya hatte nicht an den Diebstahl geglaubt. Die Einzigen, die den Kreml herauszufordern wagten, waren die Nachtigallen und Firaya war sich sicher, dass es keine von ihnen gewesen war. Und als dann der Kreml diesen Empfang und die offizielle Präsentation des Schatzes verkünden ließ, schienen die Gerüchte endgültig als Lügen entlarvt.

Doch nun sah es ganz anders aus.

Wusste der Abgesandte des Zaren, dass der ausgestellte Rubin nicht der Feuervogel war? Hatte Oksana einen Diebstahl – hier, im Herzen des Kreml – befürchtet und ihn deswegen für den Empfang durch eine Fälschung ersetzt? Oder war er tatsächlich gestohlen worden und sie hoffte, alle mit dem falschen Stein zu täuschen?

In dem Fall würde es vermutlich genügen, Radagrad darauf aufmerksam zu machen, damit das neue Bündnis zerfiel und Oksana in Ungnade gestürzt wurde …

Gerade als Firaya ihren Auftrag überdenken wollte, begegnete sie dem Blick eines Sperbers.

Es war kein Mitglied von Oksanas Leibwache, sondern die Gardistin, die zuvor die beiden Fürsten zurechtgewiesen hatte. Von den beiden war nichts mehr zu sehen, aber die Frau starrte Firaya unverwandt mit dem gleichen kalten Gesichtsausdruck an wie zuvor die Männer.

Ohne Aziza darauf aufmerksam zu machen, führte Firaya sie weg von der Gardistin und tiefer in die Menschenmenge hinein. Alle Fragen und neuen Ideen flogen ihr aus dem Kopf. Sie würde ihren Auftrag erfüllen und dann verschwinden. Das Rätsel um den Feuervogel hatte sie vergessen lassen, wie gefährlich es im Kreml war. Sie musste ausnutzen, dass im Moment niemand auf sie achtete.

„Welches ist das Haus der Hafenverwaltung?“, fragte sie Aziza leise.

„Das neben der Banja – da, siehst du den Dampf?“

Firaya folgte ihrem Blick. Hinter den Fliederbäumen erhoben sich einige Holzbauten, von denen weißer Dampf aufstieg, der den Geruch nach Kräutern mit sich brachte. Selbst an einem Tag wie diesem war jemand dafür zuständig, die Öfen des Badehauses zu heizen.

„Danke.“ Firaya legte eine Hand auf Azizas Arm und drückte ihn kurz. „Geh jetzt zurück in die Küche und bleib dort.“

„Bist du dir sicher? Brauchst du nicht noch jemanden, der dir den Rücken freihält?“

„Du hast schon genug für mich getan. Ich möchte dich nicht weiter in Gefahr bringen. Geh jetzt, na los. Und kein Wort zu den anderen, ja?“

Aziza musterte sie zweifelnd. Sie wusste nur wenig über Firayas Auftrag, aber ihr Vertrauen in die Nachtigallen hielt sie davon ab, Fragen zu stellen. Firaya hoffte bloß, dass sie wirklich den Mund über ihren Alleingang halten würde. Wenn Latifa davon erfuhr, würde sie ihr die Haut vom Leib ziehen.

Schließlich nickte Aziza, flüsterte: „Viel Glück“, und huschte davon.

Allein fühlte sich Firaya gleich unauffälliger, auch wenn von ihnen beiden sie hier der Eindringling war. Aziza hatte das Tablett mitgenommen, aber Firaya wand sich weiter zielstrebig zwischen den Gästen hindurch. Hoffentlich würde die misstrauische Gardistin nur das sehen, was auch alle anderen sahen – eine unscheinbare Fremdländerin, die ihrer Arbeit nachging.

Das Verwaltungshaus lag ruhig vor ihr. Auch wenn in einigen Räumen noch gearbeitet wurde, wusste Firaya, dass die Schreibstube des Hafenmeisters leer sein würde – sie hatte den Mann eben erst mit seiner Gattin im Garten gesehen. Sie ging an einer weiteren Wache vorbei, die sie keines Blickes würdigte, und ließ wenige Schritte später die Geräuschkulisse des Empfangs hinter sich.

In der Eingangshalle brannten Lampen, aber es war niemand zu sehen. Mehrere Korridore, aus denen gedämpfte Stimmen drangen, führten tiefer ins Gebäude hinein. Bis auf einige Stühle für Boten und Bittsteller gab es keine Einrichtung. An der Wand gegenüber dem Eingang waren riesige Hechtköpfe angebracht, die Firaya stumpf anstarrten. Sie starrte unbeeindruckt zurück.

In einer Ecke lehnte ein Besen, den Firaya kurzerhand an sich nahm. Ohne Eile fing sie an, sich durch den kargen Raum zu fegen. Ein Mann in den einfachen Kleidern eines Schreibers durchquerte die Halle, ohne ihr mehr als einen flüchtigen Blick zu widmen. Obwohl es helllichter Tag und der Kreml voller Wachen war, fühlte Firaya sich so unsichtbar wie sonst nur auf ihren nächtlichen Streifzügen.

Aziza hatte ihr in groben Zügen den Grundriss des Gebäudes beschrieben, aber auch sie wusste nicht genau, wo die Schreibstube des Hafenmeisters lag. Firaya lauschte auf die Stimmen und wählte dann den größten Korridor, der von der Eingangshalle fortführte und völlig still dalag. Fast lautlos bewegte sie sich über die Holzdielen, den Besen immer noch in der Hand.

Hier hingen dicke Teppiche an den Wänden. Viele zeigten den blauen Bogen der Istra, an dem die Hauptstadt von Istradar errichtet worden war, manchmal mit stilisierten Darstellungen von Rusalkas, den Wassergeistern, die die Fürsten von Istradar bei der Gründung der Stadt aus dem Fluss vertrieben hatten. In der Sicherheit ihrer eigenen vier Wände behaupteten manche, dass Oksana halb Rusalka sei, mit ihrem roten Haar und dem weißen Gesicht.

Die Tür am Ende des Korridors war größer und massiver als die anderen. Unter dem Hecht-und-Sperber-Wappen war ein Anker ins Holz graviert. Firaya griff in den Ausschnitt ihrer Tunika und ertastete einen ihrer Dietriche.

„Was tust du hier?“

Unauffällig zog Firaya die Hand wieder zurück. Ihr Herz schlug schneller. Die Gardistin. Offenbar hatte Firaya ihr Misstrauen doch nicht besänftigen können.

„Putzen?“ Sie drehte sich langsam um und hielt den Besen in die Höhe. „Ich putzen hier?“

Die Gardistin musterte sie stirnrunzelnd. Wie alle Sperber trug sie ihre weizenblonden Haare in einem Kranz um den Kopf geflochten, doch die Bänder, die sie hindurchgezogen hatte, waren grün und braun – die Farbe ihrer Augen –, nicht das Istra-Blau, das die anderen Gardistinnen bevorzugten. Ihre Kettenrüstung rasselte leise, als sie auf Firaya zukam. Eine Schärpe mit dem Hecht-und-Sperber lag quer über ihrer Brust.

„Eben noch hast du auf dem Empfang bedient. Küchenfrauen haben hier nichts zu suchen.“ Sie hatte eine tiefe Stimme für eine Zhan, leicht rau und befehlsgewohnt. „Wie ist dein Name?“

„Zaya, Herrin.“ Firaya bezweifelte, dass die Gardistin jede einzelne Dienerin im Kreml kannte. Noch hoffte Firaya, dass sie sie mit ein paar Worten ablenken konnte.

Die Augen der Gardistin verengten sich und machten diese Hoffnung zunichte. Verspätet erinnerte Firaya sich daran, den Kopf zu senken.

„Du hast dich nicht vor dem Feuervogel verneigt“, sagte die Gardistin scharf. „Und du hast die Großfürstin angestarrt. Wieso?“

Die Frau stand jetzt direkt vor ihr. Sie war vielleicht zehn Jahre jünger als Firaya, einen halben Kopf größer und kräftiger gebaut. An ihrer Hüfte trug sie ein Schwert. Firaya umklammerte den Besen fester, als könnte sie damit im Notfall tatsächlich eine Klinge abwehren.

„Ich putzen hier?“, wiederholte sie in einem unsicheren Tonfall und übertrieb ihren Akzent fast bis zur Lächerlichkeit. Sie war unwichtig. Ungefährlich. Unsichtbar …

Die Hand der Gardistin schloss sich fest um ihren Arm.

„Komm mit.“

Firaya stieß mit dem Besenstiel nach den Beinen der Gardistin, sodass diese überrascht aufächzte und sie losließ. Im selben Atemzug stemmte Firaya sich nach vorne und drückte sie mit dem Reisigende des Besens gegen die Wand. Unfähig, ihr Schwert zu ziehen, konnte die Frau nur wütend zischen. Als Firaya von ihr abließ und losrannte, griff der Sperber nach dem langen Zopf, der über Firayas Rücken hing.

„Bleib stehen!“

Ein Ruck und schon hatte die Gardistin die braune Perücke in der Hand, die Firaya über ihr kurzgeschorenes Haar gestülpt hatte. Sie nutzte die Verblüffung ihres Gegenübers aus, um den Korridor hinunterzusprinten.

In der Halle fiel ihr Blick wieder auf die großen Hechtköpfe an der Wand. Sie holte mit dem Besen aus und stieß einen von ihnen herunter, sodass er der Gardistin vor die Füße fiel, als sie aus dem Korridor stürmte. Die Frau stolperte und stürzte fast. Firaya schlug ihr den Besenstiel gegen den Kopf. Mit einem dumpfen Ächzen brach die Gardistin zusammen.

Firaya wartete nicht darauf, dass sie das Bewusstsein wiedererlangte. Sie ließ den Besen fallen und floh nach draußen. Hastig zog sie ein schlichtes Tuch aus ihrer Rocktasche und band es sich um ihren Kopf, um die kurzgeschorenen Haare zu verbergen, die keine anständige Frau so trug. Ihr Herz raste wie das eines gehetzten Tiers.

Sie holte tief Luft. Sie brauchte wieder die Ruhe des Flusses. Er würde sie sicher aus dem Kreml hinaustragen. Die Erinnerung an das Rauschen der Istra umschloss sie wie eine tröstende Umarmung. Entschieden schob Firaya den Ärmel ihres Hemdes wieder über ihr Handgelenk, wo der Griff der Gardistin noch auf ihrer Haut zu brennen schien.

Nachdem sich ihr Herz beruhigt hatte und ihr Gesicht nichts mehr verriet, mischte sie sich wieder unter die Menschen. Ihr Auftrag war ruiniert, aber sie versuchte nicht, weitere Informationen zu sammeln. Das Wichtigste war es jetzt, die Mauern des Kreml zu verlassen, bevor die Sperber sich auf sie stürzten.

Als sie sich Richtung Rusalka-Tor davonmachte, verdrängte sie den Gedanken an grüne und braune Haarbänder und daran, dass sie ein Niemand hätte sein sollen. Ein Schatten. Ein Teil des Hintergrunds. Eine Fremdländerin unter vielen. Und doch …

Und doch hatte die Gardistin sie bemerkt.


Kapitelzierde


Unruhige Wogen

 

Den nächsten Tag verbrachte Firaya auf dem Fluss. Der Empfang im Kreml hatte sie mehr aufgewühlt, als sie erwartet hatte. Es war eine Sache, ihre Identität für einen Abend abzulegen, um als Nachtigall Einbrüche zu begehen, aber eine völlig andere, sich willentlich auf das zu reduzieren, was die meisten Zhanka sowieso in ihr sahen: eine namenlose Fremdländerin, eine dreckige Pferdefresserin, kaum besser als Lastvieh. Wie sie die Augen demütig gesenkt gehalten hatte, wie die Sperber über sie hinweggesehen hatten, wie sie ihren Akzent dick und schwerfällig auf ihre Zunge geträufelt hatte – all das kratzte mehr als die Perücke, die sie der Gardistin als Pfand zurückgelassen hatte.

Während ihre Gedanken rastlos schäumten, blieb die Istra um sie herum ruhig und ungerührt. Der Fluss strömte durch Istradar, ohne sich um politische Intrigen und persönliche Konflikte zu kümmern. Am liebsten wäre Firaya allein in ihrem Einbaum über das dunkle Wasser geglitten, aber wenn sie gerade nicht als Nachtigall unterwegs war, verdiente sie sich ihr Geld als Fährfrau. Im Sommer drängten sich die Schiffe im Hafen und die Menschen, die sich den Weg über die einzige Brücke nicht leisten konnten, standen Schlange, um mit den Fähren zwischen der Stadt und dem Kreml überzusetzen. So verbrachte Firaya den Tag damit, Händler und Besucher in ihrem breiten Floß über den Fluss zu bringen. Zumindest musste sie dabei nicht viel reden. Das vertraute Rauschen des Flusses glättete die Wogen in ihrer Brust.

Abends nahm sie auf dem Weg zur Tarak-Hütte einen Umweg über den Markt und kaufte eine frisch gebackene Honigschnecke. Sie atmete den süßen Duft ein, der sich bis in ihre Zehen zu ziehen schien, und wickelte das Gebäck dann sorgfältig in ein sauberes Tuch, damit der Honig nicht an ihren Fingern kleben blieb.

Um sie herum nahm die Strömung des Stadtlebens langsam ab. Die Straßen leerten sich, als die Bauern mit ihren Karren wieder auf ihre Höfe außerhalb der Stadt zurückfuhren und die Handwerker und Kaufleute zu ihren Familien heimkehrten. Die Abenddämmerung war Firayas liebste Tageszeit – in den blauen Stunden vor Anbruch der Nacht schien alles möglich.

In der Tarak-Hütte fing das Leben gerade erst an. Die ersten Gäste saßen bereits im Schankraum und löffelten ihren Lammeintopf oder tranken Bier. Durch die Tür zur Küche sah Firaya Timurs breite Schultern, der gerade in einem großen Kessel rührte und ihr bloß kurz zunickte. Janka stand am Ausschank, nicht zu übersehen mit ihrer hellen Zhan-Haut. Obwohl das Mädchen erst seit zwei Monaten für Timur arbeitete, zapfte sie mit einer solchen Selbstverständlichkeit Bier, als hätte sie noch nie etwas anderes gemacht. Als sie Firaya sah, winkte sie ihr hektisch zu.

„Oh, da bist du ja!“ Einzelne braune Locken lugten unter Jankas Kopftuch hervor und ließen ihr kantiges Gesicht weicher erscheinen. Sorge schimmerte in ihren großen grünen Augen, als sie sich über den Tresen beugte. „Ein Sperber sucht dich“, flüsterte sie. „Sie hat nach dir gefragt und ich hab gesagt, ich kenne dich nicht, aber sie hat mit den Fährleuten gesprochen und die haben ihr Timurs Namen genannt und er musste sie reinlassen –“

Firaya hatte Jankas Redeschwall geduldig abgewartet, während sich in ihrem Magen ein Knoten immer fester zuzuziehen schien, aber nun unterbrach sie das Mädchen.

„Reinlassen? Sie ist hier?“

„Ja, oben, in deinem Zimmer.“ Janka biss sich auf die Unterlippe und sah zu Boden. „Es tut mir leid. Ich wollte sie da nicht allein lassen, aber sie hat mich rausgeworfen …“

Firaya legte eine Hand auf Jankas Schulter und das Mädchen verstummte.

„Du musst dich nicht entschuldigen. Danke für die Warnung.“ Sie reichte Janka die Honigschnecke. „Iss sie, solange sie noch warm ist.“

Jankas dankbares Lächeln begleitete sie auf dem Weg durch den Schankraum zur Wendeltreppe auf der anderen Seite. Die Ruhe, die der Tag auf dem Fluss und das vertraute Gewicht des Abends in ihr hinterlassen hatten, war wie weggespült. Vielleicht waren ihr die Sperber gestern doch unbemerkt gefolgt, vielleicht hatten sie von Firayas Plänen erfahren – oder aber sie waren hinter den Nachtigallen her. Keine dieser Möglichkeiten ließ ihre Zukunft rosig erscheinen.

An der Treppe zögerte sie. Noch konnte sie umdrehen und weglaufen, untertauchen, die Stadt verlassen. Aber nach all den Jahren, die sie in Istradar ums Überleben gekämpft hatte, konnte sie sich nicht vorstellen, ihr Leben hier einfach so aufzugeben. Und wer würde ihren Auftrag zu Ende bringen, wenn sie die Flucht ergriff?

Die Tür zu ihrer Kammer unter dem Dach stand einen Spaltbreit offen. Als Firaya eintrat, fiel ihr Blick als Erstes auf die alte Truhe, in der sie ihre Habseligkeiten aufbewahrte und die nun sperrangelweit offen stand. Ihre Hemden und das rote Kleid, das sie seit Jahren nicht mehr getragen hatte, lagen achtlos auf dem Boden. Die bunten Kissen, auf denen sie schlief, waren überall im Zimmer verstreut. Auf einem davon lag demonstrativ die braunhaarige Perücke.

„Die Nachtigall kehrt in ihr Nest zurück.“ Die Gardistin löste sich von dem Fenster, das die Straße vor der Tarak-Hütte überblickte. Statt des blauen Festumhangs trug sie nun einen schlichten braunen Kaftan über ihrer Rüstung, aber mit dem Schwert an ihrer Seite und ihrem durchdringenden Blick wirkte sie nicht weniger bedrohlich als im Kreml. „Firaya.“ Sie sprach den Namen langsam aus, Silbe für Silbe. Verächtlich. „Eine Dienerin, eine Fährfrau, eine Diebin – du hast viele Gesichter. Welches ist dein wahres?“

Firaya blieb an der Tür stehen und wartete ab. Sie hatte nicht vor, sich einschüchtern zu lassen, schon gar nicht in ihrem eigenen Zuhause.

Die Gardistin runzelte die Stirn, als ihr klar wurde, dass Firaya nicht antworten würde.

„Stellst du dich jetzt stumm? Oder tust du wieder so, als könntest du mich nicht verstehen?“ Sie ging noch einen Schritt auf Firaya zu und sah auf sie herunter. „Erwartest du tatsächlich, dass ich diesmal auf deine Lügen hereinfalle, wenn es dir schon gestern nicht gelungen ist, mich zu täuschen?“

„Ich erwarte, dass Ihr mir erklärt, wer Ihr seid und warum Ihr in mein Zimmer eingebrochen seid“, sagte Firaya kühl. „Und dass Ihr, wenn Ihr schon hier seid, Eure Schuhe auszieht.“

Ihre Direktheit traf die Gardistin sichtbar unvorbereitet. Ihre Augen verengten sich und sie verschränkte die Arme.

„Ich bin Alina von den Sperbern“, sagte sie scharf. „Und ich habe jedes Recht, hier zu sein: Du bist eine Nachtigall!“

„Bin ich das?“

„Halt mich nicht zum Narren!“ Sie hielt Firaya eine filigrane Kette entgegen, an der mehrere flache Goldscheiben hingen. „Ich habe dein Versteck gefunden! Wenn die Fährleute auf der Istra so gut bezahlt werden, sollte ich vielleicht den Beruf wechseln!“

„Das solltet Ihr vielleicht.“ Firayas Stimme war weiterhin ruhig und gefasst, obwohl sich ihr Herz beim Anblick der Kette schmerzhaft zusammenzog. „Das ist mein Hochzeitsschmuck. Meine Familie hatte seit meiner Geburt Geld beiseitegelegt und ihn für meine Hochzeit anfertigen lassen.“ Sie streckte fordernd die Hand aus. „Ich will ihn wiederhaben.“

Ehe Firaya reagieren konnte, hatte Alina nach ihrem Arm gegriffen und den Ärmel ihres Hemdes hochgeschoben.

„Wusste ich doch, dass ich es gestern richtig gesehen habe – du trägst ihr Zeichen auf der Haut!“ Die tätowierten Federn auf der dunklen Haut ihres Handgelenks waren von vielen Tagen in der Sonne verblasst, aber dennoch gut zu erkennen. „Sind das etwa nicht die Federn einer Nachtigall?“

Firaya schnaubte.

„Vom Mitglied einer Garde, die sich die Sperber nennt, hätte ich bessere Vogelkenntnisse erwartet“, sagte sie trocken. „Habt Ihr schon mal eine Nachtigall gesehen?“

Alina presste die Lippen zusammen und ließ Firayas Arm los. Die Kette klimperte leise in ihren Fingern.

„Oh, und ob ich schon mal eine Nachtigall gesehen habe“, sagte sie frostig. „Aziza ist ihr Name, richtig? Das kleine Küchenmädchen?“

Ein eiskalter Schauder lief Firayas Rücken herunter. Sie schlüpfte aus ihren Schuhen, schob sich an Alina vorbei ins Zimmer und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Der vertraute Lärm aus der Tarak-Hütte ebbte ab.

„Aziza ist ein halbes Kind“, sagte sie gepresst. „Lasst sie da raus.“

„Sie hat wissentlich eine Verbrecherin in den Kreml geschmuggelt“, gab Alina zurück. „Sie ist alt genug, um Verantwortung für ihre Taten zu übernehmen.“

Firaya sah Azizas nervöses Gesicht vor ihrem inneren Auge. Das Mädchen war so aufgeregt gewesen, einer anderen Nachtigall helfen zu können.

„Ist sie noch am Leben?“, fragte sie rau.

„Ja, aber das hat sie nicht dir zu verdanken!“ Alina musterte Firaya geringschätzig. „Dachtest du, ich hätte sie beim Empfang nicht an deiner Seite gesehen? Oder ist sie dir so egal? Sehr loyal scheint sie nicht zu sein. Sie hatte so große Angst, dass sie deinen Namen verraten hat, noch bevor ich sie richtig verhören musste.“

Wenn Latifa an Firayas Stelle gewesen wäre, hätte sie Aziza für ihren Verrat verflucht. Nachtigallen hielten zusammen. Aber Firaya konnte nicht wütend auf das Mädchen sein. Dafür waren ihre Schuldgefühle zu groß.

Alina beobachtete Firayas Reaktion und hob ihre geschwungenen Augenbrauen. „Aber wenn du jetzt sagst, dass du doch keine Nachtigall bist, hat sie mich offenbar angelogen. Dann muss ich sie mir wohl doch noch mal vornehmen …“

„Was willst du von mir?“ Firaya ließ die höfliche Anrede fallen; eine Frau, die einem Kind mit Folter drohte, verdiente keinen Respekt. Alina zuckte mit keiner Wimper.

„Ich will wissen, warum du im Kreml warst. Was hattest du im Verwaltungsgebäude zu suchen? Wolltest du in die Schreibstube des Hafenmeisters einbrechen?“

„Was wollen Diebe denn üblicherweise?“, gab Firaya zurück. „Ich habe den Hafenmeister auf dem Empfang bemerkt und eine Chance gesehen.“

„Eine Chance, ihn zu bestehlen?“

„So gut werden Fährdienste nun mal nicht bezahlt.“ Firaya ließ sich von Alinas scharfem Tonfall nicht beeindrucken. „Ist das alles?“

„Nein. Was weißt du über den Feuervogel?“

Alinas bohrendem Blick schien keine ihrer Reaktionen, kein Muskelzucken zu entgehen. Firaya versuchte, nach außen hin ruhig zu bleiben, während sie sich innerlich anspannte wie ein Jagdhund, der die Witterung seiner Beute aufgenommen hatte. Also doch Diebstahl. Sonst gäbe es keinen Grund, danach zu fragen. Was bedeutete das für das Bündnis zwischen Oksana und dem Zaren?

„Die Nachtigallen haben ihn nicht gestohlen“, sagte sie wahrheitsgemäß.

„Woher weißt du dann, dass er überhaupt fort ist?“, fragte Alina scharf.

„Das erzählt man sich auf der Straße seit Wochen“, gab Firaya zurück. Ihre Gedanken rasten. „Ist das nicht der Grund, warum die Großfürstin jetzt der Öffentlichkeit diesen falschen Rubin präsentiert hat? Um die Gerüchte Lügen zu strafen?“

Triumph blitzte in Alinas Augen auf.

„Woher weißt du, dass der Rubin falsch ist, wenn die Nachtigallen den echten nicht gestohlen haben?“

Wenn die Sperber noch die Nachtigallen im Verdacht hatten, war die Spur des wahren Diebes längst erkaltet. Vermutlich hatte er die Stadt schon verlassen. Aber wer außer den Nachtigallen verfügte über die nötigen Fähigkeiten und Ressourcen, um die Schatzkammer des Reiches zu plündern?

Firaya wandte sich ab, damit Alina ihr ihre Gedanken nicht ansah. Sie machte sich daran, die verstreute Kleidung auf dem Boden wieder einzusammeln.

„Es hat gereicht, ihn mir anzusehen“, antwortete sie, ohne Alina anzuschauen. „Der Feuervogel soll sich seit zwei Jahrhunderten im Besitz der Großfürstenfamilie von Istradar befinden, aber der Rubin in dieser Sperberfigur ist auf eine Art geschliffen, die erst seit ein paar Jahrzehnten angewandt wird. Über diese Technik verfügten sie damals noch nicht. Er ist wertvoll, ja, aber nicht das, wofür er ausgegeben wird.“

Firaya erwartete lautstarken Protest, aber als sie sich wieder umdrehte, musterte Alina sie mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck.

„Hast du dich deswegen nicht davor verbeugt?“

„Ich hätte mich auch nicht davor verbeugt, wenn er echt gewesen wäre. Sie nennen diesen Schatz zwar den Feuervogel, aber er ist bloß ein blutbeflecktes Andenken an eine Schandtat. Die Großfürsten von Istradar haben das letzte Wundertier getötet, das dieses Land noch hatte. Mördern zolle ich keinen Respekt.“

„Als ob ihr Nachtigallen nicht genauso morden wie rauben würdet!“

Firaya leugnete es nicht. Sie nahm nicht gern Leben, zögerte aber nicht, falls es nötig wurde.

„Wir foltern keine Kinder“, gab sie zurück. „Etwas, das die Sperber offenbar nicht von sich behaupten können.“

Alina schien nicht zu wissen, was sie darauf erwidern sollte. Firaya nutzte den Moment, um ihrerseits die Gardistin genauer zu mustern. Etwas an diesem Gespräch hatte sie die ganze Zeit gestört und jetzt erst kam sie darauf, was es war.

„Wieso bist du allein hergekommen?“, fragte sie übergangslos. „Wenn du dir so sicher bist, dass die Nachtigallen hinter dem Diebstahl stecken, wieso bist du nicht mit der ganzen Garde angerückt, um mich zu verhaften?“

Das entzündete Alinas Temperament aufs Neue.

„Ich brauche nicht die ganze Garde, um eine einzige Diebin zu verhaften!“

„Aber du verhaftest mich nicht“, stellte Firaya fest. „Du bist eigens hier hochgekommen, um unbeobachtet mit mir zu reden. Warum?“

Alina presste die Lippen zusammen. Ihre Hand streifte den Schwertknauf, aber die Bewegung wirkte nicht drohend, eher geistesabwesend, als würde die Frau das Gefühl der Sicherheit suchen, das ihr die Klinge gab.

Du redest hier“, sagte sie schließlich, ohne auf Firayas Frage einzugehen. „Und zwar viel. Kannst du mir auch nur einen Beweis dafür liefern, dass du den Feuervogel nicht gestohlen hast?“

Firaya hätte gern gewusst, ob Alina jeden Einwohner in der Stadt befragen wollte oder nur Batyr, die ihr zufällig ins Kreuzfeuer geraten waren. Aber sie sah die wachsende Rastlosigkeit der anderen Frau und beschloss, fürs Erste mitzuspielen. Irgendetwas hielt den Sperber davon ab, Firaya auf der Stelle zu verhaften, aber sie durfte diesen Vorteil nicht ausreizen, wenn sie nicht wollte, dass ihr die Fragen stattdessen im Kerker gestellt wurden.

Und Alina bedrohte immer noch Aziza. Die Vorstellung, dass das Mädchen ihretwegen leiden musste, saß wie ein giftiger Pfeil in Firayas Brust.

„Wann wurde der Feuervogel gestohlen?“, fragte sie.

Alina trommelte mit den Fingern gegen den Fenstersims und schien abzuwägen, wie viel sie Firaya verraten konnte.

„Vor zwei Monaten“, sagte sie schließlich. „Am Shom-Tag.“

Firaya erinnerte sich. Lebhaft.

Sie ging zu den Sitzkissen hinüber und hob die Perücke auf, die Alina dort achtlos hingeworfen hatte. Mit vorsichtigen Fingern strich sie durch das braune Haar; es war echt und die Perücke entsprechend wertvoll. Die Einbruchswerkzeuge, die Firaya darin versteckt hatte, hatte die Gardistin offenbar gefunden und entfernt.

„Hat es dir wieder die Sprache verschlagen?“, fragte Alina ungeduldig.

„Ich habe den Feuervogel nicht gestohlen“, sagte Firaya. „Frag Warwara, die Heilerin. An dem Abend habe ich ein verletztes Mädchen zu ihr gebracht. Ich bin die ganze Nacht bei ihr geblieben.“

Alinas Stimme blieb skeptisch.

„Eine Zeugin? Das kommt dir ja äußerst gelegen.“

Firaya drehte sich abrupt um.

„Du wolltest einen Beweis für meine Unschuld – da hast du ihn. Wenn du mich nicht verhaftest, dann kannst du jetzt gehen. Ich habe einen langen Tag hinter mir und muss dank dir noch mein Zimmer aufräumen.“

Alinas Gesicht verzerrte sich vor Wut. Im nächsten Augenblick hatte sie Firaya gegen die Wand gepresst und drückte ihr mit dem Unterarm den Atem ab.

„Du wirst mir jetzt gut zuhören, Nachtigall“, zischte sie. „Der einzige Grund, aus dem du nicht im Verlies angekettet und noch im Besitz beider Hände bist, ist, dass du für mich nützlich sein könntest. Ich habe dich dabei erwischt, wie du unter falschem Namen im Kreml umhergeschlichen bist. Ich habe dein Diebeswerkzeug beschlagnahmt. Dein Küchenmädchen hat einen Eid geleistet, dass du eine Nachtigall bist. Dein Leben und deine Freiheit gehören mir, verstanden?“

Das Blut rauschte in Firayas Ohren. Der Druck in ihren Lungen drohte, ihren Brustkorb zu sprengen. Sie konnte nicht von Alinas wütenden grünen Augen wegsehen. Stachelbeergrün.

Firaya nickte.

Alina ließ sie noch einen Moment vergeblich um Luft ringen und zog dann abrupt ihren Arm zurück. Firaya sackte in sich zusammen und schnappte nach Atem. Dunkelheit drohte sie zu überwältigen.

„Ich werde mit der Heilerin reden“, sagte Alina. Ihre Stimme schien von weit weg zu kommen. „Aber selbst wenn sie deine Geschichte bestätigt, kann sie nicht für jede einzelne Nachtigall bürgen. Also wirst du für mich herumfragen. Finde heraus, was sie wissen.“

Wie absurd. Ein Teil von Firaya wollte darüber lachen, dass Alina sich die Nachtigallen offenbar so vorstellte wie eine Handwerkervereinigung, in der alle Mitglieder einander kannten. Aber die Belustigung versickerte in ihr, kaum dass sie aufgekommen war. Die Gardistin meinte es ernst.

Firaya richtete sich auf und musterte Alinas hübsches rundes Zhan-Gesicht, die Grübchen in ihren Wangen, ihre ausdrucksvollen Augen. Auf der Straße, in gewöhnlicher Kleidung, wäre sie nur eine schöne junge Frau, die Firaya aufgefallen wäre. Jetzt war sie einer von Oksanas Sperbern, ein erbarmungsloser Raubvogel, dessen Schatten auf das kleine Stück Leben gefallen war, das Firaya sich in der Fremde aufgebaut hatte.

Die großmütige Ruhe des Flusses schien mit einem Mal weit entfernt.

„Ich werde sehen, was ich herausfinden kann“, sagte sie. Ihre Stimme krächzte.

„Gut. Als Pfand werde ich die hier erst mal mitnehmen.“ Alina schüttelte die Kette, die sie während der ganzen Auseinandersetzung in der Hand behalten hatte. „Und wenn ich herausfinde, dass du mich angelogen hast, sprechen wir uns das nächste Mal in einer Zelle!“

Sie stieß die Tür auf und Firaya hörte sie die Treppe hinunterstampfen. Kurz darauf beobachtete sie die Gardistin aus dem Fenster, bis sie in der Dämmerung verschwunden war.


Kapitelzierde


Allein im dunklen Wald

 

Noch in derselben Nacht suchte Firaya Latifa auf. Unbescholtene Frauen lagen um diese Zeit längst im Bett und umarmten ihre Träume, doch für Nachtigallen fing die Arbeit nach Sonnenuntergang erst an.

Latifa war ebenso wie Firaya eine der Gründerinnen der Nachtigallen. Damals hatten sie und einige andere Frauen sich zusammengeschlossen, um reiche Kaufleute zu bestehlen. Es war Latifas Idee gewesen, Nachtigallenfedern am Ort des Diebstahls zu streuen und das Gerücht zu verbreiten, dass die Töchter des legendären Räubers Nachtigall in Istradar ihr Unwesen trieben. Die Zhanka liebten eine gute Geschichte, noch dazu, wenn sie mit einer Prise Aberglauben gewürzt war.

Inzwischen waren die Nachtigallen so berühmt-berüchtigt, dass Kaufleute sie manchmal anheuerten, um ihre Rivalen auszurauben. Unter dem Namen verbargen sich aber sehr unterschiedliche Frauen, die nur selten Kontakt zueinander hatten. Latifa hatte es in den letzten Jahren übernommen, das lose Netzwerk zu organisieren und darüber zu wachen, wer diesen Namen benutzte. Und für was. Deswegen zog sich Firaya nach Alinas Besuch um und machte sich auf den Weg zu ihr.

In ihrem Einbaum überquerte sie leise und unbemerkt die Istra. Diesmal war allerdings nicht der Hafen ihr Ziel, sondern das dicht bewaldete Ufer südlich von Olegs Tor. Der Wald gehörte der Großfürstin, niemandem aus der Stadt war es erlaubt, dort zu jagen oder auch nur Pilze zu sammeln. Umso befriedigender fand Firaya es, dass die Nachtigallen hier ein und aus gingen, als wäre es ihr Reich.

An der gut verborgenen kleinen Anlegestelle nahm Firaya eine abdeckbare Laterne an sich und tauchte in die tiefen Schatten zwischen den Bäumen ein. Ihre Anspannung, die auf dem Fluss etwas abgeebbt war, kehrte zurück. Egal wie oft sie den Wald betrat, wohl fühlte sie sich hier nie. Zu sehr schlossen die Birken, Eichen und Buchen sie ein wie hohe Mauern. Bald sperrten die Baumkronen sogar das Sternenlicht aus. Nein, Firaya brauchte Luft zum Atmen und einen offenen Horizont, wo sie jeden sehen konnte, der sich ihr näherte. Hier meinte sie, aus allen Richtungen verborgene Blicke auf sich zu spüren.

Ein Gefühl, das sich zu bewahrheiten schien, als aus der Dunkelheit ein hohes, rhythmisches Pfeifen drang. Firaya blieb stehen und gab einen flötenden Ton zurück. Ein weiteres Licht erblühte in den Büschen.

„Wirst du verfolgt?“ Latifa hielt sich nicht mit Höflichkeiten auf. Die Hand, die nicht die Laterne hielt, umfasste einen krummen Säbel.

„Nein, kein Grund zur Sorge. Ich bin allein.“

Latifa senkte den Säbel, spähte aber noch einen Moment lang prüfend an Firaya vorbei.

„Es ist immer ein Grund zur Sorge, wenn du freiwillig den Wald betrittst“, sagte sie. „Mach deine Laterne aus und komm.“

Firaya gehorchte. Latifa war eine kleine Frau mit bronzefarbener Haut, die auf den ersten Blick niemand für die Anführerin der Nachtigallen halten würde. Einzig der Säbel an ihrer Seite schien eine mögliche Gefahr zu bedeuten. Doch schaute man genauer hin, ließen ihr durchdringender Blick und ihre befehlsgewohnte Haltung erahnen, dass sich hinter der harmlosen Fassade weitaus mehr verbarg, was Anlass zur Sorge geben konnte.

Sie erreichten eine hohe Eiche, und als Latifa ihre Laterne hochhielt, wurde eine Spechthöhle sichtbar. Latifa leuchtete hinein und zog ein kleines Säckchen heraus.

„Amiras Beute von letzter Nacht“, sagte sie und warf einen kurzen Blick hinein. Firaya sah einige Onyxsteine. „Dafür werde ich bei Galima einen guten Preis aushandeln.“

Latifa legte ein Büschel rötlich brauner Federn in die Höhle – Nachtigallfedern für Amiras nächsten Raubzug. In der Stadt durften keine mehr verkauft oder als Schmuck getragen werden, jeder, der mit einer solchen Feder erwischt wurde, wurde verhaftet. Hätte Firaya welche aufbewahrt, hätte Alina Azizas Aussage nicht gebraucht, um sie wegzusperren. Firaya konnte noch immer kaum glauben, dass das nicht die Absicht des Sperbers war.

„Latifa, weißt du etwas über den Feuervogel?“, fragte sie übergangslos.

Die Genn sah sie stirnrunzelnd an.

„Ich habe gestern gehört, dass er ein Rubin ist, ein blutiges Geschenk für den Zaren.“ Sie verzog spöttisch den Mund. „Daran merkst du, dass jemandem die Macht zu Kopf steigt – wenn er sich bei der Wahl seiner politischen Allianzen danach richtet, wer ihm das hübscheste Juwel für seine Sammlung liefern kann.“

„Du weißt ganz genau, dass es nicht nur um das Juwel geht.“ Es war ein langer Tag gewesen und Firaya konnte nicht vermeiden, dass sich etwas Schärfe in ihre Stimme stahl. „Sie hat ihm einen Anteil an allem versprochen, was sie im Osten erobert, wenn er ihr den Rücken freihält.“

Latifa seufzte. Das war nicht das erste Gespräch, das sie über die Allianz zwischen Oksana und dem Zaren führten.

„Du kannst nichts für dein Volk tun, Firaya. Wenn die Hechtfürstin den Osten mit Krieg überziehen will, wird sie es tun. Die Batyr sind doch Nomaden, oder? Sie können Istradars Truppen einfach aus dem Weg gehen. Es ist besser, wenn die Soldaten in der Steppe kämpfen statt vor unserer Haustür.“

Firaya war froh darum, dass das Licht von Latifas Laterne nicht weit reichte. Sie waren schon lange Partnerinnen, sogar Freundinnen, aber in diesem Moment verriet Firayas Gesicht vermutlich mehr Wut, als ihre gemeinsame Zeit aufwiegen konnte. Für die Zhanka mochten alle Fremdländer gleich sein, doch Firaya spürte die Unterschiede jeden Tag. Die Heimat der Gennka lag weit entfernt am Meer, nicht einmal der Zar würde daran denken, die Hand nach diesem wohlhabenden Reich auszustrecken. Doch die Nomadenstämme in der östlichen Steppe galten bloß als unzivilisierte Horden, die keinen Schutz als den des Himmels genossen. Ihr Schicksal wurde in den Festungen und Palästen von hohen Fürsten entschieden, die willkürliche Linien auf einer Landkarte zogen.

Für Latifa war die Hauptstadt von Istradar ihr Zuhause. Ganz gleich, wie sehr sie Oksana hasste, sie zog die Herrschaft der Großfürstin dem Bürgerkrieg vor, den ihr gestürzter Ehemann in Istradar entfesseln wollte. Deswegen befürwortete sie Oksanas Bündnis mit dem Zaren. Aber selbst als Verstoßene ihres eigenen Volkes konnte Firaya nicht anders, als an ihre Heimat zu denken.

Doch hier war weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt für ihre Wut. Sorgfältig faltete sie ihre stürmischen Gefühle zusammen und verbarg sie in einer geheimen Kammer ihres Herzens. Sollten sie ihr von dort aus Wärme und Kraft spenden. Aber sie durfte sich jetzt nicht ablenken lassen.

„Der Feuervogel wurde gestohlen“, sagte sie.

„Gestohlen?“, wiederholte Latifa erstaunt. „Das war mehr als ein Gerücht?“

„Es ist wahr. Er ist am Shom-Tag aus der Schatzkammer des Kreml verschwunden.“

Latifa hob die Laterne höher, um Firaya genauer zu betrachten. Bei jeder anderen hätte sie nachgebohrt und die Quelle ihrer Informationen in Erfahrung bringen wollen. Aber sie wussten beide, dass sie seit Langem eigene Wege beschritten und Geheimnisse voreinander hüteten. Latifa hakte nicht nach, genauso wenig wie Firaya fragte, wer der Vater ihrer Tochter war.

„Was für ein Pech für die Hechtfürstin“, sagte Latifa spöttisch. „Dann muss sie sich wohl etwas anderes einfallen lassen, um den Zaren auf ihre Seite zu ziehen. Ich bezweifle sehr, dass sie ein Bündnis zwischen Radagrad und ihrem verstoßenen Gemahl zulassen wird.“

„Wohl kaum.“ Doch Firaya wollte nicht über Kasimir sprechen. Sie musste sich vergewissern. „Haben die Nachtigallen etwas mit dem Diebstahl zu tun?“

Latifa lachte auf.

„Der Fluss hat deinen Verstand weggespült“, sagte sie. „Was sollten wir mit dem Schatz von Istradar anfangen? Wem sollten wir ihn verkaufen? Jeder, der seinen Wert erkennt, kennt auch seine Geschichte – und weiß von Oksanas Rachsucht. Sein Besitz ist eine Einladung für einen schmerzhaften Tod.“

Es war möglich, dass sie log, aber Firaya hielt es nicht für wahrscheinlich. Latifa war eine stolze Frau und maß dem Können der Nachtigallen ein hohes Gewicht bei. Wenn sie oder eine der anderen tatsächlich den Weg in die Schatzkammer des Kreml gefunden hätte, hätte sie diesen Triumph selbst in der Stadt verbreitet – allein schon, um Oksana zu demütigen.

„Dann ist dieser Dieb genauso eine Legende wie der Feuervogel.“ Nachdenklich fuhr Firaya sich über den Kopf. Ihre Haare wurden länger, sie musste sie bald wieder scheren.

„In dieser Stadt sterben Legenden schnell“, sagte Latifa pragmatisch. Ihr eindringlicher Blick ließ Firaya nicht los. „Steckst du in Schwierigkeiten?“

Die Versuchung, ihr die ganze Wahrheit zu erzählen, verschloss Firaya für einen Moment den Hals. Früher hatten sie all ihre Sorgen und Ängste miteinander geteilt. In der schwierigsten Zeit, als sie die Nachtigallen gerade gegründet hatten und der Tod am Ende jeder Nacht lauerte, war diese unerwartete Kameradschaft der einzige Lichtblick gewesen. Nun würde die Wahrheit alles zerstören, was Latifa und sie noch verband.

„Du kennst mich doch“, sagte Firaya mit einem schmalen Lächeln. „Ich bin immer vorsichtig.“

Sie wechselten nicht mehr viele Worte miteinander. Die Nacht war kurz und wartete auf niemanden. Latifa setzte ihren Weg fort und nahm das Licht ihrer Laterne mit sich. Firaya blieb ganz allein im dunklen Wald zurück.


Kapitelzierde


Der Klang der Heimat

 

„Du musst aus der Stadt verschwinden“, sagte Timur am nächsten Morgen, nachdem Firaya das, was sich mit Alina zugetragen hatte, zusammengefasst hatte. „Du kannst auf dem Bauernhof von Manja und Tosha unterkommen, sie schulden mir noch einen Gefallen.“

Sie saßen im Hinterzimmer der Tarak-Hütte zusammen. Es war noch früh genug am Tag, dass Timur sich nicht um die Taverne kümmern musste. Er nutzte das Sonnenlicht, das durchs geöffnete Fenster einfiel, um einen Riss in einem seiner Hemden zu nähen. Er brauchte immer eine Beschäftigung für seine Hände. Firaya wusste, dass er ihr trotzdem genau zugehört hatte.

„Wenn ich verschwinde, wird sie sich Aziza oder dich und Janka vornehmen“, sagte sie. „Du weißt, wie die Sperber sind.“

Timur biss den Faden ab und betrachtete einen Moment lang sein Werk. Sein dunkles Gesicht war verschlossen.

„Wenn sie einmal Krallen in dein Leben geschlagen haben, lassen sie nicht wieder los“, sagte er, ohne Firaya anzusehen.

Sie seufzte und ließ den Blick durch das Zimmer wandern, in dem sie so viele glückliche Stunden verbracht hatte. Auf der gepolsterten Bank, auf der sie jetzt saß, aßen Timur und sie seit Jahren gemeinsam zu Abend. Seit Janka da war, spielten sie auch zusammen Karten. Auf dem Tisch stand wie üblich dampfender Tee und verströmte belebenden Kräuterduft. Janka nahm am liebsten im Sessel an der Feuerstelle Platz und legte ihre schmerzenden Füße hoch, während Timur auf seiner Kurai, der Flöte der Steppe, spielte. An der Wand hing Timurs gewebter Teppich mit Versen aus der heiligen Schrift der Tarak – neben der Flöte das Einzige, was er noch von seiner Heimat besaß.

Seit über fünfzehn Jahren lebte Firaya nun in Istradar. Fast ihr halbes Leben lang. Das hier, dieser Raum mit diesen zwei Menschen, war ihr Zuhause. Wohin sollte sie gehen, wenn sie sich von den Sperbern fortjagen ließ?

„Ich habe auch Krallen“, sagte sie schließlich und griff nach ihrer Teetasse. „Und dieser Sperber hat etwas zu verbergen. Ich muss nur herausfinden, was es ist.“

Timur legte das Hemd beiseite und räumte das Nähzeug weg. Nadel und Faden wirkten winzig in seinen breiten Händen. In seiner Jugend hatte er als Bogenschütze Wettbewerbe gewonnen. Nach seinen Jahren in der Mine hatte er seine frühere Stärke nie ganz wiedererlangt.

„Glaubst du Latifa, dass die Nachtigallen nichts damit zu tun haben?“, fragte er.

Firaya nahm einen Schluck Tee und ließ sich die Frage durch den Kopf gehen.

„Ich denke, dass sie die Wahrheit gesagt hat. Die Ausbeute wäre das Risiko nicht wert. Es gibt genug andere Edelsteine in der Stadt.“

„Aber keinen anderen mit dem Blut eines angeblichen Wundertieres“, gab Timur zu bedenken.

„Wenn man den Geschichten glaubt, hat dieses Blut nur Zerstörung angerichtet. Diese Kraft ist nichts für Menschen.“

Timur drehte sich von ihr weg, um die Kurai von ihrem Ehrenplatz an der Wand herunterzuholen.

„Falls es sie überhaupt je gegeben hat.“

Hätte er Firaya in diesem Moment in die Augen gesehen, hätte er diese Bemerkung vermutlich für sich behalten. Nach zehn Jahren der Freundschaft waren sie geübt darin, jene Unterschiede zwischen ihren Völkern zu überspielen, die in der Vergangenheit so oft zu blutigen Konflikten zwischen Batyr und Tarak geführt hatten. Doch ab und an stießen sie dennoch an die Grenze, die ihre unterschiedliche Herkunft zwischen ihnen zog.

Für die Tarak war der Feuervogel nur eine Geschichte, erzählt von abergläubischen Barbaren, die noch den Mond und den Wind anbeteten. Für die Batyr war er das Mächtigste der Wundertiere gewesen, das geheime Herz der Welt. Timurs achtlos hingeworfene Bemerkung hätte ausgereicht, damit Firayas Vater sein Messer zog. Firaya hingegen beobachtete nur Timurs Hände, die von den Narben aus seiner Zeit in der Mine gezeichnet waren, und bewunderte, wie behutsam er die Finger um die lange Flöte legte.

„So oder so ist der echte Rubin fort und ich weiß nicht, wer ihn gestohlen hat“, sagte sie.

Timur tippte sacht gegen die sechs Grifflöcher der Kurai. Dann warf er Firaya ein seltenes spitzbübisches Lächeln zu.

„Vergiss den Rubin. Vielleicht ist der wahre Schatz eine Schatulle mit Kasimirs Eiern“, schlug er vor.

Firaya lächelte zurück. „Die verliert Oksana nicht so schnell.“

Einen Moment lang herrschte ein geselliges Schweigen zwischen ihnen. Firaya trank ihren Tee, während Timur geistesabwesend die Flöte in seinen Fingern drehte. Wenn die Abende lang und hell waren und sie beide die Grasfelder und Flüsse ihrer östlichen Heimat vermissten, spielte er ihr manchmal darauf vor. Heute war Firayas Kopf zu voll, um Platz für die wehmütigen Töne und die noch wehmütigeren Erinnerungen zu haben. Timur schien es ebenso zu gehen. Schließlich legte er die Kurai beiseite, ohne einen Ton gespielt zu haben.

„Du musst diesen Sperber loswerden.“

Obwohl die Bedrohung ihr nur zu bewusst war, musste Firaya lächeln. Auf Timurs Pragmatismus war Verlass. Er war genauso wenig in Istradar geboren wie sie, aber er hatte sich hier sein Leben eingerichtet – seine eigene Taverne, seine Freunde aus der Heimat, mit denen er abends Tarak-Gesänge grölen konnte, seinen Tee, den er selbst mischte. Manchmal beneidete sie ihn um seine Bodenständigkeit. Ihr selbst war es noch nie leichtgefallen, Wurzeln zu schlagen.

„Sie wird mir nicht einfach so glauben, wenn ich sage, dass die Nachtigallen nichts damit zu tun haben.“

„Sie wird dir gar nichts glauben. Deswegen sage ich ja, dass du untertauchen solltest.“

Firaya atmete den würzigen Duft des Tees ein und nahm noch einen Schluck, um Zeit zu gewinnen. Der Kräutergeschmack kleidete ihren Rachen aus. Sie konnte Timur nichts von dem anderen Grund erzählen, aus dem sie in Istradar bleiben musste. Er würde ihre Beweggründe genauso wenig verstehen wie Latifa. Aber etwas anderes würde er nachvollziehen können.

„Sie hat meinen Hochzeitsschmuck“, sagte sie.

Timur sog scharf den Atem ein. Der Hochzeitsschmuck war nicht nur das Einzige, was Firaya von ihrer Familie geblieben war, er war auch die einzige Erinnerung an ihren Ehemann. Die Vorstellung, dass Alina die Kette achtlos in irgendeine Ecke geworfen hatte oder einschmelzen ließ, wrang Firayas Herz aus wie nasse Wäsche.

Bevor Timur etwas sagen konnte, erklang von draußen ein dumpfes Stampfen. Sie blickten beide zur Tür.

„Wurde auch Zeit“, murmelte er und stand auf.

Die Tür öffnete sich und Janka manövrierte sich auf ihren Krücken ins Haus. Ein Schwall heißer Luft begleitete sie.

„Es geht ihr gut“, sagte sie statt einer Begrüßung zu Firaya. „Ich hab mit ihrer Mutter gesprochen – sie richtet dir übrigens warme Grüße aus, Timur – und sie hat erzählt, dass Aziza gestern völlig verängstigt nach Hause gekommen ist. Sie schaut sich jetzt nach einer neuen Arbeit um. Aber dein Sperber hat ihr wohl kein Haar gekrümmt.“

Mit einem schweren Seufzen ließ sie sich auf die Kleidertruhe nahe der Tür fallen und rieb sich die Unterschenkel unter ihrem langen Rock. Der Marktplatz, auf dem Azizas Mutter Felle feilbot, war nicht weit von der Tarak-Hütte entfernt, aber jeder Schritt bereitete Janka Schmerzen. Firaya hatte sie nicht in der Hitze losschicken wollen, aber das Mädchen war nicht davon abzubringen gewesen. Unter anderen Umständen wäre Firaya selbst gegangen, aber sie wollte Azizas Familie nicht noch weiter in Gefahr bringen, indem sie mit ihr gesehen wurde.

Timur reichte Janka seine Tasse mit dem inzwischen abgekühlten Tee. Sie verzog wie immer das Gesicht, nahm aber einen großen Schluck. Ihre Wangen waren gerötet, aber Firaya dachte nicht, dass das nur an der Sonne lag.

„Wie geht es Danil denn?“, fragte sie wie beiläufig. Jankas Gesicht lief noch röter an und sie drückte ihre Nase gegen die Tasse.

„Er war zu beschäftigt, um mit mir zu reden“, murmelte sie.

„Wenn man ein hübscher junger Mann ist, ist man immer beschäftigt“, kommentierte Firaya und handelte sich einen finsteren Blick von Janka ein.

„Weißt du, wer heute auch sehr beschäftigt war?“, fragte sie und fuhr fort, ehe Firaya antworten konnte: „Dein Sperber. Sie war bei Warwara und hat nach dir gefragt.“

Firaya nickte, nicht überrascht.

„Gut. Ich hoffe, sie hat Warwara nicht wehgetan?“

Janka verzog den Mund.

„Sie hat ihr Angst gemacht, aber mehr nicht. Zumindest noch nicht.“

Sie gab Timur den Becher zurück und löste ihr Kopftuch. Ihre Locken gingen ihr bis unters Kinn, aber es würde noch eine Weile dauern, bis sie sie zu einem Zopf flechten konnte. Firaya hatte ihr einmal angeboten, ihr eine Perücke zu besorgen, aber Janka war entsetzt zurückgewichen. Unter den Zhanka war es verpönt, totes Haar zu tragen.

„Du kannst froh sein, dass sie dich nicht verhaftet hat.“ Janka musterte Firaya finster. „Ich verstehe nicht, wie du so dumm sein konntest, dich in den Kreml zu schleichen. War es das wert? Bloß weil du eine Nachtigall bist, hast du noch lange keine Flügel!“

„Ich weiß, was ich tue“, sagte Firaya ruhig.

„Offenbar nicht!“ Jankas Stimme überschlug sich. Sie brach ab und biss sich auf die Unterlippe. Die Röte in ihrem Gesicht machte einer kränklichen Blässe Platz. „Sie wird dich verhaften und in den Kerker werfen und dann kommst du nie wieder raus“, sagte sie rau.

Timur legte eine Hand auf ihre Schulter. Firaya sagte nichts. Sie wusste selbst, in welche Gefahr sie sich selbst und ihre kleine Familie brachte. Aber es gab Dinge, die wichtiger waren als das Schicksal von Einzelnen. Sie musste herausfinden, wer den Feuervogel gestohlen hatte – und warum. Nicht für Alina, sondern für diese neue Chance, Zwietracht zwischen Istradar und Radagrad zu säen. Firayas Leben war nicht wichtig. Sie musste an das größere Muster denken.

Außerdem hatte sie immer noch einen Auftrag zu erledigen. Und Alina konnte ihr Weg in den Kreml sein.

„Ich weiß, was ich tue“, sagte sie noch einmal. Dann wechselte sie abrupt das Thema: „Im Gegensatz zu Timur. Hast du schon gesehen, was er mit seinem Hemd gemacht hat?“

Jankas Kopf flog hoch. Anklagend kreuzte ihr Blick Timurs.

„Ich habe doch gesagt, dass ich mich darum kümmere!“

„Ich flicke seit zwanzig Jahren meine eigenen Hemden …“

„Und das sieht man ihnen auch an!“ Sie griff nach ihren Krücken und humpelte entschlossen zur Sitzbank hinüber. „Firaya, sitz nicht so rum, spiel was!“

Firaya blickte auf die Kurai auf dem Tisch vor sich. Die lange, helle Flöte sah so aus wie die, die ihr Vater gespielt hatte. Aber die Grifflöcher waren bei Timur weiter auseinander, er hatte sie nach seinen eigenen Fingern abgemessen. Der Anblick erfüllte Firaya mit Trauer und Sehnsucht, wie jeden Abend.

„Nicht heute“, sagte sie, wie jeden Abend. Die Erinnerungen wogen zu schwer.

Außerdem hatte sie keine Zeit für die Vergangenheit. Die Zukunft erforderte ihre ganze Aufmerksamkeit.


Kapitelzierde


Das Lächeln

 

Alina glaubte an viele Dinge – an das Schwert in ihrer Hand, an die Heilwirkung von täglichen Besuchen der Banja, an die Erdenmutter und an Oksana –, aber vor allem glaubte sie an ihre Fähigkeit, Menschen zu durchschauen. Wie oft hatten Edik oder Nadja vergeblich versucht, sie beim Kartenspielen hereinzulegen? Wie oft hatten irgendwelche Diebe und Betrüger unter Tränen beteuert, dass sie ehrbare Bürger seien, während ihre Gesichter und ihre Körpersprache sie an Alina verrieten?

Es war eine Gabe, davon war sie fest überzeugt. Eine Gabe, die die Erdenmutter ihr verliehen hatte, damit Alina ihr Schicksal besser erfüllen konnte: Oksana zu beschützen.

Bei Firaya stieß diese Gabe zum ersten Mal an ihre Grenzen.

Alina traf die Diebin vor der Brücke über die Istra wieder, drei Tage nach dem Empfang im Kreml. Am liebsten wäre sie schon am Morgen nach ihrem Gespräch wieder in die Tarak-Hütte marschiert und hätte Antworten verlangt, aber sie konnte ihre Wachpflichten nicht schleifen lassen. Kommandantin Sima würde es bemerken und sie zur Rede stellen und Alina konnte ihr nichts von ihren Bemühungen erzählen, noch nicht. Erst wenn sie den Feuervogel gefunden hatte und ihn triumphierend der Großfürstin zu Füßen legte. Alles nur in der Hoffnung, dass Oksana ihr endlich wieder ein Lächeln schenkte …

Firaya lächelte nicht. Ihr Gesicht war wie eine verschlossene Truhe und Alina hatte Schwierigkeiten, auch nur die geringste Gefühlsregung darin zu erkennen. Nadja sagte immer, dass die Fremdländer keine Gefühle hätten, dass sie im Inneren hohl seien wie der untote Hexenmeister aus dem Märchen. Alina war sicher, dass sie übertrieb, musste sich aber insgeheim eingestehen, dass sie in Firayas schwarzen Augen kaum mehr als eine Spiegelung des Flusses sah.

Was es umso schwieriger machte, ihren Worten Glauben zu schenken.

„Niemand weiß etwas“, wiederholte Alina skeptisch. „Du willst mir sagen, dass die besten Diebinnen der Stadt nicht mal eine Ahnung haben, wer dafür verantwortlich sein könnte? Wer überhaupt dazu in der Lage wäre?“

„Ich weiß nicht, wozu man dafür in der Lage sein muss. Ich habe die Schatzkammer im Kreml noch nie gesehen“, erwiderte Firaya.

Da, schon wieder – war das Aufrichtigkeit oder Spott? Alina kniff die Augen zusammen und musterte die Diebin misstrauisch. Sie wirkte gefasst, selbstsicher, furchtlos – als wäre sie nie in ihrem Zuhause bedroht worden. Hatte sie die Gefahr, in der sie schwebte, so schnell vergessen oder war in der Zwischenzeit etwas passiert, das ihren Willen gestärkt hatte?

Etwas stimmte nicht. Auch wenn die Heilerin ihre Geschichte bestätigt hatte, hieß das nicht, dass Firaya nicht doch irgendwie in die Sache verwickelt war. Alina glaubte ihr nicht, dass sie den Empfang im Kreml bloß hatte nutzen wollen, um leichte Beute zu machen. Aber mehr als dieses vage Misstrauen konnte sie nicht vorweisen, und das reichte nicht, um Alina von ihrem Vorhaben abzubringen.

„Du musst mir schon mehr bieten als das.“ Firaya war ihre einzige Spur – ihr Weg hinein in die Schattenwelt der Stadt, die den Feuervogel verschluckt hatte. Alina würde diesem Weg folgen, egal wie lange es dauerte oder was sie dafür tun musste. „Oder soll ich mir Aziza doch noch einmal vornehmen?“, fügte sie hinzu, als Firaya sie bloß abwartend ansah.

Die Drohung schmeckte schal auf ihrer Zunge. Hoffentlich konnte die Diebin sie genauso wenig durchschauen, wie es umgekehrt der Fall war.

Aber zumindest würde sie Nadja später berichten können, dass sie sich irrte – zumindest diese Fremdländerin schien Gefühle zu besitzen, denn wie bisher jedes Mal bei der Erwähnung von Aziza flatterten Firayas Lider und ihr Kiefer verspannte sich. Ihr Blick schien sich in Alinas Seele zu bohren. Alina musste sich zwingen, sich nichts anmerken zu lassen. Fast hätte sie der Diebin versichert, dass sie nicht einmal daran dachte, dem Küchenmädchen etwas anzutun, aber sie biss sich auf die Zunge und blieb stumm.

Für Oksana, sagte sie sich.

„Die Nachtigallen wissen von nichts“, wiederholte Firaya flach. „Aber wenn der Dieb den Feuervogel nicht längst aus der Stadt geschafft hat, hat er vielleicht versucht, ihn auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Ich kann eine Hehlerin fragen, der ich vertraue.“

„Ich komme mit“, sagte Alina sofort.

„Nein“, kam es ebenso schnell zurück.

„Du willst mich also doch betrügen!“

Firaya maß sie wieder mit diesem langen Blick, der Alinas Blut zum Kochen brachte.

„Ich will bloß nicht mit einem Sperber bei einer Frau auftauchen, die mit gestohlenen Waren handelt.“

Das war definitiv Spott.

Alina knirschte mit den Zähnen und trommelte mit ihren Fingern auf dem Brückengeländer. Wie sie dieses ganze Hin und Her hasste!

„Dann werde ich eben nicht wie ein Sperber aussehen“, sagte sie. „Sag einfach, ich wäre eine neue Rekrutin der Nachtigallen.“

Firaya musterte sie demonstrativ von Kopf bis Fuß. Unter ihrem abschätzenden Blick spürte Alina, wie Röte in ihr Gesicht flutete.

„Erstens rekrutieren die Nachtigallen nicht. Zweitens bist du zu hübsch und wohlgenährt, um stehlen zu müssen. Drittens denke ich nicht daran, mein Vertrauensverhältnis mit der Frau aufs Spiel zu setzen, von der meine nächste Mahlzeit abhängt.“

Alinas Gesicht brannte. Hübsch – das war kein Wort, das sie aus Firayas Mund erwartet hatte, und sie wusste nicht einmal, ob es als Kompliment gemeint war.

„Deine Hehlerin interessiert mich nicht. Ich werde sie nicht in Schwierigkeiten bringen.“ Widerwillig fügte sie hinzu: „Ich schwöre es beim Leben der Großfürstin.“

Firaya verzog den Mund, nur ganz kurz, und doch verriet die Bewegung mehr über ihre Gefühlslage, als Alina bislang gesehen hatte.

„Solche Schwüre solltest du dir für den Kreml aufheben, Sperber.“

Sie lehnte die Idee aber auch nicht wieder ab. Alina hatte keine Ahnung, welche Gedanken Firaya durch den Kopf gingen, und diese Ungewissheit saß wie ein Jucken unter ihrer Haut.

Schließlich schien die Diebin zu einer Entscheidung zu kommen.

„Komm heute Abend, kurz bevor die Brücke gesperrt wird, zum Tempel der Weltenweisen“, sagte sie. „Ich hoffe, dass du etwas zum Anziehen hast, was nicht nach Sperber aussieht.“

Alina zupfte an ihrem blauen Samtumhang.

„Ich werde schon etwas auftreiben. Aber wenn die Brücke gesperrt ist, komme ich nur mit einer Erlaubnis meiner Kommandantin auf die andere Flussseite. Und die habe ich nicht.“

„Dann wirst du dich wohl darauf verlassen müssen, dass ich dich auf einem anderen Weg zurückbringe.“

Firaya warf ihr ein schiefes Lächeln zu und Alina fand auf einmal keine Worte mehr. Scherzte die Diebin jetzt mit ihr? Oder war das eine Drohung?

Firaya ging und Alina sah ihr unschlüssig hinterher. Wie konnte sie sich auf irgendetwas verlassen, was diese Frau sagte? Wahrscheinlich wollte sie sie nur in eine dunkle Gasse locken und ausrauben, wenn nicht gar umbringen. Alina sollte sie einfach verhaften und dazu zwingen, ihr alles zu sagen, was sie wusste …

Aber diese Vorstellung blieb vage und ohne Überzeugungskraft. Alina beobachtete Firaya, wie sie am Ufer der Istra geschickt zwischen zahlreichen angelegten Booten und Kähnen navigierte. Mit ihrer schlanken Gestalt und den kurz geschorenen Haaren unter der einfachen Baumwollmütze sah sie von Weitem aus wie ein Junge. Aber ihre Stimme war weich und melodisch, mit einer Spur des lispelnden Batyr-Akzents, der bei ihrer ersten Begegnung so falsch geklungen hatte.

Und sie hatte ein hübsches Lächeln.

Alina klopfte kurz gegen den Knauf ihres Schwertes, seufzte und wandte sich ab. Das war nicht das Lächeln, das sie erringen wollte.


Kapitelzierde


Eine Frage, ein Geschenk

 

Der Tempel der Weltenweisen war ein Ort, den Alina normalerweise mied. Er war alt, so alt wie Istradar selbst, und trug die Spuren der Umwälzungen, die die Stadt überstanden hatte. Ursprünglich war der niedrige Holzbau Shom geweiht gewesen, dem schelmischen Gott des fließenden Wassers und Schutzherrn der Istra. Dann war er ausgeweitet worden und beherbergte lange Zeit den Kult der drei Weltenweisen – Shom, der Himmelsherrscher Barem und Yurd, die Erdenmutter.

Nachdem Istradar Teil des Zhan-Reiches geworden war, hatte der Zar die alten Kulte verboten. Stattdessen sollten die Menschen ihn und seine Ahnen anbeten. So war der alte Tempel durch einen prunkvollen Steinbau mit den helmförmigen Türmen überbaut worden, die in Radagrad so beliebt waren.

Dann hatte Oksana ihren Ehemann vertrieben und sich selbst die Krone des Großfürstentums aufgesetzt. Wie Alina hing auch Oksana dem alten Glauben an, der in ihrer gemeinsamen Heimat Konsk verbreitet war. Die Großfürstin wagte es aber nicht, sich öffentlich gegen den Zaren zu stellen, den sie für sich gewinnen wollte. Also ließ sie den neuen Tempel stehen, postierte aber einen Sperber vor den Türen, der jeden genau beobachtete, der kam, um dem Zaren zu huldigen. Noch bevor das erste Jahr von Oksanas Herrschaft vergangen war, lag der Tempel wie ausgestorben da. Die Wache war mittlerweile abgezogen worden, aber noch immer mieden die Stadtbewohner den Ort, als könnte allein sein Anblick den Zorn der Großfürstin auf sie lenken. Der Name der Weltenweisen hatte sich für den Ort gehalten, auch wenn die Drei hier nicht mehr verehrt wurden.

Alina sah hinauf zu den dunklen Türmen des Gebäudes, die vor ihr aufragten. Vögel nisteten auf ihnen, der bunte Putz blätterte langsam ab. In Alina stieg warme Bewunderung auf – es gab nicht viele Fürsten, die es wagten, Radagrad herauszufordern, aber Oksana fand immer einen Weg, sich durchzusetzen. Auch wenn sie die Unterstützung des Zaren im Kampf gegen Kasimir brauchte, würde sie dafür nicht ihren Kopf beugen.

„Hast du Angst, dass deine Fürstin dich in den Kerker werfen lässt, wenn du dem Tempel zu nahe kommst?“

Alina fuhr herum. Ihre Hand flog zu ihrer Hüfte, streifte aber nur den breiten Gürtel, mit dem sie ihr Tunikakleid zusammengerafft hatte.

Firaya entging die Bewegung nicht.

„Du hättest dir nicht die Mühe machen müssen, dich umzuziehen, wenn du dich mit solchen Gesten verrätst.“

Ihr spöttischer Tonfall ließ Alina die Zähne zusammenbeißen. Für Oksana, erinnerte sie sich.

„Ich bin hier“, sagte sie frostig. „Wo ist deine Hehlerin?“

Aber statt zu antworten, nahm Firaya sich Zeit, um sie gründlich zu mustern. Alina musste das Bedürfnis niederringen, an ihrem Rock zu zupfen wie ein verunsichertes Mädchen.

Schließlich schüttelte die Diebin den Kopf.

„Womit bist du denn jetzt unzufrieden?“, fragte Alina ungeduldig. „Ich gehe in dem Kleid auf den Markt!“

„Und zahlst dadurch bestimmt höhere Preise als alle anderen. Aber es ist nicht das Kleid.“ Firaya tippte gegen die schlichte Mütze, die ihre eigenen Haare – oder was davon übrig war – bedeckte. „Du kannst in der Stadt nicht deine Haare zeigen.“

„Oh.“ Unwillkürlich berührte Alina ihren Haarkranz. Im Kreml hatte sich die Mode aus Radagrad durchgesetzt, die es Frauen gestattete, ihre Haare unbedeckt zu tragen – wenn auch nie offen. Aber die einfachen Frauen der Stadt verbargen jede Haarsträhne sorgfältig unter einem Kopftuch. Es galt als unanständig, das Haar außerhalb der unmittelbaren Familie zu zeigen, und beschwor angeblich den Zorn der Rusalkas herauf.

„Das ist albern“, beschwerte sie sich, als Firaya ihr ein ordentlich gefaltetes Tuch präsentierte. Es war dunkelgrün mit braunen Streifen, Yurd-Farben, und Alina fühlte sich ertappt. Firaya konnte nicht wissen, dass sie die Erdenmutter verehrte – oder?

Die Diebin trat dicht an sie heran. Bevor Alina weiter protestieren konnte, schlang sie das Tuch geschickt um ihren Kopf und verknotete es hinten im Nacken. Alina erstarrte. Ihre Reflexe drängten sie, Firaya wegzustoßen und Abstand zwischen sie zu bringen – was, wenn die Diebin ihr die Kehle durchschneiden wollte? Aber es war schwer, die schmale Frau, die zu Alina aufblicken musste, als Bedrohung zu sehen. Sie roch nach Rauch und Honig und ein wenig bitter, wie Flusswasser, das sich in Ufernähe staute. Es war nicht unangenehm, aber, wie alles an ihr, anders.

Firaya schien Alinas Anspannung nicht zu bemerken. Sie blieb vor ihr stehen, nah genug, dass die Spitzen ihrer Bastschuhe Alinas Stiefel berührten, und rückte das schlichte Stirnband zurecht, an dem Alina ihre liebsten silbernen Schläfenringe befestigt hatte. Alina hielt die Luft an, als die Finger der Nachtigall ihre Wangen streiften.

„Besser“, lautete das abschließende Urteil, als die Diebin endlich zurücktrat. Alina atmete aus.

„Ich habe kein Kopftuch mehr getragen, seit ich ein Mädchen war“, entfuhr es ihr. Schnell fügte sie hinzu: „Und die Rusalkas haben mich trotzdem nicht geholt.“

„Die Ahnen deines Herren haben sie ja auch alle vertrieben“, sagte Firaya spöttisch.

Alina warf den Kopf hoch.

„Kasimir war nie mein Herr!“

Firaya musterte sie wieder und Alina wusste nicht recht, was sie mit diesem Blick anfangen sollte.

„Ich verlasse mich darauf, dass du nichts von dem, was du heute hörst oder siehst, deiner Kommandantin berichten wirst“, sagte die Diebin dann.

„Natürlich nicht, ich habe es geschworen.“

Firaya wandte sich ab.

„Ich erinnere mich. Die meisten Menschen schwören im Namen ihrer Götter, aber deine einzige Göttin ist ja offenbar deine Herrin.“

„Das stimmt nicht“, widersprach Alina scharf. „Hör auf, so zu tun, als wüsstest du alles über mich.“

„Dann beweis mir heute Abend das Gegenteil.“

Alina versteifte sich, aber Firaya war schon losgegangen, ohne auf eine Erwiderung zu warten.


Alina hatte gedacht, dass sie sich in der Stadt auskannte, wurde nun jedoch schnell eines Besseren belehrt. Firaya führte sie am Tempel vorbei in das Handwerkerviertel und noch weiter an den nördlichen Stadtrand, wo die Holzhäuser eng beieinander standen und die Straße zu einem staubigen Trampelpfad wurde. Wenn Stimmen an Alinas Ohr drangen, hoben sie sich meist im melodischen Singsang der Gennka oder bellten in einer der Sprachen der Westländer. Unwillkürlich zog sie sich das Kopftuch tiefer in die Stirn. Hier war kein Ort für eine Zhan, geschweige denn für einen Sperber.

Noch während sie unterwegs waren, ging die Sonne unter und die Stadt versank in tiefen Schatten. Hier und da wurden Laternen entzündet. Der Geruch nach Rauch wurde stärker. Firaya bewegte sich geschickt und lautlos zwischen den Häusern, als würde sie den Weg jeden Tag zurücklegen – was sie vielleicht auch tat. Mit wachsender Unruhe fragte Alina sich, worauf sie sich da eingelassen hatte.

Ob Oksana es merken würde, wenn Alina nicht zu ihrer nächsten Schicht erschien? Würde sie nach ihrer früheren Leibwächterin fragen? Sich Sorgen machen? Oder würde sie einfach ihrer gewohnten Tagesordnung nachgehen?

Alinas Magen verkrampfte sich und sie schüttelte den Gedanken schnell ab.

Sie blieben vor einem Hof stehen, der mit einer Schutzwehr aus Holzlatten von den umliegenden Hütten abgetrennt war. Hinter der Umzäunung bellte heiser ein Hund. Alina vermisste das beruhigende Gewicht ihres Schwertes.

Firaya ging auf den Einlass im Zaun zu, ohne auf Alina zu warten. Die Holztür gab unter ihrer Hand quietschend nach und öffnete sich auf den Hof, um den sich mehrere kleine Häuser drängten. In der Mitte war eine große Feuerstelle errichtet worden, über der ein Topf hing. Der Duft von Hirsebrei lag in der Luft. Ein gutes Dutzend halbwüchsiger Kinder hatte sich darum versammelt und beobachtete gebannt, wie eine füllige Genn in einem schwarzen Schal Gewürze in den Topf streute. Der Hund, ein struppiges braunes Kalb, sprang von seinem Platz neben der Frau auf und bellte die Neuankömmlinge wild an.

Die Kinder schraken zusammen, als sie Firaya und Alina entdeckten. Mehrere von ihnen hielten auf einmal Messer in den schmutzigen Händen. Alina griff nach dem versteckten Dolch in ihrem Ärmel, aber Firaya stieß bloß einen hohen, trällernden Pfiff aus. Der Hund verstummte auf der Stelle. Auch die Kinder entspannten sich sichtlich, beobachteten die beiden Frauen aber weiterhin misstrauisch.

Die Genn rührte gelassen in ihrem Topf.

„Späte Vögel“, sagte sie, ohne aufzusehen, und winkte sie zu sich. „Was habt ihr uns mitgebracht?“

„Ein Geschenk. Und eine Frage.“ Firaya ging ohne Zögern aufs Feuer zu.

Alina wollte nicht feige erscheinen, folgte ihr aber dennoch langsamer und setzte jeden Schritt mit Bedacht. Die Kinder – alle dunkelhaarig und dunkeläugig – beobachteten sie mit der lauernden Aufmerksamkeit eines Wolfsrudels. Alina spürte, wie jeder Fleck ihrer Haut, jeder Fetzen ihrer Kleidung genau gemustert und katalogisiert wurde, um abzuschätzen, ob daraus Profit herausgeschlagen werden konnte. Auf einmal verstand sie Firayas vorherige kritische Prüfung und war ihr dankbar.

Die Genn schaute erst auf, als die beiden Neuankömmlinge vor ihr am Feuer standen. Alina fand es schwierig, das Alter von Fremdländern zu schätzen, aber diese hier wirkte, als hätte sie schon viele Winter hinter sich, auch wenn ihre braune Haut noch geschmeidig aussah und ihre klaren Augen funkelten. Sie übergab ihren langen Löffel dem Jungen, der ihr am nächsten war, und griff nach Firayas Händen.

„Ah, meine Schöne. Immer noch hier?“

Firaya lächelte – ein anderes Lächeln als das, was Alina am Morgen gesehen hatte, breiter und aufrichtiger. Alina katalogisierte ebenfalls jede Geste und jeden Blick, auch wenn sie noch nicht wusste, was sie sich davon erhoffte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752103694
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juli)
Schlagworte
Enemies to lovers Queer Russland LGBTQ Lesbisch Intrigen Romance Märchen Slavic Fantasy Mittelalter Historisch Fantasy Liebesroman Liebe Kinderbuch Jugendbuch

Autor

  • Ria Winter (Autor:in)

Ria Winter ist in St. Petersburg aufgewachsen, hat dann aber die Newa gegen die Elbe eingetauscht. Heute lebt sie in Hamburg, trinkt viel Schwarztee und versucht zwei nimmersatte Katzen durchzufüttern. Am liebsten ist sie in Fantasy-Welten unterwegs, die so bunt und vielseitig sind wie das reale Leben. Ihr Fantasy-Debüt »Tal der Toten« erschien 2019 bei Impress und wurde für den Seraph-Phantastikpreis 2020 in der Kategorie Bestes Debüt nominiert.
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Titel: Der Feuervogel von Istradar