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Strange Memories

Verhängnisvolle Entscheidung

von Mia B. Meyers (Autor:in)
167 Seiten

Zusammenfassung

Der eiskalte Unternehmensberater Mason McLean hat wohl alles, was man sich wünschen kann. Neben seinem beruflichen Erfolg ist er charismatisch, gut aussehend und lebt in einer teuren Wohnung an der Fifth Avenue. Ganz im Gegenteil zu der temperamentvollen Sekretärin Amber, die ihr Herz auf der Zunge trägt und neben ihrem losen Mundwerk eine offensichtliche Schwäche hat: Essen. Als ein Auftrag Mason an Ambers Arbeitsplatz führt, verspüren beide vom ersten Augenblick ein starkes Interesse aneinander und die erotische Spannung zwischen ihnen steigt von Tag zu Tag. Während Amber erstaunt feststellt, dass nicht alles so ist, wie es der erste Blick vermuten lässt, wird Mason von einer schmerzlichen Vergangenheit eingeholt. Unvermittelt steht er vor der schwersten Entscheidung seines Lebens. Das Buch ist in sich abgeschlossen. 320 Taschenbuchseiten

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum

Erstauflage September 2016

Copyright © 2016

Mia B. Meyers

c/o F. Meyer Unternehmen

Hohenbünstorf 41

29587 Natendorf


E-Mail: miabmeyers@gmail.com

www.miabmeyers.com


Covergestaltung: www.sturmmöwen.at

Covermotiv: Shutterstock.com


Lektorat und Korrektorat: www.doktor-lektor.com


Alle Rechte vorbehalten!


Nachdruck, auch auszugsweise,

nur mit schriftlicher Genehmigung

der Autorin.

Personen und Handlungen dieser Geschichte sind frei erfunden.

Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen, Orten oder Ereignissen sind zufällig und unbeabsichtigt.

Markennamen, die genannt werden, sind Eigentum ihrer rechtmäßigen Eigentümer.


Dieser Roman wurde unter Berücksichtigung der neuen deutschen Rechtschreibung korrigiert.

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,


um einer eventuellen Enttäuschung vorzubeugen, möchte ich dich an dieser Stelle vorwarnen.

Vermutlich werden sich meine Protagonisten stellenweise sehr speziell ausdrücken. Sie lieben klare Worte, zu denen auch der ein oder andere Kraftausdruck gehört.

Und ja, dem ist – ganz unabhängig von ihrem Alter oder ihrem beruflichen Erfolg – so.

Alle meine Protagonisten sind fiktional und dürfen es somit. Darüber hinaus, wer weiß schon, wie die oberen Zehntausend wirklich miteinander reden?!


Sollte schon dieses Vorwort nicht deinem Geschmack entsprechen, wird es leider auch der Rest nicht tun. Das würde ich zwar sehr bedauern, aber Geschmäcker sind nun einmal verschieden.

In diesem Fall muss ich mich an dieser Stelle leider von dir verabschieden. Ansonsten wünsche ich dir ganz viel Spaß beim Lesen und hoffe sehr, dass es dir gefallen wird.


Deine Mia

Prolog

Amber

Einen Tag zuvor.


»Heather.« Schwer atmend bleibe ich stehen, stütze mich mit einer Hand auf dem Knie ab und strecke die andere nach ihr aus. »Heather halt an. Ich … Ich kann nicht mehr.«

»Was?« Sie stoppt, lässt die beiden Joggerinnen durch, die leichtfüßig an uns vorbeischweben, und kommt dann zu mir. »Amber, das ist jetzt nicht dein Ernst?«

Vollkommen aus der Puste und mit höllischen Seitenstichen sehe ich mit meinem vermutlich hochroten Kopf zu ihr hoch.

»Wirke ich so, als würde ich Witze machen? Lass uns für heute aufhören.« Ich atme einmal tief durch, um meine Lungen mit Sauerstoff zu füllen und weitersprechen zu können. »Wenn man mit dem Joggen anfängt, soll man langsam anfangen. Ein paar Minuten Laufen und Gehen im Wechsel oder so.«

»Wir sind noch nicht mal drei Minuten unterwegs.«

Skeptisch wische ich mir den Schweiß von der Stirn, der mir in die Augen zu laufen droht. Wirklich nicht?

»Offenbar konnten wir uns ja auch keinen heißeren Tag für unsere neu entdeckte Sportlichkeit aussuchen.« Jetzt, wo ich stehe, habe ich das Gefühl, noch mehr zu schwitzen. Jede Schildkröte hat mehr Kondition als ich. Wo ist das verdammte Sauerstoffzelt, wenn man eins braucht?

»Junge, Junge, was für ’ne Sportskanone.« Irritiert richte ich mich auf und drehe mich in die Richtung, aus der die Stimme gerade gekommen ist. Eine Parkbank weiter dehnen sich zwei Typen, deren verschwitzten Shirts ich entnehme, dass sie ebenfalls mit dem Joggen durch sind, und sehen grinsend zu uns herüber. »Lauf doch nicht so weit, wenn du nicht mehr kannst«, kommt es von dem, mit dem wahnsinnig breiten Kreuz.

Provokant hebe ich eine Augenbraue in die Höhe, sehe zu Heather, die mich flehend ansieht, und wieder zurück zu dem Anabolikamutanten. Er und sein Laufkumpan, der nicht ganz so muskelbepackt ist, scheinen sich köstlich zu amüsieren. Leider stelle ich dabei ungewollt fest, dass der andere mit den dunklen Haaren, die so wirken, als wäre er eben erst aufgestanden, dem kantigen Gesicht und den nicht zu aufdringlich definierten Armen auch gut als Calvin Klein-Model durchgehen könnte. Würde er nicht gerade Shorts und ein labbriges T-Shirt tragen, versteht sich. Aber solche Gedanken haben unter den gegebenen Umständen ohnehin keinen Platz.

»Hast du mich gerade gemeint?« Dabei gehe ich einen Schritt auf den größeren zu, bis Heather mich am Handgelenk zurückhält.

»Lass Amber. Komm, wir gehen.«

»Nein, erst will ich wissen, ob der Anabolikamutant mich gemeint hat.«

Besagter Anabolikamutant guckt seinen Freund irritiert an, als dieser mich anspricht. »Mein Freund wollte nur witzig sein. Ich entschuldige mich für ihn.«

Der Klang seiner tiefen Stimme jagt mir einen kurzen Schauer über den Rücken. Aber nur einen kurzen.

»Oh, sein Betreuer kann auch reden.« Grinsend schiele ich über meine Schulter zu Heather, die kopfschüttelnd und mit verschränkten Armen hinter mir steht.

»Was hat die gerade gesagt?« Der Anabolikamutant sieht den mit der schönen Stimme grimmig an, obwohl er sicher jedes meiner Worte verstanden hat. Ohne noch etwas zu erwidern, dreht sich der Schönling um und schiebt seinen Freund in die entgegengesetzte Richtung.

Gerade als ich noch etwas hinter ihnen herrufen will, zieht Heather mich am Arm zu sich herum und funkelt mich böse an. »Irgendwann ist es so weit und wir bekommen wegen deiner großen Klappe noch mal richtige Probleme.«

Kapitel 1

Amber

»Also bleibt es bei heute Abend?« Solange ich auf Heathers Antwort warte, halte ich mein Gesicht in den kühlen Luftzug, der aus der Lüftung im Armaturenbrett kommt.

»Aber klar, um sechs im Peaches. Ich freu mich.« Ehe ich noch etwas erwidern kann, hat sie bereits aufgelegt. Schulterzuckend nehme ich meine Tasche und die beiden Aktenordner, die ich am letzten Donnerstag mitgenommen habe, um sie zu Hause fertig zu bearbeiten. Ich stelle den Motor meines Smarts aus, öffne die Tür und sofort schlägt mir die stickige Luft wie eine Wand entgegen. Augenblicklich bricht mir wieder der Schweiß aus. Warum ist es im Mai eigentlich schon so entsetzlich heiß?

Nachdem ich ausgestiegen bin, gehe ich auf das graue Gebäude zu, in dem sich Morgan Property befindet. Auf dem Weg zupfe ich mir mit spitzen Fingern und möglichst unauffällig die Jeans von meinem schwitzigen Hintern.

Im Eingangsbereich spüre ich die Kälte der Klimaanlage und atme erleichtert aus. Ich bin definitiv kein Sommermensch. Obwohl, wenn ich es recht überlege, bin ich auch kein Wintermensch.

Wie jeden Morgen winke ich Carl zu, der hinter dem Empfangstresen zu meiner Linken sitzt, und steuere auf die gegenüberliegenden Fahrstühle zu, vor denen bereits eine wartende Menschentraube steht. Das Gebäude erstreckt sich über zehn Stockwerke, in denen sich jeweils eine andere Firma befindet. Ich muss in die siebte Etage, in der sich Morgan Property befindet. Dort arbeite ich seit inzwischen vier Jahren als Empfangssekretärin.

Der Fahrstuhl scheint heute auf jeder verfluchten Etage dieses Hauses anzuhalten, bis er endlich im Erdgeschoss ankommt und sich alle Wartenden, einschließlich mir, in die kleine Kabine zwängen.

Wenn ich bis vor wenigen Minuten noch dachte, meine am Hintern klebende Hose sei mein größtes Problem, habe ich mich geirrt. Eingepfercht zwischen geschätzt zwanzig Männern und Frauen, wohlgemerkt schwitzenden Männern und Frauen, versuche ich meine 1,73 möglichst lang zu machen, um die frischere Luft über den Köpfen der anderen einzuatmen. Ein sinnloses Unterfangen, wie ich schnell feststellen muss. Noch schlimmer ist, dass sowohl meine als auch die Arme der anderen Anwesenden mit einem leichten Schweißfilm überzogen sind. Bei jeder noch so kleinen Berührung klebt die Haut von jemandem an meinem nackten Oberarm, und während ich angewidert versuche, einem Klebenden auszuweichen, backe ich auf der anderen Seite an zwei weiteren fest. Ekelhaft! Sagte ich schon, dass ich eine ausgeprägte Schweißphobie habe?

Endlich hält der Fahrstuhl auf der zweiten Etage und einige der mit mir Eingepferchten verlassen die enge Kabine, was mich befreit ausatmen lässt. Den Gesichtern der übrig gebliebenen nach zu urteilen, wohl etwas zu laut, was ich gekonnt ignoriere.

Beim zweiten Stopp komme ich endlich in meiner Etage an und sehe mich nach dem Verlassen des Aufzugs verwundert um. Normalerweise bin ich eine der Ersten, heute jedoch scheine ich die Letzte zu sein. Die beiden Aktenordner gegen meine Brust gedrückt, gehe ich auf den Empfangstresen zu, wobei ich fast von einem um die Ecke eilenden Mitarbeiter der Buchhaltung umgerannt werde. Aus etlichen Richtungen dringen Gesprächsfetzen, sämtliche Drucker scheinen zu laufen und trotz der geschlossenen Bürotür höre ich Harry, unseren Chef, rumbrüllen.

Was ist denn hier los?

Ich lege meine Tasche und die Ordner auf dem Schreibtisch ab und blättere durch die Akten, die mir mit dem Vermerk Heute erledigen auf den Schreibtisch gelegt wurden.

»Hey, da bist du ja. Wir sollten doch heute alle etwas eher kommen.« Ich sehe auf und registriere, wie Marissa mich mit weit aufgerissenen Augen mustert. »Und wie siehst du aus?«

Verwundert folge ich ihrem Blick und sehe auf die schwarzen High Heels und meine bis an die Waden hochgekrempelte Destroyed Jeans. Dazu trage ich eine anthrazitfarbene, ärmellose Chiffonbluse. Meine langen, dunklen Haare habe ich wegen des Wetters zu einem lockeren Knoten gebunden, um den Nacken freizuhaben. Nichts Ungewöhnliches also.

»Ähm ja, und wie genau sehe ich aus?« Meine Frage noch nicht ganz ausgesprochen, stelle ich fest, dass Marissa ein für sie völlig untypisches schwarzes Kostüm trägt, das sie mit einer weißen Bluse kombiniert hat.

»Lorena hat dir kein Wort gesagt, oder?«

Eine böse Vorahnung überkommt mich, während ich langsam den Kopf schüttle. »Was genau soll sie mir gesagt haben?«

Ich kann nicht wirklich erklären, warum, aber gelinde gesagt mögen Lorena und ich uns nicht besonders. Was so viel heißt wie gar nicht. Was genau sie an mir nicht ausstehen kann, weiß ich nicht und es ist mir auch egal. Dafür weiß ich ziemlich genau, was ich an ihr nicht leiden kann: nämlich dass sie mir jeden Morgen aus dem Rachen meines Chefs zuwinkt, weil sie so tief in seinem Arsch steckt.

Marissa stöhnt auf und fährt sich mit der Hand durch ihre blonden, langen Haare. »Der Tsunami kommt schon einen Tag früher als geplant. Präziser ausgedrückt in einer halben Stunde. Lorena hatte die Aufgabe, alle, die Freitag nicht da waren, telefonisch darüber zu informieren.«

Scheiße …

Umgehend kommt mir mein Aufzug auch nicht mehr ganz so passend vor, aber die Zeit, noch einmal nach Hause zu fahren, habe ich nicht. Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, wird Harrys Stimme lauter, als ich ihn auch schon dicht hinter mir höre. »Amber, das ist nicht Ihr Ernst!«

Zerknirscht und in Zeitlupe drehe ich mich zu ihm um, obwohl ich mir keiner verdammten Schuld bewusst bin. Wie schon Marissas Blick vor wenigen Minuten, wandert auch der strenge Blick meines Chefs an mir herab und auf Höhe meiner Hosenbeine zieht er reflexartig die Augenbrauen nach oben.

Aus reinem Selbsterhaltungstrieb bin ich ganz kurz verleitet zu petzen. Sicher würde er aber nur wieder sagen, dass Lorena und ich uns endlich arrangieren sollen, damit Ruhe in der Firma einkehrt. Aller Voraussicht nach ist er von den Nebenwirkungen des Lorena-Zäpfchens benebelt und sieht deswegen nicht mehr klar.

Wo wir gerade dabei sind, steht sie natürlich direkt neben ihm und kratzt aufs Neue an seinem Hintereingang. Dabei versucht sie nicht einmal, ihr schadenfrohes Grinsen zu unterdrücken.

Harry streckt seinen Arm aus und sieht auf seine Rolex, die unter dem Jackettärmel zum Vorschein kommt. »Wir haben keine Zeit mehr. Alle in den Konferenzraum!« Bevor er vorangeht, sieht er abermals in meine Richtung und lächelt mich an. »Na kommen Sie.«

Nach und nach folgen ihm alle Kollegen, was mir kurz Zeit gibt, mich noch einmal zu sammeln. Tief ein- und ausatmen und los gehts, dann werden wir dem Tsunami mal gegenübertreten.

Im Türrahmen zum Konferenzraum staut es sich, da alle dreiunddreißig Mitarbeiter sich an den Tisch für ursprünglich nur zehn Leute quetschen wollen.

»Lasst uns noch mal durch!« Debra, Harrys zierliche Chefsekretärin, rammt sich mit dem Stuhl in ihren Händen den Weg frei. Seth, der Teamleiter unserer Immobilienmakler, folgt ihr mit zwei weiteren Stühlen. Geschätzte zehn Minuten später betrete auch ich endlich den Raum und suche nach einem freien Stuhl. In der hintersten Reihe sitzt Marissa, die mich zu sich winkt und auf den freien Platz rechts neben sich deutet.

Eine Entschuldigung nach der anderen murmelnd, drängele ich mich zwischen den sitzenden und stehenden Kollegen zu ihr durch und lasse mich erschöpft auf den Stuhl fallen. Haarsträhnen kleben an meiner Stirn und trotz Klimaanlage könnte ich mich jetzt ohne Weiteres schon wieder umziehen. Debra, Seth und Luca sitzen vorne am Tisch und blättern hektisch in ihren Unterlagen. Bis auf das Rascheln ihres Papiers und ein leises Flüstern der Kollegen ist es im Raum unheimlich ruhig geworden.

Marissa lehnt sich flüsternd zu mir rüber. »Und was meinst du, ob der Tsunami wirklich so schlimm ist, wie sein Ruf?«

Mir mit der Hand Luft zufächelnd, zucke ich mit den Achseln und sehe nach vorne in Richtung Tür. Natürlich reden wir von keinem echten Tsunami, sondern von Mason McLean, einem Unternehmensberater. Mr. Morgan, der Inhaber von Morgan Property, ist schon seit geraumer Zeit nicht mehr mit den Zahlen unserer Zweigstelle zufrieden. Dementsprechend hat er Harry vor einer Woche darüber informiert, dass er die Unternehmensberater Donovan & Company engagiert hat.

Noch am selben Tag hat Harry eine Teambesprechung einberufen, um uns darauf vorzubereiten. Laut seinem Vortrag besteht die Firma Donovan & Company bereits in der zweiten Generation und ist eine der führenden Unternehmensberatungen in New York. Besagter Tsunami, auf den wir gerade warten, arbeitet in dieser Firma. Seinen Spitznamen hat er Angestellten zu verdanken, deren Arbeitgebern er wieder auf die Beine geholfen hat. Wobei seine Erfolgsquote bei unglaublichen einhundert Prozent liegt. Wenn man dem Gerede glauben kann, soll er mit einer eiskalten Skrupellosigkeit vorgehen, da ihm alles, bis auf seinen Auftrag, die Firma zu retten, völlig gleichgültig ist. Wie ein Tsunami zerstört er alles, was seiner Meinung nach den Erfolg einer Firma beeinträchtigt, und das sind nicht selten Arbeitsplätze. Selbst führende Angestellte wie Harry können sich ihrer Stelle nicht mehr sicher sein. Daher ist es nur allzu verständlich, dass die Anspannung im Raum fast greifbar ist – und ich sitze hier mit einer löchrigen Jeans.

Die Zimmertür geht auf und Harry betritt den Konferenzraum. Er stellt sich mit dem Rücken vor das Türblatt, blickt einmal in die Runde und dreht dabei ohne Unterlass an seinem Ehering. Fast könnte man meinen, dass er wirklich genauso unsicher ist wie wir. Gespannt sehe ich in Richtung Türrahmen, durch den wir jeden Moment das Hindurchtreten des Tsunamis erwarten. Als er endlich den Raum betritt, vergesse ich, weiter mit meiner Hand zu fächeln. Das ist er?

Irgendwo ganz weit hinten in meinem Kopf höre ich Heathers mahnende Worte. »Irgendwann ist es so weit und wir bekommen wegen deiner großen Klappe noch mal richtige Probleme.«

Scheiße …

Kapitel 2

Amber

Möglichst unauffällig rutsche ich auf meinem Stuhl so weit wie möglich nach unten und hoffe, dass er mich nicht erkennt. Natürlich erkennt er mich nicht. Ich glaube nicht, dass er sich heute noch an die ambitionierte Sportlerin von gestern erinnern wird. Ich hingegen kann mich leider nur allzu gut erinnern. Vor allem an das, was ich zu ihm und seinem dusseligen Freund gesagt habe.

»Wow.« Marissa stiert mit leuchtenden Augen nach vorne und ein Blick in die Runde zeigt mir, dass es den anderen Frauen nicht anders geht als ihr.

»Guten Morgen, mein Name ist Mason McLean«, erfüllt seine tiefe Stimme den Raum und ich fühle mich förmlich gezwungen, meine ganze Aufmerksamkeit wieder auf ihn zu richten. Harry ist mit seiner stattlichen Größe von geschätzten 1,85 schon recht groß, doch dieser McLean überragt ihn locker um einen halben Kopf.

Okay. Wenn ich meine gestrigen Erfahrungen und damit den Schluss, dass er vermutlich ein Arschloch ist, mal außer Acht lasse, ihn also rein objektiv betrachte, würde ich vielleicht auch das Sabbern anfangen. Durch das perfekt sitzende Jackett lassen sich auch ohne viel Fantasie seine breiten Schultern und die schmalen Hüften erkennen. Seine Nase ist gerade und der Mund sinnlich geschwungen, dennoch ist sein Gesicht nicht im typischen Sinne schön. Dafür sind seine Gesichtszüge zu rau und sein Blick zu hart. Doch gerade das ist es, was ihn so einnehmend wirken lässt. Alle Kollegen, selbst die Männer, scheinen genau wie ich geradezu an seinen Lippen zu hängen. Nur dass ich nicht eins der Worte höre, die seinen Mund verlassen. Langsam lässt er seinen Blick kreisen und sieht jedem meiner Kollegen für einen kurzen Moment direkt ins Gesicht. Als er bei mir angelangt ist, setzt mein Herz einen Schlag lang aus. Bitte erkenne mich nicht. Nur Sekunden vergehen, bis er den Blick wieder von mir nimmt und sich auf seine Unterlagen konzentriert, die vor ihm auf dem Tisch liegen. Ich weiß, es ist vollkommen irrational, und doch spüre ich einen Anflug von Enttäuschung. Er scheint mich wirklich nicht wiederzuerkennen und damit war mein Eindruck bei ihm wohl nicht im Ansatz so bleibend wie seiner bei mir.

»Haben Sie dazu noch irgendwelche Fragen?«

Wie jetzt? Ist er schon fertig mit seiner Rede? Mist, was hat er denn gesagt?

Marissa beugt sich in meine Richtung und flüstert mir hinter vorgehaltener Hand zu: »Meinst du, ich darf ihn fragen, ob er eine Freundin hat?«

Unsanft stoße ich ihr meinen Ellenbogen in die Seite, um sie ruhig zu stellen, obwohl ich genau das auch gerne wüsste.

War ja klar. Lorena meldet sich wie in der ersten Klasse und stellt ihre Frage, nachdem der Tsunami ihr auffordernd zugenickt hat. »Wie Sie sich vielleicht vorstellen können, machen wir alle uns große Sorgen um unsere Jobs. Können Sie uns sagen, ob diese berechtigt sind?« Dabei dreht sie wie eine Geisteskranke in ihren Haaren. Warum machen Frauen das? Vielleicht sollte sie auch ihre Bluse noch einen Knopf weiter öffnen? Dann müsste sie nicht so krumm sitzen, um ihm ihre anatomischen Abrissbirnen zu präsentieren.

»Auch wenn ich Ihre Befürchtungen diesbezüglich gut verstehe, kann ich Ihnen dazu noch nichts sagen. Noch weitere Fragen?« Wieder sieht er uns direkt an, was fast den Anschein macht, als möchte er, dass wir Vertrauen zu ihm aufbauen. Nur sein harter Blick verrät, dass es ihm streng genommen egal ist, ob wir ihn mögen oder nicht. Nicht einmal die Andeutung eines Lächelns umspielt seine Lippen und die steile Falte zwischen seinen Augenbrauen deutet daraufhin, dass sein Gesichtsausdruck nur selten anders ist.

»Gut, dann werde ich mir jetzt einen ersten Überblick verschaffen. Danke für Ihre Aufmerksamkeit.« Er greift nach den Papieren vor sich, nickt Harry zu, als wolle er ihm bedeuten, fertig zu sein, und verlässt vor ihm den Raum.

Sofort beginnen die männlichen Kollegen eine wilde Diskussion, ob er auch bei uns Leute entlassen wird, und die Frauen tuscheln doch tatsächlich über seinen Hintern.

»Meine Güte ist der heiß. Von dem Tsunami würde ich mich auch gerne mal mitreißen lassen. Hast du diese Augen gesehen?«

»Marissa.« Lachend schüttle ich meinen Kopf. »Hast du auch noch was anderes im Kopf?«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass er den Blickkontakt zu mir länger aufrechterhalten hat als zu allen anderen. Das hat was zu bedeuten, wart’s ab.« Sie zwinkert mir grinsend zu, springt vom Stuhl auf und geht aus dem Raum.

Lächelnd folge ich ihr, gehe aber, bevor ich den Empfangstresen ansteuere, noch einmal zur Kaffeemaschine. Scheiße, wer hat hier Muffins hingestellt? Was soll das immer?

Genau heute hatte ich vor, eine Diät zu beginnen. Die sechste in diesem Monat, um genau zu sein. An diesem Tag hatte ich es im Gespür, es hat Klick gemacht. Obwohl … wenn ich morgen anfange, würde es vermutlich auch noch reichen. Ich meine, was ist schon ein Tag, oder?

Ich wähle einen Latte macchiato auf dem Bedienfeld der Kaffeemaschine aus und nehme mir einen Muffin mit Schokoladenüberzug. Wenn ich meine Diät beginne, trinke ich natürlich nur noch schwarzen Kaffee. Vielleicht mit einem kleinen Schuss Milch, weil er sonst einfach gar nicht schmeckt. Aber da ich ja beschlossen habe, erst morgen anzufangen, kann ich es heute auch noch mal krachen lassen.

Bei dem Geklacker von Pfennigabsätzen, die irgendwo hinter meinem Rücken über den Fliesenboden stöckeln, stellen sich mir auf unangenehme Weise die Nackenhaare auf.

»Habe ich gestern etwa vergessen, dich anzurufen?«

Und da ist sie schon. Ich nehme mein Glas Latte macchiato und drehe mich übertrieben lächelnd zu ihr um. »Lorena. Aber das macht doch nichts. Ich bin mir sicher, du hast es nicht mit Absicht vergessen.«

»Aber natürlich nicht. Und deine Hose … oder was auch immer das darstellen soll, wird bestimmt Eindruck bei Mr. McLean machen.« Süffisant hebt sie eine ihrer perfekt in Form gebrachten Augenbrauen und lächelt mich ebenso falsch an wie ich sie.

»Das hoffe ich doch. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigst.« Damit gehe ich an ihr vorbei in Richtung Empfangstresen.

»Ach und Amber. Vielleicht solltest du das mit den Muffins langsam lassen. Du siehst bald selbst aus wie einer.«

Abrupt bleibe ich stehen und spüre das Brodeln in mir aufsteigen. Eben jene Eigenschaft von mir, die meine Eltern so mögen und viele nicht ausstehen können. Bewusst langsam atme ich durch den Mund aus und drehe mich mit einem breiten Grinsen zu ihr um. Inzwischen tut mir schon das ganze Gesicht weh.

»Du hast natürlich recht. Danke, dass du so ehrlich bist.« Dabei gehe ich auf sie zu und drücke ihr den Muffin mit seiner leckeren Schokoladenglasur direkt auf ihre rechte Brust. So, schön verreiben und noch mal fest andrücken.

Lorenas Gesichtsausdruck ist dermaßen schockiert, dass mein unnatürliches Lachen zu einem ehrlichen wird.

»Hubs.« Gespielt erschrocken halte ich mir die Hand vor den Mund, woraufhin der Muffin zu Boden fällt. »Deine gefleckte Bluse … oder was auch immer das darstellen soll, wird bestimmt Eindruck bei Mr. McLean machen.«

Lorenas braunen Augen funkeln vor Wut, bekommen aber innerhalb von Sekunden einen traurigen Ausdruck. Das ist nicht gut, das ist gar nicht gut.

Die Spiegelung der Deckenstrahler verschwindet von der Kaffeemaschine, irgendjemand steht sprichwörtlich in der Sonne.

»Harry, haben Sie das gesehen?«

Dieses Biest ist wirklich gut. Ihre Stimme hat sogar einen weinerlichen Ton angenommen.

»Amber!«

Schon zum zweiten Mal an diesem Morgen drehe ich mich schuldbewusst um. McLean steht neben ihm, und obwohl ich ihn gerne mal aus nächster Nähe betrachten würde, konzentriere ich mich auf Harry.

»Können Sie uns erklären, was da gerade passiert ist?«

»Ähm.« Mir das Hirn zermarternd nehme ich meinen Kaffee in Augenschein, so als würde ich darin eine passable Antwort finden. »Ich … bin gestolpert?«

Von Harry, der mir kein Wort glaubt, blicke ich zu dem Tsunami, der überheblich auf seine Armbanduhr sieht. Für solche Nebensächlichkeiten hat er sicher keine Zeit. Hoffentlich habe ich mich mit dem Auftritt nicht freiwillig auf die Liste seiner ersten Entlassungen gesetzt.

»Kommen Sie, Mr. McLean, ich zeige Ihnen noch die Büros der Immobilienmakler und dann können wir in die Buchhaltung gehen.« Ohne ein weiteres Wort in meine oder Lorenas Richtung, dreht Harry sich um und geht McLean vorweg.

Bravo Amber, das hast du wieder mal ganz toll hinbekommen.

»Danke Miststück, der Punkt geht dann wohl an mich«, flötet Lorena mir ins Ohr, bevor sie mit erhobenem Kinn an mir vorbei stöckelt.

Wie nicht anders zu erwarten, ziehen sich die folgenden Stunden wie Kaugummi, sodass ich den Computer schon fünf Minuten vor Feierabend herunterfahre und die Firma fluchtartig verlasse.

Mit wenigen Minuten Verspätung betrete ich das Peaches und kann Heather bereits an unserem Stammplatz sitzen sehen. Das Peaches ist eigentlich eine Cocktailbar. Aufgrund des Flairs kommen wir aber auch, oder besser gesagt ausschließlich, zum Kaffeetrinken her. Und natürlich wegen der Salzstangen und Erdnüsse auf den Tischen. Heute darf ich schließlich noch, ab morgen ist das ja vorbei.

»Und wie ist er?«

»Oh danke der Nachfrage, Heather, und wie war dein Tag?«

Sie verdreht die Augen. »Also Amber, wie war dein Tag?«

»Frag nicht.« Erschöpft lasse ich mich neben sie auf die Bank fallen, und lehne meinen Kopf mit geschlossenen Augen gegen die Rückenlehne. In der Mittagspause habe ich Heather vorsorglich eine Nachricht geschrieben, dass es heute Abend eventuell später werden könnte, da der Tsunami schon früher in die Firma gekommen ist.

»Der Betreuer ist der Tsunami und er wird mich rausschmeißen.«

»Was für ein Betreuer?«, fragt sie, wobei ihr eine Erdnuss wieder aus dem Mund fällt.

»Die Typen aus dem Central Park gestern.«

»Nein.« Sie sieht mich genauso dämlich an, wie ich vermutlich heute Morgen ausgesehen habe.

»Ich fürchte doch. Aber er scheint mich nicht erkannt zu haben.« Bevor keine mehr da sind, schütte ich mir welche von den Erdnüssen in die Handfläche.

»Bist du sicher? Und wie ist er als Tsunami? So wie du erwartet hast?«

Das ist eine ziemlich gute Frage, ist er so, wie ich es erwartet habe?

»Ja und nein. Er ist irgendwie … Ach keine Ahnung, ich habe ihn heute ja kaum gesehen. Nur heute Morgen, als er sich in der Firma vorgestellt hat, und dann einmal an der Kaffeemaschine … Apropos Kaffee. Danke, dass du schon bestellt hast.« In der Hoffnung, sie damit abzulenken, greife ich nach dem Latte macchiato, der vor mir auf dem Tisch steht.

»An der Kaffeemaschine? Und war da was Besonderes?«

Ich schürze die Lippen und sehe zur Decke, als würde ich nachdenken. Diese kleinen Lichter, die den Anschein erwecken, als wären sie Sterne, sind wirklich hübsch.

»Nein, da war nichts.«

Heather grinst mich an, greift sich noch eine Handvoll Erdnüsse und winkt Susan, der Bedienung, mit dem leeren Schälchen zu. »Okay, dann lassen wir das erst mal so stehen. Und wie sieht er aus?«

»Du hast ihn doch gestern gesehen.«

»Nein habe ich nicht. Ich hatte eine Panikattacke, weil ich Angst hatte, dass Rambo uns was auf die Nuss gibt.«

»Er sieht aus wie … ein fleischgewordener Feuchte-Höschen-Traum.«

Heathers Augen beginnen zu leuchten und sie saugt verträumt an ihrem Strohhalm. »Erzähl mir mehr!«

»Mehr gibt’s da leider nicht zu erzählen«, erwidere ich lachend.

»Mensch Amber, gib mir mal ein paar Details.«

»Was willst du denn hören? Er hat dunkle Haare, oben etwas länger als an den Seiten. Er ist ziemlich groß, und wenn ich seine Figur unter dem Anzug richtig gedeutet habe, treibt er noch mehr Sport als nur zu Joggen.« Verträumt blicke ich an Heather vorbei. »Und er hat dunkelblaue Augen, mit so einer Art … Pixelfehler.«

»Nein, erzähl mir mehr von seinem Körper. Wen interessieren seine Augen?«

Grinsend wende ich mich wieder ihrem Gesicht zu. »Das war es leider schon. Wie gesagt, ich habe ihn nur kurz gesehen. Und du weißt ja, von einem schönen Teller isst man nie allein.«

»Ehrlich jetzt? Fängst du wieder mit diesem Langweiler an?«

»Frag mal unsere damalige Nachbarin, die fand ihn gar nicht so öde.«

Besagter Langweiler heißt eigentlich Luca und ist mein Exfreund, mit dem ich drei Jahre zusammen gewesen bin. Zwei Jahre davon haben wir zusammengewohnt, bis ich ihn mit unserer Nachbarin in unserem gemeinsamen Bett erwischt habe. Ich habe heute noch sein »Es ist nicht so, wie es aussieht« im Ohr. Schlimmer geht’s doch wohl nicht, oder?!

Heute, zwei Jahre danach, kann ich darüber lachen, doch zu der Zeit hat es mich wahnsinnig verletzt. Mittlerweile weiß ich nicht, ob er wirklich die große Liebe für mich war, oder ob ich das vielleicht einfach nur glauben wollte. Fakt ist, sein Betrug hat nicht mein Herz gebrochen, dazu hatte er nicht die Macht. Aber er hat mein Vertrauen missbraucht und es hat mich tief enttäuscht, dass er offenbar so wenig Achtung vor mir hatte.

»Er ist laaangweilig und deswegen war er dir auch nicht gewachsen. So einfach ist das. Aber mal was anderes, gehst du übermorgen mit mir zu den Weight Watchers?«

»Was?« Lachend greife ich nach meinem Latte macchiato. »Was willst du denn da?«

»Abnehmen?!«

Heather ist wie ich nicht gerade das, was dem allgemeinen Idealbild einer Frau entspricht. Im Gegensatz zu mir finde ich sie aber genau so, wie sie ist, wunderschön. Sie ist etwas kleiner als ich, hat weibliche Hüften und eben die Oberweite, die ich gerne hätte. Ihre Haare sind von Natur aus hellblond, und obwohl sie ansonsten keine Schminke trägt, sind ihre Lippen fast immer knallrot geschminkt. Bei jeder anderen würde das vielleicht angemalt wirken, doch zu Heather passt es. Nicht nur das, es irritiert mich sogar, wenn sie den Lippenstift einmal nicht aufgetragen hat.

»Das ist mir schon klar. Aber das ist doch Geldverschwendung, wir schaffen das auch allein.«

»Tun wir das, ja?« Sie sieht anklagend auf unseren Kaffee, die Erdnüsse in meiner Hand und die Muffins, die noch vor uns stehen.

Augenrollend kapituliere ich und verspreche ihr, sie zu begleiten. Anschließend beiße ich genüsslich von meinem Muffin ab und verabschiede mich kurze Zeit später von ihr. Morgen wird der Tsunami Personalgespräche führen und nach meinem heutigen Auftritt sollte ich wohl besser ausgeschlafen sein.

Kapitel 3

Amber

Gerade eben komme ich in der Firma an, als Debra mich auch schon zu Harry ins Büro zitiert. Wirklich überrascht bin ich deswegen nicht. Mir war bereits gestern klar, dass er die Muffin-Geschichte nicht einfach auf sich beruhen lassen wird.

Ohne meine Handtasche vorher an meinen Platz zu bringen, gehe ich also direkt zu ihm durch, damit ich es hinter mir habe.

Für sein Alter ist Harry ein recht attraktiver Mann. Er ist schlank, aber nicht dürr und die grauen Schläfen lassen ihn irgendwie interessant wirken. Er hat eine sehr autoritäre Ausstrahlung, was vielleicht auch der Grund ist, weshalb wir alle ihn trotz seines freundlichen Gemüts respektieren.

»Hallo Harry.«

Ganz und gar in Gedanken versunken blickt er von seinem Schreibtisch auf und lächelt mich an. Dabei steht er auf, umrundet den Schreibtisch, der direkt vor der großen Fensterfront steht, und kommt auf mich zu. »Guten Morgen, Amber. Kommen Sie.« Er deutet auf die Sitzgruppe zu meiner Rechten. So förmlich heute?

Erst als ich genauer hinsehe, bemerke ich den sorgenvollen Ausdruck auf seinem Gesicht. Unsicher streiche ich meinen Bleistiftrock über dem Hintern glatt und setze mich auf einen der Sessel. »Ist alles in Ordnung? Falls es wegen gestern ist …«

»Nein. Na ja, doch. Ein wenig.« Er sieht mich aus seinen blaugrauen Augen warm an. »Amber, ich weiß, dass Sie ihre Schwierigkeiten haben. Aber so lange Mason McLean hier ist, bitte ich Sie inständig, jedem Streit aus dem Weg zu gehen.«

Bitter lache ich auf. »Haben Sie Lorena das Gleiche gesagt? Oder bin ich mal wied…«

»Mit Lorena habe ich bereits gesprochen.« Stöhnend lässt er sich gegen die Lehne fallen. »Mr. Morgan hat diesem verdammten Kerl sämtliche Vollmachten erteilt. Wenn McLean jemanden feuern will, egal wen, macht er es einfach. Ein weiteres Einverständnis von Morgan ist dafür nicht nötig.«

»Ist das denn so üblich? Ich dachte, seine Aufgabe wäre lediglich, Verbesserungsmöglichkeiten aufzuzeigen.«

»Für gewöhnlich ist das auch so. Morgan hätte aber wohl allem zugestimmt, um ihn zu bekommen.«

Das Wissen, dass Harry sich so viele Gedanken macht, ja fast Angst zu haben scheint, bereitet auch mir langsam Sorgen.

»Hier fällt der Apfel wohl leider weit vom Stamm.«

»Wie bitte?« Verwundert sehe ich Harry an.

»McLeans Vater war ein Headhunter. Er hat den Menschen Jobs und damit eine Perspektive gegeben. Sein Sohn hingegen macht das komplette Gegenteil davon. Er nimmt den Leuten all das, ohne an die Folgen für diejenigen zu denken, die durch ihn ihre Existenz verlieren.«

»War?«

Kurz sieht Harry mich verwundert an und scheint zu überlegen, worauf meine Frage anspielt.

»Sie sagten, er war Headhunter.«

»Er hatte vor elf Jahren einen Unfall.« Harry steht auf und geht an seinen Schreibtisch zurück. »Er war ein herausragender Headhunter. Ich selbst habe nie persönlich mit ihm zu tun gehabt, aber wie heute seinem Sohn, eilte auch ihm ein Ruf voraus. Demzufolge lag sein Augenmerk immer darauf, den Menschen zu helfen. Vielleicht war seine Erfolgsquote nicht ganz so hoch wie die seines Sohnes, aber zumindest konnte er sich morgens mit ruhigem Gewissen im Spiegel ansehen. Ich wage zu bezweifeln, dass der junge McLean das auch kann.«

Wie alt ist McLean eigentlich? Und wie alt war er vor elf Jahren? Harry redet in der Vergangenheitsform. Lebt McLeans Vater womöglich nicht mehr?

»Amber.« Erschrocken zucke ich zusammen. »Lassen Sie diesen Mutter-Theresa-Blick.«

Hä?

»Mutter-Theresa-Blick? Was soll das denn sein?«

Wieder lächelt er. »Dieser Gesichtsausdruck, der mir sagt, dass Sie sich Gedanken über das machen, was ich Ihnen gerade erzählt habe. Sie können nicht die ganze Welt retten, Amber. Und ich bin mir ziemlich sicher, das McLean weder Ihr Mitleid noch Ihre Rettung braucht.«

Lorena stolziert an meinem Schreibtisch vorbei und geht in Richtung des Büros, das extra für McLeans Aufenthalt hier eingerichtet wurde. Nach ihr bin ich an der Reihe und muss zum Tsunami, um ihm Rede und Antwort zu stehen. Was fragt so ein Unternehmensberater überhaupt das Personal?

Auf die Annonce, die ich eigentlich schalten muss, kann ich mich jetzt ohnehin nicht mehr konzentrieren und so gehe ich noch einmal auf die Toilette, um mich frisch zu machen.

Das Wetter ist wie schon gestern kaum zu ertragen und doch habe ich mich heute für einen schwarzen Rock und eine rote, langärmlige Chiffonbluse entschieden. Trägertop und Shorts wären aber sicher die bessere Wahl gewesen. Ganze dreimal habe ich mich umgezogen, bis ich es als McLean-tauglich befunden habe. Ganz kurz frage ich mich, warum ich diesen Aufwand betreibe, schließlich war auch schon mein erstes Outfit businesstauglich. Bevor ich aber weiter darüber nachdenken kann, schüttle ich den Gedanken ab. Wie alle anderen auch, mache ich mir einfach Sorgen um meinen Job. Nichts weiter.

Ich sprühe etwas von dem Deo, das für die Angestellten auf dem Waschtisch steht, unter meine Achseln und drehe mich danach seitlich vor den Spiegel. Mit einer Hand flach auf meinem Bauch und einer im Rücken stelle ich fest, dass dieser bis an die Taille reichende Rock wirklich sehr vorteilhaft ist.

Meine Taille ist das Einzige an meinem Körper, das ich uneingeschränkt mag. Sie ist schmal wie die sprichwörtliche Sanduhr, nur dass meine Sanduhr ein klitzekleines Ungleichgewicht hat. Meine Brüste könnten einen Tick größer sein. Nicht viel, nur ein bisschen. Dafür dürften meine ausladenden Hüften gut und gerne zwanzig Zentimeter weniger Umfang haben.

Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um auch meinen Hintern im Spiegelbild sehen zu können, aber der verdammte Spiegel hängt einfach zu hoch. Mit geschürzten Lippen sehe ich zur Tür … Ach egal. Eilig ziehe ich den Rock bis zu den Oberschenkeln nach oben und versuche mich umständlich auf den Waschtisch zu hieven. Hoffentlich kommt jetzt keiner rein und sieht die bis zu den Knien reichende Shaping-Hose.

Beim dritten Anlauf komme ich endlich rauf und knie mich seitlich vor den Spiegel. Aua, ist der Marmor hart, das tut ja richtig weh. Schluss jetzt Amber, reiß dich zusammen und konzentriere dich auf das Wesentliche. Ach du scheiße … der Rock ist doch nicht vorteilhaft. Ist das mein Arsch? Ich bin eine gigantische Wurstfee.

Erschrocken zucke ich zusammen, als die Tür schwungvoll nach innen aufgeworfen wird und laut knallend gegen die Wand kracht. Lorena steht im Türrahmen und sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, wie ich noch immer auf dem Waschtisch hocke. Meinen Hintern habe ich gegen den Spiegel gedrückt und sie hat freie Sicht auf meine beigefarbene Quetschunterhose, die unter dem Rock hervorguckt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ihr ein fieser Kommentar auf der Zunge liegt. Trotzdem schließt sie die Tür und geht auf eine der Toilettenkabinen zu. »Jetzt darfst du zu dem Arschloch. Viel Spaß.« Und schon knallt sie die nächste Tür zu, was mich erneut zusammenzucken lässt.

Dieser Rock ist aber auch sowas von eng, dass es ziemlich umständlich ist, damit wieder hier runter zu steigen. Ein letztes Mal blicke ich in den Spiegel, richte meine Bluse und streiche den Rock herunter. Dann mal los.

Leise klopfe ich an die Bürotür und überlege, ob ich einfach eintreten soll oder doch lieber auf eine Antwort warte. Diese Entscheidung nimmt er mir glücklicherweise ab und ich höre ein »Ja« durch die noch geschlossene Tür. Zögerlich betrete ich das spartanisch eingerichtete Büro. Bis auf einen Schreibtisch neben dem Fenster und fünf Stühlen, auf denen sich Akten türmen, ist der Raum leer. Natürlich weiß ich, dass dieses Büro nur für einen gewissen Zeitraum benötigt wird und dennoch hätte man es etwas gemütlicher gestalten können. Augenblicklich empfinde ich Mitleid für McLean, besonders willkommen wird er sich so sicher nicht fühlen. Wenn ich Harry glauben kann, und das tue ich für gewöhnlich, hat er sich aber genau das selbst zuzuschreiben.

Seit ich den Raum betreten habe, hat er mich noch kein einziges Mal angesehen, was auch nicht gerade für ihn spricht. Schon legt sich mein Mitleid etwas und fast muss ich lächeln, als ich an das denke, was Harry vorhin zu mir gesagt hat. Ich habe wohl wirklich ein Mutter-Theresa-Syndrom. Es stimmt, ich neige dazu, schnell Mitgefühl zu empfinden, aber wer möchte nicht gerne helfen, wo er kann?

Langsam komme ich mir dann aber doch dämlich vor, wie ich hier so hinter dem Besucherstuhl stehe und darauf warte, dass er mir den Platz anbietet. Was bildet der sich eigentlich ein?

Vielleicht etwas zu energisch ziehe ich den Stuhl zwei Meter zurück, was ein fieses Quietschen auf dem Fliesenboden verursacht. Ist mir egal, Hauptsache ich sitze weit genug von ihm weg, und zumindest habe ich jetzt seine ganze Aufmerksamkeit. Gar nicht ladylike lasse ich mich auf den Stuhl plumpsen, verschränke die Arme vor der Brust und sehe ihn abwartend an. Irre ich mich oder sind seine Augen eben kurzzeitig geweitet gewesen? Ich bin mir nicht sicher. Zum einen war der Moment, wenn denn überhaupt vorhanden, viel zu kurz und dann bin ich auch noch abgelenkt. Marissa hat recht, das sind wirklich wahnsinnig schöne Augen. Es ist das erste Mal, dass ich ihm relativ dicht gegenüber sitze und da er mich prüfend mustert, habe auch ich die Zeit, ihn anzusehen. Das dunkle Blau seines rechten Auges wird durch einen braunen Strich von der Pupille bis an den Rand der Iris unterbrochen. Ich kann mich nicht erinnern, so etwas schon einmal gesehen zu haben. Wunderschön und irgendwie … traurig. Bestimmt wegen des Horror-Büros. Oder, und bitte lass es nicht so sein, er erinnert sich doch.

Er richtet seinen Blick wieder auf die Papiere, die vor ihm auf dem Schreibtisch liegen. »Miss West, richtig?«

»Richtig.« Um meine Antwort zu unterstützen, nicke ich zeitgleich.

»Ihrer Personalakte entnehme ich, dass Sie seit vier Jahren für Morgan Property arbeiten, ist das korrekt?«

Wenn es da steht, wird es wohl stimmen. »Ja, das ist richtig.«

»Ihr Verdienst als Empfangssekretärin in dieser Branche ist nicht sonderlich hoch. Hatten Sie nie die Absicht, in der Firma aufzusteigen?«

»Nein, ich bin sehr zufrieden mit dem, was ich mache.«

»Und darf ich fragen, was genau Sie machen? Wie sieht Ihr Aufgabenbereich aus?«

Warum zum Teufel will er das wissen, kann er das nicht aus dieser heiligen Akte vor sich entnehmen?

»Ich übernehme alles, was anfällt. Von Terminvereinbarungen über Annoncen für neu hereingekommene Immobilien, bis hin zu den Vorarbeiten für die Buchhaltung.«

»Und das füllt Sie aus?«

Ganz ruhig Amber. »Ja, das tut es. Wie Sie gerade eben so schön aus meiner Akte vorgelesen haben, arbeite ich seit vier Jahren hier. Das würde ich wohl kaum tun, wenn es mich nicht ausfüllen würde.«

Da! Da war es wieder. Dieses Mal bin ich mir fast sicher, dass seine Augen kurz gezuckt haben. Möglicherweise war mein Ton doch etwas schnippischer als geplant, aber ich denke, es war noch im Rahmen.

Er lehnt sich in dem Stuhl zurück, stützt die Ellenbogen auf den Armlehnen ab und legt sich die Zeigefinger vor den Mund. Dieser Mund. Jedes Mal wenn er seine Finger erneut gegen die Lippen drückt, glaube ich zu erkennen, wie weich sie sein müssen.

»Darf ich fragen, welche Spannungen es da zwischen Ihnen und Miss Hernandez gibt?«

Natürlich, ich hätte mich wundern müssen, wenn er das Thema nicht anspricht. »Da gibt es keine Spannungen. Ich bin unglücklich gestolpert.«

Ich versuche, in seinem Gesicht zu lesen, ob er meine Lüge schluckt oder nicht. Doch da ist nichts, rein gar nichts. Vielleicht hatte er nach dem Sonntag im Park, wo er sehr wohl lachen konnte, einen Botox-Unfall? Das wird’s sein. Das ganze wunderschöne Gesicht mit diesem Müll vollgespritzt und jetzt kann er nicht mehr lachen. Offenbar kann er nicht mal die Stirn in Falten legen.

Er lehnt sich vor und stützt seine Arme auf dem Schreibtisch ab. »Und warum sind Sie unglücklich gestolpert?«

Scheiße. Verzweifelt suche ich in dem Fußbodenmuster nach einer Ausrede, entscheide mich dann aber für die Wahrheit. »Sie hat etwas Verletzendes zu mir gesagt und da …« Seufzend sehe zu ihm auf.

»Das hier ist Ihr Arbeitsplatz. Sie sind nicht hier, um Freundschaften zu knüpfen, oder sich mit Muffins auf Ihre Kollegen zu stürzen.«

»So wie Sie das sagen, hört es sich irgendwie besch… sonderbar an.«

»Es hört sich nicht nur so an, es ist sonderbar. Sie sollten Ihre Gefühlsregungen besser unter Kontrolle bekommen, Miss West. Sonst wird Ihnen Ihre impulsive Art noch mal zum Verhängnis.« Ohne auf eine Reaktion meinerseits zu warten, wendet er sich wieder seinen Papieren auf dem Schreibtisch zu. »Sie können dann Miss White reinschicken.«

Soll das jetzt das Ende unseres Gespräches sein? Verdutzt gehe ich zur Tür. Den Türgriff schon in der Hand drehe ich mich noch einmal zu ihm um. »Nein.«

Er sieht zu mir und scheint sich zu wundern, dass ich noch immer da bin. »Nein?«

»Nein. Sie sind nicht der Erste, der mir sagt, ich soll mich mehr unter Kontrolle haben. Dass ich mich ändern soll. Vielleicht bin ich auch sonderbar, aber genau diese Gefühlsregungen machen mich aus, so bin ich nun mal. Ohne sie wäre ich nur eine seelenlose Hülle. Und wenn das der Grund sein soll, der mich den Job kostet, dann werde ich damit leben.« Ich warte noch einige Sekunden auf eine Reaktion, die jedoch nicht kommt, und so verlasse ich sein Büro. Plötzlich kommen mir der einsame Schreibtisch und die Stühle als Aktenablage doch nicht mehr so falsch vor. Die Einrichtung ist genauso wie er – kalt und leer.

Kapitel 4

Mason

Kennst du eine, kennst du alle.

In jeder Firma gibt es zweierlei Mitarbeiter. Einmal die, die mich, sobald sie mich bemerken, fragen, wie es mir geht, mir Kaffee bringen oder andere Gefallen tun wollen. Die andere Fraktion unterbricht ihre Unterhaltung, sobald ich den Raum betrete, und nimmt ihre Gespräche erst wieder auf, wenn ich außer Reichweite bin. Es ist immer dasselbe Phänomen.

Die Empfangssekretärin gehört zu der ersten Gruppe und begrüßt mich wie jeden Morgen freundlich, während sie mir einen Kaffee reicht, den ich mit in mein vorübergehendes Büro nehme.

Ich lege meinen Laptop auf dem kleinen Schreibtisch ab und trete an das Fenster, unter dem sich der Parkplatz der Firma befindet. Jemand versucht, seinen Smart in eine der wenigen freien Parklücken zu manövrieren, gibt aber auf und sucht nach der nächsten. Gerade als ich mich abwenden will, fährt der Smart rückwärts auf den Gehweg, der zum Eingang des Gebäudes führt. Offenbar will er oder sie wenden, fährt dabei jedoch gegen die Skulptur, die den Weg ziert und stößt sie um. Nebenbei bemerkt, eine ziemlich hässliche. Keine Ahnung, warum, aber ich schiebe die Hände in die Hosentaschen und beobachte das Szenario weiter. Ungerührt fährt der Smart wieder davon und in die nächstbeste Parklücke.

Warum wundert es mich jetzt nicht, dass eine Frau aus dem Wagen steigt?

Ich gehe noch einen Schritt näher an die Scheibe und kneife die Augen zusammen, als könnte ich dadurch besser sehen. Das ist doch die Kleine aus dem Park, die mit Muffins auf ihre Kollegin stolpert. Nummer acht, wenn ich mich nicht irre. Wie war noch mal ihr Name?

Da ich in der Regel nur für einen überschaubaren Zeitraum in den Firmen bin, habe ich es aufgegeben, mir sämtliche Namen zu merken und teile sie in Nummern ein. Das vereinfacht das Ganze enorm.

Als Nummer acht die am Boden liegende Skulptur erreicht hat, fährt sie sich fahrig mit der Hand durch ihre langen Haare und sieht sich Hilfe suchend auf dem Parkplatz um. Oder überprüft sie nur, ob sie jemand beobachtet hat? Sie legt ihre Handtasche ab und beugt sich zu der Skulptur herunter, um ihren Kopf zu umfassen. Den Bewegungen ihres Körpers entnehme ich, dass sie versucht, die Figur anzuheben. Nach wenigen Versuchen gibt sie jedoch auf, greift nach ihrer Tasche und geht in Richtung Eingangstür. Als sie schon einige Schritte entfernt ist, wirbelt sie plötzlich herum, holt mit ihrer Handtasche aus und prügelt auf die Skulptur ein. Ungläubig beobachte ich sie, wie sie noch einmal auf die Figur einschlägt, und muss lachen. Diese Frau ist komplett irre.

Ihre Wut scheint verflogen zu sein, zumindest streicht sie ihren Rock glatt, sieht sich noch einmal um und geht wieder auf den Eingang zu. Ich sag’s ja, komplett irre.

Kopfschüttelnd mache ich mich an die Arbeit, bevor in weniger als einer Stunde das Meeting beginnt, das ich einberufen habe.


Mit großen Schritten gehe ich durch den Flur und betrete den Konferenzraum, wo ich schon erwartet werde.

»Guten Morgen zusammen. Sie haben alle zu tun, daher werde ich mich kurzfassen. Ich habe mir inzwischen einen ersten Eindruck über Ihre Geschäftsstelle machen können, jedoch ist es noch zu früh, um Ihnen genaues sagen zu können.

»Mr. McLean?«

Mein erster Impuls ist es, die Augen zu verdrehen. Solche Exemplare gibt es leider auch in jeder Firma, egal welcher Größe. Irgendwer hat immer eine Frage, egal wie bescheuert sie auch sein mag. Gerade ist mir auch ihr Name entfallen, aber es ist die mit dem Muffin auf der Oberweite. Nummer achtzehn. Ich müsste lügen, würde ich behaupten, dass sie mit ihrer olivfarbenen Haut und dem recht stattlichen Vorbau nicht attraktiv ist. Genau Coles Typ. Spanische Vorfahren würde ich sagen. Aber sie geht mir auf die Eier und das schon am dritten Tag.

»Ja bitte.« Ich nicke in ihre Richtung.

»Können Sie uns schon etwas zu unseren Jobs sagen?«

So wie sie ihre Möpse auf den Tisch legt und sich in den Haaren spielt, wette ich, dass sie die Antwort auf diese Frage überhaupt nicht interessiert. »Nein Miss …«

»Hernandez.« Dümmlich grinst sie mich an.

»Nein, Miss Hernandez, leider kann ich Ihnen dazu noch immer nichts sagen.« Ich lasse meinen Blick durch die Stuhlreihen gleiten, um abzuschätzen, wie die anderen auf diese Antwort reagieren. Bei der Irren bleibe ich hängen. Sie leckt sich gerade genüsslich Schokolade von den Fingern, was mich hart schlucken lässt. Sie scheint rein gar nichts von diesem Gespräch mitzubekommen. Stattdessen konzentriert sie sich voll und ganz auf das Tablett mit Muffins, das in der Mitte des Tisches steht. Mit geschürzten Lippen beugt sie sich der Länge nach über den Tisch und greift nach dem nächsten.

»Mr. McLean, ich habe mir gedacht, dass ich Ihnen eine Mitarbeiterin zur Seite stelle. Diese könnte Sie dabei unterstützen, die benötigten Unterlagen zusammenzustellen, und Ihnen beschaffen, was immer Sie sonst brauchen.« Harry Thompson sieht mich freundlich an und doch weiß er genauso gut wie ich, dass das kein Akt der Hilfsbereitschaft ist. Er will mich einfach nur so schnell wie möglich wieder loswerden.

»Vielen Dank Mr. Thompson, das würde mir wirklich sehr helfen und meinen Aufenthalt hier verkürzen.«

»Ich würde das gerne machen.« Die Latino-Schönheit grinst mich an. Aber allein beim Gedanken daran, sie den ganzen Tag um mich zu haben, bekomme ich Kopfschmerzen. Ein kurzer Blick zu der Irren, die sich noch immer nur für diesen ekelhaften Muffin zu interessieren scheint. Irgendwie passt sie in keine meiner besagten Fraktionen. Weder ist sie besonders distanziert noch überaus freundlich. Genau genommen scheint es ihr rundweg egal zu sein, ob ich hier bin oder nicht. »Ich möchte, dass sie mir hilft.«

Thompson folgt meinem Blick. »Amber?«

Als sie ihren Namen hört, hebt sie tatsächlich den Kopf und sieht uns fragend an.

»Ist das ein Problem?«

Thompson schüttelt den Kopf. »Nein, natürlich nicht.«

»Sehr gut. Dann war es das von meiner Seite. Wenn es ansonsten keine Fragen gibt, machen wir uns wieder an die Arbeit.«


Das Klopfen an der Tür ist so leise, dass ich es fast nicht gehört hätte. Ich warte, doch die Tür öffnet sich nicht, sodass ich genervt schnaufe. »Herein.«

Mit einem Aktenberg im Arm kommt Miss West – so heißt die Irre – in den Raum und sieht sich suchend um.

»Ihre Tische sind alle voll, wo darf ich die Akten hinlegen?« Dabei betont sie das Wort Tische und spielt auf die Stühle an, die mir als Ablage dienen.

Schnell springe ich auf und räume einen der Stühle frei, woraufhin sie die Akten aus ihren Händen einfach auf den Stuhl krachen lässt.

»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«

Ich weiß nicht, ob ihre pampige Art mich irritieren soll oder ob mir eben genau das gefällt. Definitiv ist sie eine erfrischende Abwechslung zu den anderen Mitarbeitern, die mir ihre Freundlichkeit nur vorheucheln.

»Stellen Sie mir bitte bis morgen eine Liste aller Mitarbeiter zusammen, die in den letzten beiden Jahren einen Firmenwagen hatten, oder immer noch haben.«

Sie nickt und verlässt ohne ein weiteres Wort das Büro.


Sieben Stunden später lehne ich mich in meinem Bürostuhl zurück und reibe mir über die Augen, als mein Handy klingelt. Ohne auf das Display zu achten, nehme ich das Gespräch entgegen. »McLean.«

»Du wolltest vor einer halben Stunde hier sein. Lässt dein Arschloch von Chef dich wieder Überstunden machen?«

Grinsend wippe ich mit dem Bürostuhl nach vorne und blicke auf die Uhr am Bildschirmrand meines Laptops. »Scheiße, ich habe die Zeit verpennt. Ich mach mich gleich auf den Weg.«

»Sieh zu.« Und schon legt er auf. Das Arschloch von Chef, von dem er eben gesprochen hat, ist mehr oder weniger er selbst.

Logan und ich haben uns während des Studiums kennengelernt. Noch gehört die Firma Donovan & Company, für die ich arbeite, seinem Vater Darell, aber früher oder später wird sie an ihn übergehen. Logan ist auch der Grund, warum ich Unternehmensberater geworden bin. Dank ihm hat sein Vater mir gleich nach Beendigung des Studiums einen Job in dessen Unternehmen angeboten. Für viele ist es selbst nach Jahren schwer, einen Fuß in eine solch erfolgreiche Firma zu bekommen, also habe ich nicht lange nachgedacht. Inzwischen bin ich Partner und das Ende der Fahnenstange ist erreicht. Über mir stehen nur noch Logan und sein Vater. Ich arbeite hart und viel, richte meinen Fokus immer auf die Ziele der Firmen, die mich beauftragen. Im Allgemeinen kann man sagen, dass diese Firmen alle das Gleiche verfolgen: Sie wollen bessere Zahlen. Und ich sorge dafür, dass sie sie bekommen. Natürlich kenne ich den Ruf, der mir vorauseilt. Ich gelte als Tsunami, der nichts als Verwüstung und Zerstörung zurücklässt. Jemand, dem die Schicksale der Menschen, die er entlässt, egal sind. Früher habe ich noch versucht, mich zu rechtfertigen, habe mich bemüht zu erklären, dass dem ganz bestimmt nicht so ist. Mittlerweile habe ich es aufgegeben. Die Rechnung ist ganz einfach: Je mehr Firmen ich vor der Insolvenz bewahre, desto höher ist mein Marktwert und desto eher kann ich mit Darell in Gehaltsverhandlungen gehen.

Wenn ich es so sage, könnte man meinen, ich würde für Geld über Leichen gehen. Aber nicht nur die von mir entlassenen Menschen haben ein Schicksal, auch ich hab eins und dafür brauche ich Geld. Und soll ich das wirklich jedem Einzelnen erklären? Soll ich vor jedem einen Seelenstriptease hinlegen und auf dessen Verständnis hoffen? Nein!

Vielleicht liegt es auch daran, dass mir inzwischen egal ist, welche Meinung die Leute von mir haben. Wenn dich alle als Arschloch sehen, bist du irgendwann wirklich eins.

Ich lasse den Laptop herunterfahren und gehe noch einmal zum Faxgerät hinter dem Empfangstresen, um Darell meinen bisherigen Bericht zu schicken. Logan und ich haben ihm schon hundertmal gesagt, dass eine E-Mail den gleichen Zweck erfüllt, aber er besteht weiterhin auf ein Fax. Wenn das Ding denn funktionieren würde.

Ein weiteres Mal gebe ich die Nummer ein und es passiert nichts.

»Scheiß-Teil.« Als würde es dann besser funktionieren, schlage ich mit der Faust auf den Deckel.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Na bravo, die Irre hat mir gerade noch gefehlt. Vorsorglich trete ich einen Schritt an die Seite, um ihr Platz zu machen. »Das Faxgerät scheint nicht zu funktionieren.«

Sie stellt sich neben mich und beugt sich über das Gerät, wodurch mir ihr Geruch nach Vanille und irgendwas Blumigem in die Nase steigt. Ganz nebenbei stelle ich fest, dass sie wirklich heiß aussieht. Sie hat eine ordentliche Kiste, genauso wie ich es mag. Ich habe keine Lust mir irgendwelche Splitter einzufangen, wenn ich den knöcherigen Arsch einer Frau anfasse. Ich brauche was Handfestes und das hier vor mir ist definitiv handfest. Dazu die schmale Taille. Wenn sie jetzt noch Brüste hat, die in meine Handfläche passen, perfekt. Was ich hinten gerne mehr habe, darf vorne ruhig etwas weniger sein. Schließlich will ich nicht von dem Vorbau einer Frau K.O. geschlagen werden, wenn sie oben ist.

»So.« Mit hochrotem Kopf stellt sie sich wieder auf und sieht mich an. »Jetzt sollte es gehen. Das Kabel hat manchmal einen Wackelkontakt.«

Erneut gebe ich die Nummer ein und tatsächlich zieht das Faxgerät meinen Zettel durch.

»Danke.« Ich nicke ihr zu, woraufhin sie ihre Handtasche von einem der beiden Schreibtische nimmt und in Richtung Treppenhaus geht.

»Ach und Mr. McLean?« Überrascht, dass sie mich noch mal anspricht, sehe ich zu ihr. »Sie sollten Ihre Gefühlsregungen besser unter Kontrolle bekommen. Sonst wird Ihnen Ihre impulsive Art noch mal zum Verhängnis.« Dabei grinst sie mich auf unverschämte Weise an, und, noch bevor ich etwas entgegnen kann, ist sie durch die Tür verschwunden.

Was war das denn bitte? Was nimmt die sich eigentlich raus? Hat bei der Arbeit schon mal irgendjemand so mit mir gesprochen?

Keine Ahnung und doch kann ich in diesem Moment nur an eins denken: Die Irre hat eine Handvoll Brüste. Laut Augenmaß meine Handvoll.

Kapitel 5

Amber

»Scheiße, scheiße, scheiße.« Während Heather aufpassen muss, dass sie sich vor Lachen nicht vollpinkelt, könnte ich heulen.

»Das hast du nicht gesagt?«

»Ich fürchte doch.« Schuldbewusst senke ich den Blick auf meine Finger. Was ist da vorhin nur in mich gefahren? Natürlich ist mir mehr als jedem anderen bewusst, dass ich oft zu schnell und ohne nachzudenken drauflosplappere. Aber ausgerechnet bei ihm? »Wie soll ich ihm denn morgen gegenübertreten?«

»Ach wie schön, zwei neue Gesichter.« Eine Frau etwa Mitte vierzig steht uns gegenüber und lächelt uns freundlich an. »Schön, dass ihr hergefunden habt. Ich bin Kate, die Gruppenleiterin.«

Da sie hier die Gruppenleiterin ist, sehe ich sie mir genauer an. Schließlich hat sie dadurch ja auch eine Art Vorbildfunktion inne. Oder sehe ich das falsch? Da kann ich jedoch gucken, so viel ich will, es gibt nichts zu bemängeln. Das leichte Sommerkleid betont ihre tolle Figur, und ihr sportlicher Bob lässt sie vermutlich jünger aussehen, als sie tatsächlich ist.

»Hallo, ich bin Heather und das ist Amber.« Heather grinst, als hätte sie allein vom Hiersein schon zwanzig Kilo abgenommen.

»Dann wollen wir euch zuerst einmal eine Kartei anlegen.« Kate faltet ein Kärtchen, das sie ihrer Mitarbeiterin gibt, die hinter einer halbhohen Sichtsperre aus Pappe sitzt. Was ist das denn für eine? Hat sie irgendwelche Komplexe, weshalb sie sich verstecken muss? Bevor ich das genauer beurteilen kann, spricht Heather mich an.

»Ich denke, den sollten wir uns gleich mitnehmen, oder?«

»Hmm?«

»Diesen Einkaufsführer.«

Ich blättere einmal kurz durch das Buch und sehe den Preis auf der Rückseite. »Vierzig Dollar?«

Na toll. Jetzt weiß ich auch, warum ich abnehme. Weil ich kein Geld mehr habe, um mir essen zu kaufen. Trotzdem nicke ich und behalte das Buch.

»So, wie es weitergeht, erklärt euch jetzt Lyn.« Kate zeigt auf die hinter der Pappe. »Sie wird euch wiegen und das Gewicht auf eurem Wiegekärtchen notieren.«

»Was?«, entfährt es mir ungewollt laut. Kate, Heather und Lyn hinter der Pappe sehen mich erschrocken an, sodass ich mich räuspere und leiser weiterspreche. »Ich meine, wiegen? Warum das denn? Ich kenne doch mein Gewicht.«

»Du wirst dich jetzt bei jedem Treffen wiegen und Lyn wird deine Fortschritte in deinem persönlichen Wiegekärtchen festhalten. Das wird dir eine Motivation sein.« Kate lächelt so nett, dass ich kurz davor bin einzuknicken. »Außerdem wird hier niemand öffentlich gewogen, alles ist ganz diskret. Die Anzeige der Waage ist hier hinter diesem Sichtschutz und nur Lyn kann dein Gewicht sehen.«

Na großartig, das erklärt dann auch die Pappe. Ich fange Heathers flehenden Blick auf und so gebe ich klein bei und gehe die paar Schritte zur Personenwaage weiter. Heather wird gewogen, bekommt ihr Kärtchen und tritt zur Seite, damit ich auf die Waage steigen kann. Schon komisch, sich zu wiegen und das Ergebnis nicht selbst sehen zu können.

»Schon fertig.« Wie auch Kate lächelt Lyn mich freundlich an und ich nehme mein Wiegekärtchen entgegen. Nachdem Heather und ich uns hingesetzt haben, falte ich es auseinander. 73,9 Kilogramm.

»Die Waage ist doch kaputt oder was?«, platzt es schockiert aus mir heraus.

»Psst! Mensch Amber, jetzt reiß dich mal zusammen.« Peinlich berührt lässt Heather ihren Blick zwischen den anderen Gruppenmitgliedern kreisen und lächelt entschuldigend. Den Mund schon zu einer Erwiderung geöffnet, kommt Kate mir zuvor, sodass ich den Mund wieder schließe.

»Die Waagen bei uns werden regelmäßig geeicht, liebe Amber.«

Na dann kann es jawohl nur einen Gegenspieler geben: Lyn. Während ich versuche, ihr möglichst böse Blicke zuzuwerfen, ist Heather hin und weg von den vielen Erfolgsgeschichten der anderen.

Eine knappe Stunde später ist das Ganze vorbei und ich trete mit Heather auf die Straße. »Das war wirklich grausam. Ich könnte jetzt gut einen Latte mit viel Milchschaum gebrauchen.«

»Amber!«

»Schon gut, schon gut. Die Diät verdirbt mir schon nach einer Stunde die Laune.«

Wir verabschieden uns und ich steige in meinen Smart, um nach Hause zu fahren. Einen Vorteil hatte dieses Treffen ja, ich habe nicht an McLean gedacht. Er hat recht, ich sollte mich wirklich besser unter Kontrolle bekommen, weil mir meine Art sonst irgendwann einmal zum Verhängnis werden könnte. Ich hoffe nur, dieses Irgendwann ist nicht schon morgen.

Mit einer Tasse Kaffee stehe ich vor McLeans Tür und gehe zum wiederholten Mal die Worte durch, die ich einstudiert habe. Angriff ist die beste Verteidigung oder? Daher habe ich mir überlegt, mich einfach für den gestrigen Ausrutscher zu entschuldigen. Ich nicke noch einmal wie zur eigenen Bestätigung, das Richtige zu tun, und klopfe an die Tür.

»Herein.« Täusche ich mich oder hört er sich heute irgendwie genervt an?

Für einen Rückzug ist es jetzt zu spät und so öffne ich die Bürotür und trete ein.

»Guten Morgen, Mr. McLean.« Es fällt mir schwer, ihn freundlich anzulächeln, wenn als Reaktion nur der üblich undurchsichtige Gesichtsausdruck kommt. Dadurch, dass er so gut wie keine Mimik zeigt, wirkt sein Auftreten beängstigend perfekt, fast unmenschlich.

»Guten Morgen, Miss West.«

»Ich habe Ihnen Kaffee mitgebracht.« Weiterhin lächelnd stelle ich die Tasse vor ihm ab.

Er scheint einen kurzen Augenblick lang verwirrt zu sein, fängt sich aber genauso schnell wieder. »Danke. Leider trinke ich meinen Kaffee nicht mit Milch.«

»Oh.« Wer trinkt denn bitte seinen Kaffee schwarz? Das bringt meinen ganzen einstudierten Ablauf durcheinander. Soll ich diesem Fatzke jetzt etwa einen neuen holen?

»Ein bisschen Milch wird mich schon nicht umbringen.«

Wie bitte? Blinzelnd sehe ich zu ihm auf, als er sich die Tasse zum Mund führt. Und tatsächlich, ein kleines Zucken umspielt seine Mundwinkel. Himmel, räumt mal jemand einen Stuhl frei, damit ich mich setzen kann.

Er setzt die Tasse wieder ab und ich starre ihn immer noch an. Kopfschüttelnd konzentriere ich mich auf meine eigentliche Mission.

»Mr. McLean, ich wollte mit Ihnen …« Ich unterbreche mich selbst und lasse ihn nicht aus den Augen, als er aufsteht und einen der Stühle freiräumt.

»Setzen Sie sich doch bitte.« Schon wieder dieses kleine Lächeln. Verwirrt von dieser nahezu netten Geste, klammere ich mich an die Stuhllehne und setze mich erst, als auch er wieder sitzt und mich auffordernd ansieht.

»Also ähm«, nachdenklich reibe ich mir mit den Fingern über die Stirn und überlege, wo ich gedanklich stehen geblieben bin, »wegen gestern. Es tut mir leid, was ich da gesagt habe. Ich habe mal wieder nicht nachgedacht und hoffe, dass Sie den Vorfall vergessen können.« Ich knete meine im Schoß liegenden Finger und warte auf eine Antwort, die nicht kommt. Als ich den Kopf hebe, treffen sich unsere Blicke und ich halte kurzzeitig den Atem an. Ob aus Angst vor seiner Reaktion oder aus anderen Gründen will ich jetzt gerade nicht analysieren. Sein intensiver Blick macht mich nervös, sodass ich auf dem Stuhl umherrutsche und den Blick abwende. »Sie haben wohl recht, ich sollte mich mehr unter Kontrolle bekommen und nachdenken, bevor ich den Mund aufmache.«

Nun sag doch endlich was.

»Nein, Miss West.«

Erschrocken reiße ich meinen Kopf herum und sehe ihn wieder an. »Nein?«

»Wie Sie selbst gesagt haben, macht Sie genau das aus. Also lassen Sie sich von niemandem einreden, dass Sie sich ändern müssen. Auch nicht von mir.«

Irritiert betrachte ich ihn, wie er die Kaffeetasse in einem Zug leert und sein Adamsapfel sich beim Schlucken bewegt.

»Aber ich …« Ich gebe zu, ich bin verwirrt, extrem verwirrt. Zum einen von seiner Aussage, zum anderen davon, dass ich mich für das kaum vorhandene Grübchen an seiner Wange und den Adamsapfel interessiere. »Heißt das jetzt, Sie vergessen meinen Aussetzer von gestern Abend?«

»Welchen Aussetzer?«

Er weiß genau, wovon ich spreche, und so lache ich ihn erleichtert an. »Dann hole ich Ihnen jetzt die Liste mit den Firmenwagen.«

»Tun Sie das.« Er öffnet seinen Laptop. »Ach und Frau West, bitte kommen Sie zukünftig einfach herein. Sie brauchen nicht jedes Mal anzuklopfen.«

Als ich die Bürotür von außen zuziehe, lehne ich mich erleichtert dagegen und schließe für einen Moment die Augen.

»Na, so schlimm?« Auch ohne hinzusehen weiß ich, dass Marissa vor mir steht. »Debra wollte ihm gestern eine Blume ins Büro stellen, damit es nicht ganz so ungemütlich ist. Und was macht er? Schmeißt sie und die Pflanze umgehend wieder raus.« Ich öffne die Augen und blicke in Marissas grinsendes Gesicht. »Geh doch zu Harry und sag ihm, du willst nicht McLeans Helferlein sein. Lorena übernimmt das bestimmt wahnsinnig gerne für dich.«

»Warum sollte ich das tun?«

»Na ja, ich dachte, du stehst hier so, weil er dich langsam mürbe macht? Mal ehrlich, sein Anblick lässt in mir ja ganz wilde Gedanken aufkommen. Aber wenn man an dem leckt, klebt die Zunge wahrscheinlich dran fest wie an einer Straßenlampe bei Minusgraden. Ist er überhaupt ein Mensch?«

Bei ihren Worten zucke ich unwillkürlich zusammen, da ich vorhin noch dasselbe gedacht habe. Keine Ahnung, warum, aber ich bekomme Mitleid mit ihm. Vielleicht ist es wieder das Mutter-Theresa-Syndrom, aber ich bin mir sicher, dass er nicht immer so ist, wie er sich hier darstellt. Außerdem gefällt mir der Gedanke, dass Lorena ihm zuarbeitet, so ganz und gar nicht. Über das Warum möchte ich jetzt nicht weiter nachdenken.

»Nein, alles bestens. Ich habe gestern nur … na ja, den Mund wieder ein bisschen zu weit aufgerissen und hatte Angst, welche Konsequenzen er jetzt daraus zieht.«

»Und?«

»Nichts, alles bestens.«


Wenige Minuten später betrete ich sein Büro, ohne zu klopfen, und lege ihm die Liste auf den Tisch. »Ich habe die Liste auch noch in einen Ordner in der Datenbank abgelegt, soll ich Ihnen zeigen, wo?«

»Das wäre gut, danke.« Er rollt mit seinem Stuhl zur Seite und ich stelle mich neben ihn. Weil ich ihm so nah bin, kann ich, wie schon gestern am Faxgerät, seinen ganz eigenen Geruch vermischt mit einem herben Aftershave wahrnehmen. Er schiebt mir die Computermaus zu, wobei mir die hellen Härchen an der Seite seiner Hand auffallen. Ohne dass ich es beeinflussen kann, lecke ich mir nervös über die Unterlippe. Amber, mach keinen Scheiß. Dieser Mann kann dich deinen Job kosten.

Unwillentlich stelle ich mir vor, wie er aufsteht und seine großen Hände über meine Hüften nach oben wandern lässt, um meine Brüste zu umfassen. Seine tiefe Stimme flüstert mir ins Ohr, dass er mich schon auf diesem kargen Tisch vögeln wollte, seit wir uns das erste Mal begegnet sind. Mit einem Streich fegt er alles, was sich darauf befindet, zu Boden und drückt meinen Oberkörper auf die freigeräumte Fläche. Ohne viel Zeit zu verlieren, klimpert seine Gürtelschnalle, bevor er meinen Rock nach oben schiebt. In Gedanken trage ich statt der Shape-Hose nur einen hauchdünnen Spitzenstring, den er stürmisch zerreißt und dann ruckartig in mich eindringt.

»Miss West?« Eine Hand schiebt sich vor meine Augen. »Miss West, ist alles in Ordnung?«

Zwinkernd komme ich wieder ins Hier und Jetzt und sehe McLean an, der unglaublich aber wahr, mit einem breiten Grinsen neben mir sitzt. Augenblicklich spüre ich, wie ich rot werde, und wende mich dem Computer zu. Zeitgleich gehe ich vor dem Schreibtisch in die Hocke. Zum einen kann ich so besser auf den Bildschirm sehen. Zum anderen – und das ist weitaus wichtiger – kann ich so meine Nippel verbergen, die sich verräterisch gegen den dünnen Stoff der Bluse drücken. Gott ist das peinlich. Hoffentlich habe ich keine eindeutigen Geräusche von mir gegeben.

»Hier habe ich alle Firmenwagen der letzten Jahre eingetragen.« Ich fahre mit dem Finger über den Bildschirm. »Das sind die festen Wagen von Mitarbeitern, die immer einen haben. Und das hier sind die Wagen, die in der Firma stehen und nur bei Bedarf genutzt werden.«

Weil mir langsam die Knie wehtun, richte ich mich wieder auf und sehe zu ihm herunter. »Soll ich Ihnen noch etwas zusammenstellen?«

»Eine Auflistung der in den letzten zwei Jahren geflossenen Prämien wäre gut.«

»Das sollte ich heute noch fertig haben.« Damit will ich gerade das Büro verlassen, als er mich noch einmal anspricht.

»Es wäre einfacher, wenn Sie für die Zeit meines Aufenthalts auch in diesem Büro arbeiten würden.«

Wie bitte? Hier? Den ganzen Tag an seiner Seite? Mir meiner Feuchtigkeit, die sich unter diesem krankhaften Tagtraum zwischen meinen Beinen gesammelt hat, nur allzu bewusst, suche ich nach einer Ausrede, warum das keinesfalls geht.

»Das ist natürlich kein Muss. Es wäre nur einfacher, falls Fragen aufkommen.«

Scheiß verficktes Mutter-Theresa-Syndrom. »Natürlich, ich werde veranlassen, dass ein zweiter Schreibtisch hergebracht wird.«

Keine Stunde später sitze ich McLean vis-à-vis an einem voll eingerichteten Schreibtisch gegenüber. Wo ich schon einmal dabei war, habe ich auch noch einen zusätzlichen Tisch herbringen lassen, damit die ganzen Akten vernünftig abgelegt werden können. Welche Firma hat heutzutage eigentlich noch so viele Akten in Papierform? Aber Mr. Morgan besteht neben der Digitalisierung nun einmal darauf.

Als ich mich gerade daran mache, die Tabelle mit den Prämien zusammenzustellen, unterbricht McLean mich.

»Machen Sie erst einmal Ihre Mittagspause.«

Und tatsächlich, ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich um diese Zeit für gewöhnlich schon von der Pause zurück bin. »Machen Sie keine Pause?«

Ohne aufzusehen, antwortet er mir. »Ich brauche keine Pause.«

»War ja klar.«

Jetzt habe ich seine Aufmerksamkeit unerwünschterweise doch. »Wie bitte?«

»Äh … Na ja, ein paar Leute in der Firma, zu denen ich selbstverständlich nicht gehöre, fragen sich, ob Sie überhaupt menschliche Bedürfnisse haben. Und Sie lachen nie, obwohl das stimmt nicht ganz.« Ich lächle ihn kurz an, woraufhin wieder keine Reaktion kommt. »Sie scheinen nie genervt, ärgerlich oder müde zu sein. Eine Pause brauchen Sie offenbar auch nicht, was wohl heißt, Sie haben auch nie Hunger. Und Sie trinken schwarzen Kaffee. Jedenfalls fragen sich einige, ob Sie bei diesem Pensum überhaupt ein Mensch sind.«

»Wer fragt sich, ob ich überhaupt ein Mensch bin? Dem mache ich gleich die Papiere fertig.«

»Was?« Vor Schreck reiße ich meine Augen so weit auf, dass sie fast wehtun.

»Das war ein Witz.«

Ich spüre förmlich, wie ich in mir zusammensacke und die Anspannung wieder nachlässt. »Vielleicht sollten Sie sich angewöhnen, witzig zu gucken, wenn Sie einen Witz machen.«

»Wie guckt man denn witzig?«

Kopfschüttelnd stehe ich auf und nehme meine Tasche, als auch er sich erhebt.

»Also Miss West, wo gehen wir was essen?«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739438566
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Dezember)
Schlagworte
Liebesroman Millionär Leidenschaft Liebe Erotik Humor Vertrauen Erotischer Liebesroman

Autor

  • Mia B. Meyers (Autor:in)

Mia B. Meyers schreibt (Chick-Lit) Liebesromane und veröffentlichte mit Dark Side of Trust ihr Debüt, das am 12.01.2016 bei Amazon erschienen ist. Ihr Wunsch ist es, ihre Leser einen Moment lang aus ihrem Alltag in ihre Geschichte zu ziehen. Dafür zu sorgen, dass Bilder in den Köpfen der Leser entstehen. Wenn sie das schafft, hat sie mehr erreicht, als sie je zu träumen gewagt hat.
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Titel: Strange Memories