»Mache das,
wovor du am meisten Angst hast –
und du verlierst sie.«
Mark Twain
»Was ihr am meisten Schmerzen bereiten wird, sind die gebrochenen Rippen. Ihre Tochter sollte für ein paar Tage hierbleiben.«
Ihre Tochter, das bin ich, und nein, nicht meine Rippen sind das, was am meisten schmerzt ... Wie es dazu kommen konnte? Wenn ich mir das doch nur selbst irgendwie erklären könnte. Ich weiß nicht einmal, wo genau ich anfangen soll. Oder doch, vielleicht heute, nur viel früher an diesem Abend:
»Ich muss nur noch einmal in die Post, dann setze ich dich bei ihm ab«, erklärt Mom, während sie den Wagen schon in eine Parklücke lenkt und den Motor abstellt. Blind fischt sie nach einigen Briefen auf dem Rücksitz, öffnet mit einem »Bin gleich wieder da« die Fahrertür und steigt aus.
Mein Blick klebt unterdessen auf der Uhr im Wageninneren und ich bilde mir ein, immer dann ein lautes Tosen zu hören, wenn die letzte Zahl der Anzeige sich wieder eine Minute vorstellt. So laut, dass Moms letzte Worte kaum zu mir durchdringen, dennoch nicke ich geistesabwesend und sehe aus dem Seitenfenster auf das leuchtende Reklameschild der Postfiliale.
Ein unangenehmes Kratzen kriecht mir über die Arme, in die Hände bis zu den Fingerspitzen, sodass ich diese durchknete, um das mulmige Gefühl darin zu vertreiben. Automatisch wandert mein Blick wieder auf die Digitalanzeige der Uhr, schon fünf Minuten nach sechs. Ich lehne den Kopf gegen die Kopfstütze und schlinge die Arme um mich selbst. Vielleicht sollte ich zu Jason laufen? Zu Fuß sind es keine fünf Minuten von hier. Aber wie sollte ich Mom erklären, dass ich einfach ausgestiegen und zu ihm nach Hause gelaufen bin? Nach Hause ... Nein, dort ist nicht mein Zuhause, mein Zuhause ist bei Mom und Dad. Warum nur fahre ich dann nicht einfach mit ihr?
Immer ruheloser reibe ich die schwitzigen Handflächen über meine Oberarme. Wo bleibt sie denn?
Ich sehe einmal mehr zur Eingangstür der Filiale, als sich zeitgleich die Wagentür öffnet und Mom wieder einsteigt. Die kühle Winterluft von draußen dringt ins Wageninnere und einen kurzen Atemzug lang stellt sich so etwas wie Erleichterung ein, dass es endlich weitergeht. Leider jedoch viel zu kurz, um diesen Moment wirklich wahrnehmen zu können. Mom sieht mir forschend ins Gesicht, startet dann aber den Motor und steuert aus der Parklücke heraus. Hin und wieder glaube ich, sie ahnt etwas. Sicher nicht das, was es letztendlich tatsächlich ist, aber doch irgendwas. Sie mag Jason nicht, keiner aus meiner Familie tut das. Connor, mein älterer Bruder, bemüht sich zwar, aber ich weiß, dass er dies nur für mich tut. Und mein Dad, der wird aller Voraussicht nach nie einen Mann mögen, den ich ihm vorstelle. Für ihn bin ich trotz meiner achtzehn Jahre immer noch sein kleines Mädchen. Der Gedanke lässt mich lächeln und ich sehe zu Mom, deren Blick sich geradewegs tief in mein Innerstes bohrt. Das mir inzwischen leider viel zu bekannte Brennen baut sich hinter meinen Lidern auf, doch ich dränge es zurück und lächle Mom stattdessen künstlich an.
Wie versteinert sehe ich zurück durch die Windschutzscheibe auf die Straße, wobei ich mit meinem Blick noch einmal die Uhrzeit streife – es ist beinahe zehn nach sechs. Innerlich aufgewühlt schließe ich die Augen und wünsche mir, dass Jason sich ebenso wie ich verspätet. Es sind doch nur lächerliche zehn Minuten.
Früher habe ich nicht viel geweint, warum auch, es gab kaum Gründe dafür, aber jetzt ... Dabei würde nur ein einziges Wort zu meiner Mom reichen und all das wäre zu Ende.
Wir fahren einmal um den Block und ich suche schon einmal den Haustürschlüssel aus der Handtasche, damit es gleich schnell geht. Zu Fuß wäre ich sicher schneller gewesen. Als wir endlich in der Straße ankommen, in der Jason wohnt, sehe ich schon von Weitem, dass es hinter den beiden Fenstern des Wohnzimmers dunkel ist. Entweder er verspätet sich also tatsächlich, oder aber ... oder aber er ist wütend wieder verschwunden, weil ich nicht pünktlich war.
Ich stütze die Ellenbogen auf dem Schreibtisch ab, vergrabe mein Gesicht in den Händen und atme hörbar aus. Kann ich das so schreiben? Müde reibe ich mir über die vom Bildschirm brennenden Augen und spreize die Mittelfinger von den Ringerfingern ab, um zwischen ihnen hindurch auf den Monitor zu sehen. Ich starre emotionslos auf die letzten Passagen des Textes, die mit der Zeit konturlos ineinander verschwimmen, bis das leiernde Jaulen der Klingel mich zusammenzucken lässt. Das, was irgendwann mal eine einladende Melodie ergab, ist inzwischen nur noch ein kurzes Aufflackern eben dieser, bevor es dann in einem schwer einzuordnenden Ton endet. Klingt wie auf einen verendeten Vogel getreten – nicht dass ich wüsste, wie sich so was anhört.
Unwillkürlich sehe ich zum oberen Bildschirmrand. Scheiße, so spät ist es schon? Ich lasse den iMac runterfahren und sprinte, so leise es mir möglich ist, an der Haustür vorbei in Richtung Schlafzimmer.
»Lilly!«, höre ich Heathers vorwurfsvolle Stimme dumpf erklingen. »Sag nicht, du bist noch nicht fertig?« Sie bollert so energisch gegen die Wohnungstür, dass sich tatsächlich ein kleiner Spalt zwischen Türblatt und Rahmen bildet. Erstaunt zucke ich mit dem Kopf zurück, stelle mich auf Zehenspitzen und tippele weiter an der Tür vorbei.
»Ich kann dich und deine hässliche pinke Jogginghose durch das Milchglas erkennen. Mach sofort die Tür auf!«
Ich schürze die Lippen, sehe an mir hinunter und lasse die Schultern sinken. Was solls? Mit meinem Beste-Laune-Lächeln reiße ich die Tür auf und schaffe es trotz Heathers gerunzelter Stirn, weiter zu grinsen. »Hey, was machst du denn schon hier?«
»Das ist nicht dein verdammter Ernst, Lillian McAllister!«, poltert sie los und rammt sich an mir vorbei in die Wohnung. Gewohnheitsmäßig lässt sie ihre Handtasche von der Schulter gleiten, sodass diese auf den Fußboden plumpst, und geht nach links in die Küche.
Mechanisch kicke ich die Tasche an die Seite und folge ihr. »Vielleicht solltest du nicht so viel Zeit mit Cole verbringen, sein Gossenjargon färbt langsam auf dich ab.«
Heather nimmt zwei Tassen aus einem der Küchenschränke und sieht über die Schulter zu mir. »Was, wenn ich dir sage, dass Cole und ich immer noch in der Phase sind, in der wir nicht sonderlich viel reden. Du weißt schon ...« Sie wackelt mit den Augenbrauen und ich schüttle lachend den Kopf.
»Erspar mir die Details.« Cole ist mein Bruder und da muss ich nun wirklich nicht alles wissen. Nachdem er und Heather monatelang umeinander herumscharwenzelt sind, haben sie es zur Freude aller endlich geschafft, ein Paar zu werden. Wenn ich allerdings bedenke, was in diesen knapp zehn Monaten alles passiert ist, zieht sich mein Magen noch immer unangenehm zusammen. Aber das ist eine andere Geschichte, an die wir alle nicht mehr denken wollen.
Die ehemalige Personalchefin einer renommierten Bank und ein Cop, der mehr Schimpfworte in seinem Wortschatz hat als Eminem. War ja vorauszusehen, dass das abfärben würde.
»Gehe ich recht in der Annahme, dass du wieder nur kurz am Computer gesessen hast?«, fragt sie und deutet mit den Fingern Gänsefüßchen in der Luft an.
»Mmhh«, brumme ich und schiebe mich auf einen der zwei Barhocker. Heather kennt mich inzwischen einfach zu gut.
Sie stellt mir eine Tasse Kaffee auf den Tisch und die zweite unter die Düse des Vollautomaten. »Was schreibst du gerade?«
Ich gieße mir Milch in den Kaffee und überlege, von welchem der sieben angefangenen Manuskripte ich ihr erzählen soll. »Ich probier mich gerade an was Neuem.«
»Okay.« Sie setzt sich mir gegenüber, stellt ihre Tasse ab und nimmt mir die Milch weg. »Und woran?«
»Wenn ich mir sicher bin, was es wird, bist du die Erste, die es erfährt«, gebe ich zurück und zwinkere ihr zu. Heather und ich haben uns schon von Anfang an gut verstanden, aber erst, seit sie mit Cole zusammen ist, ist sie mir zu einer guten Freundin geworden. Inzwischen gibt es kaum noch etwas, das sie nicht von mir weiß, und wenn ich sie über die Story anflunkere, würde sie mich direkt durchschauen.
»Dann trink den Kaffee und zieh dich um. So willst du ja wohl nicht los.« Sie deutet mit dem von der Tasse abgespreizten kleinen Finger auf meine Hose und nimmt einen Schluck. »Nach der Manhattan Mall können wir uns auch gleich noch einen Termin holen, um uns die Haare hochstecken zu lassen.«
In genau einer Woche werden Mason, der beste Freund von Cole, und Amber, die beste Freundin von Heather, sich das Ja-Wort geben. Wäre ja auch nicht weiter schlimm, wenn Heather und ich denn schon etwas zum Anziehen vorweisen könnten. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir beide schon längst ein Kleid, aber Heather war sich sicher, bis zum Stichtag noch mindestens fünf Kilo abzunehmen. Meinem Augenmaß nach zu urteilen, hat sie die besagten Kilos eher zugenommen, was ich natürlich niemals laut aussprechen würde. Zumal Cole sie anfänglich gerade wegen ihrer Rundungen so anziehend fand. Seine Marilyn, wie er sie liebevoll nennt. Bei dem Gedanken, wie sehr sie ihm den Kopf verdreht hat, muss ich lächeln. Irgendwie sind jetzt alle mehr oder weniger unter der Haube, Mason und Amber, Cole und Heather, Riley, der nächste in der Männerrunde, und seine Sekretärin Marissa. Obwohl mir bei den beiden noch nicht ganz klar ist, worauf es hinausläuft. Bleiben demnach nur noch Logan und ich übrig und da weiß ich ziemlich genau, was das ist. Für ihn bin ich Coles kleine Schwester, die im Laufe der letzten Monate irgendwie zu seinem Best Buddy mutiert ist. Ich weiß noch genau, wie ich als Sechzehnjährige schmachtend in meinem Zimmer stand und ihn durch den Türspalt beobachtete.
»Träumst du schon wieder von ...« Heather presst als Antwort auf meine Miene die Lippen aufeinander, schafft es aber nicht, ihr dummes Grinsen zu unterdrücken.
»Ich zieh mir eben was anderes an.« Mit diesen Worten rutsche ich vom Hocker und gehe ins Schlafzimmer. Ohne zu duschen, schlüpfe ich in ein dunkelblaues Carmenshirt, das die Schultern freilässt, meine Destroyed Jeans, die ich bis über die Knöchel hochkrempele, und meine geliebten Louboutins. Als ich vor eineinhalb Jahren mein erstes Buch veröffentlicht habe, waren sie das Erste, was ich mir von dem Verdienst geleistet habe. Eigentlich viel zu teuer, um sie anzuziehen, aber auch viel zu schön, um sie im Schrank verstauben zu lassen. Prüfend mustere ich mein Spiegelbild und schürze die Lippen. Die Hose hat aber auch schon mal lockerer gesessen, oder? Kann es wirklich sein, dass der Arsch vom vielen Sitzen am Schreibtisch breiter wird? Vielleicht platzen durch das Gewicht, das darauf lastet, die Fettzellen im Hintern auf und wirken dadurch noch gewaltiger als ohnehin schon? Ich werde das googlen, ich google so gut wie alles.
»Bist du so weit?«, ruft Heather und betritt zeitgleich das Schlafzimmer.
»Ja, von mir aus können wir los.« Eilig binde ich meine hellblonden, welligen Haare zu einem unordentlichen Knoten am Oberkopf zusammen und strecke die Hände in die Höhe. »Tada.«
Heather setzt sich auf das ungemachte Bett und ich sehe dank des Spiegelbildes, dass sie sich in Richtung Nachttisch beugt.
»Logan hat geschrieben«, kommentiert sie das Aufleuchten meines Handydisplays. Ruckartig drehe ich mich um, reiße das Smartphone an mich und sehe sie ärgerlich an. Dann öffne ich die Nachricht:
Guten Morgen, viel Spaß mit den Mädels. Ich freu mich, dich morgen Abend zu sehen.
Ich grinse dümmlich und höre sofort damit auf, als ich merke, dass Heather mich achtsam mustert. »Wie lange wollt ihr eigentlich noch so weitermachen?«
Genervt, weil ich es nicht zum ersten Mal höre, schnappe ich mir meine Handtasche vom Stuhl neben dem Bett. »Keine Ahnung, was du meinst. Können wir dann?«
»Sag mal, kann es sein, dass ich immer fetter werde?« Heather steht inmitten eines Halbkreises aus Spiegeln und sieht Marissa und mich fragend an.
Mein Blick wandert an dem blassblauen Abendkleid herunter und bleibt an ihren Brüsten hängen. »Ehrliche Antwort oder lieber eine nette?«
Sie stemmt ihre Hände in die Hüften und stopft ihren Busen dann tiefer in den Ausschnitt. »Manchmal merkt man wirklich, wessen Schwester du bist.«
Ich zwinkere Marissa zu und gehe wieder in die Umkleidekabine, um das nächste Kleid anzuprobieren. Als Brautjungfern müssen wir drei uns auf eins der Modelle einigen, die Amber für uns ausgesucht hat. Zuerst sollten nur Heather und Cole Trauzeugen sein, aber vor vier Wochen kamen wir anderen dann irgendwie auch noch dazu. Am Haken vor mir hängen noch neun weitere Kleider, die darauf warten, angezogen zu werden. »Was für eine selten grässliche Farbe«, rede ich mit mir selbst und ziehe den Albtraum in Schweinchenrosa über.
»Ach du scheiße, da zeigt sich ja jede Cellulitedelle«, kommt es fluchend aus Marissas Kabine und Heather schimpft über etwas, das ich nicht verstehen kann.
»Das hat bestimmt ein Mann entworfen«, mische ich mich ein. »Jede Frau wüsste, dass der dünne Stoff erbarmungslos ist.«
Ich trete erneut aus der Umkleide hervor und stelle mich in die Mitte der Spiegel. Oha ... Das Licht hier draußen macht es sogar noch schlimmer.
»Dein Arsch war aber auch schon mal kleiner«, kommentiert Heather schnippisch und ich muss lachen.
»Das geht ja mal gar nicht«, kommt es von Marissa, als sie aus ihrer Kabine tritt, und so sind wir uns zumindest in dieser Sache einig. Also auf ein Neues.
Ich packe das nächste Kleid aus der Schutzhülle und lasse die Finger über den zarten Stoff des weit schwingenden Rockes gleiten. »Wow.« Eilig ziehe ich es über und merke sofort: Das ist es. Das hochgeschlossene, ärmellose Oberteil besteht aus einer Art weißen Spitze, obwohl es keine ist. Es sieht eher aus wie unzählige, übereinandergelegte Bänder, ist jedoch nicht durchsichtig. Ab der Taille läuft es in einem weiten roséfarbenen Rock aus. Es wirkt edel, aber nicht pompös. Zurückhaltend, aber besonders, genauso wie es sich für eine Brautjungfer gehört.
Ich schiebe den Vorhang auf und sehe zu den beiden anderen, die sich im gleichen Kleid vor den Spiegeln hin und her drehen, sodass der leichte Stoff mitschwingt.
Heather bemerkt mich und ihre Augenbrauen schießen anerkennend in die Höhe. »Ziemlich vorteilhaft, um deinen Arsch zu verbergen.«
Ich deute auf ihre Oberweite. »Es ist sogar deinen Möpsen gewachsen.«
Sie grinst mich an und dreht sich zu Marissa. »Was meinst du, haben wir unser Kleid gefunden?«
Die bejaht mit verträumtem Lächeln und damit erübrigt sich die Anprobe der restlichen Sachen. Ein Glück.
Im gleichen Moment kommt die Verkäuferin mit einem Tablett voller Sektgläser und nickt uns anerkennend zu. »Als Miss West die Kleider auswählte, war dieses Stück auch mein Favorit. Wie ich sehe, haben Sie sich entschieden?« Ohne eine Antwort abzuwarten, reicht sie jeder von uns ein Glas und wir stoßen gemeinsam an. »Dann kann ich den Trauzeugen Bescheid geben, dass ihre Krawatten roséfarben sein werden.« Damit verschwindet sie und mir fällt ein, dass ich Logan noch gar nicht geantwortet habe.
Umgehend hole ich mein Smartphone aus der Handtasche und tippe eine kurze Nachricht.
Hey, deine Krawatte wird rosé.
Keine Minute später antwortet er.
Schick mal ein Foto, ich bin neugierig.
Wie schafft er es nur, mich mit den einfachsten Textnachrichten immer wieder zum Grinsen zu bringen? Was ist das hier mit uns? Ein Teil von mir will es unbedingt wissen. Der andere, weitaus größere Teil will aber genau das aus Angst vor meiner eigenen Reaktion ganz und gar nicht.