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Totennektar

von Drea Summer (Autor:in) Chris Gilcher (Illustrationen)
276 Seiten

Zusammenfassung

Für alle sichtbar soll das Branding sein. Jeder soll es sehen!

Chefinspektor Oliver Johnson eilt durch das kleine Dörfchen Eyam. Schreie einer jungen Frau ertönen immer wieder. Als er das Mädchen erblickt, um das sich schon eine Menschentraube gebildet hat, kann er seinen Augen nicht trauen. Will ihnen nicht trauen! Nackt, verdreckt und blutverschmiert. Ein Brandzeichen am Körper. Genau wie vor 15 Jahren. Die Bestie ist zurück und der Albtraum soll erst beginnen.

Temporeich, raffiniert und überraschend.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über die Autorin:

Drea Summer, gebürtige Österreicherin, lebte im schönen Südburgenland. Sie begann ihre Schreibkarriere mit der Auswanderung nach Gran Canaria vor mehr als vier Jahren. Die „Insel des ewigen Frühlings“ inspiriert sie, schaurige und blutige Geschichten, die in ihrem Kopf herumspuken, niederzuschreiben.

 

Veröffentlichungen:

„Mit leisen Flügeln“ – ein Krimi mit Thrillerelementen 

„Sie sind nichts wert“ – Gran-Canaria-Thriller Trilogie Teil 1

„Tu, was ich dir sage“ – Gran-Canaria-Thriller Trilogie Teil 2

„Du bist mein Besitz“ – Gran-Canaria-Thriller Trilogie Teil 3

„Ungerecht“ – Thriller

„ABgehackt“ – Team Gran Canaria Teil 1

„ANgefasst“ – Team Gran Canaria Teil 2

„ANvisiert" – Team Gran Canaria Teil 3

„Dein Tod ist mein Freund“ – Psychothriller

„Du gehörst bestraft“ – Krimi

„Morgen bist du Vergangenheit“ – Thriller-Kurzgeschichte

„Komm, wir fliegen nach Gran Canaria“ – Humor

 

 

„Totennektar“ – Thriller

Empire-Verlag

1

Ein Schrei ertönte und hallte an den unverputzten Steinwänden der Parish Church wider. Oliver Johnson rannte über die grüne Fläche, vorbei an den mehr als 400 Jahre alten Grabsteinen, die an eine schlimme Zeit erinnerten. Eine Zeit, in der es keine Hoffnung mehr für die Einwohner von Eyam gegeben hatte. Die Sonne streckte ihre letzten Strahlen noch über den Turm der Kirche aus. Bald würde es dunkel werden in Eyam. Wieder ertönte ein Schrei, diesmal intensiver als zuvor. Oliver bog um die linke Ecke und sah die Menschenansammlung, die sich rund um den abgesperrten Bereich um das keltische Kreuz gebildet hatte.

Einige Leute wichen zurück, und er erspähte einen Augenaufschlag lang eine Frau, die wild gestikulierte. Doch schon im nächsten Moment war sie verschwunden.

»Gehen Sie zur Seite! Polizei!«, rief er, noch bevor er bei der dicken Eisenkette ankam, die das keltische Kreuz einzäunte. Unter dem aus Stein gemeißelten Kreuz befand sich kein Grab, sondern es wurden damit zumindest nach den vielen Überlieferungen besondere Plätze markiert. Oliver bahnte sich einen Weg durch die Schaulustigen. Er kreuzte für wenige Sekunden seine Finger. Ihm stockte der Atem, als er die nackte blutverschmierte Frau sah. Sie war höchstens 25 Jahre alt. Ihre blonden kurzen Haare standen wie Antennen von ihrem Kopf ab. Die blauen Augen waren weit aufgerissen und gerötet. Ein Skorpion prangte dunkelrot auf ihrem rechten Oberschenkel. Das Brandzeichen, schoss es Oliver durch sein Hirn. Es war genauso wie damals, doch diese Frau lebte. 

Die Bestie war also wieder zurückgekehrt nach all den langen Jahren. In Olivers Körper tobte ein Kampf, und für einen kurzen Moment übermannte ihn Traurigkeit. Er schüttelte den Kopf, um die aufkommenden Gedanken aus seinem Hirn zu verbannen. Dann rannte er auf die Unbekannte zu und packte sie fest am Oberarm. Sie fauchte wie ein wild gewordenes Tier und fletschte dabei die Zähne. Kleine Speicheltröpfchen landeten auf seiner Haut. Wieder schrie sie, bäumte sich auf und versuchte mit aller Gewalt, sich aus seinem Griff zu befreien, doch im selben Moment packte Olivers Kollege Ian die Frau und riss sie zu Boden. Einen Augenaufschlag später klickten die Handschellen.

Ian rannen einige Schweißperlen seine Glatze hinab, und er stand auf. Seine Hand umfasste den Oberarm der Frau, und mithilfe eines weiteren Uniformierten zog er sie in die Höhe. Oliver sah die wunden Stellen an ihren Handgelenken. Eindeutig Fesselspuren, dachte er. Eine Decke wurde über die Schultern der Frau gelegt, um sie vor den neugierigen Blicken zu schützen. 

»Wer hat uns angerufen?«, fragte Oliver in die Zuschauermenge, die von den beiden anderen Kollegen einige Meter vom Einsatzort zurückgedrängt worden waren.

Zögerlich hob ein älterer Mann mit Stock seine Hand.

Oliver ging auf den Mann zu und nahm ihn zur Seite. »Ich bin Chefinspektor Johnson. Was haben Sie gesehen?«

Der ältere Mann zögerte einen Moment. »Sie hat geschrien. Ganz laut. Das habe ich in meiner Wohnung da drüben gehört.« Er zeigte auf das Haus gegenüber mit den hellen Backsteinen und den Verzierungen rund ums Fenster, ein Haus, wie es damals im 14. Jahrhundert üblich war. »Dann habe ich Sie angerufen und bin hierhergekommen, so schnell ich konnte.«

»Haben Sie sonst noch jemanden hier gesehen?«

Der ältere Mann verneinte.

»Sie kommen dann zu mir auf die Dienststelle, ja?« Mit diesen Worten drehte er sich zu Ian um, der ihm entgegenkam. Obwohl Ian die stattliche Größe von einem Meter achtzig aufwies, musste er zu Oliver aufschauen.

»Habt ihr ihre Kleidung gefunden?«, fragte Oliver, doch Ian schüttelte den Kopf.

»Wir suchen noch, aber bisher erfolglos. Hast du das … ich meine …«, setzte Ian an und stoppte sich selbst mitten im Satz. Es war ein fragender Blick, der Oliver traf.

»Ja, ich sah das Brandzeichen. Wir fahren jetzt auf die Dienststelle und suchen die Akte über den alten Fall heraus.«

»Und sie nehmen wir gleich mit, oder?«, fragte Ian. Er deutete auf die Frau, die sich nach wie vor heftig gegen ihre Festnahme wehrte. »Obwohl sie mir nicht ganz bei Sinnen zu sein scheint.«

Drei Polizeibeamte versuchten, sie unter Kontrolle zu bringen, ohne dass die Frau oder sie selbst dabei Schaden nahmen.

»Ahh!« Es war der Schrei eines Beamten, der gleich darauf die Hand auf seinen Unterarm legte.

Oliver vermutete, dass ihn die Unbekannte gebissen hatte. Das auch noch! »Ich werde meinen Bruder Arthur anrufen. Er soll auf die Polizeistation kommen und sie dort untersuchen. Dann sehen wir weiter, okay? Lass hier bitte alles absperren, und die Leute sollen alle verschwinden.« Oliver wartete nicht auf Ians Reaktion, sondern zückte sofort sein Telefon.  

»Ja?«, klang es aus der Leitung.

»Hallo Arthur! Oliver hier. Kannst du bitte zu mir aufs Revier kommen? Ich brauche deine fachliche Meinung als Psychologe zu der Frau, die wir soeben aufgegriffen haben.« Oliver überlegte einen Moment, ob er Arthur die Informationen und den möglichen Zusammenhang zu diesem alten Fall weitergeben sollte, doch vorerst entschied er sich dagegen. Das wollte er nicht am Telefon besprechen. Blut ist dicker als Wasser, auch wenn Arthur und er nur Halbbrüder waren. In den letzten fünf Jahren waren die beiden zusammengewachsen, so als hätten sie auch ihre Kindheit miteinander verbracht.

»Natürlich. Was ist passiert? Soll ich etwas mitbringen?«

»Wir haben eine nackte Frau gefunden, die geistig verwirrt ist. Sie hat sogar einen Kollegen gebissen. Beeil dich, ja?«

»Klar. Bis gleich.«

Obwohl Arthur das Gespräch schon beendet hatte, hielt Oliver das Handy noch immer an sein Ohr. Er starrte ins Leere. Die Gedanken in seinem Kopf überschlugen sich. Wenn es derselbe Täter wie vor 15 Jahren ist, warum ist er jetzt wieder aufgetaucht? Hat es vielleicht etwas mit Arthur zu tun, der selbst erst seit einem Jahr wieder hier ist? Oder vielleicht sogar mit ihm selbst?  

»Kommst du?« Es war Ian, der ihn wieder ins Hier und Jetzt zurückholte.

Oliver nickte.

2

»Verflucht!«, flüsterte ich leise und konnte kaum glauben, was meine Augen da sahen. »Sie ist entkommen.« Scharf sog ich die Luft ein. Das Tablett mit dem Essen hielt ich noch in meiner Hand. Der Duft von dem in Teig gebackenen Fisch vermischte sich mit einer penetranten Urinnote und abgestandener Luft. Ich starrte auf die unverputzten Wände, die von einer schummrigen Glühbirne beleuchtet wurden, die in der Mitte des kleinen Raumes fröhlich hin und her baumelte. Die massiven Handfesseln, die mittels Eisenhalterungen in die Mauer gedübelt worden waren, hingen an den Eisenketten hinunter. Leer. Der Kloß in meinem Hals wurde immer größer. Mühsam schluckte ich mehrmals, doch ich wurde den Kloß nicht los.

Am liebsten hätte ich mir mit der flachen Hand auf die Stirn geschlagen. Wie doof bin ich eigentlich? Bevor ich vor wenigen Minuten aus dem Raum gegangen bin, hätte ich ihre Fesseln kontrollieren müssen. Das gibt jetzt eindeutig Ärger. Scheiße! Wie soll ich das bloß erklären? 

Ich drehte mich um und rannte, so schnell ich konnte, die Stufen hinauf. Ich musste sie wiederfinden, bevor sie für immer verschwand.

 

3

Arthur griff nach seinem dunkelblauen Mantel, der auf dem Beifahrersitz lag, und zog ihn an. Dann richtete er den Kragen seines Hemdes und streifte dieses mit seiner flachen Hand glatt, bevor er den Mantel zuknöpfte. Schon als kleiner Junge war es für ihn immer wichtig gewesen, dass die Kleidung korrekt saß. Und das war bis heute so geblieben.

Der Tag war anstrengend gewesen – viele Patienten, die über ihre Probleme klagten. Manche Geschichten hörte er schon zum gefühlt tausendsten Mal, doch auch heute war es ihm wieder gelungen, seine – wie er es nannte – Schützlinge mit einer positiven Einstellung wieder auf ihre Zimmer zu schicken. Arthur atmete aus, und ein weißer Nebel bildete sich. Obwohl es erst Ende September war, waren die Abende, sobald die Sonne untergegangen war, kühl. Er nahm seine vorsorglich gepackte Arzttasche und warf die Autotür zu. Eine nackte Frau!, wiederholte er in Gedanken Olivers Worte, und in seiner Magengegend kam ein flaues Gefühl hoch. Er beugte seinen Oberkörper ein wenig nach unten und betrachtete sich im Seitenspiegel des Wagens. Aus Gewohnheit strich er über seinen präzis gezogenen Scheitel, der wie auch schon bei seinem Vater links saß, und ordnete jede einzelne Haarpartie neu an. Dadurch, dass er dies mehrmals am Tag machte, war er einen Augenaufschlag später mit seinem Aussehen zufrieden.  

Er schritt dem dunklen Cottage entgegen. Auf der Steinmauer sah er die blaue Laterne, die sich perfekt in das altertümliche Gesamtbild einfügte. »Police« war auf dem Glas zu lesen. Er sprang die drei Stufen hinauf und öffnete die schwere Eingangstür zur Polizeistation. Drinnen angekommen, empfing ihn der typische Geruch eines uralten Gebäudes, den man auch mittels Lüften nie wieder aus dem Gemäuer bekam: muffig und abgestanden. Die Polizeistation in Eyam war eine der kleinsten in ganz England und doch war sie zumindest von innen die modernste. Er umrundete die weiße Theke und nickte den drei Beamten zu, die mit ihren Kaffeebechern in einer Ecke standen und sich unterhielten.  

»Da bist du ja endlich!«, sagte Oliver, der auf ihn zukam und sich hektisch durch seine schwarzen Haare fuhr, sodass diese kreuz und quer von seinem Kopf abstanden. Die Stoppeln seines Bartes ließen Arthur darauf schließen, dass er sich – wie so oft – nicht die Zeit genommen hatte, sich zu rasieren. Dabei war gerade das äußere Erscheinungsbild das Wichtigste. »Ich bring dich gleich zu ihr, doch ich muss dir noch etwas dazu sagen.«

Arthur blieb stehen, und um seine Augenpartie bildeten sich kleine Falten. Ein sorgenvoller Blick traf ihn. Oliver, sein großer Bruder, zu dem Arthur seit knapp fünf Jahren aufblickte, und dem er, zumindest was Mut betraf, stets nacheiferte, sah von einem Moment auf den anderen noch älter aus als mit seinen knapp 50 Jahren. »Was ist denn los? Was musst du mir sagen?«

Oliver legte seine Hände auf Arthurs Schultern. Oliver war nur einen Zentimeter größer als Arthur, und somit schauten sich die beiden direkt in die Augen. Es hatte fast den Anschein, als müsse Oliver seinen Bruder bei den Worten, die er ihm nun sagen würde, stützen. »Sie war blutverschmiert und hat ein Brandzeichen auf ihrem Oberschenkel.«

»Okay. Dann lass mich zu ihr.«

»Was heißt okay? Hast du verstanden, was ich dir soeben erzählt habe?«

Arthur wurde von einer Sekunde auf die andere heiß, und auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen. Er räusperte sich. »Du meinst …«, Arthur unterbrach sich.

»Ja, das meine ich. Du hast diesen Schock bis heute nicht überwunden, das weiß ich genau. Schließlich hast du sie gefunden. Es ist die gleiche Brandmarke wie damals. Ich habe mir soeben die Fotos angesehen.«

»Du hast dir die Fotos kommen lassen?«

»Ja, natürlich. Er ist wieder da. Verstehst du? Aber warum nach dieser langen Zeit? Ich verstehe das nicht!«

»Habt ihr schon Proben von dem Blut genommen? War ein Arzt bei ihr?«

»Ja, Proben haben wir. Aber du musst sie ruhigstellen, verstehst du, was ich meine? Ich habe schon den Arzt aus Stoney Middleton bestellt, aber der braucht eine Stunde, bis er hier ist. Solange können wir nicht warten.«

»Warum? Ich verstehe nicht.«

Oliver antwortete nicht, sondern zeigte Arthur mittels Handbewegung an, dass er ihm folgen sollte. Sie gingen den Flur entlang, und immer wieder hörte man Schreie gepaart mit Flüchen in einer anderen Sprache. Als Oliver die Tür zum Arrestraum öffnete, sah Arthur die nackte Frau, die an den Gitterstäben ihrer Zelle rüttelte. Sie erstarrte in ihrer Bewegung, und ihre Augen weiteten sich. Sie steckte ihre Nase zwischen die Gitterstäbe und schnüffelte hörbar. Diese Geste erinnerte Arthur an ein wildes Tier, das zuerst den Geruch seines Gegenübers wahrnehmen musste, um dann blitzschnell zu entscheiden, ob dies nun Freund oder Feind war.

»Du!« Die Unbekannte zeigte anklagend mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Arthur. Ihr Gesicht verzog sie zu einer Fratze. Dann senkte sie ihren Arm und lachte hysterisch.

»Okay«, sagte Arthur und stellte seine Tasche auf den kahlen Boden. »Du hältst ihren Arm fest, und ich injiziere ihr ein Beruhigungsmittel. Dann lassen wir sie in die Klinik bringen. Hier ist es für sie eindeutig zu gefährlich. Wir können sie hier nirgendwo fixieren.«

Oliver wartete, bis Arthur die Flüssigkeit in die Spritze gezogen hatte. Beide traten näher an die Gitter. Die Frau lachte noch und beugte sich leicht vornüber. Alles spielte sich innerhalb weniger Sekunden ab: Oliver griff beherzt ihren Arm und zog ihn durch die Gitterstäbe, Arthur injizierte ihr das Beruhigungsmittel. Mit aller Kraft stemmte sich die Unbekannte gegen ihr Gefängnis, aber wenige Augenblicke später ließ ihr Widerstand nach, und sie wankte.

»Los, sperr auf! Wir müssen sie auffangen, bevor sie umkippt.« Oliver drückte auf den Schalter, der auf der gegenüberliegenden Wand in einen kleinen Kasten eingebaut war. Mit einem leisen Surren sprang die Tür auf, und Arthur hetzte in die Zelle. Im letzten Moment schaffte er es, die Frau aufzufangen, bevor sie mit ihrem Kopf auf den Boden geknallt wäre.

Arthur schaute in ihr Gesicht, auf dem sich ein Lächeln gebildet hatte. Es schien aber nahezu eingefroren zu sein. Speichel rann ihr aus dem Mundwinkel und tropfte auf seine Schuhspitze. »Pack an!«, forderte er Oliver auf und deutete mit dem Kopf in Richtung ihrer Füße. Gemeinsam legten sie sie auf die Liege.

Oliver holte noch die Wolldecke, die sie achtlos in eine Ecke der Zelle geworfen hatte, und legte diese über sie. »Wann kann ich sie befragen? Ich benötige alle Informationen so schnell wie möglich.«

»Du musst warten, bis ich sie untersucht habe. Ich muss zuerst wissen, welche Drogen ihr verabreicht worden sind.«

Oliver packte Arthur hart an seinem Unterarm. »Ich muss wissen, was sie weiß.«

Arthur nickte.

4

15 Jahre zuvor

 

Arthurs Schulrucksack rutschte von seiner Schulter und fiel augenblicklich zu Boden. Vor seinen Füßen lag seine Mutter. Zusammengekrümmt, nackt, blutverschmiert auf dem grünen saftigen Rasen. Ihre leblosen Augen durchbohrten ihn. Sein Körper war wie eingefroren. Sein Herz schlug gegen den Brustkorb, so als würde es jeden Moment herausspringen. Nicht einen klaren Gedanken konnte er fassen, wusste nicht, was er tun sollte, konnte, musste. Dann endlich glitt der schrille Schmerzensschrei aus seinem Mund, und er sank augenblicklich auf dem grünen Rasen vor dem Wohnhaus nieder. Die Tränen rannen wie Sturzbäche seine Wangen hinab, und er legte sich ganz nah zu ihr, fühlte unter seinen Händen ihre kalte Haut.

»Mama«, flüsterte er, und das Schluchzen erstickte die Worte, die er ihr noch sagen wollte. Er wollte ihre braunen Haare sanft aus dem Gesicht streichen, doch ihr Kopf rollte zur Seite und offenbarte Einblicke auf das abgetrennte Fleisch. Arthur erstarrte. Er war unfähig, auch nur einen Gedanken zu fassen. Plötzlich packten ihn kräftige Hände an den Schultern und zogen ihn nach oben. Worte drangen wie durch Wattebäuschchen in seinen Gehörgang.

»Arthur!«, sagte sein Vater und drückte den Teenager fest an seine Brust. Doch Arthur wehrte sich gegen seinen Vater und stemmte sich mit seiner gesamten Kraft gegen ihn. Und doch half ihm das nichts, denn sein Vater ließ ihn nicht los.

»Dad! Lass mich los! Ich muss Mama helfen. Du musst ihr helfen.« Er drehte seinen Kopf in ihre Richtung, sah aber nur ihre Füße. Ihre nackten, schmutzigen Füße.

»Du kannst ihr nicht mehr helfen. Deine Mutter ist tot.«

»Nein!«, schrie er, ballte seine Hände zu Fäusten und schlug auf den Brustkorb seines Vaters ein. »Nein!« Wieder und wieder wiederholte er sich. Vor seinen Augen bildete sich eine Art Nebel, und er nahm seine Umgebung nur noch schemenhaft wahr. Eine warme Hand legte sich um seinen Oberarm und zog ihn ins Haus hinein. Beruhigende Worte strömten auf ihn ein, und doch nahm er diese kaum wahr.

Es musste mehrere Stunden gedauert haben, die er auf dem Familiensofa im Wohnzimmer seines Elternhauses gesessen hatte, bis er seine Umgebung wieder vollständig wahrgenommen hatte. Das Erste, was er sah, war der Polizist, der ihm gegenübersaß. Arthur schaute ihn an und ließ seinen Blick ein Stück nach oben schweifen. Zu dem Ölgemälde oberhalb des Kaminsimses, auf dem seine Mutter ihn anlächelte. Für einen Augenaufschlag sah es so aus, als strahle über ihrem Haupt eine Art Heiligenschein. Doch schon im nächsten Augenblick verschwand dieser wieder.  

»Meine Mama ist tot«, stammelte er.

»Ja!«, sagte der Polizist und schaute gen Boden. »Ich hol deinen Dad, okay?« Der Beamte stand auf und verschwand durch die Schiebetür, die er sofort hinter sich wieder schloss. Arthur blieb allein und doch hörte er ihre Stimme.

»Ich liebe dich, mein Liebling!«

5

»In frühestens vierundzwanzig Stunden haben wir ein Ergebnis.« Oliver wandte sich Ian zu, der seinen Schreibtisch im selben Büro hatte. »Konntest du herausfinden, wer diese Frau ist?«

»Bisher nicht. Ich habe auch noch keine Ahnung, woher sie kam und was sie dort wollte. Wir haben keinen Anhaltspunkt. Auch die Spurensuche vor Ort ergab nichts.«

Oliver starrte auf seinen Bildschirm. Ein blondgelockter Mann mittleren Alters schaute in die Kamera. »Kann es nicht sein, dass dieser Scheißkerl doch etwas damit zu tun hat?«

»Wen meinst du? Joshua Harris? Er hat ein gültiges Alibi. Er hatte in der Klinik bis acht Uhr in der Früh Dienst. Das wurde auch von mehreren Leuten bestätigt.«

»Die hat er alle gekauft. Alle!« Oliver donnerte mit der Faust auf den Tisch.

»Oliver, bitte! Du hast dich schon damals in diesen Fall verbissen. Bitte mach nicht wieder den gleichen Fehler.«

»Ich habe es dir versprochen. Und ich stehe zu meinem Wort. Allerdings will ich nochmals mit Harris reden.«

»Das halte ich für keine gute Idee.«

»Weswegen? Weil ich ihn damals vor der psychiatrischen Klinik halb totgeprügelt habe? Das war vor fünfzehn Jahren. Der Dreckskerl hat etwas damit zu tun! Ich weiß das.«

»Oliver, sei vernünftig! Er hatte ein hieb- und stichfestes Alibi. Aber ich lass ihn überprüfen, wenn du das möchtest. Doch du machst nichts! Du bist befangen.«

»Ach ja? Warum? Weil es meine leibliche Mutter war? Doch ich wusste nichts davon. Erst nach ihrem Tod haben es mir meine Adoptiveltern erzählt. Verstehst du? Wegen dieses Dreckskerls durfte ich sie niemals kennenlernen. Ich werde nie erfahren, woher ich komme.« Ein Kloß bildete sich in seinem Hals und raubte ihm kurz den Atem.

»Weißt du was? Wieso machst du für heute nicht Schluss mit Arbeit und gehst … nach Hause?«

»Wieso betonst du die letzten beiden Worte so? Hast du Angst, ich fang wieder mit dem Trinken an? Ist es das, was dir Sorgen bereitet? Mir bereitet eher Sorgen, dass dieses Monster da draußen noch frei umherläuft, und das seit mehr als fünfzehn Jahren. Und meine Mutter war nicht seine Erste. Ein Jahr zuvor wurde die kopflose Leiche einer Frau im Wald gefunden. Auch sie trug das gleiche Brandmal. Und jetzt … Jetzt ist er wieder da. Es muss mit Harris zusammenhängen. Der kam erst vor einem halben Jahr zurück von sonst irgendwo.« Oliver fuhr aus seinem Schreibtischsessel hoch und stemmte seine Handflächen auf den Tisch. Der Kaffee in seiner Tasse schwappte gefährlich. Oliver spürte, wie seine Halsschlagader pulsierte. Wut kroch ihm in seine Adern und loderte wie ein Buschfeuer, das alles niederzubrennen drohte.

»Du solltest wieder zur Therapie gehen. Meinst du nicht?«, sagte Ian und stand ebenso auf.

»Was bildest du dir ein, mir zu sagen, was ich tun soll? Es geht dich überhaupt nichts an!«, spie er ihm entgegen.

»Oliver! Sei vernünftig! Weißt du, was es mich gekostet hat, dass ich dich da wieder rausgeboxt habe? Dass dein Vater und ich Harris von hier weggeschafft haben? Ich will das nicht nochmals erleben. Verstehst du das nicht? Du machst dir dein ganzes Leben kaputt, alles, was du dir aufgebaut hast.«

Olivers Finger ballten sich zur Faust, und die Knöchel wurden weiß. Er wollte etwas erwidern, wollte Ian alles an den Kopf werfen, was er in diesem Moment dachte. Er musste den innerlichen Druck loswerden, und doch hielt ihn etwas davon ab. Er konnte nicht genau sagen, was es war, doch tief in seinem Inneren fühlte er ein unsichtbares Band zu seinem Kollegen, seinem besten Freund. Die Worte, die Ian gesagt hatte, waren wie ein Schlag mitten in die Magengrube. Oliver atmete durch und entspannte seine Muskeln. Dann nahm er wieder auf seinem Sessel Platz. Auch Ian setzte sich wieder und durchbohrte ihn mit seinem Blick.

»Es tut mir leid«, murmelte Oliver kaum verständlich. »Ich fühle mich um Jahre zurückversetzt. Als ich heute die Fotos sah …« Die restlichen Worte erstickten in seinem Hals.

»Ja, ich verstehe dich. Es war ein Schock für dich, den du bis heute noch nicht verkraftet hast. Doch du musst dich zusammenreißen! Was hältst du davon, wenn wir beide noch auf ein Bierchen gehen, also alkoholfrei natürlich? Ich rufe Sue an und sag ihr, dass ich später nach Hause komme. Oder du kommst mit zum Abendessen? Was meinst du?«

Oliver zögerte einen Moment lang. Er schaute nochmals auf seinen Bildschirm, auf das Foto des Mannes, der seine Mutter getötet hatte und der noch immer nicht hinter Schloss und Riegel saß. Doch dann drückte er den Ausschaltknopf seines Computers ‒ ein kurzes Flackern, und der Bildschirm war schwarz.

»Das ist eine gute Idee.«

 

***

 

 

Nur zwei Querstraßen von dem Polizeirevier entfernt lag das Miners Arms, ein typisch englisches Pub, in einer etwas abgelegenen Gegend außerhalb des Dorfes. Mit Weitblick über die saftigen Wiesen und dichten Wälder. Das Haus selbst war im Stil eines viktorianischen Herrenhauses gehalten, allerdings weit weniger protzig. Es versprühte von außen schon die Gemütlichkeit, die es innen besaß. Die Massivholztheke war traditionell in Weiß gehalten, alle anderen Möbel waren dunkel. Man verspürte einfach einen gewissen Charme, ein Gefühl von Zuhause. Oliver und Ian setzten sich an ihren Stammplatz in der hintersten Ecke des Raumes. Wie immer nahm Oliver auf der rotgestreiften dunklen Bank Platz und Ian auf dem Sessel ihm gegenüber.  

Cath, die vollbusige Kellnerin, stellte den beiden keine Minute später zwei Bier auf den dunkelbraunen Tisch. So schnell wie sie gekommen war, verschwand sie auch wieder und bediente schon die nächsten Gäste. Heute war das Lokal gut gefüllt. Ein Geruch von Kartoffeln, Eiern und gebratenem Speck drang in Olivers Nase, und sein Magen begann zu knurren. Ein Blick auf die schwarze Tafel oberhalb der Theke bestätigte seine Vermutung, dass es heute als Tagesgericht geriebene, knusprig gebratene Kartoffeln mit Spiegelei und Speck gab.

»Willst du darüber reden?«, fragte Ian nach Minuten des Schweigens und unterbrach Olivers Gedanken ans Essen.

»Nein, ich denke nicht«, antwortete Oliver und trank einen Schluck Bier aus seinem Glas. »Wie geht es Sue?«

»Ihr geht es gut. Also, soweit ich das eben beurteilen kann. Ich muss ja nicht mit dem Baby im Bauch herumlaufen. Aber ich unterstütze sie, wo ich kann, und dadurch, dass wir bei meinen Eltern eingezogen sind, ist natürlich auch meine Mutter immer zur Stelle. Was manchmal allerdings auch ein wenig nerven kann.« Ian lachte, und Oliver stimmte mit ein.

»Wie lange habt ihr noch?«

»Gut einen Monat noch.« Ian drehte seine Flasche im Stand herum. »Oliver? Willst du der Taufpate von Craig werden?«

Oliver wusste im ersten Moment gar nicht, was er sagen sollte. Und das kam sehr selten vor, da er sonst immer eine Antwort auf alles hatte, und wenn es nur ein dummer Spruch war. »Ich?«, fragte er und deutete mit dem Zeigefinger auf seinen Brustkorb. »Ich habe keine Ahnung von Kindern. Das müsstest du wissen.«

»Du sollst ihn auch nicht bei dir aufnehmen und ihn umsorgen, sondern für Craig einfach nur ein liebevoller Freund sein.«

»Ehrlich? Ich fühle mich gerade ein wenig überfordert! Warum fragst du nicht deine Schwester? Wäre sie nicht eher dafür geeignet?«

»Nein, ich frage dich, es sollte doch ein Mann sein. Denk drüber nach, okay?«

»Ja, darüber muss ich einmal schlafen.« Im Geiste fragte er sich, welche Aufgabe ein Taufpate wohl hatte, und wie er – Oliver – dem Baby ein guter Freund sein konnte. Er notierte sich im Geiste, dass er dies dringend im Internet nachschauen musste. Auf keinen Fall wollte er Ian vor den Kopf stoßen.

Plötzlich schwang die Tür auf, und ein betrunkener Mann polterte herein. Sekunden zuvor war der Raum mit Gesprächen erfüllt gewesen, doch jetzt konnte man die berühmte Stecknadel fallen hören.

Die Kleidung des Mannes bestand aus alten Lumpen. Der Mantel war rissig und hatte faustgroße Löcher. Der Hut auf seinem Kopf hatte auch schon seine besten Tage hinter sich gebracht, und ganze Bündel von Fäden hingen wie ein Schleier von ihm herab. In seiner rechten Hand hielt der Mann, gut verpackt in einer braunen Papiertüte, eine Flasche fest. Wein oder Schnaps, mutmaßte Oliver, stand auf und machte einen Schritt auf den Obdachlosen zu. 

Aber Ian hielt ihn an seinem Unterarm fest. »Nicht! Lass ihn. Er hat nichts getan.«

Für einen kurzen Moment war Oliver verwirrt. Wer hatte was nicht getan? Was meinte Ian damit? Und dann sah er die blonden Locken, die unter dem Hut hervorquollen. Für einen kurzen Moment schloss Oliver seine Augen und hatte wieder das Bild des damals 52-Jährigen vor sich, der wimmernd vor ihm auf dem asphaltierten Boden gelegen und um sein Leben gebettelt hatte. Das Blut war ihm gleichzeitig aus Mund und Nase geschossen, als Oliver ihm einen Kinnhaken verpasst hatte, der ihn im wahrsten Sinne des Wortes die Schuhe auszog. Oliver war an diesem Abend, sieben Tage nach dem Tod seiner leiblichen Mutter, an dem ihm seine Eltern gestanden hatten, ihn damals als Baby adoptiert zu haben, gut eine halbe Stunde von Peak Forest nach Eyam gefahren und hatte den vermeintlichen Mörder nach seinem Dienst auf dem Mitarbeiterparkplatz abgepasst. Damals vor 15 Jahren war Oliver 33 gewesen und in die Fußstapfen seines Adoptivvaters getreten. Roland Johnson war Polizeichef in Peak Forest, und nichts lag für ihn näher, als dass sein Sohn in seinem Revier arbeitete. Doch der Fall »Nancy Wright« war in allen Medien zu verfolgen gewesen, natürlich auch der einzige Tatverdächtige, der immer mit einem spitzbübischen Lächeln in die Kamera geschaut hatte. So kam es, dass Roland mit seiner Ehefrau Caro ihrem Adoptivsohn die ganze Wahrheit erzählen mussten. Das schlechte Gewissen, das sie schon Jahrzehnte belastete, war seelisch für die beiden einfach nicht mehr zu ertragen gewesen. Damals am Tag der Geburt von Oliver war Nancy erst 17 Jahre alt gewesen. Ihre Eltern waren streng katholisch, und natürlich musste man den guten Ruf wahren. Somit kam der ungewünschte Nachwuchs still und heimlich unter vorgehaltener Hand zu den Johnsons.

Oliver schluckte kräftig, und schon ballte sich die Hand wieder zu einer Faust. Dieser ekelhafte Dreckskerl!, schoss es ihm wie ein Torpedo durch den Kopf. 

Doch Ian hielt ihn noch immer am Unterarm fest. Er stand auf und versperrte Oliver den Weg zwischen den Tischen zu Joshua Harris, der Oliver direkt anstarrte.

Joshua Harris kam einen Schritt auf die beiden zu, hob seine Flasche in die Höhe und lallte: »Prost! Auf dich und deine hübsche Mutter!« Ein zahnloses Lachen folgte.

Oliver dachte in diesem Moment nichts mehr. Alle Gedanken, alle Vorsätze, alle Versprechen waren ausgelöscht, verbrannt in dem Buschfeuer, das sich in Windeseile in ihm ausbreitete und alles zerstörte, was sich ihm in den Weg stellte. Er fixierte Joshua Harris mit seinen Augen und schob seinen Oberkörper nach vorne. Er war bereit für den Kampf. Mittlerweile waren auch schon andere Gäste aufgesprungen und versuchten, den Obdachlosen aus dem Raum zu schieben. Wieder andere unterstützen Ian, der sich mit all seiner Kraft gegen Oliver stemmte. Auf Ians Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet.

»Du Mörder!«, schrie Oliver und presste sich gegen die abwehrende Menge, sodass der Tisch mit einem lauten Poltern umfiel und sich das Bier über den Boden verteilte.  

»Hör auf jetzt!«, herrschte Ian ihn an. Er keuchte mehr als er sprach.

Endlich schaffte es die Menge, den Obdachlosen aus dem Lokal zu befördern, aber Olivers Muskeln waren zum Zerreißen gespannt.

»Setz dich wieder hin!«, befahl Ian und deutete auf die Bank, die durch das umgeschüttete Bier zwar einige Spritzer abbekommen hatte, aber ansonsten trocken geblieben war. »Setz dich!«, wiederholte Ian und schubste ihn leicht.

Oliver gab nach. Er kaute auf seiner Unterlippe herum, entspannte sich aber gleich wieder. Er dachte an die aufwendige Vertuschungsaktion, die sein Vater gemeinsam mit Ian veranstaltet hatte, nur um ihn vor dem Schlimmsten zu bewahren. Und an die Unmengen von Alkohol, die er sich später reingezogen hatte, einfach an all das, was dann gekommen war, das sein Leben fast zerstört hätte.

Oliver setzte sich auf die Bank, und Ian stellte den Tisch wieder auf. Cath stand bereits hinter ihm und wischte den Boden nass auf. Es roch nach Zitrone. Der Geruch blieb auch noch, als Cath mit ihrem Eimer längst verschwunden war.

»Was will dieser Scheißkerl hier? Wusstest du davon, dass er hier ist?«, fragte Oliver und schaute Ian fragend an.

»Nein. Woher sollte ich das wissen? Du weißt doch selbst, dass wir Joshua aus dem Ort gebracht haben, an dem Abend … Ja, er war der Liebhaber deiner Mutter, und ja, er hatte ein Motiv. Ich gebe dir Recht. Doch er kann es nicht gewesen sein. Versteh das endlich! Tu nicht so, als hättest du das alles vergessen.«

»Was macht er dann wieder hier? Was soll das? Will er mir zeigen, wer der Stärkere ist?«

»Oliver, wir werden das herausfinden. Gemeinsam. Und keine Alleingänge!«

Oliver seufzte.

6

5 Jahre zuvor

 

Oliver wippte mit seinem Fuß unter dem sechseckigen Tisch. Nervös rutschte er mit seinem Hinterteil auf dem lederbezogenen Stuhl hin und her. Außer ihm war nur noch ein Pärchen in dem kleinen Kaffeehaus. Arthur hatte den Treffpunkt ausgesucht, mitten in der Innenstadt von Liverpool. Oliver schaute, wie schon mehrere Male zuvor, auf seine Armbanduhr. Gleich war es so weit, und er würde zum ersten Mal in seinem Leben seinen Bruder sehen. Wobei, wenn man es genau nahm, Arthur war sein Halbbruder. Der Tod der gemeinsamen Mutter war schon zehn Jahre her, doch es hatte knapp zwei Jahre gedauert, bis sich Oliver auf die Suche nach Arthur gemacht hatte, und weitere acht Jahre, bis er den Mut dazu gefunden hatte, mit ihm in Kontakt zu treten, wusste er doch nicht, wie sein knapp 15 Jahre jüngerer Halbbruder auf ihn reagieren würde. Oliver war ansonsten nicht so zimperlich, doch schien es in diesem Fall so, dass er über seinen eigenen Schatten springen müsste.

Er hatte sich für das Treffen extra fein gemacht und trug ein kurzärmliges Hemd sowie eine dunkle Jeans. Als er sich vor wenigen Stunden noch im Spiegel betrachtet hatte, hatte er im ersten Moment tatsächlich darüber nachgedacht, ob er nicht doch lieber eine Krawatte umbinden sollte, doch diesen Gedanken hatte er gleich wieder verworfen. Er öffnete erneut die beiden obersten Knöpfe des Hemdes. Auch die schönen schwarzen Schuhe hatte er aus dem Schrank gekramt. Die für besondere Anlässe, die ja doch viel zu selten vorkamen. Alles in allem war es so, als hätte er gleich ein Date mit einer Frau. Sogar die Zeit fürs Rasieren hatte er sich heute genommen. Nun strich er sich über sein ungewohntes unbehaartes Kinn. Wieder blickte er auf seine Uhr. Es waren erst 20 Sekunden vergangen, seit er das letzte Mal darauf geschaut hatte. Oliver seufzte. Sein Kaffee, den er vor mindestens 15 Minuten bestellt hatte, stand unberührt auf dem hellen Holztisch. Natürlich war er bereits kalt, doch Oliver nahm einen Schluck.

»Oliver?«

Er schaute auf. Vor ihm stand Arthur. Hochgewachsen, bekleidet mit Anzug und Krawatte, und lächelte ihn an.

»Hallo Arthur!« Auch Oliver stand auf und reichte seinem Halbbruder die Hand.

Arthur erwiderte die Geste. »Schön dich endlich mal persönlich zu treffen!«

»Ja, das finde ich auch. Wo hast du übernachtet?«

»Ich bin erst heute in Edinburgh losgefahren. Sind ja nur vier Stunden Autofahrt.«

»Aha, also um fünf Uhr in der Früh«, antwortete Arthur. »Ich schlafe auch in Hotelbetten sehr schlecht. Da haben wir definitiv etwas gemeinsam.«

Das Eis war gebrochen zwischen den beiden, denn sie lachten.

»Weißt du«, sagte Oliver und stockte einen Moment. »Ich hatte echt ein wenig Angst vor unserem ersten Gespräch.«

»Warum denn? Wir haben doch schon des Öfteren miteinander telefoniert. Und nun erzähl! Du willst die Stelle in Eyam wirklich annehmen? Bist du dir da sicher?«

»Ja, das will ich. Ich habe die letzten Jahre damit verbracht, jedes kleinste Detail über den Mord an unserer Mutter herauszufinden. Ich denke, wenn ich direkt vor Ort bin, dann habe ich da mehr Chancen auf Antworten.«

»Was glaubst du, wieso ich Psychologie studiert habe? Okay, das wollte ich vorher schon, habe ich doch meine Berufswahl schon in jungen Jahren getroffen. Ich wollte in die Psyche eines Menschen blicken können. Ihn verstehen, was in ihm vorgeht, und warum manche Menschen böse sind. Verstehst du?«

»Hast du jemals darüber nachgedacht, zurück nach Eyam zu gehen?«

»Ich weiß nicht. Ich denke, die Zeit ist noch nicht dafür gekommen. Wobei ich das nicht ausschließen möchte. Doch zuerst möchte ich mein Studium fertigmachen. Stecke doch noch mittendrin. Und wenn ich darüber nachdenke, dass wir uns – du als Polizist und ich als Psychologe – doch gegenseitig unterstützen könnten …«

»Moment.« Oliver unterbrach ihn. »Nur weil ich den Posten als Chefinspektor angenommen habe, weil der alte Polizeichef gestorben ist, heißt das noch lange nicht, dass du mich unterstützen kannst. Polizeiarbeit ist ein anderes Ding als nur zu quatschen.« Er zwinkerte Arthur zu.

7

Ihre Augen waren noch geschlossen. Selig schlummerte sie in ihrem Bett, mit Ketten an Füßen und Händen, die an der Innenseite gepolstert waren, damit sich die Patienten nicht selbst verletzen konnten, wenn sie daran rissen. Ihre Augenlider zuckten. Sie träumte. Ein monotones Piepen aus dem Überwachungsgerät unterstrich die drückende Stimmung, die wie eine schwarze Wolke über Arthur schwebte.

»Es tut mir leid«, flüsterte er und strich ihr sanft über das blonde kurze Haar. »Ich musste es tun. Du darfst nicht mit Oliver sprechen. Auf keinen Fall!« Den einzigen Stuhl im Krankenzimmer der Psychiatrie hatte er ganz nah an ihr Bett gestellt. Er fühlte sich schuldig. War er ja auch. Ein Kloß bildete sich in seinem Hals, als er ihr erneut eine Dosis des Beruhigungsmittels durch ihren peripheren Venenkatheter spritzte. Er packte die Spritze wieder in die Tasche seines weißen Mantels und fasste nach ihrer Hand. Ihre Haut war eiskalt, und er steckte die Hand unter die wohlig warme Decke. 

Niemals darf Oliver erfahren, was ich gemacht habe, ging es Arthur durch den Kopf. Niemals! Ich weiß nicht, ob er mir das jemals verzeihen könnte. Noch einmal betrachtete er die schlafende Frau, dann erhob er sich und schlich aus dem Zimmer. 

8

Schweißgebadet wachte Oliver auf. In seinem Schädel pochte es wie die unerbittlichen Schläge der Kirchenglocke gegen das Metall, als er seine Augen öffnete. Die Leuchtziffern seines Weckers spiegelten sich an der Decke: 5:41 Uhr. Er schloss wieder seine Augen und massierte mit den Zeigefingern die Schläfen, doch die erhoffte Entspannung trat nicht ein. Mühsam quälte er sich aus dem Bett und schlurfte durch seine dunkle Wohnung, bis er am kleinen Esstisch Platz nahm. Er goss Wasser von der Karaffe ins Glas und trank es in einem Zug leer. Dann starrte er aus dem Fenster hinaus in die Dunkelheit. Was war das für ein beschissener Traum gewesen? 

Die höhnische Fratze von Joshua, die sich über den leblosen Körper seiner leiblichen Mutter gebeugt hatte, war ihm untergekommen. Oliver wollte ihn wegdrängen, doch seine Füße waren wie festgewurzelt stehen geblieben. Joshua hatte nur gelacht und war dann in den Körper seiner Mutter geschlüpft.

Dann war er – Gott sei Dank – endlich aufgewacht.

Die Kopfschmerzen ließen allmählich nach, doch Oliver beschloss, eine Schmerztablette einzunehmen. Nur für den Fall der Fälle. Er griff zu seinem Telefon und wählte Ians Nummer. Dreimal hintereinander musste er anrufen, bevor sich eine verschlafene Stimme am anderen Ende meldete.

»Was ist los?«, flüsterte Ian und räusperte sich.

»Ich frage mich noch immer, warum dieser Scheißkerl wieder hier ist.«

»Hast du jetzt die ganze Nacht darüber nachgedacht?« Im Hintergrund hörte Oliver eine knarzende Tür, gefolgt von einem Piepen.

»Dieses Ekelpaket ist mir in meinem Traum begegnet. Er ist in den Körper meiner Mutter geschlüpft.«

»Und deswegen rufst du mich um kurz vor sechs Uhr morgens an?« Ein leises Klirren folgte wie Porzellantassen, die aneinanderstießen, dann hörte Oliver die Kaffeemaschine, die den frischen Kaffee mahlte.

»Es tut mir leid. Ich kann an nichts anderes mehr denken. Ich bin es meiner Mutter schuldig, verstehst du das? Ich muss ihren Mörder finden.«

»Können wir das vielleicht in einer Stunde besprechen, wenn ich munter bin? Wir treffen uns im Büro und suchen uns alles über diesen Fall zusammen, ja? Weißt du schon, wann wir zu der unbekannten Frau können? Hat dein Bruder schon etwas gesagt?«

»Nein, aber ich werde ihn gleich anrufen. Bis später dann.« Er hörte noch Ians Widerworte, dass es eigentlich zu früh sei, um bei jemandem anzurufen, doch Oliver drückte das Gespräch einfach weg und wählte aus seiner Kurzwahlliste Arthurs Nummer.

»Ja«, meldete sich dieser nach dem zweiten Klingelton etwas atemlos.

»Warum bist du schon munter?« Oliver schaute nochmals auf die Uhr und überzeugte sich, dass ihm sein Geist keinen Streich gespielt hatte.

»Ich jogge gerne in den frühen Morgenstunden. Das solltest du eigentlich wissen. Ich bin soeben zu Hause angekommen.«

»Wann kann ich zu der Frau? Hast du da schon etwas für mich?«

»Nein, derzeit noch nicht. Wie gesagt, ich melde mich bei dir. Gib ihr doch erst mal ein wenig Zeit. Sie muss von ihrem Medikamententrip herunterkommen.«

»Konntest du analysieren, was ihr verabreicht wurde?«

»Ja, sie hatte LSD im Blut. Daher auch ihre Wahnvorstellungen.«

»Ich muss dringend mit ihr sprechen, das weißt du. Sie hat Informationen, die uns sicher auf die richtige Spur bringen können und auch endlich den Fall unserer Mutter aufklären werden.«

»Weißt du schon etwas über das Blut, mit dem sie übergossen wurde? Von ihr stammt es auf keinen Fall. Äußerlich konnte auch der Arzt, der gestern bei ihr war, keine Verletzung feststellen.«

»Noch nicht. Das Ergebnis steht noch aus.«

»Sie wurde vergewaltigt«, sagte Arthur und seufzte.

»Dachte ich mir. Wurde Sperma oder wurden sonstige verwertbare Spuren gefunden?«

»Nein, nichts. Glaubst du, es ist derselbe Täter?«

»Ja! Es war Joshua Harris. Ich habe ihn gestern im Pub gesehen. Er ist wieder da.«

»Was hast du getan?«, sagte Arthur und sog scharf die Luft ein.

»Nichts. Ian war dabei. Ich habe ihm nichts getan, aber ich werde ihn heute suchen und fragen, warum er wieder hierher zurückgekehrt ist. Es kann nur den einen Grund geben. Er will wieder morden.«

»Vergiss nicht, warum du zehn Jahre in Edinburgh gelebt hast.«

»Ja!«, sagte Oliver und dachte einen Moment lang darüber nach. »Ich komm heute am Nachmittag bei dir vorbei, okay? Vielleicht ist die Frau dann schon klarer im Kopf, und ich bekomme endlich ein paar Antworten.«

»Wie du meinst«, antwortete Arthur, und Oliver beendete das Gespräch.

 

***

 

»Aber wenn es Joshua nicht gewesen ist, wer sollte es sonst gewesen sein? Er hatte doch ein eindeutiges Motiv, findest du nicht?« Oliver blätterte die Akte durch. Die Worte, die dort geschrieben standen, konnte er mittlerweile auswendig.

»Wir haben das schon tausendmal durchgekaut in den letzten Jahren. Sie hatte keinerlei Feinde, also zumindest wissen wir nichts davon. Die Nachbarn, die Freunde, die Angestellten ihrer Firma. Wir haben mit allen schon zig Mal gesprochen, doch es führt uns immer wieder zum gleichen Ergebnis. Nämlich zu gar nichts.«

Oliver schaute auf die Bilder, die er auf seinem Schreibtisch in einem Quadrat hingelegt hatte. Bilder vom Tatort, von dem nackten Körper, Detailaufnahmen von dem Brandmal. »Was hat dieses Zeichen zu bedeuten?« Er tippte mit seinem Zeigefinger auf den Skorpion.

»Das ist, zumindest denke ich das, der Schlüssel, der uns fehlt.«

»Wir wissen noch immer nicht, wer die unbekannte Frau ist, die bei meinem Bruder auf der Station liegt. Die Fingerkuppen wurden wie bei der kopflosen Frauenleiche weggeätzt. Der Zahnabdruck lieferte bisher noch kein Ergebnis. Mist, wir müssen wissen, wer sie ist.«

»Da hilft nur abwarten.«

»Na, dann werden wir uns jetzt einmal diesen Joshua holen und ihn befragen.« Oliver stand auf, doch Ian schaute ihn entgeistert an.

»Wie oft willst du ihn denn noch befragen? Gefühlte hundertmal hat er uns schon die gleiche Geschichte erzählt, die du auch hier drin …«, Ian pochte auf die dicke Akte, »… lesen kannst. Das führt zu nichts. Außer dass du dich wieder aufregst und vielleicht wieder etwas Dummes machst.«

»Du bist ja dabei.« Oliver zwinkerte ihm zu und verließ das Büro. Er war fest entschlossen, diesen Fall endlich zu lösen. Ein »Pling«, das aus seinem Computer ertönte und eine neue Mail ankündigte, ließ ihn umkehren. Er öffnete das Programm. »Eine Mail vom Labor«, sagte er zu Ian, der sich hinter ihn stellte und mitlas.

»Okay, also das Blut stammt eindeutig nicht von der unbekannten Frau. Das ist doch wieder ein Zusammenhang, findest du nicht?«, sagte Oliver und drehte sich zu seinem Kollegen um.

Ian nickte nur zustimmend.

»Wir müssen noch überprüfen lassen, ob es sich hierbei um dasselbe Blut wie bei meiner Mutter oder beim ersten Opfer handelt.« Er leitete die Mail an seinen Kollegen weiter, der das während seiner Abwesenheit überprüfen sollte.

Wenige Momente später saßen die beiden im Dienstwagen, der direkt vor dem Revier geparkt war. Oliver startete und fuhr die Hauptstraße entlang. An jeder Straßenkreuzung hielt er das Auto an und blickte sich in alle Richtungen um.

»Weißt du, wo Joshua sich aufhält?«, fragte Ian nach einigen Minuten.

»Nein«, sagte Oliver und kaute auf seiner Unterlippe umher.

»Und du willst jetzt ganz Eyam absuchen in der Hoffnung, du findest ihn zufällig? Das klingt ein wenig irre, findest du nicht?«

»Wir finden ihn schon. Wo halten sich Obdachlose auf? In der Nähe einer Kirche, weil es dort immer einen Pfarrer gibt, der Mitleid hat, oder eben auf einem Platz mit vielen Menschen, wo sie ein paar Pfund zusammenbekommen, wenn sie betteln.«

»Okay, bei der Kirche sind wir schon vorbei. Dort war er nicht. Also, was denkst du, wo könnten wir noch suchen?«

»Eyam Hall. Wo sonst findet er spendierwütige Touristen?«

Fünf Minuten später parkte Oliver den Streifenwagen auf den Parkplatz vor dem mehr als 350 Jahre alten Herrenhaus. Oliver hatte noch nie verstanden, was an diesem Haus so besonders war. Erbaut im jakobinischen Stil, hatte es allerdings von außen keinerlei Aufputz an der Fassade. Alles in allem glich es eher einem Betonbunker, der in die Jahre gekommen war.  

Sie stiegen aus und gingen den gepflasterten Weg in Richtung Haupteingang entlang. Eine Reisegruppe kam aus dem Haus und blieb direkt auf der großen Terrasse stehen. Die meisten hielten noch ihr Smartphone in den Händen und fotografierten. Der Reiseführer hielt einen rosaroten Schirm in die Luft und redete in einer Sprache, die Oliver nicht verstand. Spanisch oder Französisch? Sprachbegabt war er noch nie gewesen, und somit konnte er außer einigen Brocken Irisch keine weitere Fremdsprache. 

Auf der rechten Seite sah er im gepflegten Garten einige Angestellte, die hastig Stühle auf den Rasen stellten. Wieder andere schmückten den Pavillon mit Blumen. Vermutlich fand hier heute eine der unzähligen jährlichen Hochzeiten statt. Auch Ian hatte seine Sue vor drei Jahren hier geheiratet, erinnerte sich Oliver, und gleichzeitig auch an den mörderischen Kater, den Ian einen Tag danach gehabt hatte. Er schmunzelte bei diesem Gedanken.

»Sag mal, ist Arthur auch ein Wright dieser Linie?«, fragte Ian aus heiterem Himmel und blieb vor der Tafel stehen, die die Geschichte dieses Hauses erklärte.

»Nein, das denke ich nicht. Wobei … Ich habe noch nie darüber nachgedacht.« Oliver war über Ians Gedankensprung etwas überrascht. Sie suchten doch nach dem Mörder seiner Mutter! Aber vermutlich dachte auch Ian gerade an den schönsten Tag in seinem Leben mit Sue zurück.

»Ist das nicht das schönste Hochzeitsgeschenk, das man einer Frau machen kann? Ich meine, dieses Haus wurde als Geschenk erbaut. Es war mit Sicherheit …«, doch er wurde  schroff von Oliver unterbrochen.

»Okay. Du hörst jetzt auf damit, so sentimental zu sein. Ich will nichts mehr über deine romantischen Gedankengänge wissen. Deine Frau hat dich ziemlich weichgespült. Findest du nicht?«

Ian verzog seinen Mund, sagte aber nichts weiter dazu, sondern folgte Oliver die Stufen hinauf.

Vor der Eingangstür stand eine riesengroße Tafel mit Sektgläsern, die auf Silbertabletts die Gäste erwarteten. Daneben die noch leeren Sektkühler. Und dann sah er ihn, wie er da am Boden saß und die Touristen zahnlos anlächelte, die ihm einige Pence in den Hut warfen. Oliver schubste Ian an und nickte mit dem Kopf in Richtung Joshua.

Das »Du benimmst dich und baust keinen Scheiß« überhörte Oliver einfach und ging schnurstracks auf Joshua zu. Er wartete einen kurzen Moment, bis auch die letzten Touristen sich der Reisegruppe wieder zugewendet hatten, und zischte zu Joshua: »Wir müssen reden. Komm!«

Doch der blieb im Schneidersitz sitzen und machte keinerlei Anstalten, sich zu erheben. Stattdessen schaute er Oliver direkt in die Augen. »Ich geh nirgendwohin. Geht weg! Ihr versaut mir mein Geschäft.«

»Na gut. Wie du willst!« Oliver lehnte sich an die Hausmauer und verschränkte die Arme vor seiner Brust. Er bemühte sich, den Zorn, der in seinem Inneren loderte, nicht nach außen dringen zu lassen. »Ich habe Zeit.«

»Ich versteh nicht, was du von mir willst. Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich nichts mit der Sache zu tun habe?« Joshua blickte zu ihm hoch und hielt sich die flache Hand waagrecht auf die Stirn, da er von der Sonne geblendet wurde.

»Mit welcher Sache?«

»Mit dem Tod deiner Mutter. Was solltest du sonst von mir wollen?«

»Was ist mit der Frau, die wir gestern gefunden haben?«

»Woher soll ich das wissen? Ich war den ganzen Tag hier. Nein, stimmt nicht. Mittags war ich im Miners Arms. Da krieg ich immer was. Kann dir sicher die hübsche Cath bestätigen. Oder auch nicht.« Joshua zuckte gelangweilt mit den Schultern.  

»Was machst du hier? Wieso bist du wieder zurückgekommen?«

»Das geht dich überhaupt nichts an.«

»Doch, tut es.«

»Ich wollte wieder nach Hause.«

»Hier ist aber nicht mehr dein Zuhause.«

»Das hast du nicht zu bestimmen!« Joshua nahm seinen Hut und leerte den Inhalt in seine Handfläche. Dann setzte er ihn wieder auf seinen Kopf und stand auf. »Du wirst niemals herausfinden, was passiert ist. Darauf kannst du einen lassen.«

Ganz nah trat Oliver an ihn heran. Er überragte Joshua um einen guten Kopf und blickte von oben auf ihn hinunter. Der penetrante Geruch nach Alkohol kroch ihm sofort in die Nase. Doch davon ließ er sich nicht beirren. »Sag endlich, was du weißt!« Er spie ihm die Worte förmlich entgegen.

Joshua lachte amüsiert auf und ging einen Schritt zur Seite. »Ich weiß nichts!« Mit diesen Worten drehte er den beiden den Rücken zu und schlurfte davon.

Oliver ballte seine Hand zu einer Faust und boxte gegen die Hausmauer.

Sofort packte Ian seine Hand und zischte: »Hör auf! Es hat keinen Sinn. Lass uns gehen.«

»Dieses Arschloch weiß etwas, und doch sagt er kein Sterbenswort. Wieso nicht?«

»Wir können nichts dagegen tun. Das ist dir klar, oder? Und es aus ihm rauszuprügeln, ist keine Option.«

Oliver starrte in die Ferne und sah Joshua zu, der wenige Augenblicke später hinter dem gemauerten Zaun verschwand. In seinem Inneren brodelte es gefährlich, und doch musste er nun Ruhe bewahren.

»Wir fahren jetzt einmal zu deinem Bruder und schauen nach der Frau. Vielleicht ist sie schon bei Sinnen und kann uns einige Fragen beantworten.«

9

15 Jahre zuvor

 

Es waren erst drei Tage vergangen. Drei Tage, an denen Arthur in den Nächten geweint hatte und nur vor lauter Erschöpfung einschlief. Immer wieder erschien dasselbe Bild vor seinen Augen: Seine Mutter stand vor ihm, lächelte ihn an und reichte ihm die Hand. Sie war in ein gleißendes Licht gehüllt, wie eine Art Nebel. Er wollte nach ihr greifen, doch im selben Moment schoss ihm das Blut aus ihren Augenwinkeln entgegen. 

Immer der gleiche Traum, immer die gleiche Stelle, an der er schreiend aus seinen Träumen erwachte. Auch jetzt fuhr er hoch und Augenblicke später riss er sich sein durchgeschwitztes T-Shirt vom Leib. Er warf es in die Ecke zu den anderen, die sich in den letzten Nächten dort angesammelt hatten.

Arthur hörte die Schritte im Flur, die sich seinem Zimmer näherten, und schließlich öffnete sich die Tür. Sein Vater trat ein, wie schon wenige Stunden zuvor, und drückte auf den Lichtschalter. Das Licht flackerte kurz, bevor es die gesamte Helligkeit an den Raum abgab. Arthur kniff seine Augen zusammen und sah trotzdem die tiefen Falten, die sich im Gesicht seines Vaters gebildet hatten. Die schwarzen Ränder unter dessen Augen sprachen Bände. Langsam kam er zu ihm ans Bett und setzte sich auf die Bettkante.

»Arthur, wir werden umziehen. Du musst hier weg! So geht das nicht weiter. Wir brauchen Hilfe. Du und ich.«

»Aber Papa! Wo sollen wir denn hin? Wir haben doch hier unser Zuhause. Und wenn Mama wieder nach …« Doch weiter kam er nicht, denn die Realität hatte ihn schlagartig eingeholt. Seine Mutter würde niemals mehr wiederkommen. Bittere Tränen traten aus seinen Augenwinkeln und rannen über sein Gesicht. Dabei hatte er sich geschworen, nicht vor seinem Vater zu weinen. Arthur war immerhin schon 16 Jahre alt, und da gehört es zum Mannsein einfach dazu, stark zu sein und seine Gefühle nicht zu zeigen. Er wandte seinen Blick zur Bettdecke, so sehr schämte er sich.

Sein Vater legte seinen Zeigefinger unter Arthurs Kinn und hob den Kopf. Dann wischte er mit der Handfläche über seine Wange. »Es ist okay, Arthur. Lass deinen Schmerz raus. Es tut mir leid, wirklich. Auch mir fehlt deine Mutter sehr, aber wir müssen hier weg. Hier erinnert mich alles an sie, und jedes Mal, wenn ich das Haus verlasse und auf die Wiese blicke, liegt sie dort. Verstehst du? Ich kann hier nicht mehr leben und du auch nicht. Wir müssen neu beginnen! Wie wäre es mit Liverpool? Du wolltest doch Psychologe werden? Auf eine gute Uni gehen? Das wäre der richtige Ort, um vielleicht wieder glücklich zu werden.«

Arthur starrte seinen Dad mit weit aufgerissenen Augen an. Er konnte kaum fassen, welche Worte aus dessen Mund sprudelten. Er fuhr sich mit dem Handrücken über seine Augen und glaubte im ersten Moment an eine Fata Morgana. Noch niemals hatte er seinen Vater weinen gesehen. Noch niemals war auch nur eine einzelne Träne dessen Wangen hinabgekullert. Doch nun schien alles anders zu sein. Sein Vater wollte seine Mutter aus dem Leben drängen, wollte sie entfernen, aus dem Herzen ausradieren. Hier war Arthurs Zuhause, hier waren seine Freunde, seine Schule. Alles, an dem ihm etwas lag, sollte er nun aufgeben? Es war eindeutig sein Vater, der hier wegwollte, wegmusste.

»Ich will Mama nicht vergessen. Ich liebe sie doch. Ich will hier nicht weg.«

»Arthur!«, sagte sein Vater und nahm Arthurs Hand in die seine. Vaters Hand war kühl, fast schon kalt. »Ich rede nicht von vergessen. Du sollst deine Mutter immer in deinem Herzen tragen. Aber es tut mir weh zu sehen, wie du leidest. Ich will nur das Beste für dich. Lass uns darüber sprechen, wenn die Sonne wieder aufgegangen ist. Du musst endlich zur Ruhe kommen.«

10

Arthur wollte soeben an die Bürotür seines Chefs klopfen, doch laute Männerstimmen drangen an sein Ohr, und er hielt inne. Ein Streit, dachte er sofort und kam mit seinem rechten Ohr näher an die Tür heran, um mehr als nur die wenigen Wortfetzen, die er bisher gehört hatte, mitzubekommen. Ein lauter Knall war zu hören, dann vernahm er Schritte, die schnell näherkamen. Sofort wich er von der Tür zurück und versteckte sich hinter einer der vielen Säulen, die in der psychiatrischen Klinik zu finden waren. Das Haus selbst ähnelte von außen einem kleinen Turmschloss und befand sich auf einem Hügel, der einem bei dem Fernblick den Atem raubte. Arthur genoss diesen Ausblick jeden Tag, wenn er seine Patientengespräche führte. Auch innen zog sich der Baustil aus dem Ende des 18. Jahrhunderts durch. Somit gab es neben den prunkvollen Säulen auch eine beachtliche Anzahl an Kronleuchtern, die an den geschwungenen, stuckverzierten Decken hingen.  

Arthur lugte hinter der Säule hervor und erschrak, als die Tür mit Schwung aufgerissen wurde und eine Person aus dem Raum stürmte. Er sah nur noch den schwarzen Mantel, der um die nächste Ecke bog und dann verschwand. Einen Moment wartete Arthur noch ab, bevor er sich wieder hervortraute. Sein Chef war schon immer streng gewesen und hatte erst vor wenigen Wochen einige Mitarbeiter entlassen. Vermutlich war es bei dem Gespräch gerade auch um dieses Thema gegangen, denn die jetzt Arbeitslosen waren nicht erfreut gewesen, ihre Kündigung zu erhalten, obwohl die Geschäfte mit den Patienten besser denn je verliefen. Arthur für seinen Teil war erleichtert gewesen, dass die Einsparungsmaßnahmen seines Chefs weder ihn noch seine Abteilung betrafen. Somit wollte er, auch wenn er einige der Kollegen und das Pflegepersonal gekannt hatte, auf keinen Fall für jemanden Partei ergreifen. Langsam ging er zu der noch offen stehenden Tür. Ob nun der richtige Moment, mit dem Chef zu sprechen, gekommen war, bezweifelte er stark. Er strich mit der Handfläche über sein Hemd, richtete seinen Kragen und blickte zu seinen Schuhen, die im Sonnenlicht, das durch die großzügigen Fenster in den langen Flur fiel, glänzten.

Später. Ich komme später wieder! Er drehte auf dem Absatz um, da hörte er die polternde Stimme seines Chefs, der ihm die Worte entgegenschrie: »Was schleichen Sie da draußen herum? Haben Sie nichts zu tun?« 

Für einen Moment raubten ihm diese Worte den Atem, und Arthur begann, unter seinen Achseln zu schwitzen. Das ekelhafte nasse Gefühl unterdrückend setzte er sein schönstes Lächeln auf und betrat das Büro. Der Raum selbst war kaum größer als sein eigenes Büro. Ein protziger dunkler Schreibtisch nahm einen großen Teil des Zimmers ein. Dahinter befand sich an der kompletten Wand ein dunkles Bücherregal mit fein säuberlich sortierter Fachliteratur. In der rechten Ecke stand eine Sitzgarnitur. Laut Erzählungen sollte Königin Victoria diese erstanden und auf dem geschwungenen Tisch auch ihren Tee abgestellt haben.

Sein Chef sah ihn mit bohrendem Blick an. Sein Gesicht war hochrot, und die Schlagader an seinem Hals pochte sichtbar.

Arthur schluckte, dann räusperte er sich. »Sie wollten mich sehen?«

»Ja! Hinsetzen!«, befahl Mister McLeod, und Arthur gehorchte. »Weshalb ich Sie kommen ließ? Wie weit sind Sie mit dieser unbekannten Frau? Ich meine, wer ist sie und vor allem, wer bezahlt ihren Aufenthalt hier?«

»Ich … ähm … Noch ist sie nicht bei Bewusstsein, aber mein Bruder wird das alles noch ermitteln.« Er zwang sich, trotz seiner wie Espenlaub zitternden Hände, ruhig zu bleiben.

»Sie haben bis morgen noch Zeit. Dann will ich entweder wissen, wer ihre Behandlung bezahlt, oder ich lasse sie vor die Tür setzen. Ist das klar?« Es war ein unmissverständlicher Unterton, der in der Stimme des Klinikchefs mitschwang.

»Natürlich, Mister McLeod, ich kümmere mich sofort darum.« Noch während er sich aus dem Sessel erhob, läutete Arthurs Handy in seiner Arztmanteltasche. McLeod hob für Sekunden seine linke Augenbraue, vertiefte sich aber gleich wieder in eine Akte, die vor ihm lag.

Arthur nahm das Gespräch entgegen. »Ja?«

»Wo bist du? Ich bin in deinem Büro«, erklang Olivers Stimme.

»Ich komme gleich.« So schnell er konnte, verließ er den Raum und schloss leise die Tür hinter sich. Erst dann atmete Arthur durch.

11

Oliver steckte sein Handy zurück in die Gürteltasche und drehte sich zu Ian um. »Ich verstehe, warum Arthur hier so gerne arbeitet.« Er deutete aus dem Fenster. Vor ihnen erstreckte sich der weitläufige Garten, der zu dem Turmschloss gehörte. Ein englischer Garten. Die Wege waren mit weißem Schotter angelegt. Alle paar Meter sah man am Wegrand Rosenbögen, die mit verschiedenfarbigen Blumen bepflanzt waren. Ein großer Springbrunnen plätscherte inmitten des Gartens. Einige Patienten des Hauses dösten in der Nachmittagssonne auf den Bänken, die kreisförmig um den Brunnen angeordnet waren. Direkt an das Grundstück, das mit einem drei Meter hohen massiven Metallzaun eingezäunt war, schloss der Wald an, der zusätzlich noch zum Wasserspiel die notwendige Ruhe ausstrahlte, die die Bewohner hier bitternötig hatten.

Auch Ian genoss für einen Augenblick die Aussicht und seufzte schwer.

»Was ist los?«, fragte Oliver, und erst jetzt fielen ihm die dunklen Augenringe unter Ians Augen auf.

»Ach, ich habe gestern mit Sue gestritten. Und mir tut es leid. Ich weiß auch nicht. Im Moment ist alles, was ich sage, falsch.«

»Sie ist schwanger, und ich habe mir sagen lassen, dass die Hormone einer Frau da einfach durchdrehen.«

»Aha, du bist ja der volle Profi, was? Die Hormone können nicht durchdrehen, nur die Frau selbst, die dann unter extremen Stimmungsschwankungen leidet. Und ihr Ehemann gleich mit.«

»Naja, ich hatte noch nie eine Frau, die schwanger von mir wurde. Sorry«. Oliver hob fast schon entschuldigend seine Schultern in die Höhe.

»Ich habe das jetzt nicht so gemeint. Ach, egal. Lassen wir das. Ich will dich nicht mit meinen Problemen belästigen.«

»Wir sind nicht nur Kollegen, sondern schon jahrelang, eigentlich jahrzehntelang Freunde. Also, um was ging es bei diesem Streit? Kannst du das mit einem Blumenstrauß und einer Schachtel Pralinen wieder geradebiegen?«

»Hör mir ja auf mit Süßigkeiten! Die schlägt mir Sue um die Ohren, weil sie doch schon so fett ist, wie sie sagt. Seit ihr Bauch immer größer wird und es ihr immer schwerer fällt, etwas zu arbeiten, ohne dass sie sich wenige Minuten danach setzen muss, isst sie nichts Süßes mehr«, sagte Ian und schwieg einen Moment, bevor er weitersprach. »Ich habe gestern nur gefragt, warum sie für Craig den gefühlt hundertsten Babystrampler bestellt hat. Die Kinder werden ja so schnell groß. Naja, den Rest kannst du dir ja denken. Ich hatte Glück, dass ich noch bei ihr im Bett schlafen durfte.« Ian lachte, und auch Oliver stimmte mit ein.

»Na? Darf ich mitlachen?«, wollte Arthur wissen, der soeben das Zimmer betrat und sich zu den beiden gesellte.

»Klar darfst du. Es geht um Hormone und Schlafstätten«, erklärte Oliver und prustete einen Lacher aus sich heraus.

Arthur zog seine rechte Augenbraue hoch, doch schon Sekunden später entspannten sich seine Gesichtszüge wieder, und seine Mundwinkel schoben sich nach oben. »Okay, es geht um Sue und die Schwangerschaft. Verstehe.«

»Wer den Schaden hat, braucht sich auch um den Spott nicht zu sorgen, was?«, warf Ian ein.

»Also, Bruderherz. Weswegen wir da sind, kannst du dir denken, oder?«

»Ja, aber sie ist noch nicht aufgewacht.«

»Können wir trotzdem zu ihr?«, fragte Oliver.

»Ich weiß zwar nicht, wie euch das weiterbringen soll, aber ja.« Zu dritt verließen sie das Büro und gingen den langen Flur entlang, bis sie beim Treppenhaus ankamen. Die unbekannte Frau lag in der obersten Etage des Turmschlosses. So stiegen sie die ersten Stufen hinauf. Ein Telefonklingeln unterbrach die Stille. Arthur blieb stehen und zog sein Handy aus seiner Tasche.

»Wright?«, sagte Arthur und schwieg. Zwischendurch nickte er. Sein Blick ging zuerst zu Oliver, dann sank sein Kopf herab, und er malte mit seinen Schuhspitzen unsichtbare Kreise auf die Stufe.

Oliver merkte sofort, dass etwas nicht stimmte, und legte ihm seine Hand auf die Schulter. Zwar kannten sich die beiden erst seit wenigen Jahren, sie waren auch nicht gemeinsam aufgewachsen, aber Blut ist dicker als Wasser. Für Arthur und auch für ihn war klar, dass sie nicht nur Halbgeschwister, sondern Brüder waren. Echte Brüder.

Schon als kleiner Junge hatte sich Oliver ein Geschwisterchen gewünscht. Wobei ihm natürlich ein männlicher Spielgefährte lieber gewesen wäre als ein weiblicher. Doch seine Mutter hatte ihm immer, zumindest als er noch klein war, erzählt, dass sie sich kein zweites Kind leisten konnten. Was ihm auch eingeleuchtet hatte, da seine Mutter nicht berufstätig war. Erst nachdem ihm seine Eltern die ganze Wahrheit erzählt hatten, platzten sie auch mit dem Geheimnis über die Unfruchtbarkeit seines Vaters heraus. Obwohl Oliver damals schon 33 Jahre alt war, hatte er dies als Vertrauensbruch empfunden und war tagelang nicht nach Hause gekommen, denn immerhin war er bis dahin sein ganzes Leben lang angelogen worden. Doch die beiden waren seine Eltern und ließen nichts unversucht, ihn wieder zu beruhigen. Was ihnen schlussendlich auch gelungen war. 

»Ich verstehe!« Arthur beendete das Gespräch. Sein Telefon hielt er krampfhaft in seiner Hand, die langsam nach unten glitt, und die Fingerknöchel wurden blutleer.

»Was ist los? Du bist ja ganz weiß im Gesicht.« Oliver trat eine Stufe hinunter und schaute seinem Bruder direkt in die Augen.

»Vater geht es schlecht«, sagte Arthur und seine Augen füllten sich mit Flüssigkeit. »Er hatte heute Mittag wieder einen epileptischen Anfall.« Er flüsterte mehr, als er sprach.

»Verdammter Mist!«, drang es aus Olivers Mund. »Ich dachte, es ginge ihm besser? Deswegen ist er ja in dieser Spezialklinik.« 

»Ja, es sah eine ganze Zeitlang danach aus, dass er wieder auf dem Weg der Besserung ist, aber der Arzt meinte soeben, er wäre austherapiert. Sie können nichts mehr für ihn tun. Der Hirntumor hat … Ich werde ihn abholen und hierherbringen lassen.«

»Ja, das ist vielleicht eine gute Idee.«

»Er ist der wichtigste Mensch in meinem Leben, außer dir natürlich. Aber mein Vater ist die einzige Verbindung noch zu unserer Mutter. Ich will ihn nicht auch noch verlieren.« Arthur wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augenwinkeln.

»Weißt du was? Du gehst jetzt in dein Büro zurück und organisierst alles für deinen Vater, und Ian und ich gehen zu der unbekannten Frau.«

»Nein!«, schrie Arthur, und das Wort hallte im Stiegenhaus wider. »Ich komme mit.«

Oliver wich einen Schritt zurück. Mit dieser aggressiven Reaktion hatte er nicht gerechnet. Er warf Arthur einen fragenden Blick zu.

»Entschuldigung«, meinte Arthur sofort, und sein entsetzter Gesichtsausdruck unterstrich, dass er dies ernst meinte und er sich selbst über seine Reaktion erschrocken hatte. »Ich wollte dich nicht anschreien. Vielleicht hast du recht. Zimmer 32. Oben rechts halten.«

 

***

 

Oliver nickte der Krankenschwester zu, die ihm im Flur begegnete. Sie hatte einen flotten Schritt und lächelte ihn an. Eine sehr attraktive Frau! Oliver drehte sich nach ihr um, als sie an Ian und ihm vorbeihuschte.  

»Sie könnte deine Tochter sein«, witzelte Ian und grinste.

»Sehr lustig! Danke für deine aufbauenden Worte.« Vor der Tür mit der Nummer 32 blieben sie stehen. Oliver klopfte, doch drinnen regte sich nichts. Kein Laut war zu hören. Langsam öffnete er die Tür und steckte seinen Kopf durch den Spalt hinein. Das Fenster stand sperrangelweit offen, und eine kalte Brise blies ihm entgegen.

»Hallo?«, rief er in den Raum, doch er erhielt keine Antwort. Im selben Moment schoss ihm durch den Kopf, dass die unbekannte Frau noch nicht bei Bewusstsein war. Was natürlich nur eine Schlussfolgerung zuließ – dass sie ihm deswegen nicht antworten konnte.

Oliver betrat zuerst das Zimmer, dicht gefolgt von Ian. Abrupt blieb Oliver stehen, sodass Ian ihn von hinten anrempelte. Er brauchte einen Moment, das leere, frisch gemachte Bett seinen Gedanken zuzuordnen. Es lag nicht an dem Umstand, dass es frisch bezogen war, sondern dass über das Bettzeug eine dünne Plastikplane gespannt war.

»Was ist hier los?«, fragte Oliver in den Raum hinein, als würde er darauf eine Antwort bekommen.

»Wo ist sie hin? Sind wir im richtigen Zimmer?« Ian stand nun neben Oliver, und beide starrten ungläubig auf das Bett.

Oliver raste förmlich hinaus auf den Flur, kontrollierte im Augenwinkel nochmals die Ziffern, die auf der Tür zu sehen waren. Im Laufschritt rannte er den Flur hinunter, auf der Suche nach jemandem vom Pflegepersonal. Die hübsche Schwester, die ihm vorhin entgegengekommen war, saß an der Information, die nur wenige Schritte vom Zimmer entfernt lag. Oliver stoppte und fragte atemlos: »Wo ist die unbekannte Frau von Zimmer 32?«

»Sind Sie ein Angehöriger?«, wisperte sie ihm entgegen und schaute ihn mit ihren tiefblauen Augen an.

»Polizei!«, spie er ihr entgegen. Welch eine dämliche Frage das doch war! Die Identität der Frau war niemandem bekannt; wie konnte er da ein Angehöriger sein?

»Ich muss Ihren Dienstausweis sehen.« Sie lächelte ihn an.

Oliver zog ihn aus seiner Hosentasche und klatschte ihn an die Glastrennwand. »So! Und jetzt Infos, aber flott! Wo ist sie?« 

»Vor einer Stunde kam ein Pfleger und hat sie mitgenommen. Die Papiere habe ich hier.« Sie zeigte auf einen Zettel, der auf einem Klemmbrett befestigt war.

»Her damit!« Oliver streckte ihr die flache Hand entgegen und riss ihr das Klemmbrett aus der Hand, als er es zu fassen bekam.

»Royal Hospital«, las er laut vor und bewegte sich schon in Richtung Treppenhaus, als die Krankenschwester protestierte.

»Moment! Sie können das ja nicht einfach mitnehmen.«

»Doch, ich bring das jetzt zu meinem Bruder, Doktor Wright. Ich muss genau wissen, wer diese Verlegung beantragt hat, und vor allem, warum ich darüber nicht informiert worden bin.«

Ihre Widerworte ignorierte Oliver, und gefolgt von Ian flogen sie förmlich die Stufen hinunter. Nur wenige Augenblicke später riss Oliver die Bürotür von Arthur auf, dem vor lauter Schreck fast sein Telefonhörer aus der Hand fiel.

Arthur hob sofort seine Hand in die Höhe und beendete in kurzen, knappen Sätzen sein Telefonat. Währenddessen stand er aus seinem Schreibtischsessel auf und umrundete den Tisch. Oliver behielt er genau im Auge wie ein Adler, der auf Beutefang war. »Was stürmst du hier so rein? Gibt es einen Notfall?«

12

Arthurs Herz klopfte so schnell, dass er Angst hatte, jeden Moment ohnmächtig zu werden. Sein Bruder kannte die Wahrheit, doch konnte die Frau ihm unmöglich Informationen gegeben haben. Er selbst hatte sie sediert. Im Stillen verfluchte er diesen Tag, an dem diese Frau in seine Hände gefallen war.

Oliver hielt ihm das Klemmbrett entgegen. »Wer hat das angeordnet?«, fragte er und tippte ungeduldig auf die Worte »Patient Transfer«. 

»Was ist das?«, fragte Arthur und von einem Moment auf den anderen wurde ihm heiß, als er die Patientennummer las. Patientennummer A27854. Die unbekannte Frau! Im ersten Moment war es wie ein Schock für ihn, und er hielt sich mit der Hand an der Schreibtischkante fest. Es dauerte einen Augenblick, bis er die Fassung wiedererlangte. »Hier steht Doktor Brown. Ich kenne keinen Doktor Brown hier, und es ist auch sehr ungewöhnlich, dass eine andere Klinik eine Verlegung anordnet. Auch der Grund für die Verlegung ist hier nicht angegeben. Sehr merkwürdig.« Arthur tippte mit zittrigen Fingern die Telefonnummer, die auf dem Schein angegeben war, in die Tastatur seines Festnetztelefons und stellte das Telefonat auf Lautsprecher. Das darf doch wohl nicht wahr sein! Ich bin schuld! 

»Hier ist Doktor Wright«, meldete er sich, als eine freundliche weibliche Stimme erklang. »Ich möchte mit Doktor Brown reden.«

»Welche Abteilung?«

»Das weiß ich leider nicht. Wie viele Doktor Browns gibt es bei Ihnen?«

»Einen kleinen Moment bitte.« Arthur hörte Tippgeräusche, dann ein Räuspern.

»Tut mir leid, bei uns arbeitet kein Doktor Brown mehr.«

»Was heißt das? Er hat bei Ihnen gearbeitet? Oder wie?«

»Doktor Brown ist seit zwei Jahren nicht mehr bei uns.«

Oliver stand während des Gesprächs still neben Arthur, doch jetzt kam er ganz nah ans Telefon heran. »Sie stehlen mir meine Zeit. Wo ist dieser Doktor? Hier spricht die Polizei. Hier wurde eine Frau aus dem Krankenhaus entführt, und dieser Doktor Brown soll es angeordnet haben.«

Außer Atemgeräuschen war nichts zu hören. Dann ein Klicken, und die Musik der Warteschleife setzte ein. Gleich darauf meldete sich eine männliche dunkle Stimme.

»Hier spricht Doktor Wilson. Ich hörte, Sie suchen nach Doktor Brown.«

Gleichzeitig sprachen Oliver und Arthur ein »Ja« aus. 

»Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass er vor zwei Jahren einen Autounfall hatte. Er war auf der Stelle tot. Aber nach all dieser langen Zeit – wie kommen Sie auf ihn?«

»Hören Sie …«, Oliver nahm das Telefon an sich, »… ich habe hier einen Patientenverlegungsschein in meiner Hand. Darauf steht die Adresse Ihres Krankenhauses, und Ihr Doktor Brown soll das angeordnet haben.« 

»Das kann nicht möglich sein. Wir hatten schon seit Wochen keine Verlegungen mehr. Sie müssen wissen, außer der Notaufnahme haben wir geschlossen. Es wird umfangreich saniert. Wir haben alle Patienten in unser Schwesterkrankenhaus bringen lassen.« 

»Also, demnach ist dieser Schein in meiner Hand gefälscht. Ich lasse Ihnen das zukommen, nur um sicherzugehen.«

»Natürlich. Aber ich bin mir sicher, dass hier niemand dies angeordnet hat. Schon gar nicht mit einem falschen Namen. Sie müssen wissen, dass alle Papiere, die auf den Namen von ausgeschiedenen Ärzten ausgestellt waren, vernichtet wurden.« 

»Okay. Danke Ihnen für die Auskunft.« Oliver legte den Telefonhörer auf und schaute gedankenverloren auf seine Armbanduhr, dann blickte er Ian an. »Es ist zu spät für eine Absperrung. Der Entführer der Frau ist schon über alle Berge. Verdammt!« 

»Ich informiere die Zentrale über den Vorfall, ja?« Ian verließ das Büro von Arthur, ohne auf Olivers Antwort zu warten. 

»Hör zu, Oliver«, begann Arthur zu sprechen. »Du musst dich erst einmal setzen und zur Ruhe kommen.« Er wusste nicht, wie er die richtigen Worte finden konnte, um zu erklären, was er getan hatte. Doch etwas musste er sagen. Er sah keinen Ausweg mehr, hatte keine Chance es zu verheimlichen. Oliver würde ihn hassen, sein ganzes Leben lang.

»Ich will jetzt nicht auf deinen Psychoquatsch eingehen! Lass mich in Ruhe damit! Falls du es nicht verstanden hast, die Frau ist fort! Entführt! Wer weiß, ob wir sie jemals lebend wiedersehen! Wie konnte das bloß passieren? Ich muss sie finden. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue.«

»Aber Oliver …«, sagte Arthur noch, doch Oliver rannte aus dem Zimmer. Die Tür knallte lautstark hinter ihm zu, und Arthur fuhr vor Schreck zusammen. Seine Gedanken überschlugen sich, und er stierte die weiße Wand an. Was soll ich bloß tun? 

13

»Es hat keinen Sinn! Wir wissen ja nicht einmal, nach wem wir suchen sollen. Kein Kennzeichen, keine Automarke.«

Oliver wusste insgeheim, dass Ian mit dieser Aussage recht hatte. Seit Stunden fuhren die beiden mit dem Dienstwagen durch Eyam, doch keiner von ihnen wollte sich eingestehen, dass dies zu keinem Ergebnis führte. Es konnte doch nicht sein, dass eine Frau aus einer Klinik einfach so entführt werden kann! Sie wäre der Schlüssel gewesen, nach dem Oliver schon 15 Jahre suchte. Der Schlüssel, der den Mörder seiner Mutter überführte. Der diesen Dreckskerl endlich hinter Gitter brachte oder in ein Grab, das Oliver höchstpersönlich für ihn schaufeln würde.

»Okay!« Oliver holte tief Luft. »Wir sehen uns nochmals alle Akten an. Wir übersehen etwas. Da bin ich mir sicher.«

Ian erwiderte nichts darauf.

Doch auch ohne Worte wusste Oliver genau, was er dachte. Dass es zwecklos war, alles nochmals durchzusehen. Aber er hatte es ihr versprochen, an ihrem Grab, dass er ihren Mörder finden würde. Nichts und niemand würde ihn dazu bringen, einfach aufzugeben. Nicht so kurz vor dem Durchbruch.

Zehn wortlose Minuten später setzte sich Oliver an seinen Schreibtisch. Ian nahm ihm gegenüber Platz. Oliver nahm die Akte von dem Stapel auf der linken Seite seines Schreibtisches.

Das erste Foto zeigte eine Frauenleiche, die fast ganz mit Blättern aus dem Wald bedeckt worden war. Den Kopf, der mit einem Beil abgehackt worden war, hatten sie niemals gefunden, obwohl der gesamte Bereich damals untersucht worden war. Auch die Identität der nackten, blutverschmierten Frau konnte nicht zweifelsfrei geklärt werden, da ihre Fingerkuppen verätzt waren und sie, trotz Abgleich im Polizeisystem, nicht als Vermisste erschien. Doch der Fundort der Leiche war auf keinen Fall der Tatort, denn unter dem Leichnam wurde nur wenig Blut aufgefunden, was niemals zu dem immensen Blutverlust, der die Abtrennung des Kopfes nach sich gezogen hatte, hätte passen können. 

Oliver las den Bericht des gerichtsmedizinischen Institutes:

 

Die Verletzungen im Schambereich sowie auch die inneren Verletzungen in Vagina und After entstanden sowohl ante als auch post mortem und lassen auf mehrfache Vergewaltigung schließen. Keinerlei verwertbare Spuren gefunden. 

 

Dann nahm er sich die Akte von Nancy Wright – seiner Mutter – zur Hand und schlug den Bericht aus der Gerichtsmedizin auf:

 

Die Verletzungen im Schambereich sowie auch die inneren Verletzungen in Vagina und After entstanden post mortem und lassen auf Vergewaltigung schließen. Keinerlei verwertbare Spuren gefunden.

 

Er legte beide Papiere so nebeneinander, dass sie sich nicht überlappten. Dann stützte er sich auf dem Tisch auf und kratzte sich auf der Stirn. Er schaute zu Ian, der den Bericht von der unbekannten Frau in der Hand hielt und las. »Lass mich diesen gerichtsmedizinischen Bericht auch einmal lesen. Dazu hatte ich ja noch gar keine Zeit.« Ian gab ihm die Akte, und Oliver blätterte den Bericht des Arztes, der die Frau eingehend untersucht hatte, durch.

 

Keinerlei Anzeichen für Vergewaltigung.

 

Oliver zwinkerte mit den Augen. Hierbei konnte es sich doch nur um ein Versehen handeln, oder? Nochmals las er den einen Satz. »Das stimmt doch nicht! Arthur hat mir doch am Telefon erzählt, dass die Frau vergewaltigt wurde.«

»Ach so? Wann? Was steht im Bericht?«

»Am Telefon, als ich dich früh morgens aus dem Bett geklingelt habe. Danach habe ich ja Arthur angerufen. Da hat er mir das erzählt. Und hier steht, dass keine Anzeichen für eine Vergewaltigung gefunden wurden.« Oliver kramte das Telefon aus seiner Hosentasche und wählte Arthurs Nummer. Doch auch nach mehrmaligen Versuchen nahm dieser das Gespräch nicht entgegen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752134094
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Februar)
Schlagworte
Mord düsteres Geheimnis Geheimbund Eyam britischer Thriller Regionalkrimi England Serienmörder Ermittler Duo serienkiller Dorf Krimi Thriller Spannung Noir Psychothriller

Autoren

  • Drea Summer (Autor:in)

  • Chris Gilcher (Illustrationen)

Drea Summer, gebürtige Österreicherin, lebte im schönen Südburgenland. Sie begann ihre Schreibkarriere mit der Auswanderung nach Gran Canaria vor mehr als vier Jahren. Die „Insel des ewigen Frühlings“ inspiriert sie, schaurige und blutige Geschichten, die in ihrem Kopf herumspuken, niederzuschreiben.
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Titel: Totennektar