»Scheiße, scheiße, scheiße.« Während Heather aufpassen muss, dass sie sich vor Lachen nicht vollpinkelt, könnte ich heulen.
»Das hast du nicht gesagt?«
»Ich fürchte doch.« Schuldbewusst senke ich den Blick auf meine Finger. Was ist da vorhin nur in mich gefahren? Natürlich ist mir mehr als jedem anderen bewusst, dass ich oft zu schnell und ohne nachzudenken drauflosplappere. Aber ausgerechnet bei ihm? »Wie soll ich ihm denn morgen gegenübertreten?«
»Ach wie schön, zwei neue Gesichter.« Eine Frau etwa Mitte vierzig steht uns gegenüber und lächelt uns freundlich an. »Schön, dass ihr hergefunden habt. Ich bin Kate, die Gruppenleiterin.«
Da sie hier die Gruppenleiterin ist, sehe ich sie mir genauer an. Schließlich hat sie dadurch ja auch eine Art Vorbildfunktion inne. Oder sehe ich das falsch? Da kann ich jedoch gucken, so viel ich will, es gibt nichts zu bemängeln. Das leichte Sommerkleid betont ihre tolle Figur, und ihr sportlicher Bob lässt sie vermutlich jünger aussehen, als sie tatsächlich ist.
»Hallo, ich bin Heather und das ist Amber.« Heather grinst, als hätte sie allein vom Hiersein schon zwanzig Kilo abgenommen.
»Dann wollen wir euch zuerst einmal eine Kartei anlegen.« Kate faltet ein Kärtchen, das sie ihrer Mitarbeiterin gibt, die hinter einer halbhohen Sichtsperre aus Pappe sitzt. Was ist das denn für eine? Hat sie irgendwelche Komplexe, weshalb sie sich verstecken muss? Bevor ich das genauer beurteilen kann, spricht Heather mich an.
»Ich denke, den sollten wir uns gleich mitnehmen, oder?«
»Hmm?«
»Diesen Einkaufsführer.«
Ich blättere einmal kurz durch das Buch und sehe den Preis auf der Rückseite. »Vierzig Dollar?«
Na toll. Jetzt weiß ich auch, warum ich abnehme. Weil ich kein Geld mehr habe, um mir essen zu kaufen. Trotzdem nicke ich und behalte das Buch.
»So, wie es weitergeht, erklärt euch jetzt Lyn.« Kate zeigt auf die hinter der Pappe. »Sie wird euch wiegen und das Gewicht auf eurem Wiegekärtchen notieren.«
»Was?«, entfährt es mir ungewollt laut. Kate, Heather und Lyn hinter der Pappe sehen mich erschrocken an, sodass ich mich räuspere und leiser weiterspreche. »Ich meine, wiegen? Warum das denn? Ich kenne doch mein Gewicht.«
»Du wirst dich jetzt bei jedem Treffen wiegen und Lyn wird deine Fortschritte in deinem persönlichen Wiegekärtchen festhalten. Das wird dir eine Motivation sein.« Kate lächelt so nett, dass ich kurz davor bin einzuknicken. »Außerdem wird hier niemand öffentlich gewogen, alles ist ganz diskret. Die Anzeige der Waage ist hier hinter diesem Sichtschutz und nur Lyn kann dein Gewicht sehen.«
Na großartig, das erklärt dann auch die Pappe. Ich fange Heathers flehenden Blick auf und so gebe ich klein bei und gehe die paar Schritte zur Personenwaage weiter. Heather wird gewogen, bekommt ihr Kärtchen und tritt zur Seite, damit ich auf die Waage steigen kann. Schon komisch, sich zu wiegen und das Ergebnis nicht selbst sehen zu können.
»Schon fertig.« Wie auch Kate lächelt Lyn mich freundlich an und ich nehme mein Wiegekärtchen entgegen. Nachdem Heather und ich uns hingesetzt haben, falte ich es auseinander. 73,9 Kilogramm.
»Die Waage ist doch kaputt oder was?«, platzt es schockiert aus mir heraus.
»Psst! Mensch Amber, jetzt reiß dich mal zusammen.« Peinlich berührt lässt Heather ihren Blick zwischen den anderen Gruppenmitgliedern kreisen und lächelt entschuldigend. Den Mund schon zu einer Erwiderung geöffnet, kommt Kate mir zuvor, sodass ich den Mund wieder schließe.
»Die Waagen bei uns werden regelmäßig geeicht, liebe Amber.«
Na dann kann es jawohl nur einen Gegenspieler geben: Lyn. Während ich versuche, ihr möglichst böse Blicke zuzuwerfen, ist Heather hin und weg von den vielen Erfolgsgeschichten der anderen.
Eine knappe Stunde später ist das Ganze vorbei und ich trete mit Heather auf die Straße. »Das war wirklich grausam. Ich könnte jetzt gut einen Latte mit viel Milchschaum gebrauchen.«
»Amber!«
»Schon gut, schon gut. Die Diät verdirbt mir schon nach einer Stunde die Laune.«
Wir verabschieden uns und ich steige in meinen Smart, um nach Hause zu fahren. Einen Vorteil hatte dieses Treffen ja, ich habe nicht an McLean gedacht. Er hat recht, ich sollte mich wirklich besser unter Kontrolle bekommen, weil mir meine Art sonst irgendwann einmal zum Verhängnis werden könnte. Ich hoffe nur, dieses Irgendwann ist nicht schon morgen.
Mit einer Tasse Kaffee stehe ich vor McLeans Tür und gehe zum wiederholten Mal die Worte durch, die ich einstudiert habe. Angriff ist die beste Verteidigung oder? Daher habe ich mir überlegt, mich einfach für den gestrigen Ausrutscher zu entschuldigen. Ich nicke noch einmal wie zur eigenen Bestätigung, das Richtige zu tun, und klopfe an die Tür.
»Herein.« Täusche ich mich oder hört er sich heute irgendwie genervt an?
Für einen Rückzug ist es jetzt zu spät und so öffne ich die Bürotür und trete ein.
»Guten Morgen, Mr. McLean.« Es fällt mir schwer, ihn freundlich anzulächeln, wenn als Reaktion nur der üblich undurchsichtige Gesichtsausdruck kommt. Dadurch, dass er so gut wie keine Mimik zeigt, wirkt sein Auftreten beängstigend perfekt, fast unmenschlich.
»Guten Morgen, Miss West.«
»Ich habe Ihnen Kaffee mitgebracht.« Weiterhin lächelnd stelle ich die Tasse vor ihm ab.
Er scheint einen kurzen Augenblick lang verwirrt zu sein, fängt sich aber genauso schnell wieder. »Danke. Leider trinke ich meinen Kaffee nicht mit Milch.«
»Oh.« Wer trinkt denn bitte seinen Kaffee schwarz? Das bringt meinen ganzen einstudierten Ablauf durcheinander. Soll ich diesem Fatzke jetzt etwa einen neuen holen?
»Ein bisschen Milch wird mich schon nicht umbringen.«
Wie bitte? Blinzelnd sehe ich zu ihm auf, als er sich die Tasse zum Mund führt. Und tatsächlich, ein kleines Zucken umspielt seine Mundwinkel. Himmel, räumt mal jemand einen Stuhl frei, damit ich mich setzen kann.
Er setzt die Tasse wieder ab und ich starre ihn immer noch an. Kopfschüttelnd konzentriere ich mich auf meine eigentliche Mission.
»Mr. McLean, ich wollte mit Ihnen …« Ich unterbreche mich selbst und lasse ihn nicht aus den Augen, als er aufsteht und einen der Stühle freiräumt.
»Setzen Sie sich doch bitte.« Schon wieder dieses kleine Lächeln. Verwirrt von dieser nahezu netten Geste, klammere ich mich an die Stuhllehne und setze mich erst, als auch er wieder sitzt und mich auffordernd ansieht.
»Also ähm«, nachdenklich reibe ich mir mit den Fingern über die Stirn und überlege, wo ich gedanklich stehen geblieben bin, »wegen gestern. Es tut mir leid, was ich da gesagt habe. Ich habe mal wieder nicht nachgedacht und hoffe, dass Sie den Vorfall vergessen können.« Ich knete meine im Schoß liegenden Finger und warte auf eine Antwort, die nicht kommt. Als ich den Kopf hebe, treffen sich unsere Blicke und ich halte kurzzeitig den Atem an. Ob aus Angst vor seiner Reaktion oder aus anderen Gründen will ich jetzt gerade nicht analysieren. Sein intensiver Blick macht mich nervös, sodass ich auf dem Stuhl umherrutsche und den Blick abwende. »Sie haben wohl recht, ich sollte mich mehr unter Kontrolle bekommen und nachdenken, bevor ich den Mund aufmache.«
Nun sag doch endlich was.
»Nein, Miss West.«
Erschrocken reiße ich meinen Kopf herum und sehe ihn wieder an. »Nein?«
»Wie Sie selbst gesagt haben, macht Sie genau das aus. Also lassen Sie sich von niemandem einreden, dass Sie sich ändern müssen. Auch nicht von mir.«
Irritiert betrachte ich ihn, wie er die Kaffeetasse in einem Zug leert und sein Adamsapfel sich beim Schlucken bewegt.
»Aber ich …« Ich gebe zu, ich bin verwirrt, extrem verwirrt. Zum einen von seiner Aussage, zum anderen davon, dass ich mich für das kaum vorhandene Grübchen an seiner Wange und den Adamsapfel interessiere. »Heißt das jetzt, Sie vergessen meinen Aussetzer von gestern Abend?«
»Welchen Aussetzer?«
Er weiß genau, wovon ich spreche, und so lache ich ihn erleichtert an. »Dann hole ich Ihnen jetzt die Liste mit den Firmenwagen.«
»Tun Sie das.« Er öffnet seinen Laptop. »Ach und Frau West, bitte kommen Sie zukünftig einfach herein. Sie brauchen nicht jedes Mal anzuklopfen.«
Als ich die Bürotür von außen zuziehe, lehne ich mich erleichtert dagegen und schließe für einen Moment die Augen.
»Na, so schlimm?« Auch ohne hinzusehen weiß ich, dass Marissa vor mir steht. »Debra wollte ihm gestern eine Blume ins Büro stellen, damit es nicht ganz so ungemütlich ist. Und was macht er? Schmeißt sie und die Pflanze umgehend wieder raus.« Ich öffne die Augen und blicke in Marissas grinsendes Gesicht. »Geh doch zu Harry und sag ihm, du willst nicht McLeans Helferlein sein. Lorena übernimmt das bestimmt wahnsinnig gerne für dich.«
»Warum sollte ich das tun?«
»Na ja, ich dachte, du stehst hier so, weil er dich langsam mürbe macht? Mal ehrlich, sein Anblick lässt in mir ja ganz wilde Gedanken aufkommen. Aber wenn man an dem leckt, klebt die Zunge wahrscheinlich dran fest wie an einer Straßenlampe bei Minusgraden. Ist er überhaupt ein Mensch?«
Bei ihren Worten zucke ich unwillkürlich zusammen, da ich vorhin noch dasselbe gedacht habe. Keine Ahnung, warum, aber ich bekomme Mitleid mit ihm. Vielleicht ist es wieder das Mutter-Theresa-Syndrom, aber ich bin mir sicher, dass er nicht immer so ist, wie er sich hier darstellt. Außerdem gefällt mir der Gedanke, dass Lorena ihm zuarbeitet, so ganz und gar nicht. Über das Warum möchte ich jetzt nicht weiter nachdenken.
»Nein, alles bestens. Ich habe gestern nur … na ja, den Mund wieder ein bisschen zu weit aufgerissen und hatte Angst, welche Konsequenzen er jetzt daraus zieht.«
»Und?«
»Nichts, alles bestens.«
Wenige Minuten später betrete ich sein Büro, ohne zu klopfen, und lege ihm die Liste auf den Tisch. »Ich habe die Liste auch noch in einen Ordner in der Datenbank abgelegt, soll ich Ihnen zeigen, wo?«
»Das wäre gut, danke.« Er rollt mit seinem Stuhl zur Seite und ich stelle mich neben ihn. Weil ich ihm so nah bin, kann ich, wie schon gestern am Faxgerät, seinen ganz eigenen Geruch vermischt mit einem herben Aftershave wahrnehmen. Er schiebt mir die Computermaus zu, wobei mir die hellen Härchen an der Seite seiner Hand auffallen. Ohne dass ich es beeinflussen kann, lecke ich mir nervös über die Unterlippe. Amber, mach keinen Scheiß. Dieser Mann kann dich deinen Job kosten.
Unwillentlich stelle ich mir vor, wie er aufsteht und seine großen Hände über meine Hüften nach oben wandern lässt, um meine Brüste zu umfassen. Seine tiefe Stimme flüstert mir ins Ohr, dass er mich schon auf diesem kargen Tisch vögeln wollte, seit wir uns das erste Mal begegnet sind. Mit einem Streich fegt er alles, was sich darauf befindet, zu Boden und drückt meinen Oberkörper auf die freigeräumte Fläche. Ohne viel Zeit zu verlieren, klimpert seine Gürtelschnalle, bevor er meinen Rock nach oben schiebt. In Gedanken trage ich statt der Shape-Hose nur einen hauchdünnen Spitzenstring, den er stürmisch zerreißt und dann ruckartig in mich eindringt.
»Miss West?« Eine Hand schiebt sich vor meine Augen. »Miss West, ist alles in Ordnung?«
Zwinkernd komme ich wieder ins Hier und Jetzt und sehe McLean an, der unglaublich aber wahr, mit einem breiten Grinsen neben mir sitzt. Augenblicklich spüre ich, wie ich rot werde, und wende mich dem Computer zu. Zeitgleich gehe ich vor dem Schreibtisch in die Hocke. Zum einen kann ich so besser auf den Bildschirm sehen. Zum anderen – und das ist weitaus wichtiger – kann ich so meine Nippel verbergen, die sich verräterisch gegen den dünnen Stoff der Bluse drücken. Gott ist das peinlich. Hoffentlich habe ich keine eindeutigen Geräusche von mir gegeben.
»Hier habe ich alle Firmenwagen der letzten Jahre eingetragen.« Ich fahre mit dem Finger über den Bildschirm. »Das sind die festen Wagen von Mitarbeitern, die immer einen haben. Und das hier sind die Wagen, die in der Firma stehen und nur bei Bedarf genutzt werden.«
Weil mir langsam die Knie wehtun, richte ich mich wieder auf und sehe zu ihm herunter. »Soll ich Ihnen noch etwas zusammenstellen?«
»Eine Auflistung der in den letzten zwei Jahren geflossenen Prämien wäre gut.«
»Das sollte ich heute noch fertig haben.« Damit will ich gerade das Büro verlassen, als er mich noch einmal anspricht.
»Es wäre einfacher, wenn Sie für die Zeit meines Aufenthalts auch in diesem Büro arbeiten würden.«
Wie bitte? Hier? Den ganzen Tag an seiner Seite? Mir meiner Feuchtigkeit, die sich unter diesem krankhaften Tagtraum zwischen meinen Beinen gesammelt hat, nur allzu bewusst, suche ich nach einer Ausrede, warum das keinesfalls geht.
»Das ist natürlich kein Muss. Es wäre nur einfacher, falls Fragen aufkommen.«
Scheiß verficktes Mutter-Theresa-Syndrom. »Natürlich, ich werde veranlassen, dass ein zweiter Schreibtisch hergebracht wird.«
Keine Stunde später sitze ich McLean vis-à-vis an einem voll eingerichteten Schreibtisch gegenüber. Wo ich schon einmal dabei war, habe ich auch noch einen zusätzlichen Tisch herbringen lassen, damit die ganzen Akten vernünftig abgelegt werden können. Welche Firma hat heutzutage eigentlich noch so viele Akten in Papierform? Aber Mr. Morgan besteht neben der Digitalisierung nun einmal darauf.
Als ich mich gerade daran mache, die Tabelle mit den Prämien zusammenzustellen, unterbricht McLean mich.
»Machen Sie erst einmal Ihre Mittagspause.«
Und tatsächlich, ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich um diese Zeit für gewöhnlich schon von der Pause zurück bin. »Machen Sie keine Pause?«
Ohne aufzusehen, antwortet er mir. »Ich brauche keine Pause.«
»War ja klar.«
Jetzt habe ich seine Aufmerksamkeit unerwünschterweise doch. »Wie bitte?«
»Äh … Na ja, ein paar Leute in der Firma, zu denen ich selbstverständlich nicht gehöre, fragen sich, ob Sie überhaupt menschliche Bedürfnisse haben. Und Sie lachen nie, obwohl das stimmt nicht ganz.« Ich lächle ihn kurz an, woraufhin wieder keine Reaktion kommt. »Sie scheinen nie genervt, ärgerlich oder müde zu sein. Eine Pause brauchen Sie offenbar auch nicht, was wohl heißt, Sie haben auch nie Hunger. Und Sie trinken schwarzen Kaffee. Jedenfalls fragen sich einige, ob Sie bei diesem Pensum überhaupt ein Mensch sind.«
»Wer fragt sich, ob ich überhaupt ein Mensch bin? Dem mache ich gleich die Papiere fertig.«
»Was?« Vor Schreck reiße ich meine Augen so weit auf, dass sie fast wehtun.
»Das war ein Witz.«
Ich spüre förmlich, wie ich in mir zusammensacke und die Anspannung wieder nachlässt. »Vielleicht sollten Sie sich angewöhnen, witzig zu gucken, wenn Sie einen Witz machen.«
»Wie guckt man denn witzig?«
Kopfschüttelnd stehe ich auf und nehme meine Tasche, als auch er sich erhebt.
»Also Miss West, wo gehen wir was essen?«