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Reset Me

Hoffnungsvolle Entscheidung

von Mia B. Meyers (Autor:in)
135 Seiten

Zusammenfassung

»Wer die Liebe selbst nicht erlebt, der schreibt darüber.« Getreu diesem Motto schreibt Romanautorin Lillian McAllister über die ganz große Liebe, obwohl sie Männer im wahren Leben bewusst auf Distanz hält. Einzig der charmante Unternehmensberater Logan Donovan wäre ihr eine Sünde wert. Doch dieser bereitet sich zielstrebig auf die Übernahme des Familienunternehmens vor und scheint an Ablenkung in Form des weiblichen Geschlechts keinerlei Interesse zu haben. Zerrissen zwischen ihren verborgensten Wünschen und langjährigen Ängsten wird Lillian mit einem altbekannten Feind konfrontiert, gegen den sie schon mehrfach verloren hat – sich selbst. Kann sie lernen, damit umzugehen, dass sich die Realität nicht wie eine ihrer Geschichten kontrollieren lässt? Enthält explizit beschriebene Liebesszenen. Das Buch ist in sich abgeschlossen. 280 Taschenbuchseiten. Reset Me ist KEIN Fortsetzungsroman von Strange Memories oder Lose Control. Alle Bücher sind unabhängig voneinander lesbar. Sollten jedoch alle gelesen werden, ist es von Vorteil, Strange Memories und Lose Control vor Reset Me zu lesen, da es sich hier um ein Spin-off handelt und Spoiler enthalten sein können.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,


um einer eventuellen Enttäuschung vorzubeugen, möchte ich dich an dieser Stelle vorwarnen.

Vermutlich werden sich meine Protagonisten stellenweise sehr speziell ausdrücken. Sie lieben klare Worte, zu denen auch der ein oder andere Kraftausdruck gehört.

Und ja, dem ist – ganz unabhängig von ihrem Alter oder ihrem beruflichen Erfolg – so.

Alle meine Protagonisten sind fiktional und dürfen es somit. Darüber hinaus, wer weiß schon, wie die oberen Zehntausend wirklich miteinander reden?!


Sollte schon dieses Vorwort nicht deinem Geschmack entsprechen, wird es leider auch der Rest nicht tun. Das würde ich zwar sehr bedauern, aber Geschmäcker sind nun einmal verschieden.

In diesem Fall muss ich mich an dieser Stelle leider von dir verabschieden. Ansonsten wünsche ich dir ganz viel Spaß beim Lesen und hoffe sehr, dass es dir gefallen wird.


Deine Mia

Shot

Lilly

Ich lecke mir über die Lippen und wische den Schweißtropfen weg, der langsam über meine Schläfe rinnt. Die Luft ist so drückend, dass selbst das Atmen anstrengend ist, und doch weiß ich nicht, was heißer ist, die derzeitige Hitzewelle oder der Anblick, der sich mir bietet.

Langsam lasse ich den Blick von Logans langen Fingern über seine Unterarme wandern und versuche, mir jedes noch so kleine Muskelspiel unter seiner Haut einzuprägen. Er beugt sich vor, sodass sein enges Shirt über den Bund der tief sitzenden Jeans nach oben rutscht und die Aussicht auf leicht gebräunte Haut freigibt. Herrje, selbst auf seinem Rücken scheint nicht ein Quadratzentimeter undefiniert zu sein. Allein dieser Anblick bringt mich schon sprichwörtlich zum Kochen und ich habe das Gefühl zu verglühen. Ein weiterer Schweißtropfen läuft mir zwischen den Brüsten entlang und ich atme tief ein, um das aufkommende Seufzen zurückzuhalten. Gleichzeitig verzieht Logan angestrengt das Gesicht und stöhnt kehlig auf. Was für ein animalisches Geräusch, das mir wie ein Stromschlag durch die Glieder donnert und sich zwischen meinen ... na ja, wo schon, entlädt. Er wischt sich mit dem Unterarm die dunklen Haare aus der Stirn und ...

»Der kannst du dabei zusehen, wie sie feucht wird«, dringt Ambers Stimme in meine Gedanken und ich zwinkere zweimal, um wieder im Hier und Jetzt anzukommen. Logan ächzt immer noch angestrengt, aber inzwischen sind alle anderen, die ich eben noch erfolgreich ausgeblendet habe, auch wieder da. Allen voran mein Bruder Cole, mit dem er an seinem Motorrad herumschraubt.

Ich drehe mich zu Amber, Heather und Marissa herum und setze mich auf die Kante des Schreibtisches. »Wenn ihr erst mal so lange keinen Sex hattet wie ich, dann könnte man euch auch beim Feuchtwerden zugucken«, kontere ich und nehme mir einen der Kaubonbons aus der Schale, die eigentlich für Kunden von Rileys Motorradwerkstatt hier stehen. Ich werfe das Bonbon schwungvoll in den Mund und blicke dann zu den anderen auf, die mich mit gerunzelter Stirn verwirrt ansehen. Ah, alles klar, sie wollen noch mehr Infos. »Wisst ihr, wie deprimierend das ist, wenn man alleine bei harmlosen Kussszenen in der Werbung schon kurz vor einem Orgasmus steht? Nein, oder?« Immer noch keine Antwort, also wickle ich das nächste Bonbon aus der Verpackung. »Das ist vermutlich auch der Grund, warum ich Erotikromane schreibe. Wer selbst nicht vögelt, der schreibt eben drüber.« Damit beende ich meinen Monolog und stecke mir die Süßigkeit in den Mund.

»Ähh«, setzt Heather an und sieht kurz zu Amber und Marissa, bevor sie sich wieder mir zuwendet. »Wir haben von Ambers Windschutzscheibe gesprochen.«

»Die Lüftung ist kaputt und die Scheibe wird immer ... feucht«, erklärt Amber weiter und ihre Mundwinkel fangen an zu zucken.

Oh.

»Was ist feucht?«, ertönt eine für mich unverwechselbare Stimme direkt neben mir – tief und ein kleines bisschen rauchig. Wie auf Knopfdruck jagt mir eine Gänsehaut über das Rückgrat und die Nackenhärchen stellen sich auf.

Logan wischt sich mit einem dreckigen Lappen die ölverschmierten Finger ab. Sein Shirt, das vermutlich einmal weiß gewesen ist, klebt nassgeschwitzt so eng an seinem Oberkörper, dass ich seine kleinen Brustwarzen erahnen kann. Wie hypnotisiert starre ich darauf, stelle mir vor, wie ich ...

»Lilly hat eine feuchte ... Windschutzscheibe«, prustet Amber los und beißt sich auf die Lippen, vermutlich um sich selbst in den Griff zu bekommen. Leider vergeblich.

»Aha.« Logan nickt, als verstünde er plötzlich alles, wirft den Lappen hinter mich auf den Schreibtisch und beugt sich so nah zu mir herüber, dass ich den Geruch seines Motoröl-Schweiß-Gemischs riechen kann. Sicher nicht die erotischste Kombination und trotzdem muss ich mich zwingen, nicht noch näher zu kommen, um es direkt zu inhalieren. Was wird das denn, wenns fertig ist? Nervös rutsche ich kaum merklich ein Stück von ihm ab, als er sich auch schon wieder aufrichtet. Aha, alles klar, das war kein Annäherungsversuch, er hat einfach nur nach einem Getränk gegriffen.

Logan öffnet die Wasserflasche, setzt sie an, legt den Kopf in den Nacken und trinkt sie fast auf ex aus. Und sieh mal einer an, ich bin nicht die Einzige, die wie gebannt auf seinen Kehlkopf starrt und jede Schluckbewegung mit einem eigenen Schlucken spiegelt. Wer bitte erlaubt, dass ein Mann so aussehen darf?

Mit einem Stoßseufzer setzt er die Flasche ab und deutet damit auf mich. »Soll ich mir die mal ansehen?«

»Was?«, frage ich wenig geistreich und sehe fragend zu den Mädels. Heather beißt sich in den Arm und dreht sich eilig in die andere Richtung.

»Irgendwas muss die Feuchtigkeit ja auslösen. Wenn du willst, kümmere ich mich darum.«

Er hat den Satz noch nicht ganz beendet, da fangen die Hühner in der dritten Reihe an zu gackern und mir glühen die Wangen. Nur einer lacht nicht und doch funkeln Logans hellblaue Augen, die manchmal fast durchsichtig zu sein scheinen, wissend, bevor er wieder zu den anderen geht.

Kapitel 1

Lilly

»Mache das,

wovor du am meisten Angst hast –

und du verlierst sie.«

Mark Twain

»Was ihr am meisten Schmerzen bereiten wird, sind die gebrochenen Rippen. Ihre Tochter sollte für ein paar Tage hierbleiben.«

Ihre Tochter, das bin ich, und nein, nicht meine Rippen sind das, was am meisten schmerzt ... Wie es dazu kommen konnte? Wenn ich mir das doch nur selbst irgendwie erklären könnte. Ich weiß nicht einmal, wo genau ich anfangen soll. Oder doch, vielleicht heute, nur viel früher an diesem Abend:

»Ich muss nur noch einmal in die Post, dann setze ich dich bei ihm ab«, erklärt Mom, während sie den Wagen schon in eine Parklücke lenkt und den Motor abstellt. Blind fischt sie nach einigen Briefen auf dem Rücksitz, öffnet mit einem »Bin gleich wieder da« die Fahrertür und steigt aus.

Mein Blick klebt unterdessen auf der Uhr im Wageninneren und ich bilde mir ein, immer dann ein lautes Tosen zu hören, wenn die letzte Zahl der Anzeige sich wieder eine Minute vorstellt. So laut, dass Moms letzte Worte kaum zu mir durchdringen, dennoch nicke ich geistesabwesend und sehe aus dem Seitenfenster auf das leuchtende Reklameschild der Postfiliale.

Ein unangenehmes Kratzen kriecht mir über die Arme, in die Hände bis zu den Fingerspitzen, sodass ich diese durchknete, um das mulmige Gefühl darin zu vertreiben. Automatisch wandert mein Blick wieder auf die Digitalanzeige der Uhr, schon fünf Minuten nach sechs. Ich lehne den Kopf gegen die Kopfstütze und schlinge die Arme um mich selbst. Vielleicht sollte ich zu Jason laufen? Zu Fuß sind es keine fünf Minuten von hier. Aber wie sollte ich Mom erklären, dass ich einfach ausgestiegen und zu ihm nach Hause gelaufen bin? Nach Hause ... Nein, dort ist nicht mein Zuhause, mein Zuhause ist bei Mom und Dad. Warum nur fahre ich dann nicht einfach mit ihr?

Immer ruheloser reibe ich die schwitzigen Handflächen über meine Oberarme. Wo bleibt sie denn?

Ich sehe einmal mehr zur Eingangstür der Filiale, als sich zeitgleich die Wagentür öffnet und Mom wieder einsteigt. Die kühle Winterluft von draußen dringt ins Wageninnere und einen kurzen Atemzug lang stellt sich so etwas wie Erleichterung ein, dass es endlich weitergeht. Leider jedoch viel zu kurz, um diesen Moment wirklich wahrnehmen zu können. Mom sieht mir forschend ins Gesicht, startet dann aber den Motor und steuert aus der Parklücke heraus. Hin und wieder glaube ich, sie ahnt etwas. Sicher nicht das, was es letztendlich tatsächlich ist, aber doch irgendwas. Sie mag Jason nicht, keiner aus meiner Familie tut das. Connor, mein älterer Bruder, bemüht sich zwar, aber ich weiß, dass er dies nur für mich tut. Und mein Dad, der wird aller Voraussicht nach nie einen Mann mögen, den ich ihm vorstelle. Für ihn bin ich trotz meiner achtzehn Jahre immer noch sein kleines Mädchen. Der Gedanke lässt mich lächeln und ich sehe zu Mom, deren Blick sich geradewegs tief in mein Innerstes bohrt. Das mir inzwischen leider viel zu bekannte Brennen baut sich hinter meinen Lidern auf, doch ich dränge es zurück und lächle Mom stattdessen künstlich an.

Wie versteinert sehe ich zurück durch die Windschutzscheibe auf die Straße, wobei ich mit meinem Blick noch einmal die Uhrzeit streife – es ist beinahe zehn nach sechs. Innerlich aufgewühlt schließe ich die Augen und wünsche mir, dass Jason sich ebenso wie ich verspätet. Es sind doch nur lächerliche zehn Minuten.

Früher habe ich nicht viel geweint, warum auch, es gab kaum Gründe dafür, aber jetzt ... Dabei würde nur ein einziges Wort zu meiner Mom reichen und all das wäre zu Ende.

Wir fahren einmal um den Block und ich suche schon einmal den Haustürschlüssel aus der Handtasche, damit es gleich schnell geht. Zu Fuß wäre ich sicher schneller gewesen. Als wir endlich in der Straße ankommen, in der Jason wohnt, sehe ich schon von Weitem, dass es hinter den beiden Fenstern des Wohnzimmers dunkel ist. Entweder er verspätet sich also tatsächlich, oder aber ... oder aber er ist wütend wieder verschwunden, weil ich nicht pünktlich war.


Ich stütze die Ellenbogen auf dem Schreibtisch ab, vergrabe mein Gesicht in den Händen und atme hörbar aus. Kann ich das so schreiben? Müde reibe ich mir über die vom Bildschirm brennenden Augen und spreize die Mittelfinger von den Ringerfingern ab, um zwischen ihnen hindurch auf den Monitor zu sehen. Ich starre emotionslos auf die letzten Passagen des Textes, die mit der Zeit konturlos ineinander verschwimmen, bis das leiernde Jaulen der Klingel mich zusammenzucken lässt. Das, was irgendwann mal eine einladende Melodie ergab, ist inzwischen nur noch ein kurzes Aufflackern eben dieser, bevor es dann in einem schwer einzuordnenden Ton endet. Klingt wie auf einen verendeten Vogel getreten – nicht dass ich wüsste, wie sich so was anhört.

Unwillkürlich sehe ich zum oberen Bildschirmrand. Scheiße, so spät ist es schon? Ich lasse den iMac runterfahren und sprinte, so leise es mir möglich ist, an der Haustür vorbei in Richtung Schlafzimmer.

»Lilly!«, höre ich Heathers vorwurfsvolle Stimme dumpf erklingen. »Sag nicht, du bist noch nicht fertig?« Sie bollert so energisch gegen die Wohnungstür, dass sich tatsächlich ein kleiner Spalt zwischen Türblatt und Rahmen bildet. Erstaunt zucke ich mit dem Kopf zurück, stelle mich auf Zehenspitzen und tippele weiter an der Tür vorbei.

»Ich kann dich und deine hässliche pinke Jogginghose durch das Milchglas erkennen. Mach sofort die Tür auf!«

Ich schürze die Lippen, sehe an mir hinunter und lasse die Schultern sinken. Was solls? Mit meinem Beste-Laune-Lächeln reiße ich die Tür auf und schaffe es trotz Heathers gerunzelter Stirn, weiter zu grinsen. »Hey, was machst du denn schon hier?«

»Das ist nicht dein verdammter Ernst, Lillian McAllister!«, poltert sie los und rammt sich an mir vorbei in die Wohnung. Gewohnheitsmäßig lässt sie ihre Handtasche von der Schulter gleiten, sodass diese auf den Fußboden plumpst, und geht nach links in die Küche.

Mechanisch kicke ich die Tasche an die Seite und folge ihr. »Vielleicht solltest du nicht so viel Zeit mit Cole verbringen, sein Gossenjargon färbt langsam auf dich ab.«

Heather nimmt zwei Tassen aus einem der Küchenschränke und sieht über die Schulter zu mir. »Was, wenn ich dir sage, dass Cole und ich immer noch in der Phase sind, in der wir nicht sonderlich viel reden. Du weißt schon ...« Sie wackelt mit den Augenbrauen und ich schüttle lachend den Kopf.

»Erspar mir die Details.« Cole ist mein Bruder und da muss ich nun wirklich nicht alles wissen. Nachdem er und Heather monatelang umeinander herumscharwenzelt sind, haben sie es zur Freude aller endlich geschafft, ein Paar zu werden. Wenn ich allerdings bedenke, was in diesen knapp zehn Monaten alles passiert ist, zieht sich mein Magen noch immer unangenehm zusammen. Aber das ist eine andere Geschichte, an die wir alle nicht mehr denken wollen.

Die ehemalige Personalchefin einer renommierten Bank und ein Cop, der mehr Schimpfworte in seinem Wortschatz hat als Eminem. War ja vorauszusehen, dass das abfärben würde.

»Gehe ich recht in der Annahme, dass du wieder nur kurz am Computer gesessen hast?«, fragt sie und deutet mit den Fingern Gänsefüßchen in der Luft an.

»Mmhh«, brumme ich und schiebe mich auf einen der zwei Barhocker. Heather kennt mich inzwischen einfach zu gut.

Sie stellt mir eine Tasse Kaffee auf den Tisch und die zweite unter die Düse des Vollautomaten. »Was schreibst du gerade?«

Ich gieße mir Milch in den Kaffee und überlege, von welchem der sieben angefangenen Manuskripte ich ihr erzählen soll. »Ich probier mich gerade an was Neuem.«

»Okay.« Sie setzt sich mir gegenüber, stellt ihre Tasse ab und nimmt mir die Milch weg. »Und woran?«

»Wenn ich mir sicher bin, was es wird, bist du die Erste, die es erfährt«, gebe ich zurück und zwinkere ihr zu. Heather und ich haben uns schon von Anfang an gut verstanden, aber erst, seit sie mit Cole zusammen ist, ist sie mir zu einer guten Freundin geworden. Inzwischen gibt es kaum noch etwas, das sie nicht von mir weiß, und wenn ich sie über die Story anflunkere, würde sie mich direkt durchschauen.

»Dann trink den Kaffee und zieh dich um. So willst du ja wohl nicht los.« Sie deutet mit dem von der Tasse abgespreizten kleinen Finger auf meine Hose und nimmt einen Schluck. »Nach der Manhattan Mall können wir uns auch gleich noch einen Termin holen, um uns die Haare hochstecken zu lassen.«

In genau einer Woche werden Mason, der beste Freund von Cole, und Amber, die beste Freundin von Heather, sich das Ja-Wort geben. Wäre ja auch nicht weiter schlimm, wenn Heather und ich denn schon etwas zum Anziehen vorweisen könnten. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir beide schon längst ein Kleid, aber Heather war sich sicher, bis zum Stichtag noch mindestens fünf Kilo abzunehmen. Meinem Augenmaß nach zu urteilen, hat sie die besagten Kilos eher zugenommen, was ich natürlich niemals laut aussprechen würde. Zumal Cole sie anfänglich gerade wegen ihrer Rundungen so anziehend fand. Seine Marilyn, wie er sie liebevoll nennt. Bei dem Gedanken, wie sehr sie ihm den Kopf verdreht hat, muss ich lächeln. Irgendwie sind jetzt alle mehr oder weniger unter der Haube, Mason und Amber, Cole und Heather, Riley, der nächste in der Männerrunde, und seine Sekretärin Marissa. Obwohl mir bei den beiden noch nicht ganz klar ist, worauf es hinausläuft. Bleiben demnach nur noch Logan und ich übrig und da weiß ich ziemlich genau, was das ist. Für ihn bin ich Coles kleine Schwester, die im Laufe der letzten Monate irgendwie zu seinem Best Buddy mutiert ist. Ich weiß noch genau, wie ich als Sechzehnjährige schmachtend in meinem Zimmer stand und ihn durch den Türspalt beobachtete.

»Träumst du schon wieder von ...« Heather presst als Antwort auf meine Miene die Lippen aufeinander, schafft es aber nicht, ihr dummes Grinsen zu unterdrücken.

»Ich zieh mir eben was anderes an.« Mit diesen Worten rutsche ich vom Hocker und gehe ins Schlafzimmer. Ohne zu duschen, schlüpfe ich in ein dunkelblaues Carmenshirt, das die Schultern freilässt, meine Destroyed Jeans, die ich bis über die Knöchel hochkrempele, und meine geliebten Louboutins. Als ich vor eineinhalb Jahren mein erstes Buch veröffentlicht habe, waren sie das Erste, was ich mir von dem Verdienst geleistet habe. Eigentlich viel zu teuer, um sie anzuziehen, aber auch viel zu schön, um sie im Schrank verstauben zu lassen. Prüfend mustere ich mein Spiegelbild und schürze die Lippen. Die Hose hat aber auch schon mal lockerer gesessen, oder? Kann es wirklich sein, dass der Arsch vom vielen Sitzen am Schreibtisch breiter wird? Vielleicht platzen durch das Gewicht, das darauf lastet, die Fettzellen im Hintern auf und wirken dadurch noch gewaltiger als ohnehin schon? Ich werde das googlen, ich google so gut wie alles.

»Bist du so weit?«, ruft Heather und betritt zeitgleich das Schlafzimmer.

»Ja, von mir aus können wir los.« Eilig binde ich meine hellblonden, welligen Haare zu einem unordentlichen Knoten am Oberkopf zusammen und strecke die Hände in die Höhe. »Tada.«

Heather setzt sich auf das ungemachte Bett und ich sehe dank des Spiegelbildes, dass sie sich in Richtung Nachttisch beugt.

»Logan hat geschrieben«, kommentiert sie das Aufleuchten meines Handydisplays. Ruckartig drehe ich mich um, reiße das Smartphone an mich und sehe sie ärgerlich an. Dann öffne ich die Nachricht:


Guten Morgen, viel Spaß mit den Mädels. Ich freu mich, dich morgen Abend zu sehen.


Ich grinse dümmlich und höre sofort damit auf, als ich merke, dass Heather mich achtsam mustert. »Wie lange wollt ihr eigentlich noch so weitermachen?«

Genervt, weil ich es nicht zum ersten Mal höre, schnappe ich mir meine Handtasche vom Stuhl neben dem Bett. »Keine Ahnung, was du meinst. Können wir dann?«

»Sag mal, kann es sein, dass ich immer fetter werde?« Heather steht inmitten eines Halbkreises aus Spiegeln und sieht Marissa und mich fragend an.

Mein Blick wandert an dem blassblauen Abendkleid herunter und bleibt an ihren Brüsten hängen. »Ehrliche Antwort oder lieber eine nette?«

Sie stemmt ihre Hände in die Hüften und stopft ihren Busen dann tiefer in den Ausschnitt. »Manchmal merkt man wirklich, wessen Schwester du bist.«

Ich zwinkere Marissa zu und gehe wieder in die Umkleidekabine, um das nächste Kleid anzuprobieren. Als Brautjungfern müssen wir drei uns auf eins der Modelle einigen, die Amber für uns ausgesucht hat. Zuerst sollten nur Heather und Cole Trauzeugen sein, aber vor vier Wochen kamen wir anderen dann irgendwie auch noch dazu. Am Haken vor mir hängen noch neun weitere Kleider, die darauf warten, angezogen zu werden. »Was für eine selten grässliche Farbe«, rede ich mit mir selbst und ziehe den Albtraum in Schweinchenrosa über.

»Ach du scheiße, da zeigt sich ja jede Cellulitedelle«, kommt es fluchend aus Marissas Kabine und Heather schimpft über etwas, das ich nicht verstehen kann.

»Das hat bestimmt ein Mann entworfen«, mische ich mich ein. »Jede Frau wüsste, dass der dünne Stoff erbarmungslos ist.«

Ich trete erneut aus der Umkleide hervor und stelle mich in die Mitte der Spiegel. Oha ... Das Licht hier draußen macht es sogar noch schlimmer.

»Dein Arsch war aber auch schon mal kleiner«, kommentiert Heather schnippisch und ich muss lachen.

»Das geht ja mal gar nicht«, kommt es von Marissa, als sie aus ihrer Kabine tritt, und so sind wir uns zumindest in dieser Sache einig. Also auf ein Neues.

Ich packe das nächste Kleid aus der Schutzhülle und lasse die Finger über den zarten Stoff des weit schwingenden Rockes gleiten. »Wow.« Eilig ziehe ich es über und merke sofort: Das ist es. Das hochgeschlossene, ärmellose Oberteil besteht aus einer Art weißen Spitze, obwohl es keine ist. Es sieht eher aus wie unzählige, übereinandergelegte Bänder, ist jedoch nicht durchsichtig. Ab der Taille läuft es in einem weiten roséfarbenen Rock aus. Es wirkt edel, aber nicht pompös. Zurückhaltend, aber besonders, genauso wie es sich für eine Brautjungfer gehört.

Ich schiebe den Vorhang auf und sehe zu den beiden anderen, die sich im gleichen Kleid vor den Spiegeln hin und her drehen, sodass der leichte Stoff mitschwingt.

Heather bemerkt mich und ihre Augenbrauen schießen anerkennend in die Höhe. »Ziemlich vorteilhaft, um deinen Arsch zu verbergen.«

Ich deute auf ihre Oberweite. »Es ist sogar deinen Möpsen gewachsen.«

Sie grinst mich an und dreht sich zu Marissa. »Was meinst du, haben wir unser Kleid gefunden?«

Die bejaht mit verträumtem Lächeln und damit erübrigt sich die Anprobe der restlichen Sachen. Ein Glück.

Im gleichen Moment kommt die Verkäuferin mit einem Tablett voller Sektgläser und nickt uns anerkennend zu. »Als Miss West die Kleider auswählte, war dieses Stück auch mein Favorit. Wie ich sehe, haben Sie sich entschieden?« Ohne eine Antwort abzuwarten, reicht sie jeder von uns ein Glas und wir stoßen gemeinsam an. »Dann kann ich den Trauzeugen Bescheid geben, dass ihre Krawatten roséfarben sein werden.« Damit verschwindet sie und mir fällt ein, dass ich Logan noch gar nicht geantwortet habe.

Umgehend hole ich mein Smartphone aus der Handtasche und tippe eine kurze Nachricht.


Hey, deine Krawatte wird rosé.


Keine Minute später antwortet er.


Schick mal ein Foto, ich bin neugierig.


Wie schafft er es nur, mich mit den einfachsten Textnachrichten immer wieder zum Grinsen zu bringen? Was ist das hier mit uns? Ein Teil von mir will es unbedingt wissen. Der andere, weitaus größere Teil will aber genau das aus Angst vor meiner eigenen Reaktion ganz und gar nicht.

Kapitel 2

Lilly

»Die Gefühle offenbaren sich

umso weniger,

je tiefer sie sind.«

Honoré de Balzac

»Sehr gut. Ich denke, wenn wir das Ganze noch einmal machen, sollte es reichen«, sinniert Mason, als er das Video stoppt, das von der Kamera auf den Bildschirm seines Laptops übertragen wird.

Alle anderen einschließlich mir stöhnen genervt auf und ich folge Amber über mehrere Schraubenschlüssel hüpfend in Rileys Büro, um mich neben sie auf die Couch fallen zu lassen.

»Wir wollen schließlich, dass es perfekt wird«, predigt Mason lautstark aus der Werkstatt heraus in unsere Richtung. Alle außer ihm sitzen bereits im Büro. Riley holt eine Coladose nach der anderen aus seinem kleinen Kühlschrank und reicht sie an Logan, der sie reihum verteilt, bis wir letztlich alle eine kalte Dose in der Hand halten. Das Zischen vom Öffnen ist alles, was Mason zur Antwort bekommt. Ich presse mir die beschlagene Coladose gegen die feuchte Stirn und komme allmählich wieder zu Atem.

»Könntest du ihm vielleicht sagen, dass es kaum noch perfekter werden kann? Selbst die Backstreet Boys würden vor Freude in Tränen ausbrechen«, sage ich zu Amber rübergelehnt.

Logan, der mich trotz des Flüsterns gehört hat, lächelt mich an und ich griene automatisch zurück. Wie ein dämlicher Teenie.

»Was soll ich denn machen? Ich hab schon alles versucht. Ich wollte ihn sogar mit Sex ablenken, aber dieses Mal lässt er nicht mit sich reden«, unterbricht Amber meine Überlegung und ich erröte augenblicklich, weil Logan mich weiterhin ansieht, jedoch ist sein Lächeln verschwunden. Das Wort Sex zu hören und ihn dabei nur in der Nähe zu wissen, geht gar nicht.

Schnell wende ich mich von ihm ab und studiere die hochwichtigen, auf der Dose abgedruckten Inhaltsstoffe. Warum ist das immer so?

Logan und ich schreiben uns täglich unzählige Textnachrichten, doch sobald wir uns gegenübersitzen, ist es irgendwie anders. Die Leichtigkeit zwischen uns ist verschwunden und an ihre Stelle rückt dann diese undefinierbare Spannung. Manchmal frage ich mich, ob ich vielleicht doch mehr sein könnte als nur die kleine Schwester, aber ... Vergessen wir das!

Mein Blick wandert zu Cole, der verträumt eine von Heathers Haarsträhnen um seinen Finger dreht. Er passt auf mich auf wie ein Pitbull auf seine Welpen und jeder Mann in meiner Nähe wird mit gefletschten Zähnen einer Prüfung unterzogen. Selbstredend, dass diese Prüfung nicht bestanden werden kann. Etwas, das mir eigentlich auch immer gut gefiel, bis ... na ja, bis zu Logan. Wobei ich sagen muss, sein Kontrollwahn hat schon deutlich nachgelassen, seit er mit Heather zusammen ist.

Als würde er merken, dass ich ihn beobachte, dreht Cole sich in meine Richtung und zieht fragend die Augenbrauen hoch. Ich schüttle lächelnd den Kopf und sehe zum Türrahmen, durch den Mason gerade ins Zimmer kommt. »Einmal bekommt ihr doch wohl noch hin, oder?« Was sich wie eine Frage anhört, ist ganz sicher keine gewesen.

Mason und Amber haben sich überlegt, keinen üblichen Hochzeitswalzer zu tanzen – das könnte ja schließlich jeder –, und genau da kommen wir anderen ins Spiel. Als Trauzeugen und Brautjungfern werden wir sie, kurz nachdem sie mit dem Walzer angefangen haben, auf der Tanzfläche überfallen, um dann gemeinsam zu Everybody von den Backstreet Boys zu tanzen. Zuerst wurden wir genötigt, uns das Musikvideo und dessen Tanzschritte gefühlt 1549-mal anzusehen, aber Masons Perfektionismus reißt einfach nicht ab. Seit drei Monaten proben wir einmal wöchentlich, wobei ich zugeben muss, dass es mir streng genommen immer gefallen hat. So war stets klar, einmal in der Woche sehe ich Logan und, was noch besser, noch viel besser ist, wir berühren uns sogar. Stirnrunzelnd schüttle ich den Gedanken ab und sehe aus dem Augenwinkel, dass Cole und Heather aufstehen, um wieder in die Werkstatt zu gehen. Die Couch unter mir gibt nach, als Logan aufsteht und mir die Hand reicht. »Darf ich bitten?«

Lächelnd greife ich nach ihr und ertaste mit dem Zeigefinger die kleine Schwiele an seiner Handinnenfläche, dort, wo sie in den Ringfinger übergeht. Ich mag es, dieses winzige Detail von ihm zu kennen, auch wenn es vielleicht lächerlich ist.

Jedes Paar bildet eine Seitenlinie, wobei Mason und Amber vorne stehen, Logan mit mir rechts, Cole mit Heather links von ihnen und Riley mit Marissa hinter uns.

»Ausgangsposition bitte!«, ruft Mason uns zu und ich muss mir auf die Lippen beißen, um nicht laut aufzulachen. Wir haben den Tanz sicher an die hundertmal getanzt und beginnen jedes einzelne Mal mit dieser Aussage. Will er das auf der Hochzeit auch machen?

Ich lege meine Hand auf Logans Schulter, drehe mich zu ihm und greife mit der anderen nach seiner. Er umgreift mich und platziert seine rechte Hand auf meinem unteren Rücken, was einen wohligen Schauer durch meinen Körper jagt. Mein Blick bleibt kurz an seinen Lippen hängen, deren untere etwas voller ist. Das erkennt man jedoch nur, wenn man so nah vor ihm steht wie ich in diesem Moment. Als ich aufsehe, treffen meine Augen auf seine. Shit, wegsehen und auf schüchternes Mäuschen machen oder seiner Musterung standhalten wie eine Femme Fatale? Im gleichen Moment dröhnt ein Everybody durch die Werkstatt und wir fangen, ohne zu überlegen, an, uns synchron zueinander zu bewegen. Logan und ich drehen uns rhythmisch im Kreis. Er dreht mich aus seiner Umarmung heraus, sodass wir uns nur noch an einer Hand berühren, und zieht mich wieder an sich. Das Ganze immer im Takt der schnellen Musik. Ich wende ihm den Rücken zu und wir bewegen uns im Gleichklang ein paar Schritte vor und zurück, immer mit einem Auge auf die anderen gerichtet, damit es auch synchron ist. Logan dreht mich etwas zu schwungvoll wieder zu sich, sodass ich lachend gegen seine Brust pralle. Seine Mundwinkel zucken, doch er hält den Rhythmus für uns, hebt unsere Hände über den Kopf, wir öffnen die Umarmung einmal nach vorne, treffen uns erneut und öffnen sie nach hinten.

Logans Mund ist leicht geöffnet, seine Atmung wird schneller und auch mir läuft bei der sechsten Probe an diesem Abend der Schweiß an den Schläfen hinunter. Ob er so hektisch nach Atem ringt, wenn er ... Oh Gott, nein, denk gefälligst an was anderes, Lilly! Gleich kommen wir zu der Stelle, an der wir auf die anderen Gäste zugehen werden, um sie auf die Tanzfläche zu ziehen, was heißt, wir sind so gut wie durch.

Wir trennen uns und stehen in einer langen Reihe nebeneinander, springen mit geschlossenen Beinen von links nach rechts, spreizen die Beine dann, gehen in die Knie und nehmen die Arme symmetrisch dazu. Cole, der Sportlichste von uns allen, wischt sich über die Stirn. Vermutlich schwitzt er genauso wie wir alle, da das hier an Hochleistungssport grenzt. Wir gehen noch einmal in die Hocke, warten auf die richtige Stelle und das war’s, das ist der Moment, in dem wir ausströmen sollen.

Ich stütze meine Hände auf den Knien ab, atme gegen die fiesen Seitenstiche an und spüre das durchnässte Shirt am Rücken kleben.

»Jetzt reichts aber wirklich, hier stinkt es schon nicht mehr nach Motoröl, sondern nur noch nach Transpiration. Ekelhaft ist das«, meckert Amber los und ich muss über ihre Schweißphobie lachen. Obwohl ich ihr, was den Geruch angeht, leider recht geben muss.

»Wir können es uns ja wenigstens noch einmal ansehen, oder?«, fragt Mason in die Runde, drückt indessen jedoch, ohne eine Antwort abzuwarten, auf die Entertaste, sodass das zuletzt aufgenommene Video abspielt.

Wir stehen im Halbkreis um den Laptop und Heather wippt zur Musik mit. Bei der Stelle, an der ich lache, sehe ich kurz zu Mason und warte auf einen rügenden Spruch, doch er lächelt mich nur an. Er dreht sich wieder nach vorne und ich betrachte ihn mit schräg liegendem Kopf. Ich kenne ihn schon mein ganzes Leben lang, wodurch es beinahe so ist, als würde mein Bruder heiraten, und ich freue mich so sehr für ihn. Er hat es nicht immer leicht gehabt und dann kam plötzlich Amber in sein Leben gepoltert. Er hat den sprichwörtlichen Deckel gefunden, nach dem manch andere ihr Leben lang vergeblich suchen. Ich sehe zu Cole und Heather, woraufhin ich sofort angewidert das Gesicht verziehe. Muss er wirklich hier vor allen anderen seine Zunge in ihr Ohr schieben?

Wie dem auch sei, die beiden könnten nicht unterschiedlicher sein und doch haben sie ihr perfektes Gegenstück gefunden. Mit meiner Inspektion bei Riley und Marissa angekommen, rümpfe ich die Nase. Manchmal glaube ich, da ist etwas zwischen ihnen, aber ob und was, das weiß ich noch nicht. Ich sehe zu Logan, der mich offenbar die ganze Zeit über beobachtet hat, aber keineswegs verschämt wegsieht. Nur mit Mühe halte ich seinem intensiven Blick stand, obwohl ich wie so oft das Gefühl habe, er könnte alles sehen. Auch das, was er gar nicht sehen soll. Wenn ich nur wüsste, was er damit beabsichtigt.

Logan streicht sich eine seiner schweißdurchnässten, dunklen Strähnen aus der Stirn und sieht dann auf das Video vor sich. Im Profil kann ich jedes Mal, wenn er zwinkert, die dichten, schwarzen Wimpern ausmachen. Hätten alle Menschen solche Wimpern, bräuchte niemand mehr Mascara, geschweige denn falsche Wimpern. Das heftige Zuklappen des Laptops lässt mich erschrocken zusammenzucken und ich sehe zu Mason, der seine Gerätschaften abbaut.

Zehn Minuten später stehen Logan und ich auf dem Parkplatz. Alle anderen sitzen schon in ihren Autos, Cole und Heather sind bereits losgefahren, als Logan sich von mir verabschiedet. Wie jedes Mal umarmt er mich kurz und ich versuche, in den wenigen Sekunden zu ergründen, was für eine Umarmung es ist. Vielleicht sollten wir uns zukünftig die Gettofaust geben und uns mit einem Jo Bro, was geht auf die Schulter klopfen. Machen Bros das nicht so? Scheiße, ich will aber nicht so ein Kumpel sein. Ein Prickeln wandert von meinem Nacken über den Rücken und ich erstarre ruckartig. Was war das? War das ... Das war definitiv ein Streicheln. Logan löst sich ein Stück von mir, betrachtet mein Gesicht und da, da war es schon wieder. Mein Blick flattert von seinen Augen zu seinem Mund und mein verräterisches Herz schlägt so heftig, dass sogar er es fühlen müsste. Er wird dich küssen, rattert es penetrant durch meinen Kopf und ich trete ihm, mit allem einverstanden, entgegen. Jetzt. Gleich. Ohnmacht ich komme. Und plötzlich werden alle Stellen, an denen vor einem Augenblick noch seine Wärme zu spüren war, kalt. Ich höre ein »Ciao!« und beobachte entgeistert, wie Logan in Richtung seines schwarzen Audis geht, den man im unbeleuchteten Bereich des Parkplatzes nur erahnen kann. Die Streichelbewegung seines Daumens hallt in meinem Nacken nach und ich schlucke mit leiser Enttäuschung die Aufregung der letzten Sekunden hinunter.

Man streichelt seinen Bro doch nicht, oder? Und vor allem will man ihn nicht küssen. Das ist definitiv neu und war doch sicher nur ein Versehen. Ich hole bewusst einmal tief Luft, setze mich in meinen Wagen und starte den Motor. Kein Grund, in Panik auszubrechen, Lilly. Oder doch?

Kapitel 3

Lilly

»Die Schwierigkeiten wachsen,

je näher man dem Ziel kommt.«

Johann Wolfgang von Goethe

Ich betrete die Wohnung, taste mit zitternden Fingern nach dem Lichtschalter und lasse meinen Blick durch das kleine Wohnzimmer gleiten. Nichts lässt darauf schließen, ob er bereits hier oder noch gar nicht zu Hause gewesen ist. Beiläufig streife ich die Jacke ab und lege sie über einen der Umzugskartons rechts von mir. Wir sind – nein, er ist – erst vor wenigen Tagen in diese Wohnung gezogen, nachdem ihm die letzte Wohnung vom Vermieter gekündigt wurde, weil ... weil sich die anderen Mieter über den Lärm beschwerten, der wiederholt und in immer kürzeren Abständen durch die Wände zu ihnen drang. Schreie – überwiegend meine Schreie.

Ich reibe mir über die Arme, um damit die Gänsehaut abzustreifen, und gehe geradeaus in die Küche. Mechanisch nehme ich mir eins der wenigen bereits ausgepackten Gläser aus dem Schrank und fülle es mit Leitungswasser. Geistesabwesend stelle ich es in die Spüle, ohne einen Schluck zu trinken, stütze mich mit den Händen auf der Arbeitsplatte ab und lehne meine pochende Stirn gegen das kühle Furnier des Küchenschranks. Bitte lass ihn noch nicht hier gewesen sein.

Der Druck in meinem Hals wird stärker und ich spüre die Tränen, die sich einen Weg durch meine geschlossenen Augenlider suchen wollen. Warum nur tue ich mir das an? Was ist in dem letzten Jahr aus mir geworden? Was ist aus uns geworden?

Nein, Lauren, du wirst nicht heulen! Zittrig atme ich ein und lasse die Luft bewusst langsam wieder aus meinem Mund entweichen, um mich zu beruhigen. Von der Küche aus gehe ich ins Schlafzimmer, das so winzig ist, dass nur ein Schrank und das Bett Platz finden. Die Matratze liegt in der Mitte des Gestelles auf dem Fußboden, weil der Lattenrost den Umzug leider nicht überlebt hat. Als Nächstes schleiche ich wieder zurück zur Küche und von dort aus ins Bad. Auch hier lässt nichts erahnen, ob er bereits hier gewesen ist oder nicht. Ich könnte duschen gehen und mir schon einen Schlafanzug anziehen. Aus einem inneren Gefühl heraus will ich aber doch lieber im Wohnzimmer sitzen, wenn er nach Hause kommt – und das angezogen. Ich setze mich auf die Couch, knibble an meinem Fingernagel herum und meine Brust wird gefühlt von Sekunde zu Sekunde enger. Den Blick zur Zimmerdecke gerichtet, fange ich an, die Hubbel auf der Raufasertapete zu zählen, um mich endlich zu entspannen, doch die Übelkeit und das Unbehagen lassen einfach nicht nach. Dieses innere Kribbeln, das einem deutlich sagt, dass etwas passieren wird, steigt stetig an. Nur dass ich sogar ziemlich sicher weiß, was passieren wird, und doch bleibe ich hier. Aber warum? Bin ich mir selbst so wenig wert?

Ich denke an Mom und die Tränen, die ich bisher so erfolgreich unterdrücken konnte, laufen mir über die Wangen. Wenn sie von all dem wüsste ...

Sie vertraut mir, nur deshalb darf ich schon mehr oder weniger bei ihm wohnen. Zwar habe ich mein Schlafzimmer noch bei meinen Eltern, aber nutze es schon seit langer Zeit nicht mehr. Seit gut einem Jahr, um genau zu sein, und in dieser Zeit änderte sich die Beziehung zwischen Jason und mir grundlegend.

Ich stehe auf, gehe zu den vielen gestapelten Umzugskartons hinüber und öffne einen, nur um ihn dann sofort wieder zu schließen. Ruhelos tigere ich zwischen den Kisten und der Couch hin und her. Die Arme vor der Brust verschränkt, knabbere ich dabei an einem meiner Fingernägel und sehe jedes Mal, wenn ich mich umdrehe, auf die Uhr, die über der Eingangstür zur Wohnung hängt. Als würde sie mich verhöhnen, tickt der Sekundenzeiger überlaut und der Ton scheint von Schlag zu Schlag lauter zu werden. Als es bereits nach sieben Uhr ist, setze ich mich, ohne die Tür aus den Augen zu lassen, wieder auf die Couch. Inzwischen denke ich, dass er schon hier gewesen ist und die Wohnung wieder verlassen hat. Vermutlich sitzt er bei seinem Bruder oder einem seiner Saufkumpels, um sich bei ihnen über mich auszukotzen. So wie er es schon oft gemacht hat. Und sie werden ihn in seiner Sicht bestärken, weil sie nur die eine Seite der Geschichte kennen – seine. Meine Meinung interessiert sie nicht.

Ich kann hier nicht still sitzen, um darauf zu warten, dass er endlich durch diese Tür kommt, damit ich es hinter mir habe. Also gehe ich wieder zu den Kartons, öffne den gleichen wie vor wenigen Minuten und fange an, die in Zeitungspapier gewickelten Teller auszupacken. Dabei wandern meine Gedanken zu meinen Freundinnen, oder eher gesagt zu denjenigen, die mal meine Freundinnen waren, bevor er mir verboten hat, mich weiter mit ihnen zu treffen. Meine Freundinnen ... Zuerst wollte er nicht, dass ich irgendwelchen Jungs Hallo sage, wenn er dabei ist, und ich muss zugeben, dass ich das am Anfang sogar noch ganz süß fand. Es zeigte schließlich seine Eifersucht und bewies doch nur, wie sehr er mich liebt. Bitter lache ich auf. Ja genau, wie sehr er mich liebt. Irgendwann gefiel es ihm dann auch nicht mehr, wenn ich Freundinnen grüßte, ganz zu schweigen von Verabredungen am Nachmittag. Vom abendlichen Ausgehen will ich gar nicht erst anfangen.

Ich räume die ausgepackten Teller in die Küche und streiche die Zeitungsseiten glatt, um sie bündeln zu können. Als ich damit fertig bin, sehe ich erneut zur Uhr. Inzwischen ist es kurz nach acht und das nervöse Flattern in meinem Magen steigert sich, wenn überhaupt möglich, noch mehr. Ich gehe wieder zur Couch hinüber und genau in dem Moment, als ich mich hinsetze, klappert etwas im Vorflur. Mein Herz hämmerte mir wild gegen den Brustkorb und ich höre einen Schlüssel, der von außen in das Türschloss geschoben wird. Er kommt nach Hause.


Erschöpft lasse ich mich gegen die Rückenlehne des Schreibtischstuhles fallen und sehe auf den letzten Satz dieses Kapitels. Bilder vom soeben Geschriebenen entstehen vor meinem inneren Auge und ich versinke in Gedanken. Da ist es wieder, das wohlbekannte, aber leider gar nicht angenehme Gefühl von Druck in mir. Als würde ich ein Ventil brauchen, um dieses Gewicht loszulassen, aber ich kann es einfach nicht finden.

Das Piepen des Smartphones lässt mich zusammenzucken – eine Nachricht von Logan. Es ist ein Selfie, auf dem er extra blöd grinst und seinen Daumen nach unten zeigt. Wieder ertönt das Piepen und eine weitere Mitteilung geht ein.


Was meinst du?


Tatsächlich, er hat die roséfarbene Krawatte um. Ich lächle dümmlich und tippe meine Antwort ein.


Du bist so blöd.


Keine halbe Minute später schreibt er zurück und ich muss laut auflachen.


Deswegen magst du mich doch.


Wie der Vorhang vor einer Kinoleinwand werden meine dunklen Gedanken zur Seite geschoben, beinahe so, als könnte Logan mein Ventil sein, und ich schreibe ihm zurück.

Kapitel 4

Logan

»Doch der den Augenblick ergreift,

das ist der rechte Mann.«

Johann Wolfgang von Goethe

Stirnrunzelnd gehe ich den heutigen Terminplan auf dem iPad durch, während der Fahrstuhl mich die fünf Stockwerke von meiner Wohnung bis nach unten in die Firma fährt. In Momenten wie diesem stelle ich immer wieder fest, wie praktisch es ist, in einem Gebäude wie der Sky Screw zu wohnen und zu arbeiten.

Die Türen gleiten auf und sofort flötet Miss Torres los. »Guten Morgen Mister Donovan.«

Mein Blick bleibt kurz an ihren Lippen hängen, mit denen sie ganz bestimmt so einiges anstellen kann, und ich bin sicher, ich müsste sie nicht lange bitten, es mir zu demonstrieren. Ich nicke ihr zu, lege das iPad auf dem Tresen ab und ziehe mein Jackett aus, das ich ihr rüberreiche.

»Gibt es was Neues, oder bleibt der Plan heute so?«, frage ich und nehme das iPad wieder an mich.

»Moment, da kam gerade was rein.« Und schon fliegen ihre schlanken Finger über die Tastatur.

»Wie siehst du denn aus, hab ich dich vorgestern so geschafft?« Mason tritt neben mich und klopft mir auf die Schulter.

»Sie und Mister McLean sind heute zum Mittagessen mit Ihrem Vater verabredet«, fährt Miss Torres dazwischen und nimmt Mason ebenfalls das Jackett ab.

»Aha.« Leicht verwirrt sehe ich ihn an und er zuckt mit den Schultern. »Warum?«, wende ich mich wieder an Miss Torres, die einmal mehr anfängt zu tippen.

»Das steht hier leider nicht.«

»Danke.« Stirnrunzelnd drehe ich mich um und reibe mir mit den Fingern über die Stirn.

»Müde?«

Nachdenklich sehe ich Mason an und realisiere erst dann, dass die Frage wohl für mich bestimmt war. »Geht so, ich war lange wach.«

»Schreibnacht mit Lilly?«, bohrt er weiter, während wir auf die Küche zugehen.

»Woher ...«

»Logan«, unterbricht er mich tadelnd, »Lilly ist mit Amber befreundet und das sind Frauen, die erzählen sich alles.« Er macht eine ausladende Armbewegung. »Jede Wette, dass Lilly sogar weiß, wenn ich mir den Sack mal nicht rasiert hab. Die tratschen doch über nichts anderes als ihre nichtsnutzigen Kerle.« Mason biegt in die Küche ab, unterbricht seinen Aufklärungsversuch aber, weil der Tisch voller Leute ist, die vor Arbeitsbeginn noch einen Kaffee trinken.

Wieder höre ich etliche »Guten Morgen Mister Donovan«, quittiere jeden Gruß mit einem Nicken und denke kurz an den zerlumpten Wackeldackel, den mein Großvater bis zu seinem Tod auf der Hutablage sitzen hatte. Was ist aus dem Ding eigentlich geworden?

Mason reicht mir eine Tasse Kaffee und wir gehen weiter zum Ende des Ganges, an dem sich nur noch Dads, Masons und mein Büro befinden.

»Sag mal, weißt du, was Dad von uns will?«

Mason zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung. Fahren wir zusammen?«

»Klar.« Ich nicke gedankenverloren und gehe zum Schreibtisch, um das iPad abzulegen. Müde lasse ich mich in den Stuhl fallen und reibe mir mit den Handballen über die Augen. Das muss aufhören, ich kann nicht monatelang übernächtigt zur Arbeit kommen.

Kraftlos strecke ich die Arme nach oben, starte den Computer und ziehe das Smartphone aus der Hosentasche. Gewohnheitsmäßig öffne ich den Chat mit Lilly und tippe eine Nachricht, bevor ich mich an die Arbeit mache.


Guten Morgen. Heute steht Mittagessen mit meinem Vater auf dem Plan und ich bin hundemüde. Wünsche dir einen schönen Tag.

»Mister Donovan, wie schön, Sie hier zu sehen«, begrüßt der Mitarbeiter des Empfangs Dad dermaßen überschwänglich, dass ich nur mit Mühe ein Augenrollen unterdrücken kann.

»Mister Donovan, Mister McLean«, wendet er sich danach in ähnlich arschkriechendem Ton an Mason und mich, um uns die Jacketts abzunehmen. »Ich habe Ihnen den besten Tisch ganz am Ende des Saales reserviert. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«

Was er wohl machen würde, wenn ich jetzt Nein sage? Nein, ich will Ihnen nicht folgen.

»Kommst du?«, fragt Mason in meine Richtung und sieht mich erwartungsvoll an. »Vielleicht solltest du heute Nacht mal ein paar Stunden weniger schreiben und stattdessen schlafen. Dein Alter dreht dir irgendwann den Hals um.«

Was soll ich dazu sagen, wenn er doch recht hat? Also folge ich ihm, ohne zu antworten, zu dem ach so tollen Tisch und setze mich Dad gegenüber. Mason setzt sich zu mir.

»Darf ich Ihnen die Karte bringen oder wünschen Sie das Tagesmenü aus ...«

»Wir nehmen dreimal das Tagesmenü, ohne Vor- und Nachspeise. Danke«, unterbricht Dad den schwülstigen Kellner. »Und eine Flasche Wasser bitte.«

Der Kellner verschwindet und Dad dreht sich uns zu. »Schön, dass ihr es spontan einrichten konntet. Wie läuft es bei Millers Security?«, wendet er sich zuerst an Mason und startet mit dem üblichen Small Talk, bevor er damit rausrückt, was er wirklich von uns will.

Mason berichtet ihm, wie er in der Firma vorankommt. Er verkörpert schon seit jeher den Sohn, den Dad sich gewünscht hat, zielgerichtet und ehrgeizig. Wir haben uns im Studium kennengelernt, als wir beide keine so gute Phase hatten. Mason war gerade mit den Eltern nach Queens gezogen, weil sein Dad nach dem Unfall nicht mehr arbeiten konnte, und ich ... Ich war komplett überfordert mit den Leistungsanforderungen, die Dad mir mit der Firma auf die Schultern gepackt hatte. Ich hab nichts ausgelassen, ihn meinen Unmut spüren zu lassen, von übermäßigem Alkoholkonsum, ausufernden Partynächten, mit nach Hause geschleppten Mädels und noch so vielem mehr. Da kam mir ein neuer bester Kumpel aus der dunkelsten Ecke Queens gerade recht. Als Dad dann mitbekam, was in Mason steckt, hat er ihn sofort nach unserem Abschluss eingestellt. Inzwischen ist er nicht nur mein engster Freund, sondern nach mir auch das nächste Glied in der Hierarchie unserer Donovan & Company Unternehmensberater-Kette.

»Logan?«

Ertappt sehe ich zu Dad auf und ziehe die Augenbrauen hoch.

»Ich hab dich gefragt, wie es bei dir läuft«, wiederholt er sich und ich weiß, dass es kaum etwas gibt, was ihm mehr widerstrebt.

»Bestens, ich hab die Akte letzten Freitag geschlossen. Müsste also heute oder morgen bei dir auf dem Schreibtisch liegen.«

Er brummt zufrieden, rückt die Serviette vor sich gerade und platziert das Besteck mittig darauf. »Weswegen ich euch hergebeten habe ...«

Der Kellner kommt mit einer Flasche Wasser zurück und schenkt uns allen ein, während ein zweiter sich dazugesellt, um uns mit den Worten »Gillardeau-Auster mit grünen Erbsen und geröstetem Zwiebelsaft« die Teller hinzustellen.

Scheiße, ist das widerlich, ich glaub, ich muss gleich kotzen. An diesen Fraß, den andere als Delikatesse bezeichnen, werde ich mich wohl nie gewöhnen.

»Gibt es ein Problem?«, fragt der Kellner und Mason neben mir grunzt, weil er versucht, sein Lachen zu unterdrücken.

»Danke, es sieht ganz wunderbar aus«, gebe ich zurück und schiebe die arme Muschel auf den Esslöffel, um sie Mason auf den Teller zu laden. Seinem Mienenspiel nach zu urteilen, will er sie aber auch nicht.

Dad sieht verwundert zwischen uns hin und her, schüttelt sein weises Haupt und setzt erneut an: »Also, weswegen ich euch hergebeten habe.« Er räuspert sich und lockert den Knoten seiner Krawatte. Oha, was kommt jetzt? »Ich möchte mich aus der Firma zurückziehen.«

Ich lasse die Gabel mit den Erbsen auf den Teller sinken, sehe flüchtig zu Mason, der genauso überrascht ist wie ich, und dann zurück zu Dad.

»Hierbei befinde ich mich aber in einem moralischen Dilemma«, fährt er fort und sieht pendelnd von Mason zu mir. »Die Firma sollte ursprünglich an dich gehen ...«

»Ursprünglich?«, unterbreche ich ihn und er hebt die Hände, damit ich ihn aussprechen lasse.

»Dein ... Lebenswandel passt allerdings nicht ganz in das Bild, das ich für den zukünftigen Inhaber von Donovan & Company im Sinn habe.«

»Wie bitte?«

Dad achtet auf die am Nebentisch sitzenden Leute, die sich aufgrund meiner Lautstärke zu uns umgedreht haben, und lächelt ihnen entschuldigend zu. »Ich bin immer davon ausgegangen, dass du irgendwann mal heiraten und Kinder in die Welt setzen willst, stattdessen ...«

»Ich bekomme die Firma nicht, weil ich keine Familie habe?« Ich lache bitter auf. »Bist du schon mal auf die Idee gekommen, dass das eventuell daran liegen könnte, dass ich mich seit über zehn Jahren in jeder freien Minute für diese beschissene Firma krumm gemacht habe?«

Wieder drehen sich andere Gäste zu uns um und der Kellner neben dem Tisch sieht beschämt aus dem bodentiefen Fenster.

»Mäßige deinen Ton!«, ermahnt Dad mich und ich fange an zu lachen. Etwas hysterisch vermutlich, aber was soll ich auch sonst tun?

»Du kannst mich mal«, fluche ich und stehe so ruckartig auf, dass der Stuhl mit einem lauten Quietschen über den Boden schabt.

»Setz dich sofort wieder hin, ich bin noch nicht fertig.« Dad deutet auf den Stuhl und Mason hält mich am Arm zurück.

»Komm schon, setz dich wieder hin.«

Ich verschränke die Arme vor der Brust und sehe auf Dad herab. »Was folgt deiner Rede denn noch? Welcher deiner Angestellten entspricht dem Idealbild vom Familienmenschen, der trotzdem ununterbrochen arbeitet?«

»Mason«, antwortet er trocken.

Okay, jetzt muss ich mich wirklich wieder hinsetzen.

»Ähh.« Mason hebt abwehrend die Hände. »Das stand nie zur Debatte.«

Es gibt jetzt zwei Optionen: Den Teller quer durch den Saal werfen oder mir die inzwischen kalten Erbsen reinschaufeln, damit ich nichts sagen kann, was mir hinterher leidtun würde. Ich entscheide mich für Option zwei und fange an zu essen. Dabei spüre ich die erwartungsvollen Mienen von Dad und Mason auf mir, doch das ist mir scheißegal.

»Mir ist nicht entgangen, dass du seit einigen Monaten ständig übermüdet zu sein scheinst. Ich will mir gar nicht ausmalen, was du nächtelang treibst, dass dem so ist.«

Ich hebe den Blick, sehe ihn ungerührt an und schiebe mir dann eine weitere Gabel Erbsen in den Mund. Würde ich es nicht tun, müsste ich ihm entgegenspucken, was mir auf der Zunge liegt. Nämlich, dass es ihn einen verdammten Scheißdreck angeht, was ich nachts treibe.

»Das ist doch aber noch nicht beschlossen. Ich meine ...« Mason sieht von mir zu Dad. »Es war immer klar, dass ich Logans rechte Hand werde, aber nie, dass es umgekehrt sein könnte. Ich bin da ehrlich gesagt auch etwas überrascht.«

»Nein, das ist es natürlich nicht. Nach wie vor würde ich mir wünschen, dass Logan in meine Fußstapfen tritt, schließlich würde er damit die dritte Generation der Donovans in der Firma verkörpern.«

Hellhörig lege ich die Gabel doch wieder beiseite und spüle die Erbsen mit etwas Wasser runter.

»Zwölf Wochen, so lange gebe ich dir, um dein wildes Junggesellendasein zu ordnen. Danach reden wir weiter.«

»Bitte? Soll ich dir in drei Monaten eine Heiratsurkunde vorlegen oder was?« Ungläubig lache ich auf.

»So hat er das nicht gemeint«, mischt Mason sich ein und wendet sich an Dad. »Oder?«

Der Alte sagt kein Wort, aber so einfältig wie er mich ansieht, wäre das tatsächlich das Nonplusultra seiner Idealvorstellung.

»Jetzt wirds mir wirklich zu dumm.« Energisch wische ich mir mit der Serviette über den Mund und verlasse ohne ein weiteres Wort das Restaurant. Mason, der mir sofort gefolgt sein muss, ruft mir hinterher: »Ich wusste das nicht, Mann. Natürlich würde ich das niemals annehmen.«

Dankbar klopfe ich ihm auf die Schulter. »Das weiß ich doch.«

Eine halbe Stunde später halte ich den Wagen vor der Sky Screw, lasse Mason aussteigen und ziehe spontan mein Smartphone aus der Hose. Lilly hat mir zurückgeschrieben.


Mittagessen mit deinem Dad? Hast du was angestellt? Ich denke an dich.


Ich lese den letzten Satz ein zweites Mal und spüre, wie ich zusehends wieder runterkomme. Wieso ist sie in so einem Moment die Erste – nein, die Einzige –, an die ich denke und der ich sofort alles erzählen will? Ich tippe eine Antwort:


Mittagessen überstanden. War nicht so toll.


Sie liest die Nachricht sofort und nur Sekunden später kommt ihre Antwort.


Willst du darüber reden?


Will ich das? Ja, aber nicht so, wie wir das typischerweise tun. Eigentlich würde ich jetzt drauflostippen, aber ich denke, nach all den Monaten ist genau in diesem Moment genug mit Textnachrichten.


Ja. Ich bin auf dem Weg zu dir.

Kapitel 5

Lilly

»Es ist schwerer, Gefühle, die man hat,

zu verbergen, als solche,

die man nicht hat,

zu heucheln.«

François VI. Duc de

La Rochefoucauld

»Heilige Scheiße, was?« Ohne zu überlegen, renne ich ins Schlafzimmer und rupfe mir auf dem Weg das Shirt über den Kopf. Hastig ziehe ich die Jogginghose aus, werfe sie auf das Bett und reiße die Schranktüren des Kleiderschranks auf. Was soll ich denn jetzt anziehen? Warum kommt er hierher?

Er kommt hierher, zu mir nach Hause, oh mein Gohott. In einem Anflug leichter Hysterie quieke ich laut auf und hüpfe auf der Stelle. Reiß dich zusammen und zieh dich an. Obwohl ... wenn ich ihm gleich geschniegelt die Tür aufmache, denkt er nachher noch, ich hätte mich extra für ihn zurechtgemacht. Skeptisch sehe ich zu dem pinken Stofffetzen auf meinem Bett. Die Kunst besteht darin, nicht extrem aufgetakelt auszusehen, aber auch nicht nach lebendigem Putzlappen. Entschlossen ziehe ich die dunkelblaue Jeans und ein weißes Shirt aus dem Schrank. Ein dürftiger Kontrollblick in den Spiegel und ich befinde es als okay. Haut mich nicht um, aber besser als vorher. Schuhe brauche ich nicht, würde ich beim Schreiben doch nie tragen. Die komischen Lammfelltreter gegen meine chronisch kalten Füße lasse ich wohl wissend aber auch weg.

Die Klingel schickt den halb verendeten Vogel jammernd durch die Wohnung. Scheiße, ist er das schon? Und was noch wichtiger ist, hat der jetzt meine Designerklingel gehört? Ist ja schon irgendwie peinlich.

Ich flitze ins Bad vor den Spiegel, kämme mir die Haare notdürftig mit den Fingern durch und kneife mir in die Wangen, um etwas nicht vorhandene Farbe vorzutäuschen. An der Wohnungstür atme ich noch einmal tief durch, damit ich aufhöre, zu schnauben wie ein Walross, schließlich bin ich doch total cool. Noch einmal das Shirt glatt streichen und ich ziehe die Tür auf. »Hey.«

Oh Himmel ... Logan steht mit den Händen in den Taschen vor mir und mein Blick wandert über seine schwarze Anzughose und das anthrazitfarbene Hemd. Die oberen drei Knöpfe stehen offen und er hat die Ärmel etwas hochgekrempelt, was seine sehnigen Arme freilegt. Nicht vergessen: Mund zu, keinesfalls sabbern und woanders hinsehen. Ich weiß aus den unzähligen Nachrichten, dass er regelmäßig Sport treibt, und wie von selbst schießt mir durch den Kopf, dass ich nur allzu gerne mal das komplette Resultat seiner Bemühungen sehen würde.

»Darf ich reinkommen?«

Ich zucke zusammen und merke, wie meine Wangen heiß werden. Demnach hätte ich mir das Kneifen für eine gesunde Gesichtsfarbe auch sparen können.

»Klar, komm rein.« Ich trete zur Seite, um ihn durchzulassen. Wenn er nicht total beschränkt ist, was ich aus besserem Wissen ausschließe, hat er mein Angegaffe sicher bemerkt. Komm mal wieder runter, Lilly.

Ich will ihm voran in die Küche gehen und stelle mit Erschrecken fest, dass die Schlafzimmertür noch weit offen steht. Nicht, dass das für mich an sich ein Problem wäre, der getragene und vor allem unansehnliche Slip Marke Feinripp auf dem Fußboden ist es aber sehr wohl. Mit einem Satz springe ich zur Tür, ziehe sie mit einem lauten Knall zu und drehe mich grinsend wieder zu ihm um.

»Da rein!«, weise ich ihn an und deute in die Küche, während mein Herz wie verrückt bollert. Er geht lachend voran, woraufhin ich mich kurz an die Schlafzimmertür lehne und den Kopf hängen lasse. Kann man sich noch viel blöder anstellen?

»Möchtest du was trinken? Kaffee?«, frage ich, als ich die Küche betrete und sehe, dass er die vielen Fotos ansieht, die über dem Tischende an der Wand hängen.

»Wenn es dir keine Umstände macht.« Er lächelt und sieht dann wieder auf die Bilder. »Das hier ist von den Anfängen unserer Tanzeinlagen, oder?«

Ich sehe zu dem Bild, auf das er zeigt, darauf sind er und ich abgebildet, wie wir uns verzweifelt ansehen. Toll, jetzt sieht er also auch noch, dass ich Fotos von ihm – von uns – in der Küche hängen habe. Wie so eine psychotische Stalkerin, die sich einen Schrein ihres Opfers aufbaut. »Ja, Heather hat es beim ersten oder zweiten Treffen geschossen.«

»Dafür, dass wir so talentfrei waren, klappt es mittlerweile doch ganz gut.«

Ein schrilles Lachen jault durch den Raum, sodass Logan sich erschrocken zu mir herumdreht. War ich das? Ich bin nicht mehr ich selbst! Verdammt, er wollte mich letztes Mal fast küssen und jetzt führen wir Small Talk. Und überhaupt, kann er sich nicht endlich hinsetzen und aufhören, die Fotos anzugaffen? Amber hat mal ein Bild von mir und Logan mit Photoshop bearbeitet. Darauf wirkt es, als würden wir uns schmachtende Blicke zuwerfen, alles ist voller roten Herzen und sie hat zwei Sprechblasen eingefügt, in denen wir uns unsere Liebe gestehen. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich es an die Wand gehängt oder doch irgendwo anders hingelegt habe. In meine Nachttischschublade als Masturbationsvorlage. Kopfschüttelnd kümmere ich mich wieder um den Kaffee. Wenn er das Foto entdeckt ... Dann sieht er vermutlich zu, dass er möglichst schnell, möglichst weit wegkommt.

»Milch, richtig?«, frage ich nach und stelle eine Tasse vor ihn auf den Tisch. Hoffentlich versteht er die Botschaft und setzt sich endlich hin.

»Ja.«

Na bitte, geht doch. Ich platziere mich ihm gegenüber und drehe an meinem Fingerring. Er lächelt, ist aber offenbar genauso befangen wie ich. Siedend heiß fällt mir ein, dass wir noch nie alleine gewesen sind, außer vielleicht für wenige Minuten im Auto, wenn er mich nach Hause gebracht hat. Logan weiß zwar bald mehr von mir als meine beste Freundin und wenn ich ihm glauben darf, ist es umgekehrt genauso, doch das alles ist immer nur schriftlich abgelaufen. Und so langsam, nun ja ... irgendwer sollte jetzt wirklich was sagen. »Also, wie war das Essen mit deinem Dad?«

Als wäre damit eine Schleuse geöffnet worden, fängt Logan an zu erzählen. Er beginnt beim Eintreffen im Restaurant, redet über nicht vorhandene Zukunftspläne seinerseits, die Drohung seines Dads, die Firma an Mason weiterzugeben, und schließlich seinen Abgang.

»Am liebsten hätte ich ihm die scheiß Auster in den Hals gestopft«, beendet er seinen Monolog und ich beiße mir auf die Lippen, um nicht aufzulachen. Er bemerkt es natürlich trotzdem und seine Mundwinkel zucken.

»Und, was hast du stattdessen gemacht?«

»Erbsen gegessen.«

Ich sehe ihn sprachlos an und fange dann lauthals an zu lachen. Bei Logan hören sich viele Dinge immer unfreiwillig komisch an. Es kommt ihm so trocken über die Lippen – oder die Tastatur –, dass ich mich regelmäßig köstlich darüber amüsiere. Auch wenn es zugegebenermaßen ein wenig auf seine Kosten ist.

»Freut mich, dass dich das aufmuntert«, bemerkt er und ich kann das Lächeln ablesen, das sich um seinen Mund formt, welches er aber zu unterdrücken versucht.

»Und was willst du jetzt tun?«, frage ich, nachdem ich mich wieder einigermaßen gefangen habe.

»Was soll ich schon machen?« Er zuckt mit den Schultern und sieht erneut zu den Fotos. Hat er ein Problem mit seiner Aufmerksamkeitsspanne, dass er sich immer wieder davon ablenken lassen muss?

Ich stehe auf, um uns, ohne ihn zu fragen, einen zweiten Kaffee zu machen. Nach und nach entspannt sich die Situation und ich will nicht, dass er schon wieder geht. Wer weiß, wann wir dann wieder Gelegenheit haben, in Ruhe beisammenzusitzen. Und zum Teufel, er riecht so verdammt gut. Am liebsten möchte ich an seinen Haaren schnuppern, so wie ich es bei Büchern mache, weil ich den Geruch so unbeschreiblich toll finde. Nein, eigentlich möchte ich mich doch lieber über ihn hermachen und meine aufgestauten Gelüste an ihm befriedigen. Aber das würde dann auch irgendwie komisch rüberkommen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739484860
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Februar)
Schlagworte
Liebesroman Millionär Leidenschaft Liebe Erotik Humor Vertrauen Horror Erotischer Liebesroman

Autor

  • Mia B. Meyers (Autor:in)

Mia B. Meyers schreibt (Chick-Lit) Liebesromane und veröffentlichte mit Dark Side of Trust ihr Debüt, das am 12.01.2016 bei Amazon erschienen ist. Ihr Wunsch ist es, ihre Leser einen Moment lang aus ihrem Alltag in ihre Geschichte zu ziehen. Dafür zu sorgen, dass Bilder in den Köpfen der Leser entstehen. Wenn sie das schafft, hat sie mehr erreicht, als sie je zu träumen gewagt hat.
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Titel: Reset Me