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Das Medikament: Psychothriller

von Chris Karlden (Autor:in)
324 Seiten

Zusammenfassung

Ein Medikament, dessen Nebenwirkungen unvorhersehbar sind. Eine Entscheidung, die einen wahren Albtraum heraufbeschwört. Aufgrund einer seltenen Erkrankung verschwimmen für den jungen Anwalt Jan Flemming zunehmend die Grenzen zwischen Realität und falscher Wahrnehmung. Seinen Job in einer renommierten Hamburger Kanzlei musste er deshalb bereits aufgeben. Zudem droht seine Ehe unter der Last der immer schlimmer werdenden Symptome zu zerbrechen. Da er seine Frau nicht verlieren will, stellt er sich als Testpatient für ein Heilung versprechendes Medikament zur Verfügung. Kurz darauf passieren schreckliche Dinge, in die Jan verstrickt zu sein scheint. Um seine Unschuld zu beweisen, ermittelt er auf eigene Faust. Dabei stößt er auf Erkenntnisse, die ihn zutiefst schockieren und eine Wahrheit, die alles verändert.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ÜBER DAS BUCH

Aufgrund einer seltenen Erkrankung verschwimmen für den jungen Anwalt Jan Flemming zunehmend die Grenzen zwischen Realität und falscher Wahrnehmung. Seinen Job in einer renommierten Hamburger Kanzlei musste er deshalb bereits aufgeben. Zudem droht seine Ehe unter der Last der immer schlimmer werdenden Symptome zu zerbrechen. Da er seine Frau nicht verlieren will, stellt er sich als Testpatient für ein Heilung versprechendes Medikament zur Verfügung. Kurz darauf passieren schreckliche Dinge, in die Jan verstrickt zu sein scheint. Um seine Unschuld zu beweisen, ermittelt er auf eigene Faust. Dabei stößt er auf Erkenntnisse, die ihn zutiefst schockieren und eine Wahrheit, die alles verändert.

ÜBER DEN AUTOR

Chris Karlden, Jahrgang 1971, studierte Rechtswissenschaften und arbeitet als Jurist in der Gesundheitsbranche. Sein erster Psychothriller »Monströs« wurde zum E-Book-Bestseller. Seitdem sind von ihm mehrere Thriller in verschiedenen Verlagen und im Selfpublishing erschienen. Der Autor lebt mit seiner Familie grenznah zu Frankreich und Luxemburg im Südwesten Deutschlands. Mehr Informationen zum Autor unter https://chriskarlden.de

ZU RISIKEN UND NEBENWIRKUNGEN

lesen Sie die am Ende des Buches abgedruckte Gebrauchsinformation.

1

Ich habe Angst vor den Nächten mit ihren unendlich langen Stunden des Wachseins und den kurzen albtraumbehafteten Schlafperioden dazwischen. Meine daraus resultierende Müdigkeit ist schmerzhaft. Sie verursacht mir Übelkeit. Sie ist mein Goliath, gegen den ich täglich kämpfe und gegen den ich, anders als David, stets den Kürzeren ziehe. Sie ist mein Stein des Sisyphus, den ich Tag für Tag von Neuem beginne, den Berg hinaufzurollen, und sie ist meine Windmühle aus Cervantes Don Quichotte. Meine Müdigkeit hat mich verwandelt. Das bin nicht mehr ich, der da benommen durch die Tage schlingert und wankt. Das ist ein anderer. Eine schlechte Kopie von mir. Eine Fälschung. Das Leben sollte sich anders anfühlen. Ich weiß es, denn ich habe einmal gelebt.

Fünf Monate zuvor

Meine Stirn knallt dumpf krachend auf die Kante meines Schreibtischs. Der heftige Schmerz reißt mich wie eine Explosion aus dem Schlaf. Für den Bruchteil einer Sekunde weiß ich nicht, woran ich bin und was mit mir geschieht. Dann, als es mir klar wird, ist es bereits zu spät.

Der Zusammenprall meines Schädels mit der Tischkante hat wie bei einer Billardkugel, die gegen die Bande gespielt wird, meine Fallrichtung verändert. Alles geht so rasend schnell, dass es mir unmöglich ist, mich zu regen, geschweige denn, mich abzufangen. Ich kann nur registrieren, was passiert, während Blut über mein Gesicht schießt, Adrenalin mich durchflutet und Panik meinen Atem erdrückt.

Ich stürze mit Schulter und Kopf voran auf das Eichenparkett. Es ist, als würde ein Boxhandschuh aus Beton gegen meinen Schädel donnern. Ich werde ohnmächtig. Dann pulverisieren Lichtblitze die Dunkelheit und mein Bewusstsein kehrt zurück. Das Bild einer zerplatzten Wassermelone, deren rosarotes Fleisch auf dem Boden verteilt liegt, kommt mir in den Sinn. Mir wird schlagartig übel. Der Kaffee, den ich vorhin getrunken habe, drängt sich bitter meine Speiseröhre hinauf. Ich würge, schlucke schwer und verhindere knapp, dass ich mich übergeben muss. Als ich die Augen langsam öffne, erkenne ich eine Blutlache, die sich langsam unter meinem Kopf ausbreitet. Ich stöhne auf und schließe wieder die Augen. Für einen Moment bleibe ich reglos auf der Seite liegen und atme schwach vor mich hin. Ein kratzendes Rauschen wie bei der vergeblichen Suche nach einem Radiosender tritt in meine Ohren. Dadurch bemerke ich, dass ich seit meinem Aufschlag auf den Boden taub war und bis jetzt rein gar nichts mehr gehört habe. Plötzlich ist das Rauschen weg, und als hätte jemand Stöpsel aus meinen Gehörgängen gezogen, nehme ich die Umgebungsgeräusche wieder wahr.

Die eiligen Schritte zweier Personen klappern über den Holzfußboden. Businessschuhe mit harten Ledersohlen. Ich lege meine Hand auf die Stelle über der rechten Augenbraue, die so höllisch wehtut, und spüre das feuchte warme Blut an meinen Fingern. Als ich mich langsam auf den Rücken drehe und die Augen wieder öffne, sehe ich verschwommen in die Gesichter von Boris Jasper und Alexander Wellenstein, die beide in die Knie gegangen sind und sich über mich beugen.

Vor elf Jahren haben Boris und Alexander ihre Kanzlei Jasper & Wellenstein gegründet, und im Laufe der Zeit hat sich diese zu einer der angesehensten Anwaltssozietäten Hamburgs entwickelt. Mir ist instinktiv klar, dass aus meinem großen Ziel, Juniorpartner zu werden, nun nichts mehr wird. Ich verziehe die Mundwinkel zu einem gequälten Lächeln und erkenne an der in Falten gelegten Stirn von Boris und in den Blicken beider eine Mischung aus Besorgtheit und Missbilligung. Ich hätte es nicht so weit kommen lassen dürfen und meinen Platz schon vor Wochen räumen sollen. Einige peinliche Momente wären uns erspart geblieben, wie zum Beispiel der, als ich letzte Woche während einer Besprechung mit allen Anwälten der Kanzlei eingeschlafen bin, und mit dem, was nun geschehen ist, als Höhepunkt. Es geht um den Ruf der Kanzlei. Das besagen ihre Blicke, und sie haben recht. Alexander reicht mir mehrere Papiertaschentücher, die ich auf meine Wunde presse.

»Herr Flemming ist plötzlich umgekippt.«

Ich erkenne die zittrig helle Stimme meiner siebenundvierzigjährigen Mandantin. Mein Beratungstermin mit ihr war gerade beendet. Ich wollte sie zur Tür meines Büros begleiten, um mich dort von ihr zu verabschieden. Mit einem gewinnenden Lächeln erhob ich mich von meinem Drehsessel und wandte mich zur Seite, um hinter meinem Schreibtisch hervorzukommen. Dann schlief ich ein. Abrupt und aus heiterem Himmel. Vermutlich sind meine Beine weggesackt und mein Oberkörper ist mit Schwung vornübergefallen. Die teuflische Präzision, mit der meine Stirn auf der Tischkante aufschlug, ist bemerkenswert.

»Sollten Sie nicht einen Rettungswagen verständigen?«

Die Stimme meiner Mandantin, die ich nicht sehe, aber irgendwo in der Nähe der Tür stehend vermute, klingt hysterisch. Um ihre Nerven ist es momentan nicht gut bestellt. Ihr Mann hat sie betrogen, und ich durfte daraufhin die Scheidung für sie einreichen. Dass ich vor ihr zusammengebrochen bin, muss verstörend für sie gewesen sein. Ich sehe vor mir, wie die Frau hilferufend ins Foyer gerannt ist, was dann Boris und Alexander auf den Plan geholt und vermutlich alle anderen zurzeit in der Kanzlei anwesenden Mandanten in Angst und Schrecken versetzt hat.

Schmerzlicher als meine pochende Stirn empfinde ich meine Scham gegenüber meiner Mandantin. Mein unrühmlicher Kontrollverlust, mein Einschlafen und Hinfallen zeugen von Schwäche. Wie soll sie mir jemals wieder die nötige Stärke zutrauen, sie bestmöglich zu vertreten?

»Das ist nicht so wild, wie es aussieht«, beschwichtigt Boris unterdessen die Frau.

Als ich mich erhebe, greifen er und Alexander mir unter die Arme und helfen mir auf meinen Schreibtischsessel.

»Tut mir leid«, sage ich zu meiner Mandantin. »Danke, dass Sie so besorgt um mich sind, aber es ist wirklich wieder alles in Ordnung. Wäre die Tischkante nicht im Weg gewesen, man würde mir nichts ansehen.« Ich lächle schief, glaube aber nicht, dass sie mir meine gespielte Unbekümmertheit abnimmt.

»Sie haben mir einen gehörigen Schrecken eingejagt«, sagt sie schließlich und zieht missmutig die Augenbrauen hoch. Dann lächelt sie. »Aber Hauptsache, es ist nichts Schlimmeres mit Ihnen.« Sie nickt mir, Boris und Alexander zum Abschied freundlich zu, dreht sich auf ihren hohen Absätzen um und verlässt das Büro in Richtung Ausgang. Dabei stößt sie fast mit Annette, einer jungen Büroangestellten, zusammen, die mit einem Erste-Hilfe-Koffer herbeieilt. Annette bietet sich an, meine Wunde medizinisch zu versorgen. Ich danke ihr, möchte das aber lieber selbst machen. Die Vorstellung, vor den Augen meiner Chefs von einer Mitarbeiterin ein Pflaster aufgeklebt zu bekommen, empfinde ich als demütigend. Ich nehme mir aus dem Koffer, was ich brauche und gehe ins WC. Auf dem Weg durch den Flur dorthin wird mir schwindlig und meine Kopfschmerzen nehmen zu. Vor dem WC-Spiegel muss ich mich kurz auf dem Waschbeckenrand abstützen. Dann wasche ich das Blut von meinem Gesicht und nehme anschließend eine Ibuprofen Tablette, die ich mit Leitungswasser hinunterspüle. Der Bereich um den etwas mehr als zwei Zentimeter langen Riss über meiner rechten Augenbraue weist bereits eine deutliche Schwellung auf. Um die klaffende Wunde zusammenzuhalten, klebe ich zwei schmale Haftstreifen quer über den Cut und überdecke die Stelle anschließend noch mit einem großen Pflaster. Mein Schädel dröhnt und mir ist noch immer speiübel. Aber ich will nicht ins Krankenhaus oder zu einem Arzt. Ich will arbeiten. In einer halben Stunde habe ich den nächsten Termin mit einem meiner wichtigsten Mandanten. Mein weißes Hemd ist im Brustbereich von meinem Blut rot getränkt, und mein dunkler Anzug ist von Flecken überzogen, die sich deutlich abzeichnen. Aber ich habe Wechselkleidung im Garderobenschrank meines Büros deponiert. Ich lächle meinem Spiegelbild aufmunternd zu. »Du bist wieder da«, sage ich zu mir.

Das Mandantengespräch läuft hervorragend.

»Ich boxe in meiner Freizeit«, antworte ich, als der Mandant mich auf das Pflaster auf meiner Stirn anspricht.

Eine halbe Stunde nach dem Termin kommen Alexander und Boris zu mir ins Büro und legen mir mit betretenen Mienen nahe, mich unverzüglich krankzumelden und meine Tätigkeit als Anwalt ruhen zu lassen.

2

Heute

Es ist kurz nach achtzehn Uhr. Draußen ist es bereits dunkel. Doch mein Weg durch den kleinen Park, der nur zehn Gehminuten von unserem Haus entfernt in nordwestlicher Richtung auf der anderen Seite der Alster liegt, ist beleuchtet. Die Kronen der Bäume sind kahl und die ehemals grünen Blätter bedecken braun und nass den Weg. Es ist Anfang November und die Temperaturen liegen nur noch knapp über dem Gefrierpunkt. Ich fröstle, vergrabe die Hände in meinen Manteltaschen, bleibe stehen und blicke in den wolkenverhangenen Himmel. An einer Stelle blitzt ein Stern durch eine Wolkenlücke. Ich atme die frische, nasskalte Luft tief ein und halte sie an, solange ich kann. Währenddessen zähle ich die Sekunden, und als ich wieder ausatme, bilden sich weiße Wölkchen vor meinem Mund.

Ich vermisse mein früheres Leben, meine Freunde, die nach meiner Erkrankung mit der Zeit immer weniger wurden, das Tennisspielen und insbesondere an lauen Sommerabenden das gesellige Beisammensein danach. Ich vermisse es, ausgeruht und voll Energie in den Tag zu starten. Ich vermisse meine Arbeit, meine Kollegen und meine Mandanten. Ich vermisse den Blick aus dem Fenster meines im dritten Stockwerk gelegenen Büros, von wo aus ich das geschäftige Treiben von Fußgängern und Autos auf der Straße darunter beobachten konnte und von wo aus ich durch die Gebäudeflucht auf das Alsterfleet sah. Manchmal glaube ich, das edle Kirschbaumholz meines Büroschreibtischs unter meinen Fingern zu spüren, wenn ich morgens meine Hände auf den Küchentisch lege und die Augen schließe. Aber ich kann es verstehen. Eine Kanzlei von Rang und Namen kann sich keinen vor Müdigkeit gereizten und unkonzentrierten Anwalt erlauben, der mitten im Beratungsgespräch mit seinen Mandanten einschläft. Boris und Alexander wussten schon damals, dass es für mich keine Wiederkehr in ihre Kanzlei geben würde. Bereits drei Wochen später saß eine junge Anwältin mit einem halben Jahr Berufserfahrung an meinem Schreibtisch. Aber sie haben damals »ruhen lassen« gesagt, vom Aufgeben meines Jobs, von der Endgültigkeit haben die beiden kein Wort erwähnt. Das war sehr feinfühlig von ihnen. Das zeichnet gute Anwälte aus. Sie geben sich verständnisvoll wie Mitreisende auf einem sinkenden Schiff. Ich weiß, ich tue Boris und Alexander unrecht. In Wirklichkeit bin ich vermutlich nur verbittert. Ich habe fünf Jahre neben acht weiteren Anwälten unterschiedlicher Fachrichtungen am Standort Neuer Wall in unmittelbarer Nähe der Alsterarkaden, des Jungfernstiegs und des Rathauses für die beiden gearbeitet. Ich wäre wirklich gern Partner in ihrer Kanzlei geworden. »Stopp«, sage ich zu mir selbst und lasse diese mich traurig machenden Erinnerungen verschwinden. Stattdessen stelle ich mir vor, wie Barb zur Tür hereinkommt, ich ihr einen Kuss gebe, sie in die Arme schließe und sie lange festhalte. Ich lächle. Wenn sie in einer halben Stunde von der Arbeit kommt, will sie nicht mehr nach draußen in die Kälte. Sie wird müde sein, und ich will nur eins: bei ihr sein. Das Haus ist ein anderes, wenn sie darin ist. Wärmer, von Leben erfüllt. Sie wird etwas essen, es sich danach auf der Couch gemütlich machen, ein Buch zur Hand nehmen oder den Fernseher anschalten. Meine Frau Barbara ist ein Engel. Sie kümmert sich rührend um mich, versucht, die Krankheit zu akzeptieren, mich aufzubauen, mich nicht spüren zu lassen, dass ich heute nicht mehr derselbe Mann bin, den sie vor vier Jahren geheiratet hat.

Am östlichen Ende des Parks treffe ich auf ein paar Jugendliche, die auf einer Holzbank herumlungern. Sie hören Musik, rauchen, sind albern und trinken etwas. Einer von ihnen wünscht mir grinsend einen guten Abend. Ich weiß nicht, ob es ernst gemeint ist oder er sich nur über mich lustig machen will. »Danke, ebenso«, sage ich und fühle mich dabei sehr viel älter als die sechsunddreißig Jahre, die ich morgen werde.

Im Anschluss an den Park führt mich mein Spaziergang ein kurzes Stück an der Bundesstraße vorbei, dann biege ich rechts in eine Seitenstraße ab und gehe unmittelbar vor der Brücke nach links weiter. Dort führt eine schmale Straße am Ufer der Alster vorbei. Der Bürgersteig auf der linken Seite ist von in die Jahre gekommenen Häusern mit großen Grundstücken gesäumt, und an den Grünstreifen rechts neben der Straße schließt sich das Alsterufer an.

Die meisten der Wohngebäude hier haben noch die für Hamburg typischen roten Klinkerfassaden. Bei Tag kann man erkennen, dass die Fugen zwischen den Klinkern oftmals eine Erneuerung nötig hätten. Vermutlich leben in diesen Häusern noch die Menschen, die sie erbaut haben. In dem Viertel, in dem Barb und ich wohnen, ist der Generationswechsel hingegen deutlich sichtbar. Fast alle neuen Eigentümer haben ihren in den 50er-Jahren erbauten Häusern Rundumsanierungen spendiert und vielfach dabei die Klinker durch moderne Wärmeverbundsysteme mit glatten Putzfassaden ersetzt. Einige haben die roten Klinker einfach weiß gestrichen. Hinzu kommen neu angelegte Vorgärten, Zäune aus Edelstahl und herausgerissene Küchenwände, die die kleinen Räume an Größe gewinnen lassen. Barb und ich kämen nicht auf die Idee, an der Fassade unseres Hauses etwas zu ändern. Wir lieben unser leicht windschiefes Rotklinkerhaus mit seinem spitzen Satteldach, seiner einfachen weißen Haustür, die über wenige Treppenstufen erreichbar ist, und seinem Giebel, der wie bei allen übrigen Häusern im Nelkenstieg, die auch sonst ungefähr baugleich sind, zur Straße zeigt. Wir lieben den kleinen, leicht verwilderten Vorgarten, von dem ein mit einfachen grauen Betonplatten belegter Weg zur Vordertreppe führt und den eine schulterhohe Hainbuchenhecke zu einem Bürgersteig abgrenzt. Dieser ist so schmal, dass wenn sich darauf ausnahmsweise einmal zwei Personen begegnen, eine auf die ebenfalls enge Straße treten muss, um aneinander vorbeizukommen, was aber wiederum gefahrlos möglich ist, da der Nelkenstieg so wenig befahren wird, wie der Bürgersteig begangen wird. Viele unserer Nachbarn sind ungefähr so alt wie wir und stammen wie Barb und ich aus den umliegenden Stadtteilen des Bezirks Hamburg-Nord. In den letzten Jahren ziehen aber auch vermehrt Familien mit kleinen Kindern aus der Stadtmitte zu uns. Das hat die Immobilienpreise in die Höhe getrieben. Doch ein kleines Häuschen kann man sich hier noch immer um einiges besser leisten als in der Nähe der Innenstadt, die zudem nur gut zwanzig Minuten mit der Bahn oder etwa eine halbe Stunde mit dem Auto entfernt liegt.

Ich gehe diesen meinen Weg seit fünf Monaten fast jeden Abend. Im Sommer später, im Herbst früher, Hauptsache es ist dunkel. Bei Tag, wenn alle Welt arbeitet, durch die Gegend zu schlendern, käme mir falsch vor, und ich würde mich beobachtet fühlen, würde die Blicke der hinter den Fenstergardinen stehenden Menschen in meinem Rücken spüren, obwohl sie gar nicht da wären. Sobald es aber dunkel ist, habe ich die Welt draußen fast für mich allein. Um diese Zeit begegnen mir meist nur noch Hundebesitzer, die mit ihren Tieren vor Einbruch der Nacht Gassi gehen. Der Rest der Menschen scheint nur noch mit dem Auto unterwegs zu sein. Bürgersteige in einem Dorf erscheinen mir daher oft wie ein überkommenes Relikt aus einer anderen Zeit. Einer Zeit, als es noch an jeder Ecke kleine Lebensmittelläden gab, zu denen man sich zu Fuß aufmachte und nur so viel kaufte, wie man an einem Tag verbrauchte und in eine Tragetasche passte.

Als ich an dem einen im Verfall begriffenen Haus ankomme, bleibe ich dort wie immer stehen und betrachte es. Das Haus fasziniert mich. Es ist das einzige in dieser Straße, das derart heruntergekommen ist, und wirkt deshalb deplatziert und unwirklich, und doch ist es da. So wie meine Krankheit. Ich frage mich, wie viele Jahre es schon leer steht und ob es in zwanzig Jahren noch da sein wird. Wenn ja, wird es bis dahin nur noch eine Ruine sein, es sei denn, jemand nimmt sich ein Herz und renoviert es. Das Haus ist umgeben von Unkraut, und eine viel zu hohe Tanne neigt sich gefährlich über das moosbesäte und mit porösen Betonziegeln bedeckte Dach. Das bleiche, einst dunkle Holz der Haustür ist verzogen, sodass sie schief in den Angeln sitzt und ein breiter Spalt zwischen Türblatt und Laibung klafft. Der Mauerputz bröckelt großflächig ab und das Garagentor ist verbeult und rostig. Doch etwas ist heute anders als sonst.

Durch die schmutzige Gardine des Fensters rechts neben der Haustür scheint ein schummriges Licht, wie von einer Kerze, aber hell genug, um zu erkennen, was im Inneren vor sich geht. Schatten, die vermutlich zu einem Mann und einer Frau gehören, zeichnen sich plötzlich übergroß auf der Zimmerwand ab. Ich schrecke zusammen und ein Schauder überläuft mich, als der Mann beide Hände um den Hals der Frau legt und es so aussieht, als würde er sie würgen und dabei zu Boden drücken.

Ich spüre, wie ich mich vor Aufregung verkrampfe, obwohl ich weiß, dass ich gelassen bleiben muss. Ich renne über den Weg zur Haustür und rüttle daran. »Aufmachen«, schreie ich. »Hören Sie sofort damit auf.« Ein Poltern dringt nach draußen. Mir stockt der Atem. Mein Herz pocht lautstark gegen meine Brust. Mein Gesicht wird taub. Ich trete nah an das Fenster heran. Doch die dichte Gardine lässt mich immer noch nur schemenhaft erkennen, was in dem Zimmer dahinter passiert. Die Frau liegt am Boden. Sie strampelt mit den Beinen, während der Mann auf ihr sitzt und ihren Hals umklammert. Ich meine, ein Röcheln zu vernehmen. Mit der linken Hand trommle ich gegen die Scheibe. »Aufhören«, schreie ich wieder und zerre mit der Rechten mein Handy aus der Manteltasche hervor. Es ist, als ob der Mann im inneren mich nicht hören würde, denn er macht ungerührt weiter. Die Beine der Frau zucken nur noch. Meine Hände zittern, als ich die Nummer des Notrufs eingebe. »Kommen Sie schnell, hier geschieht ein Verbrechen.« Es gelingt mir noch, die Adresse zu nennen. Dann fällt mir das Mobiltelefon aus der Hand. Meine Beine erlahmen. Ich sinke zu Boden, liege vor der Tür und kann mich nicht mehr bewegen. Die Haustür bleibt verschlossen. Kein Geräusch ist mehr von innen zu vernehmen. Ich weiß, dass ich atmen kann, spüre aber nicht, dass ich es wirklich tue. Todespanik überkommt mich. Der Strahl einer Taschenlampe trifft auf meine Beine und wandert hoch bis zu meinem Gesicht. Gefühlt sind höchstens zehn Minuten vergangen. Eine weitere Taschenlampe strahlt auf die Haustür und das Fenster. Über mir höre ich das Rauschen der riesigen Tanne im Wind.

»Sind Sie verletzt?« Eine junge Polizistin beugt sich zu mir herunter. Ich will mich aufrichten, meinen Kopf schütteln und ihr sagen, dass ich gleich wieder okay bin. Aber ich kann nicht sprechen und ich kann mich nicht bewegen. Es ist ein grausames Gefühl, bei vollem Bewusstsein im eigenen Körper gefangen zu sein, und das Einzige, das funktioniert, sind die von abgrundtiefer Furcht getriebenen Gedanken.

»Sieht nach einem Schock aus«, raunt der ältere Polizist, der bei ihr ist, und fordert einen Rettungswagen an.

3

Von meinem Platz am Esszimmertisch sehe ich durch die offene Tür auf die aufgeräumten Arbeitsplatten unserer modernen Küche. Barbara sitzt mir gegenüber mit Blick auf die weiß getünchte Wand, an der das Ölgemälde einer von bunten Blumen übersäten Sommerwiese hängt. Auf dem Sideboard darunter stehen große handgeschnitzte Holzbuchstaben, die das Wort WELCOME bilden. Barb stößt einen tiefen Seufzer aus. Meine Hände ruhen hilflos wie zwei an Land gespülte Seesterne auf der gläsernen Tischplatte.

Der Blick, mit dem der ältere Polizist mich durchbohrte, als er aus dem unbewohnten Haus kam, dessen Haustür er zuvor mit einem Fußtritt geöffnet hatte, will mir nicht mehr aus dem Kopf gehen. Darin lag eine Mischung aus Zorn und Verachtung. Seine Kiefermuskeln zuckten. Aber er machte mir keinen Vorwurf. Die Kataplexie, die mich in ihrem lähmenden Griff hatte, war wie immer von selbst verschwunden, und dass ich plötzlich ohne ärztliche Hilfe wieder reden und mich bewegen konnte, als er aus dem Haus kam, machte ihn vermutlich noch misstrauischer.

»Dadrin ist niemand«, sagte er nur und überrumpelte mich damit so sehr, dass ich ihn nur erstaunt ansehen, aber auf Anhieb kein Wort herausbringen konnte. Seine junge Kollegin kam unmittelbar hinter ihm aus dem Haus und trat neben ihn. Vorwurfsvoll starrten mich beide an. Ich zuckte verlegen mit den Schultern. »Ich kann mir das nicht erklären«, stammelte ich schließlich und startete damit einen vergeblichen Versuch, meinen Anruf bei der Polizei zu entschuldigen. Ich erzählte, dass ich an einer seltenen Autoimmunerkrankung leide, die der Grund für den Zustand sei, in dem sie mich vorgefunden haben. Bereits nach meinen ersten Worten hatte ich den Eindruck, dass sie sich gedanklich verabschieden und nicht mehr zuhören würden. Vor allem spürte ich, dass sie mir nicht glaubten, dass ich in dem Haus jemanden gesehen hatte. Sie hielten mich vermutlich für einen Spinner. Genauso gut hätte ich zu der Tanne im Garten des Hauses sprechen können. Schließlich meldete die Polizistin per Funk an die Zentrale, dass es sich um einen falschen Alarm gehandelt habe, bestellte den Rettungswagen ab, und das war´s.

Mit wässrig schimmernden Augen sieht Barb mich an und knabbert auf ihrer Unterlippe. Langsam schiebt sie ihre Hand über den Tisch und legt sie auf meine.

Wir schweigen. Wir haben in letzter Zeit gemeinsam einiges ertragen müssen. Wir geraten nicht mehr so leicht aus der Fassung.

»Du weißt, dass ich es nicht mag, wenn du abends im Dunkeln allein spazieren gehst«, sagt sie schließlich. »Du hast das immer damit abgetan, dass ja noch nie was passiert sei. Aber jetzt kannst du das nicht mehr so einfach behaupten.«

Ich senke den Blick und streife mit meinen Händen durch mein Haar. Ich weiß, dass sie recht hat, will es aber nicht zugeben. Ich komme mir vor wie ein kleines Kind, das Mist gebaut hat, und muss aufpassen, dass ich nicht wieder in stummes Selbstmitleid versinke. Ich schließe die Augen. Es fällt mir schwer. Aber ich zähle im Geiste auf, was ich alles kann, und versuche dabei auszublenden, was ich nicht mehr kann. Als Anwalt arbeiten zum Beispiel und eine Familie ernähren. Neben dem abrupten Einschlafen tagsüber gibt es noch ein paar weitere Symptome meiner Krankheit. Gelegentlich wird mein morgendliches Aufwachen von Schlaflähmungen begleitet, bei denen ich mich dann trotz vollem Bewusstsein nicht mehr rühren kann. Währenddessen sind Halluzinationen nicht selten. Schlimmer noch empfinde ich die Kataplexien. Sie können in jeder erdenklichen Situation durch starke Gefühlsregungen wie Ärger, Aufregung, Wut oder auch nur Lachen ausgelöst werden. Wie bei der Schlaflähmung führt eine Kataplexie zum Erschlaffen meiner kompletten Muskulatur und lässt mich körperlich, wo auch immer ich mich befinde und was immer ich auch tue, zusammenbrechen.

Ich schüttle den Kopf und sehe Barb fest in die Augen. Meine Unterlippe bebt. »Sie haben nichts gefunden. Keine Spur eines Kampfes, keine Kerze, und es gibt auch keinen Strom im Haus.«

Sie drückt meine Hand fester, atmet tief ein, sodass ich sehen kann, wie sich ihr Brustkorb hebt, und atmet geräuschvoll wieder aus. »Möglicherweise hast du dir den Mann und die Frau in dem Haus nur eingebildet.«

Ich ziehe meine Hand weg und lehne mich in den Schwingstuhl zurück. »Das glaube ich nicht. Es sah absolut real aus.«

Barb legt den Kopf schief. »Es könnte aber doch sein.«

Ich beiße die Zähne zusammen. Es hat keinen Sinn, weiter mit ihr darüber zu reden. Eigentlich kann es nicht sein. Ich weiß aber, dass ich halluziniert haben muss, eine andere Erklärung gibt es nicht. Dennoch will ich nicht akzeptieren, dass mein Gehirn mir eine falsche Wahrnehmung vorgegaukelt hat.

Barb steht vom Tisch auf, geht hinüber zu der breiten Fensterfront und schaut hinaus in den dunklen Garten. Ich frage mich, was wohl in ihrem Kopf vorgeht. Früher hat das Leben mehr Spaß gemacht, vielleicht ist es das, was sie denkt. Meine Krankheit wird mir von Tag zu Tag unerträglicher, und ich glaube, dass sich das auf Barbara überträgt. Wir haben beide nicht damit gerechnet, dass unser bisheriges so perfektes und glückliches gemeinsames Leben jemals aus der Bahn geworfen werden könnte. Wir waren beide auf der Überholspur, jetzt stehe ich mit einem Totalschaden am Straßenrand. Was war, wird nie wieder so sein. Das war eine andere Ära. Momente unbeschwerten Glücks scheinen so unerreichbar fern wie die Sterne am Firmament. Wie viel hält unsere Beziehung aus? Schaffen wir es, einen neuen Weg zu finden? Vielleicht denkt sie auch daran, während sie nach draußen ins Nichts der Dunkelheit blickt.

Ich gehe zu ihr ans Fenster, streiche über ihr dichtes braunes Haar und lege meinen Arm um ihre Hüfte. Gemeinsam mit ihr starre ich ins Nichts. In Barbs von der Fensterscheibe reflektiertem Spiegelbild erkenne ich, dass sich ihre Augen mit Tränen gefüllt haben, was mein Herz zusammenkrampfen lässt.

»Gleich morgen rede ich mit Dr. Merten darüber«, sage ich. Barbara nickt zustimmend. Dr. Jakob Merten ist mein Hausarzt, seit ich denken kann. Ich habe lange gewartet, bis ich mich von ihm untersuchen ließ. Aber irgendwann musste ich einsehen, dass meine Schläfrigkeit bei Tag, trotz frühem Zubettgehen, ein besorgniserregendes Ausmaß erreicht hatte und ich meine Schlafstörungen ohne ärztliche Hilfe nicht in den Griff bekommen würde. Dr. Merten ließ mich einen speziellen Diagnose-Fragebogen ausfüllen. Anschließend brachten mehrere Aufenthalte in einem Schlaflabor die Gewissheit. Der Frühlingstag vor acht Monaten, an dem ich von Dr. Merten die sichere Diagnose erhielt, der Tag, an dem sich mein Leben radikal änderte, brannte sich unauslöschlich in mein Gedächtnis.

»Herr Flemming, bitte in den Untersuchungsraum eins«, dröhnte die freundliche Stimme einer Arzthelferin durch die Lautsprecheranlage an der Decke.

Ich trat ein und setzte mich auf den Stuhl neben der Untersuchungsliege. Ein paar Minuten später kam mein in die Jahre gekommener Hausarzt mit einem ernsten Gesichtsausdruck und seinem um den Hals hängenden Stethoskop in den Raum. Sein schlohweißes Haar stand wie immer in alle Richtungen ab und seine graublauen Augen flackerten nervös. Er begrüßte mich mit einem Handschütteln, nahm mein Krankenblatt, setzte sich an einen kleinen Sekretär und überflog die Eintragungen. Dann rückte er seinen Stuhl in meine Richtung, verzog die Mundwinkel zu einem kurzen schmallippigen Lächeln und sah mich mitfühlend über den oberen Rand seiner Brille hinweg an, die auf seinem pfeilgeraden Nasenrücken nach unten gerutscht war. »Also, Jan, wir haben jetzt alle nötigen Untersuchungsergebnisse, und daraus ergibt sich eine eindeutige Diagnose.«

Er machte eine Pause. Ich ahnte, was er sagen würde, und behielt recht.

»Ich habe dir ja schon erklärt, worum es sich aufgrund deiner Symptome handeln könnte, und nun haben wir leider die Bestätigung dafür bekommen.«

Mein Magen verkrampfte sich und auf meine Brust schien sich ein tonnenschweres Gewicht zu legen.

»Narkolepsie«, sagte er. Mir blieb die Luft weg, ich begann zu schwitzen und meine Hände wurden feucht. Alles, was er danach von sich gab, drang nur noch seltsam verzerrt, lang gedehnt und dumpf, als hätte ich Wattebäusche in den Ohren, zu mir durch.

Natürlich hatte ich mich, nachdem Dr. Merten den Verdacht geäußert hatte, dass es sich um die Schlaf-Wach-Krankheit handeln könnte, im Internet darüber schlaugemacht. Bis jetzt hatte ich, obwohl die beschriebenen Symptome auf mich zutrafen, allerdings irrationalerweise gehofft, nein, sogar fest geglaubt, dass mir etwas anderes fehlen müsse. Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte. Doch an diesem Tag brach das Kartenhaus des Verdrängens und Leugnens, das ich zum Schutz meines bisherigen Lebens um mich herum errichtet hatte, auf einen Schlag mit dem Wort Narkolepsie, das aus seinem Mund kam, zusammen. Unheilbar, dachte ich nur. Unheilbar!

»Abruptes Einschlafen, egal bei welcher Tätigkeit. Albträume, fehlender Tiefschlaf, generalisierte Schlafstörungen, Übermüdung. Schlaflähmungen beim Aufwachen und Einschlafen begleitet von Halluzinationen. Wenn es ganz schlimm wird, Lähmungen der Gesichtsmuskulatur bis hin zu ganzkörperlichen Muskellähmungen aufgrund starker Emotionen wie Lachen, Wut, Ärger, Angst oder Trauer.«

»Das ist total unwirklich«, entgegne ich. »Ich kann das nicht glauben. Warum jetzt? Warum hab ich nicht früher was davon bemerkt?«

Dr. Merten nickte verständnisvoll.

»Lass es mich dir so erklären. Um Narkolepsie zu bekommen, bedarf es einer genetischen Neigung deines Autoimmunsystems. Aber hinzukommen muss zwingend ein weiterer Auslöser. Ohne den erkrankst du nicht an Narkolepsie.«

»Und was soll das für ein Auslöser sein?«

»Ich vermute, es war die Streptokokkeninfektion, die du dir Anfang des Jahres zugezogen hast.«

Ich konnte es nicht fassen. Tatsächlich begannen danach langsam zunehmend meine Schlafstörungen und meine Tagesschläfrigkeit.

»Die Infektion hat zur Narkolepsie geführt?«

Er nickte. Ich schloss die Augen, senkte den Kopf und rieb mir mit der Hand durchs Gesicht.

»Dein Autoimmunsystem hat die bakterielle Infektion erfolgreich bekämpft. Dabei ist es aber leider übers Ziel hinausgeschossen und hat den Botenstoff Orexin in deinem Gehirn ein für alle Mal mit vernichtet. Ein Kollateralschaden, wenn man so will.«

Ich erinnere mich noch, dass mir übel wurde, so plastisch und beängstigend war die Erklärung Dr. Mertens.

Anschließend erzählte er noch, dass die Wahrscheinlichkeit, an Narkolepsie zu erkranken, bei 0,05 Prozent liege und die Symptome bei den etwa zwanzigtausend Betroffenen in Deutschland unterschiedlich stark ausgeprägt seien.

In meinem Schädel dröhnte damals ein Geräusch wie das Stampfen einer Dampflok.

Wir stehen noch immer vor dem Fenster und blicken ins Dunkel des Gartens. Ich räuspere mich und schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter. »Wie war es heute bei der Arbeit?«, frage ich Barb, um auf ein anderes Thema zu kommen.

Sie zieht die Nase hoch, wischt sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen und dreht sich nicht zu mir um. »Einer von den Tagen, die man am besten vergisst.«

»So schlimm?«

Sie nickt und verzieht die Mundwinkel zu einem kurzen Lächeln, gibt mir einen Kuss und geht in die Küche, wo sie sich ein Glas Rotwein einschenkt. »In Schleswig-Holstein ist ein Windrad aus bisher ungeklärter Ursache umgeknickt, und im Genehmigungsverfahren für den neuen Windpark in Niedersachsen macht eine Bürgerinitiative Probleme. Die haben ein unabhängiges Gutachten in Auftrag gegeben. Daraus geht hervor, dass es im Einzugsgebiet mehrere unter Schutz stehende Fledermausarten gibt. Das ganze Projekt steht dadurch auf der Kippe. Ich muss wohl demnächst auch mal direkt vor Ort sein.«

Ich trete von hinten an sie heran und beginne, ihre verspannte Nackenmuskulatur zu massieren. »Das hört sich wirklich nach einem blöden Tag an«, sage ich.

»Im Moment kommt einfach viel zusammen«, sagt sie und legt ihre rechte Hand auf meine Linke, mit der ich die Partie zwischen Schulter und Hals mit sanftem Druck bearbeite.

Barb ist Projektmanagerin in einem Unternehmen, das Windkraftanlagen baut und das bei der Planung und Genehmigung von Windparks beteiligt ist. In der Regel arbeitet sie am Hauptsitz des Unternehmens im Gewerbegebiet Hamburg-Langenhorn. Die geringe Entfernung von nur acht Kilometern und die kurze Fahrstrecke mit dem Auto von gut fünfzehn Minuten waren zwei Gründe, warum wir uns nach unserer Hochzeit vor vier Jahren für den Kauf unseres Hauses in Hamburg-Alsterdorf entschieden haben. Allerdings muss Barb in letzter Zeit des Öfteren auch in benachbarte Bundesländer zu den dort von ihr betreuten Anlagen fahren.

»Das wird schon wieder«, sage ich.

»Ja, bestimmt«, antwortet sie. Dann dreht sie sich um, trinkt einen Schluck von ihrem Wein, lächelt und gibt mir einen weiteren Kuss.

Wir essen die Lasagne, die ich am Nachmittag vorbereitet habe und die ich nur in den Backofen stellen musste. Ich habe Kerzen auf den Tisch gestellt und genehmige mir zum Essen auch ein halbes Glas Wein. Barbara macht mir Komplimente. Sie sagt, ich würde sie gut umsorgen und dass sie mich liebt. Nach dem Essen schauen wir noch ein wenig fern, dabei schmiegt sich Barb an meine Seite und für diesen Moment ist alles gut.

Gegen dreiundzwanzig Uhr gehen wir zu Bett. Mir graut es vor jeder Nacht. Eine Stunde, nachdem ich eingeschlafen bin, wache ich wieder auf. Wie gewohnt scheint sich die Zeit zu dehnen, während ich darauf warte, wieder einzuschlafen. Plötzlich höre ich ein Geräusch und erschrecke instinktiv. Ich mache mir klar, dass es wieder nur eine akustische Halluzination im Halbschlaf gewesen sein muss. Meinen Puls und meinen Herzschlag beruhigt das kaum. Als das Phänomen die ersten Male auftauchte, durchsuchte ich mit einem Baseballschläger bewaffnet das Haus. Jetzt bleibe ich einfach liegen, lausche in die Dunkelheit und versuche, meine panische Atmung in den Griff zu bekommen.

Ich drehe mich von einer Seite auf die andere. Als ich mir sicher bin, dass ich nicht mehr einschlafen werde, steige ich langsam und vorsichtig aus dem Bett. Ich will Barb nicht aufwecken. Ihre Arbeitstage sind anstrengend und sie braucht den Schlaf. Mittlerweile bin ich perfekt darin, lautlos umherzuschleichen. Ich gehe nach unten, trinke ein Glas Wasser, setze mich auf die Couch und schalte mein Notebook auf dem Wohnzimmertisch ein. Das verlassene Haus, das Kerzenlicht, der Mann und die Frau lassen mich nicht los. Ich starte eine Suche bei Google, ob Halluzinationen im Zusammenhang mit Narkolepsie auch ohne körperliche Lähmungserscheinungen vorkommen können. Ich weiß viel über diese Erkrankung, mehr als die meisten Ärzte, deshalb wundere ich mich nicht, dass dieses Phänomen nirgendwo beschrieben wird. Allerdings finde ich einen Erfahrungsbericht, in dem ein Betroffener ebenfalls glaubte, eine Halluzination ohne vorhergehende Kataplexie gehabt zu haben. Jedoch gab es Zeugen, die gesehen hatten, dass der körperliche Zusammenbruch, der die Halluzinationen auslöste, früher geschah, als von dem Betroffenen geglaubt. Es bestand daher die Vermutung, dass sein Erleben, sich noch in einem anfallsfreien Zustand zu befinden, obwohl er zu diesem Zeitpunkt schon ganzkörperlich gelähmt am Boden lag, bereits ein Teil seiner Halluzination gewesen war. Es ist beängstigend. Aber das Gleiche könnte mir vor dem verlassenen Haus zugestoßen sein. Allerdings blieb dann die Frage, was meine Kataplexie ausgelöst hat. Wenn die Halluzination des Geschehens im Haus zeitlich nachgelagert war, dann muss etwas anderes mich dazu bewegt haben, die Treppen hinauf zur Haustür zu steigen. Ich merke, dass ich innerlich immer aufgewühlter werde, da ich keine befriedigende Antwort finde. Dr. Merten ist ein guter Arzt, aber ich glaube nicht, dass er mir weiterhelfen kann.

Barbara ist es egal, ob es eine logische Erklärung für diesen Zwischenfall gibt. Sie wird darauf bestehen, dass ich nicht mehr allein spazieren gehe. Ich bin mir noch unsicher, ob ich ihrem Wunsch entsprechen werde und diese kleine Freiheit aufgebe. In letzter Zeit geraten Barb und ich viel zu schnell und viel zu oft in Streit, was ich nicht möchte und sehr bedaure. Es ist wirklich alles ein bisschen zu viel, was an unseren Nerven zerrt. Barbs Job macht ihr Spaß, wird aber zunehmend stressiger. Und als ob meine Erkrankung nicht schon belastend genug wäre, müssen wir uns auch noch Gedanken über die horrenden Ratenzahlungen für unser Haus machen. Auf Dauer wird Barbs alleiniges Gehalt nicht reichen, und sie wird niemals ihre Eltern um finanzielle Unterstützung bitten. Eher verkaufen wir das Haus, das sie so sehr liebt. Meine Mutter ist tot und mein Vater redet nicht mehr mit mir, weil ich, anstatt sein Geschäft weiterzuführen, lieber Anwalt wurde. Ihn um Geld zu bitten, ist ebenfalls keine Option. Und eigentlich hatten wir vor, eine Familie mit mindestens zwei Kindern zu gründen. Doch wie soll das unter diesen Bedingungen funktionieren? Außerdem versuchen wir bereits seit drei Jahren ohne Erfolg, schwanger zu werden.

Ich sitze noch bis drei Uhr nachts auf der Couch und schalte durch die Fernsehprogramme. Mord und Totschlag regieren die Kanäle.

Bevor ich wieder ins Bett gehe, checke ich mit meinem Smartphone meine E-Mails. Das ist eine Angewohnheit aus meiner Anwaltszeit, die ich nicht ablegen kann. Nachts kommen nur Werbemails, das weiß ich, aber ich rufe sie trotzdem ab. Es ist ein Ritual. Diesmal erscheint nur eine Nachricht im Posteingang meines E-Mail-Programms. Betreff: Einladung zum Informationsgespräch. Absender ist eine Firma, deren Namen ich noch nie gehört habe, Lautrup Pharmaceuticals. Als ich den Inhalt überfliege, stockt mir der Atem.

4

Um sechs Uhr morgens springt Barbs Radiowecker an. Obwohl sie ihn schnell wieder ausdrückt, holt mich die leise Musik aus dem Schlaf. Ich halte die Augen geschlossen, bis Barb aufgestanden und aus dem Zimmer geschlichen ist.

Gegen vier Uhr bin ich zurück zu ihr ins Bett gekrochen und erst eine weitere halbe Stunde später wieder eingeschlafen. Die E-Mail dieser Pharmafirma von letzter Nacht drängt sich in mein Bewusstsein. Angeblich suchen sie dort Patienten, die an Narkolepsie erkrankt sind, für eine klinische Studie zum Test eines neuartigen, Heilung versprechenden Medikaments.

Eine Viertelstunde später höre ich Barb die Treppe herauftapsen und schließe, bevor sie hereinkommt, schnell wieder die Augen.

Ich spüre Barbaras Lippen auf meinen, lächle und öffne die Augen. Sie riecht wunderbar, ihr weiches Haar streicht über mein Gesicht. Sie beginnt, Happy Birthday zu summen. Barbara glaubt, keine schöne Stimme zu haben, deshalb summt sie die Melodie nur und singt sie nicht, selbst nicht an meinem Geburtstag. Ich liebe ihre Stimme, so wie ich alles an ihr liebe. Sie hat einen Schoko-Muffin mit einer brennenden Kerze darauf in der Hand.

»Herzlichen Glückwunsch«, sagt sie und umarmt mich. Sogar in ihrem weiten blauen Pyjama hat sie eine wunderbare Figur.

»Und danke dir, dass du mich in dem Glauben lassen wolltest, dich erst mit meinem Kuss geweckt zu haben.«

Wir gehen gemeinsam nach unten. Barb hat Frühstück für uns gemacht. Far far away, ein Rock Hit aus den Siebzigern läuft im Radio. Der Vollautomat mahlt unter einem Getöse, das einem Presslufthammer gleicht, die Bohnen. Kurz darauf steht mein dampfender Kaffeebecher vor mir. Ich fühle mich hundemüde und komme kaum zu mir. Ich weiß, dass der Kaffee mir helfen wird, in die Gänge zu kommen. Als ich noch gearbeitet habe, habe ich mehr Kaffee als Wasser getrunken, und es hat mir nichts ausgemacht. Mittlerweile habe ich mich dazu diszipliniert, nur noch maximal zwei Tassen zu mir zu nehmen und nach vierzehn Uhr ganz auf eine Koffeinzufuhr zu verzichten, um den Verlauf meiner Nächte nicht selbst verschuldet noch katastrophaler zu gestalten.

»Wie geht es dir?«, fragt sie, nippt an ihrem Kaffee und sieht mich verstohlen an. Während ich mir eins der Brötchen, die Barb zusammen mit zwei Croissants im Ofen aufgebacken hat, hole, spüre ich in mich hinein. Ich fühle mich ausgelaugt und übel ist mir aufgrund des chronischen Schlafmangels auch.

»Blendend«, sage ich und schenke ihr ein breites Lächeln. »Wie sollte es auch anders sein, wenn man von einer so schönen Frau mit einem Kuss geweckt wird.«

Barb lächelt mich ebenfalls an, schiebt drei liebevoll verpackte Geschenke über den Tisch zu mir rüber und weist mich an, in welcher Reihenfolge ich sie öffnen soll. Im ersten Päckchen befindet sich ein dünner Strickpullover und im zweiten ein dazu passender Schal.

»Danke, kann ich beides gut gebrauchen.«

»Gefallen dir die Sachen?«

»Absolut«, antworte ich und streife sogleich den Pullover über meinen Pyjama und lege den Schal um. Ich drehe mich vor ihr. Es sieht lustig aus und sie muss lachen. Seit ich zu Hause bin, habe ich sichtlich zugenommen. Mein Bauch wölbt sich leicht unter dem Pullover hervor. Ich gehe zum Spiegel und komme mit einem breiten Grinsen zurück an den Tisch. Für einen kurzen Moment ist alles wie früher.

»So und nun das letzte Geschenk«, sagt Barbara und setzt sich gerade an den Tisch.

Ich setze mich wieder und enthülle eine kleine edle Schachtel. Als ich sehe, was darin ist, reiße ich vor Begeisterung die Augen auf und schlucke den Kloß, der sich vor Rührung in meinem Hals gebildet hat, herunter. Ich nehme das Armband aus der Schachtel, betrachte es von allen Seiten und strahle Barb an. »Das ist wirklich toll.«

Es ist ein aufwendig geflochtenes Armband aus schwarzem Leder. Darauf mit dünneren Lederschnüren stilvoll gebunden ist das Zeichen für Unendlichkeit aus schwarz eloxiertem Edelstahl.

Ich stehe auf, gehe zu Barbara, die sich ebenfalls erhoben hat. Wir küssen und umarmen uns, und ich genieße diesen Moment, koste es aus, Barbs warmen Körper eng an meinem zu spüren, und fühle die Ruhe, die dadurch in mir einkehrt.

»Freut mich, dass dir das Armband gefällt«, strahlt Barb, als wir uns voneinander gelöst haben und ich das Band um mein linkes Handgelenk lege.

»Ich versuche, heute früher Feierabend zu machen und so gegen sechzehn Uhr zu Hause zu sein. Weißt du schon, was wir heute Abend essen könnten?«

Wie jedes Jahr an meinem Geburtstag kommen Barbs zwei Jahre jüngere Schwester Jenny und ihr Mann Nick zum Abendessen. Ich freue mich auf die beiden. Nick ist nicht nur mein Schwager, sondern auch mein bester Freund.

»Ich überlege mir was, okay?«, antworte ich. »Soll ich Malte noch dazu einladen?«

Malte wohnt nur eine Gehminute entfernt in einer der beiden Parallelstraßen. Er ist geschieden und hat eine Tochter, die bei der Mutter lebt. Vor einem Jahr ist er wegen einer neuen Stelle in der gleichen Firma, in der auch Barb arbeitet, aus einem Dorf in Brandenburg hierhergezogen. Obwohl sie für unterschiedliche Unternehmen gearbeitet haben, kannten Barb und er sich schon vor Maltes Wechsel durch einige gemeinsam besuchte Fortbildungsveranstaltungen. Ursprünglich hat er das Haus, auf das Barbara ihn aufmerksam gemacht hat und das dem unseren ähnelt, nur zur Miete bewohnt. Doch dann ist ein halbes Jahr später die Vermieterin gestorben. Das Haus wurde Malte daraufhin von deren Kindern zum Kauf angeboten, und er hat das Angebot angenommen. Barb hat ihm geholfen, neue Leute kennenzulernen, und keine Gelegenheit versäumt, Malte in unseren Freundeskreis zu integrieren. Malte ist ein netter Kerl, ich kann ihn gut leiden, und inzwischen ist er für mich sogar zu einem Freund geworden.

Aber Barb schüttelt mit zusammengezogenen Augenbrauen den Kopf. »Malte geht mir bei der Arbeit zurzeit tierisch auf die Nerven. Ich kann ihn nicht auch noch heute Abend an deinem Geburtstag hier bei uns zu Hause ertragen.«

Barbs plötzliche Abneigung Malte gegenüber wundert mich. Sie hat sich immer bestens mit ihm verstanden, und wir haben ihn, seitdem er unser Nachbar ist, zu jedem Fest, das wir gefeiert haben, eingeladen, und auch am zweiten Weihnachtsfeiertag und zu Silvester war er unser Gast.

»Er kennt doch niemanden hier«, sagte sie, als ich anfangs das Gesicht verzog, wenn sie wollte, dass Malte auch noch kommen sollte, oder: »Er ist doch ständig allein zu Hause. Es ist doch nicht schlimm, wenn er zum Grillen kommt und mal ein bisschen über was anderes als die Arbeit plaudern kann.«

Ich überlege, ob ich Barb fragen soll, warum sie auf einmal auf Abstand zu ihm geht, beschließe aber, es bleiben zu lassen, da ich keine Lust habe, Barb mit einem offensichtlich für sie negativen Thema in schlechte Laune zu versetzen. Dann fällt mir die E-Mail von Lautrup Pharmaceuticals wieder ein, ich vergesse Malte, und mein Blick verliert sich nachdenklich im Leeren. Es vergeht kein Tag, an dem ich das Internet nicht nach Informationen über neue Heilungsmöglichkeiten durchforste, und jetzt schreibt mich ein Pharmahersteller an, der mir genau das anbietet.

Barb stutzt und sieht mich fragend an. »Was ist denn?«

»Nichts.«

Sie zieht eine Augenbraue hoch und tippt rhythmisch mit dem Zeigefinger auf den Tisch. »Raus mit der Sprache. Jetzt bin ich erst recht neugierig.«

»Ach, es ist nur … ich frage mich, woher die meine E-Mail-Adresse haben, und vor allem, woher die wissen, was mir fehlt.«

»Wer sind die?«

Kurz sehe ich sie erstaunt an. Dann erst wird mir klar, dass meine Worte keinen Sinn für sie ergeben. Ich reibe mir mit einer Hand durchs Gesicht und presse die Augenlider fest zusammen. »Gestern Nacht kam eine E-Mail, mit der mich eine Pharmafirma hier aus Hamburg zu einem Informationsgespräch eingeladen hat. Es geht um ein neu entwickeltes Medikament zur Heilung von Narkolepsie.«

»Das hört sich doch sehr gut an«, sagt Barb und strahlt mich dabei an. »Ich finde, das solltest du dir anhören.«

»Aber woher wissen die so viel über mich? Und wenn es einen vielversprechenden neuen Heilungsansatz gäbe, dann müsste darüber eigentlich etwas im Internet zu finden sein. Hinter der E-Mail stecken mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Kriminelle, die den Betroffenen das Geld aus der Tasche ziehen wollen.«

Barb legt den Kopf schief und lächelt. »Und das ärgert dich! Manchmal glaube ich, aus dir meinen Vater reden zu hören.«

Barbs Vater ist seit zwei Jahren im Ruhestand. Aber davor war er ein äußerst erfolgreicher Anwalt. Seine Ideale haben mich, als ich ihn kennenlernte, so sehr beeindruckt, dass ich beschloss, Jura zu studieren und nicht die Nachfolge im Handwerksbetrieb meines Vaters anzutreten. Wenn man so will, ist er ein großes Vorbild für mich. Er war nicht begeistert, als seine Tochter ihm einen gelernten Installateur als ihren neuen Freund vorstellte, und als er erfuhr, dass ich begonnen hatte, Jura zu studieren, hat er sich im ersten Jahr oft über mein großes Ziel, das erste Staatsexamen mit Prädikat abzuschließen, lustig gemacht. Doch mit der Zeit nahm er mich und mein Vorhaben immer ernster, half mir, wenn ich Fragen hatte, und stand mir mit seinem Rat zur Seite, wenn ich in den Semesterferien an umfangreichen Hausarbeiten saß. Als ich beide Staatsexamina mit jeweils dreizehn Punkten bestand, hatte ich das Gefühl, dass ich seinen Respekt gewonnen hatte, was darin zum Ausdruck kam, dass er mich wie seinen eigenen Sohn behandelte. Dass ich den Job bei Jasper & Wellenstein bekam, war neben meinen hervorragenden Noten auch seiner Fürsprache zu verdanken, da er Boris aus dem Anwaltsverein und von dem alljährlich im Atlantic Kempinski stattfindenden Juristenball kannte.

»Soll ich den Vergleich mit deinem Vater als Kompliment nehmen?«

»Ich glaube, das tust du so oder so. Hast du recherchiert, ob es das Unternehmen wirklich gibt?«

Ich nicke und beiße in mein Brötchen, das ich mit Erdbeermarmelade bestrichen habe. »Es gibt eine Homepage. Danach ist Lautrup Pharmaceuticals international tätig. Sie forschen und entwickeln, handeln aber auch mit Medikamenten. Gründer war Dr. Wilhelm Lautrup. Nach seinem Tod vor zwei Jahren hat sein Sohn Professor Dr. Steffen Lautrup das Unternehmen übernommen. Von ihm kam auch die E-Mail.«

»Ich glaube nicht, dass diese Firma auf Betrügereien angewiesen ist«, sagt Barb.

»Das glaube ich auch nicht. Aber die E-Mail muss ja auch nicht wirklich von der Firma kommen. Vermutlich hat jemand nur deren Namen benutzt«, erwidere ich.

»Das ist schon seltsam«, sagt Barb und steht auf. »Aber wie auch immer, du kannst ja noch mal überlegen, ob du mal dort anrufst und der Sache eine Chance gibst, wenn sich herausstellen sollte, dass die E-Mail tatsächlich von der Firma kommt. Zu verlieren hast du schließlich nichts. Ich muss langsam mal los.« Noch während Barb die letzten Sätze spricht, verschwindet sie die Treppe hinauf ins Bad.

»Aber eigentlich ist die Krankheit viel zu selten, als dass ein gewinnorientiertes Unternehmen in die Entwicklung eines Heilmittels investieren würde.«

»Du musst wissen, was du machst«, höre ich sie aus dem Bad rufen, und im nächsten Moment beginnt die Dusche zu rauschen.

Ich glaube, wenn es nach Barb ginge, wäre es ihr am liebsten, wenn die E-Mail von letzter Nacht halten würde, was sie verspricht. Aber nach allem, was ich weiß, ist die Forschung meilenweit von einem Heilmittel entfernt. Ich frage mich, ob ihr Wunsch, mich um jeden Preis gesund zu sehen, nur aus Liebe so stark ist, oder ob sie sich dadurch in gewissem Maße auch von einer immer unerträglicher werdenden Last befreien will. Gleich darauf schäme ich mich für diesen Gedanken. Ich streiche mit dem Zeigefinger über das Zeichen für Unendlichkeit auf dem Armband, das sie mir geschenkt hat, und zeichne den Verlauf nach.

Barb ist das Beste, was mir je im Leben passiert ist. Als sie damals aufgedreht und lachend mit ihren Studienfreundinnen in die Bar eines guten Freundes einfiel, in der ich zwei Mal am Abend die Cocktails mixte und wenn Not am Mann war, auch Musik auflegte, wusste ich, dass sie die Eine ist und dass sich mein ganzes Leben ändern würde. Damals war ich zweiundzwanzig und noch mit Saskia zusammen. Aber es lief schon lange nicht mehr gut zwischen uns. Wir kannten uns praktisch schon seit dem Sandkasten und waren mit fünfzehn ein Paar geworden. Vermutlich wären wir das auch heute noch, wäre an jenem Abend nicht Barbara aufgetaucht. Eine Woche danach die Beziehung mit Saskia zu beenden, war das Schwerste, was ich bis dahin hatte tun müssen. Sie tat mir wahnsinnig leid, aber ich liebte jetzt Barb. Auch heute, vierzehn Jahre später, habe ich noch unregelmäßigen Kontakt zu Saskia. Ich fühle mich für sie verantwortlich, seit sie sich, kurz nachdem ich damals Schluss gemacht habe, meinetwegen die Pulsadern aufschnitt und nur knapp überlebte. Wir sind gute Freunde, mehr nicht, und deshalb telefonieren wir hin und wieder. In der Regel ruft sie mich an. Meistens geht es um irgendein Problem, das sie gerade hat. Barb behauptet, Saskia könne noch immer nicht akzeptieren, dass ich mit jemand anderem zusammen bin, und lege es nur darauf an, unsere Beziehung zu stören. Das glaube ich nicht. Ich kenne Saskia. Sie braucht wirklich ab und zu jemanden an ihrer Seite, der ihr zuhört und ihr hilft, wenn sie in Schwierigkeiten steckt. Ich weiß, dass Barb das missfällt, und sie mag Saskia auch nicht sonderlich, obwohl sie Saskia gar nicht näher kennt. Aber obwohl ich Barb liebe und ihren Argwohn und Groll voll und ganz verstehe, kann ich Saskia dennoch nicht im Stich lassen, denn sie ist wie eine Schwester für mich. Außerdem musste ich Saskias Mutter an deren Sterbebett versprechen, dass ich immer für ihre Tochter da sein würde.

5

Es läutet an der Haustür. Es sind Nick und Jenny. Die beiden sind heute Abend unsere einzigen Gäste. Mein Vater redet nicht mehr mit mir, da macht er auch an meinem Geburtstag keine Ausnahme, und mein Stiefbruder Aaron hat mir heute Morgen telefonisch gratuliert. Meine Mutter ist schon lange tot, und Barbaras Eltern sind auf einer Rundreise durch Südamerika.

Nicklas und Barbara waren im selben Abiturjahrgang und haben anschließend Betriebswirtschaftslehre auf derselben Universität studiert. Nick hat zusätzlich noch Informatik belegt und beide Studiengänge mit Bestnoten abgeschlossen. Wenn die beiden sich, meist nach ein paar Gläsern Wein, über gemeinsame Lehrer, Professoren, Freunde, Schüler und Kommilitonen unterhalten, merkt man, wie viel Spaß sie zu der Zeit hatten, und ich muss bei manchen Anekdoten einfach mitlachen. Bei Barb meine ich immer auch ein bisschen Trauer herauszuhören, wenn sie die alten Erinnerungen auskramt. Vermutlich trauern wir heutzutage schon ab dreißig aufwärts alle irgendwie um die vergangene Zeit. Der eine mehr, der andere weniger. Diese jungen, ahnungslosen, unbeschwerten Jahre. Vielleicht liegt diese Trauer darin begründet, dass sich unsere Generation sicher wie nie zuvor in der Geschichte ist, dass nach dem Tod kein Himmel auf uns wartet, wo dann das ewige Leben befreit von allen Sorgen, Ängsten und Lasten weitergeht. Wir haben nur dieses eine Leben, das ist uns ständig bewusst, und in diesem muss man gefälligst schauen, dass man so viel Erfolg und Glück zustande bringt, wie es nur geht.

Jenny ist zwei Jahre jünger als Barb. Ich bin drei Jahre älter und war auf einem Gymnasium, das nicht so angesehen war, aber das Abitur habe ich auch irgendwie geschafft. Knapp und mit miserablem Durchschnitt, was wohl daran lag, dass ich nicht so recht wusste, warum ich den Abschluss brauchte. Es war klar, dass ich zusammen mit Aaron den Sanitärbetrieb meines Vaters übernehmen würde. Aber dann, als alles anders kam, war ich froh, mein Abitur gemacht zu haben und gleich das Jura-Studium antreten zu können. Im Grunde sind wir alle vier erfolgreich geworden. Jenny ist Architektin und plant in einem großen Büro große Bürokomplexe. Nick hat noch während seines Studiums eine Internetfirma für Cybersicherheit gegründet, sie vor zwei Jahren verkauft und dafür einige Millionen bekommen. Seitdem engagiert er sich mit einem A-Team, wie er es nennt, als Investor für die Ideen von Start-up-Unternehmen und hilft ihnen, groß zu werden. Von Barbara weiß ich, dass Nick damals den landesweit besten Abiturdurchschnitt hatte.

Er bringt ein so großes Geschenk mit, dass ich sein Gesicht hinter dem Paket, das er durch unseren schmalen Flur ins Wohnzimmer trägt, kaum sehen kann. Als er es auf dem Boden abstellt, grinst er breit und sagt: »Ich sage dir, es wird dir gefallen.«

»Na, dann wollen wir mal sehen«, sage ich und entferne das weihnachtliche Geschenkpapier, das mittlerweile ein Running Gag ist. Seit Nick vor fünf Jahren zum ersten Mal mit einem so verpackten Karton ankam, läuten wir damit jedes Jahr an meinem Geburtstag unsere persönliche Vorweihnachtszeit ein. Spekulatius, Glühwein und Plätzchen dürfen ab dem folgenden Tag gekauft und konsumiert werden.

Es ist … Ich staune und frage mich gleichzeitig, was ich damit soll.

»Die Dinger sind jetzt voll angesagt.«

… eine Drohne mit Videoaufnahmefunktion. Der Quadrocopter sieht professionell und verdammt teuer aus.

»Danke«, sage ich und bin ehrlich begeistert.

»Du wirst ein bisschen üben müssen, bis du das Teil sicher fliegen kannst, aber …«

»… ich hab ja jetzt genug Zeit«, beende ich den Satz.

»Männer!«, sagt Jenny und setzt sich an den Tisch.

Wir essen Antipasti. Als Hauptgericht gibt es Spaghetti mit Bolognesesoße. Die anderen trinken Wein, ich bleibe bei Wasser.

»Ich soll dich von Mama und Papa grüßen«, sagt Jenny an Barb gewandt.

»Und was erzählen sie, wie ist es in Mexiko?«, will Barb wissen.

»Heiß, und es gibt traumhafte Strände.« Jenny nimmt einen Schluck Wein. »Jan, dir soll ich alles Gute zum Geburtstag ausrichten.«

Zum Nachtisch genehmigen wir uns Eis und trinken Espresso. Wir räumen zusammen den Tisch ab, dann tauchen die Frauen in der Küche in ein Gespräch über die Arbeit ein. Nick und ich setzen uns auf die Wohnzimmercouch und spielen FIFA auf der Playstation. Ich habe zwar am Nachmittag länger und über den Tag verteilt kürzer geschlafen, sorge mich aber dennoch, dass ich, während ich zum virtuellen Torschuss ansetze, einschlafen könnte. Aus irgendeinem Grund ist mir das vor Nick besonders peinlich. Vielleicht weil er so erfolgreich und stark ist. Am Ende geht alles gut. Ich verliere zwar das Spiel, was aber nicht schlimm ist, da das von vornherein klar war. Bei Computerspielen hatte ich gegen Nick noch nie den Hauch einer Chance. Nachdem wir die Controller beiseitegelegt haben, erzähle ich Nick von der E-Mail von Lautrup Pharmaceuticals.

»Du hast doch im Internet bestimmt schon öfters Infos über deine Krankheit gesucht«, sagt er.

»Klar«, sage ich und verkneife mir zu erklären, dass ich so ziemlich alles, was es im Netz gibt, darüber gelesen habe.

»Dabei hinterlässt du ohne es zu merken, digitale Spuren, die über deine IP-Adresse direkt zu dir führen und deine Interessenschwerpunkte offenlegen. Kurz gesagt, die Pharmafirma hat diese Daten vermutlich gekauft und deine E-Mail-Adresse auch.«

Ich ärgere mich, rege mich aber nicht darüber auf. Früher hätte ich das. Aber jetzt, wo ich bei jeder emotionalen Überreaktion eine Kataplexie riskiere, habe ich gelernt, nicht bei jeder Kleinigkeit auszuflippen oder so zu tun, als hinge mein Leben davon ab. Nur blöd, dass das herzhafte Lachen über einen Witz ebenfalls eine Lähmung meiner gesamten Muskulatur zur Folge haben kann. Nicht immer, aber man weiß nie, wann es geschieht, und daher vermeide ich es so gut es geht, mich meinen Emotionen hinzugeben. Die Frauen kommen zu uns ins Wohnzimmer, Jenny stellt sich hinter die Couch und legt Nick eine Hand auf die Schulter. »Fahren wir?«

Nick wendet ihr seinen Kopf zu und lächelt verschmitzt. »Ja, bevor unser Gastgeber noch vor Langeweile einschläft.«

Er darf solche Witze machen. Ich lächle, schließe die Augen und lasse den Kopf auf die Brust fallen. Nach drei Sekunden richte ich ihn wieder auf und öffne die Augen. »Reingelegt.«

Nick steht auf und hält die Hand hoch. Es ist nicht mein Stil, aber ich tue ihm jedes Mal den Gefallen und klatsche ab.

»War ein schöner Abend und viel Spaß mit deinem fliegenden Zeitvertreib. Wenn ich das nächste Mal komme, will ich, dass du mir zeigst, dass du das Teil perfekt fliegen kannst.«

Ich stehe auf und bringe Nick und Jenny zusammen mit Barb zur Tür. Jenny sieht mich irgendwie seltsam an. Dann schaut sie verschwörerisch zu ihrer Schwester, die verlegen zurücklächelt, leicht errötet und dann den Blick nach unten abwendet. Ich frage mich, worüber die beiden geredet haben.

»Das war doch ein prima Abend«, sagt Barb, als wir in der Küche stehen und aufräumen.

»Fast wie früher«, sage ich.

»Nicht fast.«

Manche Tage sind, als ob ich gar nicht krank wäre. Ich vermute, dass Barb am liebsten so etwas in der Art sagen würde, doch sie weiß, dass die gut gemeinten Worte nach hinten losgehen könnten. Schon einen Augenblick später kann die Realität uns einholen, und ich lande auf dem Fußboden, weil mein Körper mir den Dienst versagt.

»Diese Drohne, die lässt du aber nur fliegen, wenn ich dabei bin«, sagt sie stattdessen. Das ist die Realität.

»Ja, natürlich«, sage ich.

Sie tritt nahe an mich heran, nimmt das Geschirrtuch aus meiner Hand und legt es auf den Tisch. »Ich habe noch eine ganz besondere Überraschung für dich.«

Sie sagt das ernst, nicht lüstern, deshalb glaube ich nicht, dass sie mich verführen will. In ihren Augen liegt ein schimmernder Glanz. Alles an ihr strahlt aus, dass sie glücklich ist.

»Ich hab doch meine Geschenke schon von dir bekommen.«

Ich hebe den Arm mit dem Lederband am Handgelenk leicht an und betrachte stolz das Unendlich-Zeichen. Sie legt sanft ihre Hand darauf und gibt mir einen langen Kuss. Dann löst sie sich von mir und wir schauen uns ein paar Sekunden schweigend in die Augen.

»Es ist nichts Materielles. Ich bin schwanger.«

6

Ich bin wie paralysiert und starre Barb nur mit großen Augen und offenem Mund an.

»Du hast schon richtig gehört, wir bekommen ein Baby«, lacht sie.

Ein Kribbeln überzieht meine Arme und meine Kopfhaut. Wie in Zeitlupe bewegen sich meine Mundwinkel nach oben. »Und du bist dir ganz sicher?«

Barb legt den Kopf schief und zieht eine Augenbraue hoch. Ich schließe kurz die Augen und muss tief durchatmen, als ob ich eine Treppe zu schnell hinaufgegangen wäre und dabei vergessen hätte zu atmen.

»Seit gestern gibt es keinen Zweifel mehr.«

Ich schließe Barb in meine Arme und streiche ihr übers Haar. Eine Weile stehen wir einfach nur da und halten uns eng umschlungen fest, sodass ich ihren Herzschlag fühlen kann. Jetzt, wo wir nicht mehr daran geglaubt haben, dass es funktionieren könnte, wo wir es nicht mehr darauf angelegt haben, jetzt, da ich krank bin und nicht weiß, ob ich noch ein guter Vater sein kann, jetzt, da wir nicht wissen, ob wir das Haus behalten können, jetzt erfüllt sich auf einmal der lang gehegte Wunsch, und wir bekommen ein Kind.

»Ich freue mich wahnsinnig«, flüstere ich. »Es gibt kein schöneres Geburtstagsgeschenk, das du mir hättest machen können.« Ich spüre, wie meine Wangenmuskeln taub werden. Dann lässt es aber wieder nach.

»Wir sind in der sechsten Woche. Ich war gestern Nachmittag bei meiner Frauenärztin.«

Ich reibe stolz über ihren Bauch und bin gerührt.

»Ich hab schon vor einer Woche einen positiven Test gemacht. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich beherrschen musste, dir nichts davon zu erzählen. Aber ich wollte es dir erst sagen, wenn es absolut sicher ist.«

»Du wolltest nicht, dass ich mich freue, und dann würde sich herausstellen, dass das Testergebnis falsch war.«

Ich senke den Blick, schließe die Augen und massiere meine Lider. Schweiß tritt auf meine Stirn. Ich sehe mich auf einer Parkbank einnicken, während unser Baby im Kinderwagen schläft. Sehe uns unser Haus verkaufen, in dem wir uns solche Mühe mit der Einrichtung des Kinderzimmers gegeben haben. Die Bilder erzeugen Angst, die sich unter meine Freude mischt, sie mehr und mehr beiseitedrängt und schließlich die Oberhand gewinnt.

»Geht es dir nicht gut?«, fragt Barb.

Ich schüttle den Kopf. »Alles in Ordnung. Ich bin nur vollkommen überwältigt.«

Ich gehe in die Küche, hole mir ein Glas Wasser und trinke es in einem Zug aus. Dabei nehme ich mir fest vor, nicht zuzulassen, dass sich meine Sorge um die Zukunft wie ein steter Tropfen Gift in mein Leben mit Barb und dem Kind schleicht und es irgendwann bestimmt.

Bevor wir zu Bett gehen, unterhalten wir uns noch bis Mitternacht und machen Pläne. Wir verfallen in eine regelrechte Euphorie, denken über Vornamen nach und über das Krankenhaus, in dem die Entbindung stattfinden soll. An diesem Abend werde ich von jeglichen Kataplexien und Einschlafattacken verschont.

Gegen zwei Uhr nachts erwache ich aus einem fürchterlichen Albtraum. Panisch schrecke ich hoch. Mein Herz rast wie verrückt. Ich erinnere mich an jedes Detail. Den gleichen Traum hatte ich schon einmal. Ich sitze in einem Reisebus, in dem alle Plätze besetzt sind, außer die neben mir in der letzten Reihe. Der Bus rangiert rückwärts in einer engen Kurve auf einer engen Serpentinenstraße, das Hinterrad kommt von der Straße ab, der Bus rutscht ab und stürzt die Klippen hinunter ins Meer. Eigentlich sollte man meinen, dass der Traum an dieser Stelle endet, da man einen solchen Absturz unmöglich überleben kann und man, wenn man den eigenen Tod träumt, gemeinhin aufwacht. Aber der Horror, der mich in seinen Klauen hat, will mich nicht freigeben. Mein Todeskampf geht deshalb weiter, und ich versuche verzweifelt, aus dem Bus zu kommen, der sich nach und nach mit Wasser füllt und in dem sich nun seltsamerweise niemand mehr außer mir befindet. Ich trommle gegen die Scheiben, schreie um Hilfe, bis das hereinlaufende Wasser den Bus so sehr beschwert, dass er schließlich vom Meer verschluckt wird und ich jämmerlich ertrinke. Dann erst wird mir die Gnade des Erwachens zuteil. Es dauert einen Moment, bis ich begreife, dass das Erlebte nicht wirklich geschehen ist und ich stattdessen sicher in meinem Bett liege. Erleichtert atme ich durch. Keuchend schalte ich die Salzkristallleuchte auf meinem Nachttisch an, die das Zimmer in ein angenehm warmes orangefarbenes Licht taucht. Ich schaue zur Decke, atme tief ein und aus und denke daran, dass ich tatsächlich Vater werde. Etwas sagt mir, dass es ein Mädchen wird. Ich beruhige mich, und irgendwann schlafe ich glücklicherweise sogar wieder ein.

Als ich das nächste Mal aufwache, ist es halb sechs Uhr morgens. Meine Nachttischlampe ist noch an. Barbara liegt mit dem Gesicht zu mir. Sie schläft fest. Ihr Wecker wird erst in einer halben Stunde Alarm schlagen.

Auf einmal höre ich Geräusche im Haus. Schritte. Jemand kommt die Treppe hinaufgeschlichen. Ganz leise, aber ich erkenne eindeutig das Tapsen von Schuhsohlen auf den Treppenfliesen. Ich will mich aufsetzen, die Decke beiseitewerfen, aus dem Bett springen, die Tür absperren, mein Handy schnappen und die Polizei alarmieren. Aber das geht nicht. Ich kann mich nicht bewegen. Ich reiße die Augen weiter auf, mein Herz trommelt wie wild in meiner Brust. Dann sind die Schritte im Flur. Ich will mich zur Tür umdrehen, aber ich kann mich noch immer nicht rühren, bin wie festgefroren, meine Arme, meine Beine, mein Kopf, alles ist erlahmt. Wie bei einem Käfer, der sich vor Schock tot stellt. Ich glaube ersticken zu müssen, bade im eigenen Schweiß. Ich höre, dass die Türklinke heruntergedrückt wird und jemand in unser Schlafzimmer kommt. Die Schritte sind nicht mehr leise, sie sind laut, poltern über unseren Parkettboden.

Adrenalingeflutetes Blut rauscht in meinen Ohren. Ich muss Barbara warnen. Unsere Gesichter sind keinen halben Meter voneinander entfernt und doch ist sie unerreichbar weit weg. Sie schläft noch immer tief und fest, atmet regelmäßig, ihre Lippen umspielt ein Lächeln, als ob sie etwas Schönes träumen würde. Ich will sie wecken, ihren Namen rufen, sie auf die Gefahr aufmerksam machen. Doch auch meine Kiefermuskeln und meine Zunge versagen mir den Dienst.

Dann tritt jemand hinter Barbara ans Bett. Erstaunen, Zorn, Erleichterung und Verwunderung brechen über mich herein. Es ist ein Mann. Doch er ist kein Einbrecher. Er beugt sich hinunter. Ich halte die Luft an. Er streichelt ihr übers Haar. Barbara erwacht. Sie dreht sich um. Einen Moment lang bleibt die Zeit stehen. Dann richtet Barbara sich auf, schlägt die Decke beiseite und steigt aus dem Bett. Der Mann umarmt sie, küsst sie, und sie lässt es zu. Seine Hand streicht über ihren Rücken und bleibt auf ihrem Po liegen. Ich hechle, spüre aber nicht, dass ich atme. Todespanik befällt mich. Alles in mir stirbt. Der Mann, der meine Frau küsst, ist Malte. Ich kann es nicht mehr ertragen, will es nicht mehr mit ansehen müssen, will weinen, aber es geht nicht. Der Moment dehnt sich zur Ewigkeit. Irgendwann gelingt es mir, die Augen zu schließen. Als ich sie wieder öffne, liegt Barbara neben mir im Bett. Sie ist wach. Ihr Blick verrät Sorge. Ich drehe mich um, springe aus dem Bett, blicke mich suchend um und öffne die Türen unseres Kleiderschranks. Wir sind allein, und ich ahne, dass Malte nicht in unserem Schlafzimmer war und alles nur Einbildung gewesen sein muss. Der Türschlüssel steckt von innen, und als ich den Griff nach unten drücke, ist die Tür abgesperrt.

Barb sitzt erschreckt von meinem panischen Verhalten aufrecht im Bett und presst mit beiden Händen die Decke vor die Brust. Als ich ihr von meiner Halluzination erzähle, reagiert sie zuerst geschockt, dann fängt sie an, immer lauter zu lachen, und hört gar nicht mehr auf.

»Ich und Malte, das wäre nicht nur für dich ein Albtraum, und dann noch in unserem Schlafzimmer, kurz nachdem ich dir gesagt habe, dass ich ein Kind von dir erwarte.«

Ihr Lachen wirkt echt und kein Stück aufgesetzt. Ich finde den Irrsinn, den mein Kopf mir als Realität serviert, überhaupt nicht lustig, aber Barbs Lachen wirkt dennoch ansteckend auf mich.

Während sich Barb eine halbe Stunde später beim Frühstück Marmelade auf ihr Brötchen schmiert, schüttelt sie gedankenverloren lächelnd und mit einem Ausdruck der Fassungslosigkeit im Gesicht den Kopf.

Ich denke an den Einbrecher. Das war vor ein paar Wochen. Er hatte eine Sturmhaube übers Gesicht gezogen, stand mit einem Messer neben mir am Bett und beugte sich dicht zu mir herunter, sodass ich seinen Atem riechen konnte.

Bewegungslos, aber bei vollem Bewusstsein, fühlte ich Barb und mich dem Kerl hilflos ausgeliefert. Als er mir das Messer an die Kehle hielt, konnte ich den kalten Stahl auf meiner Haut spüren. Ich dachte, er würde mich umbringen. Dabei handelte es sich bei ihm nur um eine jener absolut real erscheinenden Halluzinationen, die bei mir beim Einschlafen, meist aber beim Aufwachen in Begleitung einer Schlaflähmung auftreten können.

Während des Schlafes ist auch bei gesunden Menschen die Muskulatur vollkommen gelähmt, was verhindert, dass Träume durch entsprechende Bewegungen umgesetzt werden. Im Moment des Aufwachens verschwindet diese natürliche Atonie, sodass man nichts davon merkt. Bei Narkolepsie-Patienten funktioniert dieser Mechanismus jedoch nicht mehr einwandfrei, und die Lähmung der Körpermuskulatur bleibt auch nach dem Erwachen bestehen. Dieser Zustand kann durch die Berührung eines anderen Menschen aufgehoben werden oder endet nach einer unbestimmten Zeit langsam von selbst. Zu der panischen Angst, die sich einstellt, weil man glaubt zu ersticken, können sich auch zusätzlich schreckliche Halluzinationen gesellen, die so real sind, dass sie von der Wirklichkeit nicht zu unterscheiden sind.

Als Barbara sich später von mir verabschiedet, um zur Arbeit zu fahren, streichle ich ihr sanft über den Bauch. »Du musst jetzt besonders auf dich achtgeben, versprichst du mir das?«, flüstere ich ihr zu.

»Versprochen«, sagt sie und gibt mir einen Kuss.

Obwohl Barb darüber lachen konnte, dass heute Morgen in meiner kranken Wahrnehmung Malte in unser Schlafzimmer kam und die beiden sich küssten, würde ich künftig liebend gern auf verstörende Erlebnisse dieser Art verzichten.

Kaum hat Barb die Haustür hinter sich zugezogen, nehme ich daher mein Smartphone zur Hand. Ich habe schon in der Nacht, nach dem Albtraum mit dem Reisebus, darüber nachgedacht, aber die Halluzination am Morgen und die Tatsache, dass sich jetzt alles verändert hat, weil wir ein Kind erwarten, hat den entscheidenden Ausschlag gegeben.

Jetzt will ich mir doch anhören, was es mit dem Medikament, das Lautrup Pharmaceuticals entwickelt haben will und für das sie Testpatienten suchen, auf sich hat. In der E-Mail, mit der ich zum Informationsgespräch eingeladen wurde, war eine Telefonnummer angegeben, unter der Anmeldungen entgegengenommen werden. Doch als ich das E-Mail-Programm meines Smartphones öffne, ist die Nachricht verschwunden. Ungläubig scrolle ich den Posteingang hoch und runter, sehe im Ordner der gelöschten Mails nach und starte danach mit dem Namen der Firma eine automatische Suche nach der E-Mail auf dem gesamten Gerät. Als ich fertig bin, mache ich das Gleiche im E-Mail-Programm meines Notebooks und logge mich sogar anschließend noch auf dem Server meines E-Mail-Anbieters ein, um dort in den Postordnern nachzuschauen. Ohne Erfolg, die E-Mail bleibt verschwunden.

Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück. Meine Hände zittern vor innerer Unruhe, die mich mit jeder Sekunde, die ich vergeblich nach der Einladung gesucht habe, mehr und mehr ergriffen hat. Ich fühle mich schwach und ausgelaugt, obwohl es erst früh am Morgen ist. Der Bildschirm meines Notebooks verschwimmt vor meinen Augen. Als mir bewusst wird, dass außer mir niemand die E-Mail gesehen hat, habe ich das Gefühl zu taumeln und halte mich an den Armlehnen meines Stuhles fest, in dem ich am liebsten versinken würde.

Weder auf meinem Smartphone noch auf meinem Computer oder dem Server ist eine an mich gerichtete persönliche Einladung zum Informationsgespräch zu finden.

Es ist, als hätte die E-Mail von Lautrup Pharmaceuticals niemals existiert.

7

Über die Hindenburgstraße brauche ich zu Fuß fünf Minuten bis zum Alsterdorfer U-Bahnhof, der unmittelbar an der Grenze zu Winterhude mit dem Hamburger Stadtpark liegt. Es ist kurz nach elf Uhr. Die Pendler sind schon lange auf der Arbeit. An der Bushaltestelle, die nur wenige Meter vom Eingang zur U-Bahn entfernt ist, warten lediglich zwei Männer und eine Frau mit eingezogenen Schultern, die Hände in ihren Mantel- und Jackentaschen vergraben. Vor dem Imbiss, direkt rechts neben dem Aufgang zum Gleis, raucht einer der Angestellten eine Zigarette. Er kennt mich, da wir seit Jahren ab und an dort Döner kaufen. Wir winken uns freundlich zu. Nachdem ich von der Linie U1 auf die U3 gewechselt bin, muss ich noch ein Stück mit dem Bus fahren und die letzten Meter zu Fuß zurücklegen. Dann stehe ich vor dem Firmengebäude und Hauptsitz von Lautrup Pharmaceuticals in der Paul-Dessau-Straße in Hamburg-Bahrenfeld. Das moderne kubische Gebäude, dessen schnörkellose Front größtenteils aus dunkel verspiegelten Flächen besteht, hat sechs Stockwerke und wirkt fremdartig inmitten der umliegenden althergebrachten roten Backsteinbauten, in denen Banken, Ärzte, eine Apotheke, ein Discounter und ein Unternehmen für Lasertechnik untergebracht sind.

Ich habe mir ein Herz gefasst, die Nummer des Pharmaherstellers gegoogelt und mich mit Dr. Steffen Lautrup verbinden lassen. Ich musste einfach wissen, ob ich mir die E-Mail mit der Einladung nur eingebildet hatte. Meine Erleichterung war unbeschreiblich, als er mir bestätigte, dass er tatsächlich auf der Suche nach Testkandidaten sei und mir diese E-Mail geschickt hat. Dann bot er mir an, dass ich bei Interesse noch heute zu ihm kommen könne, da er um zwölf Uhr noch einen Termin freihabe.

Ich atme noch einmal tief durch. Dann betrete ich entschlossen durch eine breite Schiebetür den weitläufigen Eingangsbereich und gehe zu der auf der rechten Seite gelegenen Rezeption. Hinter dem orangefarbenen Tresen sitzt eine freundlich lächelnde Frau mittleren Alters mit dunklen Haaren, die sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hat. Hinter ihr an der Wand hängt ein riesiger Flachbildschirm, auf dem ein Video in einer Endlosschleife läuft, in dem das Unternehmen und ein paar der entwickelten Medikamente präsentiert werden.

»Mein Name ist Jan Flemming. Ich habe einen Termin bei Dr. Lautrup«, sage ich, als sich die Empfangsdame von ihrem Computermonitor abwendet und mich ansieht. »Richtig. Dr. Lautrup hat mir Bescheid gesagt, dass Sie kommen. Einen Moment bitte.«

Sie nimmt den Telefonhörer und drückt eine Kurzwahltaste. Während sie wartet, schaut sie mit konzentriertem Blick auf den seitlich neben ihr stehenden Monitor, bewegt die Computermaus und klickt ein paar Mal darauf. »Herr Flemming wäre jetzt da«, sagt sie dann.

Nachdem sie aufgelegt hat, wendet sie sich wieder mir zu und zeigt zu zwei Aufzügen, die sich hinter einer Schranke mit vier Drehkreuzen befinden. »Sie können schon mal zum Lift gehen. Sie werden gleich abgeholt.«

Sie drückt eine Taste, sodass ich das Drehkreuz auch ohne Ausweiskarte, die normalerweise dafür notwendig ist, passieren kann. Wenige Sekunden später öffnet sich die linke Aufzugstür. Eine Frau mit schwarzem Businessanzug und weißer Bluse tritt heraus. Sie reicht mir die Hand und stellt sich mir als Dr. Lautrups Sekretärin vor. Wir fahren gemeinsam mit dem Aufzug in die oberste Etage. Als sich die Tür öffnet, bittet sie mich, ihr zu folgen. Sie führt mich in einen von klassischer Musik erfüllten Warteraum und bittet mich, Platz zu nehmen. Ich setze mich auf einen von sechs bequemen Sesseln und muss mir eingestehen, dass ich nun doch sehr gespannt bin, was Dr. Lautrup sagen wird. Ich weiß von einem Foto auf der Internetseite des Unternehmens, das ich mir nach dem Telefonat mit ihm angesehen habe, wie er aussieht. Er kann höchstens Mitte dreißig sein, was zu seiner jung klingenden Stimme am Telefon gepasst hat.

Fünf Minuten später kommt die Sekretärin zurück und führt mich in ein verschwenderisch großes Büro mit deckenhohen Panoramascheiben, die den Blick über die umliegenden Gebäude freigeben. Davor steht ein Schreibtisch, hinter dem Professor Dr. Steffen Lautrup sitzt. Er trägt einen dunkelblauen Anzug ohne Krawatte und auf seiner Nase ruht eine eckige, rahmenlose Brille, die seine markanten Gesichtszüge perfekt betont. Sein dunkelblondes kurz geschnittenes Haar weist bereits eine auffallend hohe Anzahl grauer Haare auf. Trotz seines Businessoutfits passt er irgendwie nicht in dieses Büro. Vielleicht liegt es an seiner jugendlichen Ausstrahlung, die ihn nicht so seriös erscheinen lässt, wie es die Leitung eines solchen Unternehmens erwarten lassen könnte.

Er erhebt sich, kommt mir lächelnd entgegen und reicht mir zur Begrüßung die Hand. »Schön, dass Sie so spontan hergekommen sind.« Er weist auf einen der vor seinem Schreibtisch stehenden Designerstühle und bittet mich, Platz zu nehmen.

Er setzt sich in seinen Chefsessel, lässt den Blickkontakt zu mir dabei zu keinem Moment abbrechen und scheint meine Gedanken lesen zu können.

»Mein Vater Wilhelm hat das Unternehmen gegründet und groß gemacht. Vor zwei Jahren ist er gestorben. Ich bin eigentlich Psychologe und promovierter Biochemiker, und nicht jeder Wissenschaftler ist auch ein so begnadeter Geschäftsmann wie mein Vater. Ich versuche, in seine Fußstapfen zu treten, habe dabei aber noch so meine Probleme.«

Indem er sich selbst kleiner macht, will er, dass ich ihn sympathisch finde. Fast gelingt es ihm auch. Es fällt schwer, ihn nicht zu mögen. Aber ich habe mir vorgenommen, mich nicht einwickeln zu lassen. Das hier wird vermutlich eine Art Verkaufsgespräch werden, bei dem sich der smarte Unternehmenschef sicher vorgenommen hat, einen neuen Kunden, in diesem Fall einen neuen Testkandidaten, an Land zu ziehen. Ich werde mich interessiert zeigen, aber ernst bleiben und mich geschäftsmäßig geben.

»Woher kennen Sie meine E-Mail-Adresse, und woher wissen Sie, an welcher Krankheit ich leide?«

Er hebt entschuldigend die Handflächen nach oben. »Ich muss gestehen, dass wir die Daten angeboten bekamen. Normalerweise machen wir so etwas nicht. Aber wir haben sie ausnahmsweise gekauft, weil wir glauben, dass wir Ihnen und anderen Betroffenen mit unserem neuen Wirkstoff wirklich helfen können.«

Das entspricht dem, was Nick bereits vermutet hat. Ich mahne mich zur Zurückhaltung. Ich will die Stimmung nicht schon jetzt, wo wir noch nicht zum Kern des Gesprächs vorgedrungen sind, verderben, indem ich darauf herumreite, dass ich das nicht sonderlich vertrauenserweckend finde und nicht nur als Anwalt ein solches Vorgehen strikt ablehne.

»Heißt das, ich bin nicht der Einzige, den Sie angeschrieben haben?«

Er lächelt. Er hat diese gewinnende Art. Diese extreme Selbstsicherheit, die einen glauben lässt, dass alles, was er sagt, richtig sein muss, aber das ist nicht zwangsläufig auch der Fall. Es ist nur ein Wesensmerkmal, das Machtmenschen einsetzen, um andere Menschen auf ihre Wahrheit einzuschwören. Ich falle nicht darauf herein, aber seine Art gebietet mir, vorsichtig zu sein.

»Als nächste Phase im Zulassungsverfahren für das neue Medikament ist eine klinische Studie vorgesehen. Dafür brauchen wir natürlich möglichst viele an Narkolepsie Erkrankte, die sich bereit erklären, daran teilzunehmen, und es haben sich auch schon einige der von uns Angeschriebenen, gemeldet und zugestimmt.« Er reicht mir ein paar Papiere. »Das sind die Dokumente, die Sie unterzeichnen müssten, wenn Sie ebenfalls teilnehmen wollen.«

Ich werfe einen kurzen Blick darauf. Es handelt sich um eine ausführliche Beschreibung des Verfahrens zur Durchführung der Studie, eine Aufklärung über Gefahren und mögliche Nebenwirkungen, eine Einverständniserklärung in die Behandlung und die Bestätigung, dass über die Behandlung sowie Risiken und Nebenwirkungen eine Beratung stattgefunden hat und alle meine Fragen zu meiner Zufriedenheit beantwortet wurden. Alle Beratungspunkte sind einzeln aufgeführt. Zudem finde ich eine Entbindung von der Schweigepflicht für alle Ärzte, die mich behandeln.

»Wir müssen natürlich Ihre Krankenakte genau kennen, bevor wir beginnen«, sagt Dr. Lautrup, als ich bei diesem letzten Blatt, das ich unterschreiben soll, stutze. »Lesen Sie sich das alles zu Hause ganz in Ruhe durch«, sagt er dann. »Ich will Ihnen aber nicht vorenthalten, dass nur noch wenige Plätze für die Studie frei sind. Lassen Sie sich so viel Zeit zum Überlegen, wie Sie brauchen. Aber ich kann Ihnen keinen Platz garantieren. Wenn andere sich vor Ihnen dafür entscheiden, kann es sein, dass Sie nicht mehr dabei sein können.«

Ich mag es nicht, wenn man mich so unter Druck setzt.

»Narkolepsie gilt als nicht heilbar«, sage ich.

Ein schelmischer Ausdruck legt sich auf sein Gesicht. »Das galt für viele Krankheiten, bis ein Heilmittel gefunden wurde.«

»Wie kann es sein, dass sich im Internet nichts über Ihren Durchbruch in der Forschung findet? Kein Bericht, keine Ankündigung.«

Jetzt schmunzelt er und sieht mich eine Weile schweigend an. »Es ist nicht zwangsläufig so, dass solche Informationen vorab publiziert werden«, sagt er dann. »Institute, die das tun, sind meist öffentlich-rechtlicher Natur, wie etwa Universitätskliniken mit angeschlossener Forschungsabteilung. Wenn es um die Durchführung klinischer Studien geht, stoßen diese sowohl finanziell als auch vom Aufwand her an die Grenze des für sie Machbaren. Private Unternehmen stehen zu sehr im Wettbewerb, als dass sie sich erlauben könnten, ihren Forschungsstand preiszugeben. Was, wenn ein anderes Unternehmen ein gleiches Medikament entwickelt und jetzt deshalb die Bemühungen und die Markteinführung vorantreibt und plötzlich früher dran ist? So etwas könnte zu Millionenverlusten führen.«

Das leuchtet mir ein. »Und was macht Sie so sicher, dass Ihr neuer Wirkstoff funktioniert?«

»Wir haben das entscheidende Problem gelöst. Unser neuer Wirkstoff ist synthetisch, aber dem Botenstoff, an dem es in Ihrem Gehirn mangelt, sehr ähnlich. Der Wirkstoff überwindet, verabreicht in Form von Nasenspray, erstmals die natürliche Blut-Hirn-Schranke. Vereinfacht ausgedrückt füllen wir den Botenstoff, der Ihrem Gehirn für immer ausgegangen ist, einfach nach. Die Testreihen, die wir ohne Menschen durchgeführt haben, sind äußerst positiv verlaufen.«

Ich weiß, dass er von Tierversuchen spricht und vermeiden will, das Wort in den Mund zu nehmen.

»Wir erwarten alle durch die Krankheit hervorgerufenen Symptome, mit unserem neuen Wirkstoff beheben zu können«, beendet er schließlich seinen kleinen Vortrag, von dem ich vermute, dass er ihn auswendig gelernt hat oder so oft von sich gegeben hat, dass er ihn im Schlaf herunterbeten kann.

»Ich könnte aber auch einfach warten, bis das Medikament auf den Markt kommt.«

»Natürlich, das steht Ihnen frei, wenn Sie Ihren Leidensdruck noch so lange aushalten.«

»Wann wäre denn mit einer Markteinführung zu rechnen?«

»Frühestens in achtzehn Monaten, vermutlich wird es eher zwei Jahre dauern. Die Zulassungsverfahren sind bürokratisch und dauern ihre Zeit.«

Damit hat er mich wieder an der Angel. Zwei Jahre. So lange will ich nicht warten, wenn die Aussicht besteht, dass ich jetzt schon geheilt werden und mein gewohntes Leben zurückbekommen könnte.

»Angenommen, ich mache mit, wie genau wird es ablaufen?«

Er informiert mich, dass ich ein Nasenspray bekomme, das zwei Mal am Tag, morgens und abends, anzuwenden sei. Nach der ersten Woche würden regelmäßige Kontrollen erfolgen, da erst nach dieser Zeitspanne mit einer Wirkung zu rechnen sei.

»Die Depots in Ihrem Gehirn brauchen ein wenig Zeit, um sich aufzufüllen«, erklärt er. Ab der dritten Woche müsse ich dann einige Nächte im unternehmenseigenen Schlaflabor zubringen.

Ich nicke. Bis jetzt sehe ich keinen Grund, nicht an der Studie teilzunehmen. »Welche konkreten Nebenwirkungen sind zu erwarten?«

Er spitzt die Lippen und klopft rhythmisch mit seinem edlen Kugelschreiber auf die Schreibtischunterlage. »Klar, das sollten Sie natürlich auch wissen«, sagt er schließlich. »Bis das Medikament zu wirken beginnt, kann es aufgrund von Abwehrreaktionen Ihres Gehirns zu einer Verschlimmerung Ihrer Symptome kommen. Die Betonung liegt aber auf kann. Dennoch sollten Sie Stress und andere Reizzustände, die Ihren Gemütszustand übermäßig in Wallung bringen, in dieser Zeit unter allen Umständen vermeiden.«

Dass er mir eine kurzfristige Verschlimmerung meines Zustands in Aussicht stellt, bereitet mir auf der Stelle Unwohlsein, und ich rutsche nervös auf meinem Stuhl herum. »Aber wie kann das sein? Warum könnte es mir theoretisch schlechter gehen, obwohl doch der fehlende, für die Krankheit ursächliche Botenstoff ersetzt wird?«

Dr. Lautrup macht eine ausladende Geste. »Der Wirkstoff ist synthetisch. Daher wird Ihr Autoimmunsystem vermutlich verstärkt darauf reagieren und ihn hart bekämpfen.«

Das verstehe ich, aber ermutigend klingt es nicht. Doch ich halte ihm zugute, dass er nicht versucht, den Test zu beschönigen. Ich habe den Eindruck, dass er die Karten offen auf den Tisch legt, und das weckt mein Vertrauen.

»Und was kann schlimmstenfalls passieren?«

Dr. Lautrup setzt wieder sein gewinnendes Grinsen auf, so als hätte ich etwas Amüsantes gesagt. »Es ist eine Testreihe. Ein gewisses Risiko ist für Sie schon dabei. Aber wir glauben, dass der Worst Case darin besteht, dass sich Ihre Schlaflähmungen beim Aufwachen oder Einschlafen intensiver und länger andauernd gestalten könnten. Wenn Sie während dieser Schlafparalyse unter Halluzinationen leiden, steht zu erwarten, dass diese sich für eine Woche heftiger als gewohnt gestalten werden. Einschlafattacken könnten Sie öfter und schneller ereilen. Wie stark ausgeprägt sind momentan Ihre Kataplexien?«

Ich muss mich räuspern und mein Mund ist trocken, sodass mir das Schlucken schwerfällt. Die Vorstellung dessen, was Dr. Lautrup mir in Aussicht gestellt hat, verursacht mir zudem ein mulmiges Gefühl im Magen. »Es kommt vor, dass plötzlich meine komplette Muskulatur versagt, bis auf die Atmung funktioniert dann nichts mehr. Die Augenlider lassen sich als Erstes wieder bewegen.«

Dr. Lautrup massiert sich nachdenklich sein Kinn. »Das ist schon heftig. Bemerken Sie die Anbahnung einer solchen Kataplexie früh genug, um Schutzvorkehrungen zu treffen?«

Ich schüttle den Kopf. »Es geschieht ganz plötzlich. Stürze sind keine Seltenheit.«

»Wie lange dauert der Zustand bei Ihnen durchschnittlich an?«

»Zwei bis drei Minuten, schätze ich.«

»Ein Grund mehr, während der ersten Wochen jegliche emotionalen Reizzustände zu vermeiden. Die Schwelle für das Eintreten einer Kataplexie wird nach der ersten Verabreichung vermutlich schneller und öfter erreicht. Außerdem können die Albträume, die nächtliche Schlaflosigkeit und die im Alltag über Sie kommenden Schlafattacken zunehmen. Die Betonung liegt aber wie gesagt auf kann, all das muss nicht geschehen.«

Alles, was er sagt, klingt logisch. Ich sage mir, dass eine Woche keine Ewigkeit ist. Dennoch machen mir die aufgezeigten möglichen Gefahren Angst. Aber wenn wirklich eine Heilung erfolgt, dann ist es vielleicht wert, das Risiko einzugehen.

»Kann es andere Nebenwirkungen geben, von denen Sie noch nichts wissen?«

Jetzt blickt er mich zum ersten Mal sehr ernst an und wieder antwortet er nicht sofort. »Es wäre gelogen, wenn ich Nein sagen würde. Komplikationen kann es immer geben. Die Wahrscheinlichkeit ist aber sehr gering. Dennoch ist es die erste zugelassene Testreihe an Menschen. Jeder Mensch reagiert anders und die Wahrheit ist, dass wir nicht mit Sicherheit vorhersagen können, was genau mit Ihnen geschieht. Wir glauben aber ausschließen zu können, dass Ihr Leben durch das Medikament gefährdet wird. Jedoch müssen Sie damit rechnen, dass es bei Ihnen wirkungslos bleibt, die Verschlimmerung Ihres Zustandes aber dennoch eintritt.«

Ich erkläre ihm, dass alle gängigen Medikamente zur Linderung der Krankheitssymptome bei mir nicht angeschlagen haben oder ich sie nicht vertragen habe. Sowohl die Aufputschenden zum Wachbleiben am Tag wie Vigil als auch das auf dem K.-o.-Tropfen-Wirkstoff Natriumoxybat aufbauende Medikament Xyrem. Er will nun alles noch genauer über die Ausprägung meiner Narkolepsie wissen. Als ich ihm von meinen realitätsnahen Halluzinationen erzähle und dass diese auch während den Kataplexien auftreten, hebt er interessiert die Augenbrauen.

»So starke Symptome sind selten, aber umso besser geeignet, die Wirksamkeit unseres Medikaments nachzuweisen. Jedenfalls sollten Sie nicht länger als nötig unter dieser doch sehr heftigen Einschränkung Ihres Lebens leiden.«

Er ist anscheinend nicht nur ein genialer Wissenschaftler, sondern auch noch ein guter Verkäufer. Ich stimme ihm aber zu und verrate ihm, dass ich meine Arbeit als Anwalt nicht mehr ausüben kann und gern wieder in mein Büro zurückkehren würde.

Anschließend begleitet er mich zur Bürotür und legt, bevor ich rausgehe, seine rechte Hand auf meinen Oberarm. »Ich glaube fest daran, dass wir Ihnen helfen und Sie wieder als Anwalt arbeiten können.«

Wir schütteln uns die Hände und ich verlasse mit einem flauen Gefühl das Gebäude. Mein Bauch sagt mir, dass ich die Finger von dem Test lassen soll. Aber mein Verstand findet es unerträglich verlockend, wieder gesund zu werden. Ich bemerke, dass ich nach dem Gespräch mit Dr. Lautrup mein Misstrauen wegen der unseriösen Kontaktaufnahme über meine gekaufte E-Mail-Adresse so gut wie über Bord geworfen habe.

Ich muss das Gespräch, von dem ich jetzt merke, dass es mich erschöpft hat, erst einmal sacken lassen. Dabei bin ich äußerst gespannt, was Barb zu allem sagen wird. Inzwischen ist die Sonne herausgekommen und ich genieße die frische kalte Luft. Mir ist nicht danach, sofort wieder nach Hause zurückzukehren. Deshalb gehe ich zur nächsten Haltestelle, nehme die S-Bahn in Richtung Innenstadt und steige zehn Minuten später an den Landungsbrücken aus. Ich schlendere über die Hafenpromenade Richtung Speicherstadt, vorbei an den Anlegestellen der Barkassen und den Musical- und Segelschiffen zu meiner Rechten sowie den Imbissbuden zu meiner Linken. Ich gehe die Treppen hinauf zu einem der höher gelegenen Aussichtspunkte und setze mich auf eine Bank. Während ein paar Möwen kreischend über die Köpfe einer Menschengruppe, von denen einige so herzhaft in ihre Fischbrötchen beißen, dass man meinen könnte, sie hätten seit Tagen nichts mehr gegessen, kreisen, lasse ich den Blick über die Elbphilharmonie und den Hafen schweifen, wo in der Ferne an den Docks riesige Containerschiffe und ein Kreuzfahrtschiff liegen.

Als ich in der U-Bahn wieder auf dem Weg nach Hause bin, habe ich mich bereits gegen den Test entschieden. Ich habe zu oft im Leben auf meinen Verstand vertraut und falschgelegen. Ich werde warten, bis das Medikament regulär auf den Markt kommt. Ich werde Vater. Ich kann mir keine Experimente erlauben. Bedenken gegen den Test habe ich vor allem, da meine Erkrankung so extrem stark ausgeprägt ist. Was würde mich erwarten, wenn die Symptome sich durch das Medikament noch weiter verstärkten? Ich kann mich ganz gut in andere Menschen hineinfühlen, und bei Dr. Lautrup hatte ich den Eindruck, dass er etwas verheimlicht. Natürlich kann ich mich auch täuschen, als Anwalt sieht man zu oft überall nur Gefahren. Aber als ich ihm meine Symptome beschrieb, war da ein Flackern in seinen Augen, das ich nun als Unsicherheit deute. Keine Frage, er will mich als Kandidat. Mit meinen ausgeprägten Symptomen wäre ich ein perfektes Versuchskaninchen. Ich werde noch mit Barb darüber reden, aber ich glaube, wenn sie hört, dass es zu unvorhersehbaren Nebenwirkungen kommen kann, wird sie ebenfalls der Meinung sein, dass ich die Finger davon lassen soll.

Als ich über die Fußgängerampel unter den Gleisen am Alsterdorfer U-Bahnhof gehe und die Hindenburgstraße überquere, ist es bereits halb fünf am Nachmittag. Die Sonne, die den Mittag verschönt hat, zieht sich langsam zurück und es wird nach und nach dunkler. Nach etwa siebzig Metern biege ich rechts ab. Kurz darauf erreiche ich linker Hand, den Azaleenstieg, wo Malte das zweite Haus auf der rechten Seite bewohnt. Unsere Straße geht hundert Meter weiter ebenfalls nach links ab und ist die mittlere von drei parallel verlaufenden Straßen. Als ich an der Mündung des Azaleenstiegs vorbeigehe, werfe ich einen kurzen Blick in Richtung von Maltes Haus und stoppe abrupt ab. Vor der Buchsbaumhecke des Vorgartens parkt Barbs Auto. Meine Frau drückt die Klinke der schmiedeeisernen Vorgartentür nach unten und verschwindet hinter der Hecke. Mein Arm, den ich schon gehoben habe, um ihr zur Begrüßung zuzuwinken, sinkt langsam nach unten, und ihr Name, mit dem ich nach ihr rufen wollte, erstirbt in meiner Kehle. Unweigerlich muss ich an die Halluzination von heute Morgen denken. Malte war in unserem Schlafzimmer, und er und Barb haben sich eng umschlungen geküsst. Schweiß tritt auf meine Stirn, meine Hände werden klamm. Die klinische Studie, die mir während meines ganzen Rückwegs durch den Kopf gegeistert war, ist auf einen Schlag wie weggeblasen. Ich gehe einige Schritte näher heran, sodass ich Barb durch den von Ungeziefer befallenen blätterlosen Teil des Buchsbaums schemenhaft erkennen kann. Sie betätigt die Klingel. Die Eingangstür wird geöffnet und dann verschwindet Barb in Maltes Haus.

8

Ich sitze auf dem Sofa. Die Stehlampe daneben verströmt ein schwaches, warmes Licht. Vor mir auf dem Tisch steht ein Glas mit Wasser, das ich noch nicht angerührt habe. Meine Hände ruhen auf meinen Oberschenkeln. Ich starre ins Leere. In meinem Kopf herrscht ein dumpfer Druck, der mein Denken verlangsamt. Es ist, als sträube sich etwas in mir, darüber nachzudenken, aus welchem Grund Barb in Maltes Haus gegangen ist. Ich versuche mir einzureden, dass es berufliche Gründe sind. Zwar arbeiten sie in unterschiedlichen Bereichen, aber immerhin im selben Unternehmen. Er könnte heute krank gewesen sein, und sie hat ihn über etwas informiert. Doch eine andere Stimme in mir schreit mir etwas anderes entgegen. »Mach die Augen auf. Du belügst dich nur selbst«, brüllt sie und fegt mein Wohlwollen beiseite. »Barb hat eine Affäre«, flüstert sie dann. »Warum muss sie zu ihm in die Wohnung? Wozu gibt es ein Telefon und das Internet mit E-Mail und Skype? Warum hat Malte keine Freundin, obwohl er schon fast ein Jahr hier wohnt? Obwohl er mehrmals in der Woche, im Gegensatz zu dir, ins Fitnessstudio geht und fast jeden Abend um den Block joggt? Warum wohl? Kann es sein, dass er überhaupt nur wegen deiner Frau seinen Arbeitsplatz von Berlin nach Hamburg verlegt hat? Kann es sein, dass er nur wegen Barb hergezogen ist und wegen ihr in eurer unmittelbaren Nähe wohnt? Kann es sein, dass du so sehr mit deiner Krankheit beschäftigt warst, dass du das alles, obwohl es sich vor deiner Nase abgespielt hat, einfach nicht bemerkt hast?«

Ich sacke in mir zusammen und reibe mir mit meiner Hand, die so kalt ist wie ein Eis, durchs Gesicht.

Malte ist über ein Meter achtzig groß, hat eine athletische Figur, volles Haar und markante Gesichtszüge. Die meisten Frauen würden ihn vermutlich als gut aussehend bezeichnen. Er hat ein freundliches Lächeln und einen treuherzigen Hundeblick. Malte ist einer von den Netten. Zumindest dachte ich das bis jetzt. Mein Gott. Ich kann es nicht fassen. Aber es passt alles zusammen. Er ist geschieden. Immer wenn ich Barb und ihn zusammen gesehen habe, bei Gartenfesten, bei zufälligen Zusammentreffen vor dem Haus oder beim Wochenendeinkauf im Discounter, haben sie sich angeregt unterhalten und viel gelacht. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, muss ich Barbs Verhalten, die Art und Weise, wie sie ihm in die Augen geschaut hat, vielleicht in einem anderen Licht betrachten, und mir stellt sich unweigerlich die Frage, ob sie in Maltes Nähe nicht stets zu gut aufgelegt war und ob ihr Blick nicht zu sehr an seinen Lippen klebte, wenn er mal wieder von einem seiner Reiseerlebnisse erzählte, als dass dies noch mit bloßem Interesse zu erklären wäre. Ich kann es nicht glauben. Aber ich kann es nicht bestreiten. Es besteht die Möglichkeit, dass meine Frau und Malte ein Verhältnis haben. Ich streiche über das Armband mit dem Zeichen für Unendlichkeit, das sie mir erst gestern geschenkt hat. Würde sie das tun? Würde sie mir zum Zeichen unserer ewigen Liebe so ein Geschenk machen und mich dann am nächsten Tag mit einem anderen, unserem Nachbarn, mit Malte, der für mich zum Freund geworden ist, betrügen?

Mir wird übel. Ich trinke mein Wasserglas bis zur Hälfte aus, stehe auf, gehe auf die Terrasse, brauche frische Luft. Als ich wieder hereinkomme, höre ich, dass die Haustür aufgesperrt wird. Schnell setze ich mich wieder aufs Sofa.

»Hallo Schatz«, ruft Barb. Über eine halbe Stunde war sie bei ihm. Ich schließe kurz die Augen und atme tief durch. »Ich bin im Wohnzimmer«, krächze ich zurück. Als sie hereinkommt, lächle ich, stehe auf und versuche so normal wie möglich zu wirken. Barb kommt zu mir, umarmt mich und gibt mir einen Kuss. Sie gibt sich wie immer, und ich erkenne keine Spur von schlechtem Gewissen in ihrem Gesicht.

Sie geht in die Küche und öffnet den Kühlschrank. »Und wie war dein Tag?« Sie kommt mit einem vollen Glas Orangensaft zurück, stellt es auf den niedrigen Wohnzimmertisch und lässt sich neben mich aufs Sofa fallen.

»Ganz okay. Wie immer eben«, antworte ich.

Barb soll denken, dass heute ein Tag war, dessen Inhalt keiner besonderen Erwähnung verdient. Sie soll denken, dass ich ein wenig aufgeräumt, geschlafen, Lebensmittel eingekauft und ferngeschaut habe. Mehr nicht. Ich wollte sie damit überraschen, dass ich bei Lautrup Pharmaceuticals war, und ihr alles haarklein erzählen. Aber jetzt ist mir die Lust dazu komplett vergangen. Wir würden nur in eine Diskussion über das Für und Wider meiner Teilnahme an dem Medikamententest verfallen, und danach steht mir einfach nicht mehr der Kopf. Mir steht nach nichts mehr der Kopf. In meinem Kopf gibt es nur noch ein Thema: Hat meine Frau ein Verhältnis mit Malte? Nichts anderes scheint mehr wichtig oder von Belang zu sein.

Zuerst zieht sie die Augenbrauen zusammen, dann zuckt sie mit den Schultern und trinkt von ihrem Orangensaft. Insgeheim beobachte ich die ganze Zeit ihr Verhalten, versuche etwas auszumachen, das anders ist als sonst.

Sie lächelt, aber ich habe das Gefühl, dass sie sich dazu zwingen muss. Als ob sie mir etwas erzählen möchte, aber es aus irgendeinem Grund nicht kann. Sie bringt es nicht übers Herz, mich zu verletzen, denke ich. Das ist es. Sie will mich nicht anlügen, aber sie denkt, dass ich die Wahrheit nicht verkraften werde.

»Und wie war´s bei dir?«, frage ich zaghaft.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739475592
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (November)
Schlagworte
drama Psychothriller verfolgt Thriller Krankheit mord narkolepsie Spannung Ehedrama Krimi Ermittler

Autor

  • Chris Karlden (Autor:in)

Chris Karlden, geb. 1971, studierte Rechtswissenschaften. Seine Bücher steigen regelmäßig auf Spitzenpositionen in den Bestsellerlisten und begeistern hundertausende LeserInnen. Insbesondere seine Thrillerreihe um die Kommissare Adrian Speer und Robert Bogner erfreut sich einer immer größer werdenden Anhängerschaft. Chris Karlden widmet sich beruflich mittlerweile ausschließlich dem Schreiben von Spannungsromanen. Seine LeserInnen hält er auf Facebook und mit seinem Newsletter auf dem Laufenden.
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Titel: Das Medikament: Psychothriller