Lade Inhalt...

Semmelweis, Alzheimer und der älteste Mensch der Welt

33 kurze Ausflüge in die Geschichte der Medizin

von Werner Thelian (Autor:in)
340 Seiten

Zusammenfassung

Eine Fülle interessanter, aber auch aufregender und spannender Momente in der Geschichte der Medizin. Mit 31 historischen Abbildungen. Der Autor und Journalist Werner M. Thelian führt den Leser zu bedeutenden Augenblicken, Abschnitten und Meilensteinen in der Geschichte der Medizin. Der Faden reicht von Hippokrates von Kos, dem „Stammvater“ aller Ärzte, über Galen, Paracelsus, den unerschrockenen Anatomen Andreas Vesal und viele andere bis zu Louis Pasteur, Robert Koch, Alois Alzheimer, Sigmund Freud und zur ersten erfolgreichen Herztransplantation. Aber auch abseits von Bazillen, Infektionen und Herzoperationen könnte es ziemlich aufregend werden. Dann nämlich, wenn der österreichische Gerichtsmediziner Eduard von Hofmann gewiefte Mörder überführt, Brandopfer identifiziert und dem österreichisch-ungarischen Thronfolger doch noch ein christliches Begräbnis ermöglicht. Unterdessen ist sein schottischer Kollege Joseph Bell sogar "Jack the Ripper" auf der Spur. Immer wieder zeigt sich, dass die Geschichte der Medizin nicht bloß eine Angelegenheit von Ärzten, Patienten und Studenten ist. Dem malenden und forschenden Universalgenie Leonardo da Vinci, der englischen Pocken-Bekämpferin Lady Wortley Montagu und der amerikanischen Journalistin Nellie Bly sind ebenso einzelne Kapitel und Ausflüge gewidmet wie Vincent van Gogh und dem ältesten Menschen der Welt. Abgerundet wird das Buch mit einem komprimierten Überblick über die letzten fünfhundert Jahre Medizin.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

W. M. Thelian

 

Semmelweis,

Alzheimer

und der älteste Mensch

der Welt

 

33 kurze Ausflüge

in die Geschichte der Medizin

 

 

***

 

wmtbooks

1. Auflage 2017

Mag. Werner M. Thelian
Rossmarkt 5, 9400 Wolfsberg

 

1. Wovon die Rede ist

 

Ich möchte die Leserinnen und Leser dieses Buches einladen, mich auf den einen oder anderen Ausflug in die Vergangenheit zu begleiten. Das gesamte Angebot besteht aus über dreißig »Touren«, von denen jede etwas mit der Geschichte der Medizin zu tun hat. Ich habe mich bereits vorab an allen Ausflugszielen umgesehen und dabei tage-, oft wochen- und manchmal sogar monatelang recherchiert, um ein zumindest passabler und zuverlässiger Reisebegleiter zu sein.

Die Ausflüge sind allesamt nicht beschwerlich, obwohl fast jeder davon ziemlich weit in die Vergangenheit führt; aber schließlich reisen wir ja in Gedanken. Keinesfalls aber – so viel kann ich schon jetzt versprechen – wird es in irgendeiner Weise gefährlich für uns werden. Wir brauchen also nicht zu fürchten, uns irgendwo zwischen den Seiten dieses Buches mit den Pocken, der Tuberkulose oder einer anderen schlimmen Krankheit anzustecken, einen Unfall zu erleiden oder einem Verbrechen zum Opfer zu fallen. Allerdings möchte ich nicht verschweigen, dass es durchaus vorkommen kann und wird, dass wir auf unseren Streifzügen Zeugen solcher und ähnlicher Vorfälle werden. Immerhin geht es ja um wichtige Momente und Ereignisse der Medizingeschichte, und Meilensteine und Wendepunkte kommen nur in den seltensten Fällen ohne reale Anlässe aus.

Natürlich ist es nicht notwendig, gleich das gesamte Programm mit allen dreiunddreißig Ausflügen zu absolvieren. Man kann ganz nach Interessenslage, Lust und Laune seine persönliche Auswahl treffen, wobei die Reihenfolge, für die man sich entscheidet, nicht wirklich eine Rolle spielt. Andererseits kann es aber auch nicht schaden, mit dem Anfang zu beginnen und mich zunächst an die beiden zeitlich am weitesten entfernten Ausflugsziele – in das alte Ägypten der Pharaonen und das Griechenland der Antike – zu begleiten.

Auf der griechischen Insel Kos werden wir Hippokrates, dem wohl legendärsten aller Ärzte, begegnen. Danach geht es weiter zu Galen von Pergamon, der seine ärztliche Kunst bei den Gladiatoren in der Arena vervollständigte und medizinische Werke schuf, an denen zumindest eineinhalb Jahrtausende lang kaum ein Weg vorbei führte. Wir begleiten den Naturforscher, Arzt und Alchemisten Paracelsus auf seinen Wanderungen durch halb Europa, um anschließend dem Universalgenie Leonardo da Vinci und dem unerschrockenen Andreas Vesal bei ihren anatomischen Forschungen über die Schultern zu schauen.

In England entdeckt William Harvey auf verschlungenen Wegen den Blutkreislauf, während im Wien des 18. Jahrhunderts der Niederländer Gerard van Swieten nicht nur das Gesundheitswesen reformiert, sondern auch Jagd auf Vampire und den Aberglauben des Volkes macht. Danach können wir es durchaus wagen, in Begleitung einer englischen Lady und ihres studierten Landsmannes den gefährlichen Pocken entgegenzutreten. Leopold Auenbrugger, dem umstrittenen Franz Anton Mesmer und den Narkose-Pionieren William Morton und Carl Koller werden wir ebenso begegnen wie dem Dreigespann, das der Medizin im 19. Jahrhundert eine neue Richtung und neue Möglichkeiten wies: Ignaz Semmelweis, Louis Pasteur und Robert Koch.

Aber auch abseits von Bazillen, Infektionen, Kindbettfieber und Tuberkulose könnte es ziemlich aufregend für uns werden. Dann nämlich, wenn der österreichische Gerichtsmediziner Eduard von Hofmann gewiefte Mörder überführt, Brandopfer identifiziert und dem österreichisch-ungarischen Thronfolger schließlich doch noch ein christliches Begräbnis ermöglicht. Unterdessen ist sein schottischer Kollege Joseph Bell nicht nur neuen forensischen Methoden, sondern sogar »Jack the Ripper« auf der Spur.

In Deutschland tritt ein Arzt für die menschenwürdige Behandlung psychisch Kranker ein, während sich eine amerikanische Reporterin als »schöne Wahnsinnige« ausgibt und inkognito in einer Anstalt recherchiert. Im Süden Frankreichs begegnet Vincent van Gogh nicht nur dem eigenen Schicksal, sondern auch dem ältesten Menschen der Welt. Und in Frankfurt am Main entdeckt ein vom Leben schwer geprüfter Nervenarzt eine neue Krankheit, die später seinen Namen tragen wird.

Sigmund Freud erforscht in seiner Wiener Praxis das Unbewusste, den Traum und die Triebe, während der Würzburger Physiker Röntgen zunächst ins Staunen gerät und dann für weltweite Schlagzeilen sorgt. Der österreichische Nobelpreisträger Karl Landsteiner und der deutsche Chirurg Ludwig Rehn sind einigen sehr alten Geheimnissen der Medizin auf der Spur. In Toronto kämpfen zwei junge Wissenschaftler um das Leben eines erst vierzehn Jahre alten Zuckerkranken, und in Kapstadt in Südafrika gelingt einem Ärzteteam wenige Wochen vor Weihnachten eine der bedeutendsten und zugleich umstrittensten Operationen des 20. Jahrhunderts.

 

***

 

Die Idee zu diesem Buch entstand aus einer Serie von Beiträgen über die Medizingeschichte, die ich seit mehreren Jahren für die Leserinnen und Leser einer österreichischen Zeitschrift schreibe. Dem großen Interesse und den zahlreichen wohlwollenden Rückmeldungen habe ich schließlich auch die Motivation zu verdanken, die dafür notwendig war, viele dieser Beiträge grundlegend zu überarbeiten, zu erweitern und in eine thematische Ordnung zu bringen, wie sie die Zeitungsserie nicht verlangte. Sämtliche Themen und Lebensbilder, die für dieses Buch ausgewählt wurden, habe ich nochmals recherchiert und überprüft. Falls mir dabei Fehler und fachliche Nachlässigkeiten unterlaufen sein sollten, bitte ich darum, diese dem Nichtmediziner zu verzeihen.

 

Werner M. Thelian

im Sommer 2017

 

____

 

Über den Autor: Mag. Werner M. Thelian, Jahrgang 1964, studierte Germanistik und Philosophie, arbeitete für den Rundfunk, als wissenschaftlicher Mitarbeiter einer Landesausstellung und als Journalist bei Zeitungen und Magazinen. Er war Chefredakteur einer Ärzte- und einer Patientenzeitschrift und Pressesprecher eines Krankenhauses. Er schreibt Büchern und vor allem Beiträge und Serien über medizinische, historische und naturwissenschaftliche Themen. Er lebt und arbeitet in Wolfsberg in Kärnten.

 

 

2. Von frühen Ärzten, Prothesen und Wüstensand

 

Abb. 1 Im Inneren des großen Tempels von Abu Simbel (Ausschnitt)

 

Das antike Griechenland ist die Geburtsstätte der Philosophie, der Naturwissenschaften, der Politik und der Demokratie und damit von vielem, das seit über zweieinhalb Jahrtausenden den Kern unseres abendländischen Denkens ausmacht. Es gilt aber auch als die Wiege der europäischen Medizin. Auf der eher sonnenverwöhnten griechischen Insel Kos, im östlichen Teil der Ägäis und unweit der kleinasiatischen Küste (heute Türkei) gelegen, gab es schon Jahrhunderte vor dem Beginn unserer Zeitrechnung ein weithin bekanntes Heilzentrum. Dort kümmerte man sich nicht nur um die Leidenden und Kranken, die zum Tempel des Heilgottes Asklepios pilgerten, sondern auch um die Ausbildung von Ärzten.

Die Ärzteschule von Kos, aus der im Laufe der Zeit viele Generationen von Medizinern hervorgegangen sind, wurde von Hippokrates (ca. 460 – 370 vor Christus) geprägt, jahrelang geleitet und ursprünglich wahrscheinlich sogar gegründet. Der Stammvater noch der heutigen Ärzte, auf den nicht zuletzt der berühmte »Hippokratische Eid« zurückgehen soll, befreite die wichtigste aller ärztlichen Aufgaben, das Heilen, von magischen Sprüchen und Zauberformeln. Durch ihn und seine Schule wurde die Medizin zu einer vor allem auf Vernunft, Können und Erfahrung beruhenden Wissenschaft und Kunst.

Mit den Schriften und Schülern des Meisters gelangten die hippokratischen Lehren in die verschiedensten Teile der Welt und konnten dort nach und nach ihre volle Wirksamkeit entfalten. Sie wurden aufgenommen, übersetzt und kommentiert, oft auswendig gelernt, in die Praxis umgesetzt und von Ärztegeneration zu Ärztegeneration weitergegeben. Noch lange Zeit bildeten sie geradezu den Dreh- und Angelpunkt jeder Beschäftigung mit der abendländischen Medizin.

 

Vorspiel in dunkler Vergangenheit

 

Allerdings sieht es ganz danach aus, als habe es medizinisches Wissen und damit auch Ärzte schon lange vor Hippokrates gegeben. Für die am weitesten entfernten Zeiträume fehlt jedoch die schriftliche Überlieferung, weil sie schlicht und einfach noch nicht erfunden war. So kam es, dass alle frühen Medizinmänner, Heiler, Magier und Kräuterkundigen im beinahe undurchdringlichen Dunkel der Geschichte wirkten.

Dennoch lässt sich zumindest erahnen und ab und zu auch schemenhaft erkennen, dass und wie sich diese frühen Heilkundigen um Kranke und Verletzte kümmerten und sie, ganz nach den jeweiligen Regeln ihrer Kunst, untersuchten und behandelten. Sie sammelten Blätter, Kräuter, Beeren, Pilze und seltene Mineralien und zerkleinerten, trockneten, zerstampften oder zerrieben sie zu heilkräftigen Ingredienzien. Daraus wurden Arzneien zubereitet, deren Wirksamkeit oft über Leben und Tod entschied. Sie legten Schwerverletzten und Sterbenden die Hände auf, bedienten sich der geheimnisvollen Kräfte von Amuletten und riefen Götter und Ahnen um Rat, Hilfe und Beistand an. Selbst dann, wenn es darum ging, gefährliche Flüche und krankmachenden Schadenzauber abzuwenden, war man bei ihnen an der richtigen Adresse.

Archäologische Funde, deren Alter oft bis in die jüngere Steinzeit zurückreicht, zeigen, dass schon damals Operationen an menschlichen Schädeln durchgeführt wurden. Welche medizinischen Zwecke man im Einzelnen damit verfolgte, Löcher in die Schädel lebender Menschen zu schaben, zu bohren und zu schneiden – den Vorgang nennt man »Trepanation« – konnte bis heute nicht abschließend geklärt werden. Jedenfalls haben, wie vor allem nachgewachsene Knochenränder belegen, nicht wenige Patienten diese Prozeduren überstanden und danach oft noch viele Jahre lang gelebt.

Um solche Operationen überhaupt erfolgreich durchführen zu können, mussten die steinzeitlichen Heiler und Schamanen nicht nur mit ihren Steinmessern und Schabern geschickt umgehen, sondern vor allem auch die Blutstillung beherrschen. Weiters dürften die Linderung der Schmerzen und die Förderung der Wundheilung mithilfe von Kräutern wichtige Aufgaben und oft entscheidend über Erfolg oder Misserfolg gewesen sein.

Dass solche schwierigen und gefährlichen Eingriffe dennoch keine Seltenheit waren, beweisen hunderte steinzeitliche Schädel, die rundliche, ovale oder quadratische Öffnungen mit einem Durchmesser bzw. einer Seitenlänge von etwa eineinhalb bis zwei Zentimetern aufweisen. Sie befinden sich heute in Museen und Sammlungen überall auf der Welt und stammen von Fundstätten, die nahezu über den gesamten Globus verstreut sind – von Südamerika und Afrika bis nach Europa und Asien. Trotz dieser großen Zahl von Funden geben die chirurgischen Praktiken und Absichten von damals noch immer viele Rätsel auf.

Erst in sehr viel späterer, aber noch weit vor Hippokrates liegender Zeit beginnen sich dann auch schriftliche Hinweise auf das Wirken Heilkundiger mehr und mehr zu häufen. Frühe Zeugnisse stammen aus den Ländern des Orients und aus dem Fernen Osten mit China, Tibet und Indien, vor allem jedoch aus dem alten Ägypten.

 

Medizin im Schatten der Pyramiden

 

Ob in den reichen und von mächtigen Pharaonen beherrschten Städten am Nil schon vor Jahrtausenden chirurgische Eingriffe erfolgten, blieb bis heute umstritten. Tatsache ist jedoch, dass ein um 2650 vor Christus bei Sakkara am westlichen Nilufer entstandener Grabbau den wahrscheinlich ältesten Nachweis für den Berufsstand der Ärzte lieferte. Der in dem mit prächtigen Wandmalereien verzierten Grab bestattete Mann hieß Hesira (oder Hesire) und war einem Relief zufolge nicht nur ein ranghoher Beamter, sondern zugleich »Vorsteher der Ärzte und Zahnärzte«.

Aus unterschiedlichen Epochen des alten Ägypten blieben sowohl bildliche Darstellungen als auch Schriften erhalten, die Aufschlüsse über den jeweiligen Stand und Stellenwert der Medizin ermöglichen. Darunter befinden sich nicht nur Abbildungen von Gliedmaßen und anderen Körperteilen, sondern auch Briefe, in denen es um gesundheitliche Probleme und ärztliche Ratschläge geht.

Auf zwei der ältesten Papyri, dem »Papyrus Edwin Smith« (etwa 1600 vor Christus) und dem »Papyrus Ebers« (ca. 1550 vor Christus) – beide sind nach den Männern benannt, die sie im 19. Jahrhundert entdeckten, erwarben und auf diese Weise für die Nachwelt sicherten – sind ägyptische Ärzte gleich dutzendfach verzeichnet. Viele mit Namen, jeder jedoch mit einer Bezeichnung, die sein jeweiliges Spezialgebiet verrät. Augenärzte und Zahnärzte sind ebenso darunter wie Kopfärzte, Bauchärzte und sogar Ärzte für unbestimmte und »unsichtbare« Krankheiten.

 

Von Knochenbrüchen und geschickten Zahnärzten

 

Altägyptische Sammelhandschriften beinhalten eine Vielzahl von Rezepten, aber auch mehr oder weniger ausführliche Anleitungen zur Behandlung von Knochenbrüchen, Verstauchungen, Verrenkungen, Zerrungen und Geschwüren. Außerdem lassen sich Empfehlungen hinsichtlich Diagnose und Therapie innerer Krankheiten sowie Abhandlungen über die menschliche Anatomie in diesen uralten Quellen finden. Allein im Papyrus Ebers sind 15 verschiedene Bauchkrankheiten, 29 Augenkrankheiten und 18 Hautkrankheiten aufgeführt und beschrieben. Dazu kommen im selben Dokument 21 Behandlungen bei Husten, hunderte Heilmittel und etwa 800 Rezepturen.

Insgesamt zeigen solche Schriften, dass das vor allem früher weit verbreitete Vorurteil, im alten Ägypten habe man zur Heilung Kranker lediglich ein paar Zaubersprüche aufgesagt, nicht stimmt. Vielmehr lassen die überlieferten Dokumente auf eine eigenständige, bereits recht weit entwickelte Medizin schließen, der es weniger um das Erkennen von Krankheitsursachen als um das Beseitigen von Krankheitssymptomen ging. Freilich kam dabei auch der eine oder andere magische Spruch zur Anwendung – etwa dann, wenn es galt, die Wirksamkeit einer soeben zubereiteten Arznei weiter zu steigern.

Wie man heute weiß, waren altägyptische Ärzte zu ganz erstaunlichen Leistungen in der Lage. Sie reparierten Löcher in Zähnen, indem sie eigens dafür angefertigte Füllungen verwendeten, renkten Knochen und Gelenke ein und stellten die Funktionstüchtigkeit von Beinen, Armen, Füßen und Händen wieder her. Besonders gut waren sie darin, klaffende Wunden zu nähen. Darüber hinaus werden in einigen ihrer Schriften spezielle Behandlungen bei Augenkrankheiten, Erkrankungen des Magens, bei Schwellungen und Geschwüren genannt.

 

Mit Harz und Honig gegen Infektionen

 

Die frühen Ärzte Ägyptens stellten eine Vielzahl von Salben, Pulvern und Säften her, für die sie Extrakte tierischer, pflanzlicher und mineralischer Herkunft verwendeten. Deren genaue Zusammensetzung hielten sie oft schriftlich fest. Auch die Wirkung auf die Patienten sowie die geeigneten Dosierungen wurden stets genau beobachtet und vermerkt.

Obwohl Bakterien und andere Mikroorganismen erst Jahrtausende später entdeckt und erforscht wurden, wussten schon die Ärzte im alten Ägypten ganz intuitiv mit antibakteriell wirkenden Substanzen umzugehen. Sie verwendeten vor allem Salben aus Harz, Honig und Metallen. Auf infizierte, entzündete und eiternde Wunden aufgetragen, konnten sie ihre antibakterielle Wirkung entfalten. Bei Rheuma standen Safran und Sellerie hoch im Kurs, während man den Befall mit Bandwürmern am besten mit einem Saft aus den Wurzeln des Granatapfelbaumes bekämpfte. Gegen Magenbeschwerden wurde ein Absud aus Kreuzkümmel, Gänsefett und Milch empfohlen. Aber es gab auch heilkräftige Getränke mit Eselshoden und Eidechsen sowie Salben aus dem Fett von Krokodilen, Nilpferden, Schlangen und Löwen.

Spätestens um 1500 vor Christus verwendeten ägyptische Ärzte bereits Pillen und damit die direkten Vorgänger der heutigen Tabletten, um ihren Patienten Wirkstoffe zu verabreichen. In einem der ältesten Berichte darüber geht es um die Herstellung eines Medikaments zur Beseitigung von Bauchkrankheiten. Dazu wurde Malachit, ein Mineral, fein zerrieben und das Pulver dann in ein Stückchen Fladenbrot gedrückt. Aus diesem Gemisch drehte man schließlich die runden Pillen und überließ sie den Patienten zur Anwendung. Um das Ganze besser hinunterspülen zu können, wurde übrigens süßliches Bier empfohlen.

Tatsächlich gehörten Pillen von nun an für etwa dreieinhalb Jahrtausende zu den wichtigsten Darreichungsformen für Arzneien. Erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Pillen weitgehend von den Tabletten abgelöst und verdrängt. 1843 ließ der Engländer William Brockedon eine Presse patentieren, die es ihm ermöglichte, Arzneimittelpulver stark zu komprimieren. Die Tabletten, die Brockedons Presse erzeugte, waren den Pillen von Anfang an überlegen, weil sie sich leichter und länger lagern ließen und die Wirkstoffe bei der Einnahme besser freigesetzt wurden.

Weil man William Brockedons Tablettenpresse auch danach ständig weiter entwickelte, wurde sie rasch zu einer wichtigen Grundlage für die industrielle Fertigung von Medikamenten und damit zu einer bis heute unverzichtbaren Säule des Gesundheitsmarktes. Was wäre die große und mächtige Pharmaindustrie des 21. Jahrhunderts ohne die Milliarden und Abermilliarden von Tabletten, die weltweit über die Ladentische der Apotheker gehen?

Aber noch einmal zurück ins alte Ägypten. Dort schreckte man allem Anschein nach nicht einmal davor zurück, unrettbar kranke, zerschmetterte und höllisch schmerzende Gliedmaßen – natürlich nur, wenn es unbedingt notwendig war – zu amputieren. Obwohl es noch sehr lange Zeit dauern sollte, ehe wirklich zuverlässige Betäubungs- und Narkosemittel zur Verfügung standen (die moderne Anästhesie ist eine Errungenschaft des 19. Jahrhunderts), wurden Amputationen offenbar gar nicht so selten durchgeführt.

Künstliche Zehen etwa, wie man sie in altägyptischen Gräbern fand, dürften nicht nur symbolische Bedeutung gehabt haben, sondern zu Lebzeiten tatsächlich getragen worden sein. Jedenfalls sind sie nicht nur anatomisch exakt gearbeitet, sondern weisen auch deutliche Gebrauchsspuren auf. Außerdem konnte die Praxistauglichkeit der künstlichen Zehen aus dem alten Ägypten mittlerweile durch Gehtests in Forschungsabteilungen von Universitäten eindeutig belegt werden. Damit sind sie die wohl ältesten bekannten Prothesen der Welt.

 

***

 

3. Hippokrates von Kos: Die Wurzeln der Heilkunst

 

Abb. 2 Hippokrates von Kos,
ca. 460 – ca. 370 v. Chr.

 

In diesem Kapitel schwenkt unser Blick zurück in die Zeit vor rund zweieinhalb Jahrtausenden, als sich im fünften vorchristlichen Jahrhundert mit Hippokrates von Kos ein revolutionärer Wechsel der Perspektive vollzog. Für Hippokrates und seine Schüler waren es nicht mehr länger die unergründlichen Launen der Götter oder ein vorherbestimmtes und deshalb unabänderliches Schicksal, die über Gesundheit und Krankheit, über Leben und Tod entschieden. Vielmehr erkannten sie, dass sie es mit rational erklärbaren Vorgängen im menschlichen Körper selbst zu tun hatten, wobei immer auch Einflüsse aus der Umwelt und die Auswirkungen des Klimas mit eine Rolle spielten.

Freilich liegen Zeit und Wirken dieses ersten großen Arztes (zumindest unter denen, die bekannt sind) schon so weit zurück, dass der wahre Kern angesichts der zahlreichen Legenden kaum zu fassen ist. Das wenige, das man über Hippokrates und seine Schule weiß, ist daher stets von einem beträchtlichen Maß an Ungewissheit geprägt und begleitet. Das beginnt schon bei der familiären Herkunft des Griechen, betrifft die Jahre und Stationen seiner Wanderschaft und die Gründung der Ärzteschule von Kos ebenso wie die tatsächliche Urheberschaft der ihm zugerechneten Schriften. Sogar die Zufälle und Merkwürdigkeiten, die sich im 19. Jahrhundert um die angebliche Wiederentdeckung seines Grabes ergaben, passen in das bis heute zwangsläufig so unvollständig gebliebene Bild.

 

Am Grab des Hippokrates

 

Im Sommer 1857 wurden sowohl Archäologen als auch manche an der Geschichte ihres Berufes interessierten Mediziner von einem außergewöhnlichen Fund in helle Aufregung versetzt. Begonnen hatte alles mit einem merkwürdigen Bericht, der im Verlauf der ersten Jahreshälfte in mehreren Zeitungen und dem einen oder anderen Fachblatt erschien. In Griechenland, ganz in der Nähe der Stadt Larissa in der auf dem Festland gelegenen Provinz Thessalien, sei einem einheimischen Arzt und Freizeitforscher etwas gelungen, womit niemand mehr gerechnet hatte: die Entdeckung jenes antiken Grabes, in dem man einst Hippokrates bestattet habe.

Nimmt man es genau, hat der ambitionierte Hobbyforscher die antike Grabstätte nur wiederentdeckt, und auch das ist, wie wir gleich noch sehen werden, alles andere als gewiss. Jedenfalls kursierten in der Umgebung des Fundortes schon seit Generationen Berichte, wonach Hippokrates einst hier in der Gegend gestorben sei. Man habe ihm am Weg nach Larissa eine Grabstätte gebaut, die von den Einheimischen jahrhundertelang verehrt und gepflegt wurde und auch Reisenden gut bekannt war. Erst in viel späterer Zeit sollen sowohl das Grab als auch der Ort, an dem es sich einst befand, allmählich in Vergessenheit geraten sein.

Umso überraschender war es, als die Grabstätte im 19. Jahrhundert im wahrsten Sinne des Wortes wieder zum Vorschein kam. Schuld daran war der Pinios, der größte Fluss der Region, der 1826 über seine Ufer trat und weite Teile der Landschaft überschwemmte. Als man bald darauf begann, die hohen Berge aus Schutt, Dreck und Schlamm wegzuräumen, kam darunter der Eingang eines Grabes zum Vorschein. In seinem Inneren stand ein noch gut erhaltener Sarkophag.

Bei einer ersten, in aller Eile improvisierten Besichtigung wurden zwei Gelehrte aus Larissa auf eine Steinplatte mit einer alten Inschrift aufmerksam. Die beiden Männer glaubten, den Namen »Hippokrates« mehr oder weniger deutlich lesen zu können, und deuteten den Fund als Beweis dafür, dass man wirklich auf das so lange verschollene Grab des Hippokrates gestoßen war.

Angesichts der ziemlich schwierigen politischen Lage, die damals in dem schon seit Jahrhunderten von den Türken besetzten Land herrschte, verzichteten die beiden auf weitere Nachforschungen. Sie verständigten jedoch den obersten Beamten der türkischen Regionalverwaltung, der den Sarkophag und die Steinplatte bergen und in sein Haus bringen ließ. Angeblich soll man bei der Freilegung des Grabes noch mehrere alte Münzen und eine goldene Kette in Schlangenform gefunden haben. Aber beides wurde schon bald darauf gestohlen.

Weil auch der Türke wenig später starb, gerieten die Funde, die sich nun irgendwo auf seinem Anwesen befanden, weitgehend in Vergessenheit. Es sollte noch etwa dreißig Jahre dauern, ehe die Geschichte 1856 dem besagten Arzt und Hobbyforscher aus Larissa zu Ohren kam. Der beschloss, der merkwürdigen Angelegenheit etwas näher auf den Grund zu gehen.

Nach seiner eigenen Schilderung gelang es ihm, von der Witwe des Türken die Erlaubnis zu erhalten, sich in ihrem Haus umzusehen. Tatsächlich entdeckte er dort in einem großen und ehemals sicher sehr prunkvollen Badesaal die Steinplatte, auf der die antike Inschrift noch immer gut zu erkennen war. Nicht weit davon entfernt stieß er auch auf den Sarkophag, der noch teilweise mit Erde bedeckt war.

Ob es sich bei den beiden wiedergefundenen Objekten, dem Sarkophag und der Tafel, wirklich um Funde aus dem Grab des Hippokrates handelte, konnte nicht abschließend geklärt werden. Es ist durchaus möglich, dass die Zeitungen und die Öffentlichkeit damals drauf und dran waren, einem Schwindler auf den Leim zu gehen. Jedenfalls wurde der Wahrheitsgehalt der Berichte, die der angebliche Finder verfasste, nicht nur von Archäologen, sondern auch von einigen Einheimischen ernsthaft angezweifelt.

Nachdem man den Mann sogar beschuldigt hatte, die Inschrift auf der Steinplatte selbst angefertigt zu haben, verzichtete er darauf, einem Expertenkomitee weitere Beweise zur Verfügung zu stellen. Damit wurde die Angelegenheit endgültig zu einem kuriosen Hin und Her, bei dem gekränkte Eitelkeit eine große Rolle spielte. Daher ist es kein Wunder, dass schließlich alle weiteren Untersuchungen im Sand verliefen.

 

Einen Heilgott in der Verwandtschaft

 

Hippokrates wurde um 460 vor Christus auf der Insel Kos geboren und führte, ehe er etwa neun Jahrzehnte später starb, ein wohl ebenso ereignisreiches wie wohltätiges Leben. Er behandelte und heilte im Laufe der Jahre nicht nur zahlreiche Kranke, sondern prägte mit seinem Wissen und seiner Erfahrung die älteste und zugleich bedeutendste medizinische Schule des Altertums. Wahrscheinlich hat er die Ärzteschule von Kos sogar selbst gegründet.

Der antiken Überlieferung nach stammte Hippokrates in direkter Linie vom Heilgott Asklepios (auch Äskulap) ab, dessen schlangenumwundener Äskulapstab noch heute das weithin bekannte Symbol der Ärzte und Pharmazeuten bildet. Asklepios, der sogar die Toten auferstehen lassen konnte, war ein Sohn des Gottes Apollon und hatte eine Sterbliche zur Mutter. Schon als Kind wurde er vom weisen Kentauren Cheiron in die Geheimnisse der Heilkunde eingeführt und mit Wissen versorgt, das Asklepios umgehend dafür nützte, um kranke Menschen zu heilen. Dadurch fühlte sich aber Hades, der Herr der Unterwelt, um den Tod der Menschen betrogen und wandte sich in seinem Zorn an den obersten Gott Zeus. Der soll Asklepios schließlich mit einem Blitz getötet haben, was jedoch nicht verhindern konnte, dass Asklepios’ Söhne, die so genannten Asklepiaden, allesamt Ärzte wurden. Ihr Wissen gaben sie von Generation zu Generation weiter. Schon deshalb hatte ihr Nachfahre Hippokrates etliche Männer mit Heilberufen im Stammbaum. Er selbst wurde gemäß der alten Familientradition zunächst von seinem Vater ausgebildet und lernte wohl schon von Kindheit an die Geheimnisse der Heilkunst kennen.

Dafür gab es freilich kaum einen geeigneteren Ort als den Asklepiostempel, der sich in Kos, dem Hauptort der gleichnamigen Insel, erhob. Dort mussten die zahlreichen Pilger, die um Beistand und Heilung beteten, ein reinigendes Bad nehmen und dem Gott ein Opfer darbringen. Erst dann gewährte man ihnen Einlass in die heiligen Räume. Dort wurden sie von heilkundigen Priestern empfangen, herumgeführt, über ihre Krankheiten und Symptome befragt und zu einer besonderen Diät angehalten. Oft wurden auch Arzneien verabreicht, die die Priester selbst hergestellt hatten.

Die eigentliche Behandlung blieb in den meisten Fällen dem Gott Asklepios selbst vorbehalten. Ein weithin bekanntes Instrument, dessen er sich besonders gerne bediente, war der heilige Tempelschlaf. Im Schlaf und in den Träumen erschien er den Pilgern entweder höchstpersönlich oder hinterließ Botschaften und Hinweise, deren jeweiliger Sinn später von den Priestern gedeutet und von den Patienten umgesetzt werden konnte.

In der von Weihrauch geschwängerten Atmosphäre konnte sich kaum jemand der ungeheuren suggestiven Kraft entziehen, die hier von allem und jedem auszugehen schien. Verstärkt wurde dieser Eindruck noch dadurch, dass man überall Bildnisse, Statuen und Statuetten aufgestellt hatte, die an geglückte Heilungen und so manches von Asklepios bewirkte Wunder erinnerten.

Nach Abschluss der Lehrzeit begann für Hippokrates die eigentliche Studienzeit, die ihn zunächst wahrscheinlich direkt nach Athen führte. Dort lernte er bei so erfahrenen Ärzten wie Herodikus, der ein starker Befürworter der antiken Heilgymnastik war. In Athen dürfte Hippokrates bald auch mit den Lehren und Ansichten der bedeutendsten Philosophen der Stadt in Berührung gekommen sein.

 

Jahrelange Reisen und etliche legendäre Taten

 

Nach dem Aufenthalt in Athen unternahm der junge Hippokrates jahrelang Wanderungen und Reisen, die ihn durch ganz Griechenland und teilweise auch Kleinasien führten. Während dieser Zeit soll er an verschiedenen Orten als Arzt gewirkt und sein Wissen und sein Können beständig erweitert haben. Jedenfalls eilte ihm schon bald der Ruf voraus, nicht nur ein sehr gelehrter, sondern ein mit besonderen Kräften begabter Arzt und Heiler zu sein. Kein Wunder, dass man Hippokrates überall dort, wo er in Erscheinung trat, zutiefst verehrte und ihm im Laufe der Zeit so manche bemerkenswerte Leistung nachsagte.

So soll er zum Beispiel ganz Griechenland vor einer verheerenden Pestepidemie bewahrt haben, weil er die Krankheit, die anderswo schon wütete, rechtzeitig vorhersagte. So war es möglich, Gegenmaßnahmen zu ergreifen und das Schlimmste zu verhindern. Hippokrates soll aber auch Perdikkas II., dem König der Makedonen, aus einer tiefen Depression geholfen haben. Andererseits verweigerte er dem ebenso mächtigen wie gefährlichen persischen Großkönig Artaxerxes seine Dienste als Arzt.

Weil sein Ansehen und sein Ruhm, aber auch die Zahl der Gerüchte und Legenden mit den Jahren wuchsen, wurden zugleich auch seine Lehren immer bekannter. Hippokrates richtete den ärztlichen Blick neu aus und erkannte so Zusammenhänge, die anderen verborgen geblieben waren. Vor diesem Hintergrund erzielte er so zahlreiche und spektakuläre Heilerfolge, dass man seinen Namen bald als Synonym für alle guten Ärzte gebrauchte.

 

Corpus Hippocraticum

 

Spätere Generationen haben Hippokrates weit mehr als 70 medizinische Schriften zugeschrieben, von denen man viele noch heute unter dem Begriff »Corpus Hippocraticum« zusammenfasst. Von nicht gerade wenigen weiß man allerdings sicher, dass sie nicht von Hippokrates selbst stammen können, sondern von anderen in seiner Tradition und in seinem Namen geschrieben wurden. Manche erst viele Jahrzehnte nach seinem Tod.

Alle diese Texte, ob sie nun von Hippokrates selbst oder seinen Schülern stammen, beschäftigen sich mit den unterschiedlichsten Aspekten der Medizin. So behandeln sie etwa das Zusammenwirken der vier Körpersäfte (Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze Galle), beschreiben das Einrichten von Gelenken und widmen sich den Frauenkrankheiten und der Geburtshilfe. Es geht aber auch um die zahlreichen »inneren Leiden« und um die so genannte »heilige Krankheit«. Letztere meint die Epilepsie und ist nach Hippokrates weder auf das Wirken von Göttern noch von Dämonen zurückzuführen, sondern hat ausschließlich natürliche Ursachen.

 

Die berühmte Schule von Kos

 

Als Hippokrates nach langen Jahren der Wanderschaft auf seine Heimatinsel Kos zurückkehrte, dürfte er bald damit begonnen haben, Schüler um sich zu sammeln. Noch heute kann man in Kos-Stadt, der Hauptstadt der Insel, die so genannte »Platane des Hippokrates« besichtigen. In ihrem Schatten soll er regelmäßig seine Anhänger unterwiesen haben. Allerdings ist der Baum, den man den Touristen heute zeigt, nach wissenschaftlichen Untersuchungen erst etwa 500 Jahre alt. Trotzdem könnte er zumindest aus einem Ableger der ursprünglichen Platane hervorgegangen sein.

Jedenfalls widmeten sich Hippokrates und seine Schüler einer neuen, vor allem auf Vernunft und Erfahrung gegründeten Medizin. Der Arzt müsse, so Hippokrates, ganz genau hinsehen und das wahre Wesen einer jeden Erkrankung, die ihm unterkomme, erforschen. Er müsse die verborgenen Zusammenhänge aufdecken, um den Patienten mit der jeweils für sie geeigneten Therapie helfen zu können. So kam es, dass sich der an Hippokrates orientierende Arzt oft mehr für den kranken Menschen als für die Krankheit selbst interessierte und bei der Diagnose immer auch Einflüsse aus der Umwelt mit berücksichtigte.

Im Mittelpunkt stand die Vorstellung, dass sich der gesunde Mensch in Harmonie mit dem Ganzen befinde, Gesundheit also ein Gleichgewicht und Krankheit dessen Störung darstelle. Das komme vor allem im Gleichgewicht der vier hauptsächlichen Körpersäfte – Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze Galle – zum Ausdruck. Die vier Säfte unterscheiden sich sowohl durch ihre jeweilige Farbe voneinander als auch durch ihre sonstige Beschaffenheit und die Charaktereigenschaften, die sie in einem Menschen bewirken (sein Temperament). Während sich die Körpersäfte im gesunden Körper in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander befinden, können sie zu manchen Zeiten aber auch in ein ganz erhebliches Ungleichgewicht zueinander geraten. Geht die natürliche Harmonie verloren, wird der Mensch krank.

Wenn dieser Fall eintritt, ist es die Aufgabe des Arztes, die dem Ungleichgewicht zugrunde liegenden Ursachen und Zusammenhänge zu erkennen. Er soll seinen Patienten befragen und beobachten, seine Lebensumstände miteinbeziehen, die Diagnose stellen und schließlich in Form der Prognose einen Ausblick auf die weitere Entwicklung der Krankheit bzw. auf deren Heilung geben. Mit den Mitteln seiner ärztlichen Kunst hilft er dem Patienten dabei, das Gleichgewicht der Säfte wieder herzustellen und wieder gesund zu werden.

Am Anfang der Behandlung stehen daher oft Veränderungen der Lebensweise bzw. eine bestimmte Diät (Lebensordnung). Damit sind vor allem Anleitungen zur richtigen Ernährung, zu sportlichen Übungen, zur Hygiene, zum Sex und zum Schlafen verbunden. Danach folgen Arzneien und andere Therapien, wie etwa der Aderlass, der von Hippokrates und seinen Schülern geradezu erfunden wurde. Wenn sonst gar nichts hilft, kommt auch ein chirurgischer Eingriff in Betracht.

 

Hippokrates und die Umwelt

 

Der Einfluss der Umwelt auf die Gesundheit der Menschen wurde schon recht früh in der Geschichte der Medizin erkannt und zum Thema gemacht. Bereits Hippokrates forderte die Ärzte auf, bei der Beschäftigung mit den Krankheiten ihrer Patienten immer auch auf die jeweils vorherrschenden Umweltbedingungen zu achten. In der berühmten Schrift »Über Luft, Wasser und Ortslagen« zeigte er – oder einer seiner Schüler –, dass es keineswegs ausreiche, Kranke nur aufgrund ihrer im Vordergrund stehenden Symptome zu behandeln. Vielmehr sei es wichtig, die Umweltbedingungen, die in der Gegend, wo der Patient lebt, herrschen, zu kennen und zu berücksichtigen. Insbesondere nennt der Verfasser der Schrift die für eine Region typischen Luftströmungen, die vorherrschende Windrichtung, die Beschaffenheit und die Herkunft des Wassers (ob es hart, weich, stumpf, süß oder salzig ist und ob es aus den Bergen oder aus dem Flachland stammt) sowie die geologische Beschaffenheit der Landschaft.

Die genaue Kenntnis aller dieser Elemente müsse dann mit den vorliegenden Informationen über die Lebensweisen der Bewohner der Gegend und mit deren körperlicher Konstitution in Zusammenhang gebracht werden. Dadurch sei es dem Arzt schließlich möglich, die Beschwerden und Symptome seiner Patienten in einem ganzheitlichen Sinn zu verstehen und ihre Krankheiten besser und erfolgreicher zu behandeln. Des Weiteren stellte der Autor der Schrift »Über Luft, Wasser und Ortslagen« fest, dass es oft gerade die Umwelteinflüsse sind, die bewirken, dass manche Krankheiten in bestimmten Gegenden viel häufiger vorkommen als andere. Obwohl Hippokrates und seine Schüler Umweltverschmutzung und Umweltbelastungen im heutigen Sinn noch gar nicht kannten, wiesen sie der Medizin dennoch eine Richtung, die gerade in unserer Zeit wieder von überaus großer Bedeutung ist.

 

Tod und Vermächtnis

 

Hippokrates erreichte, nach allem, was wir wissen, ein für die damaligen Verhältnisse recht hohes Alter. Als er nach einem langen und abwechslungsreichen Leben irgendwann zwischen 380 und 370 vor Christus starb, ereilte ihn der Tod fern seiner Heimat. Er starb auf dem griechischen Festland. Auf seinem Grabmal nisteten der Überlieferung nach in jedem Jahr wilde Bienen. Der Honig, den sie produzierten, war bei den Menschen in der Umgebung sehr begehrt, weil man ihm nachsagte, dass er Heilkräfte besitze. Er soll vor allem ein hervorragendes Mittel gegen Hautkrankheiten bei Kindern gewesen sein.

Nach Hippokrates’ Tod wurden seine Lehren von zahlreichen Ärzten weitergetragen, die der Meister teilweise noch selbst in der ärztlichen Kunst unterrichtet hatte. So wurde vor allem die Lehre von den vier Säften für viele Jahrhunderte geradezu zu einem »roten Faden« in der Medizin, der schließlich von Hippokrates, über Galen von Pergamon (im zweiten Jahrhundert nach Christus) bis ins Mittelalter und in die frühe Neuzeit reichte. Diese lange Kette der Überlieferung gilt ebenso und noch mehr für den berühmten »Eid des Hippokrates«, mit dem sich bis ins 20. und 21. Jahrhundert unzählige Ärztegenerationen zu einwandfreiem ethischen Handeln verpflichteten. Obwohl diese älteste und zugleich bedeutendste Formulierung des richtigen und angemessenen ärztlichen Verhaltens ziemlich sicher nicht von Hippokrates selbst stammte, sondern erst einige Zeit nach seinem Tod niedergeschrieben wurde, blieb gerade der Eid bis heute untrennbar mit seinem Namen verbunden.

 

***

 

4. Galen von Pergamon: Mit Gladiatoren in der Arena

 

Abb. 3 Galen von Pergamon,
ca. 129 – ca. 216

 

Der Grieche Galenos, den die Römer gerne als einen der ihren betrachteten und daher Galenus, Galen oder auch Aeilius oder Claudius Galenus nannten, war einer der bedeutendsten und einflussreichsten Ärzte der Geschichte. Fast eineinhalb Jahrtausende lang, bis weit in das 17. und sogar noch 18. Jahrhundert hinein, führte an seinen oft auf Hippokrates beruhenden Lehren kaum ein Weg vorbei.

Sein abenteuerliches Leben nahm in der kleinasiatischen Stadt Pergamon seinen Anfang und führte ihn von hier aus bis mitten in das Zentrum des römischen Weltreiches, nach Rom. Ob die Götter einst bei seiner Berufung zum Arzt tatsächlich ihre Hände im Spiel hatten, muss jedoch im dunklen Grau einer weit zurückliegenden Vergangenheit verborgen bleiben.

 

Hunderte von medizinischen Werken

 

Was man heute über Galens Leben weiß, hat er zum überwiegenden Teil selbst erzählt und überliefert. Betrachtet man allein die Anzahl und den Umfang seiner Werke, dürfte er viel Zeit mit Schreiben verbracht haben. Galen verfasste im Laufe von Jahrzehnten Hunderte von Werken und war zudem so sehr von sich und seinen Kenntnissen überzeugt, dass er seine Leser immer wieder mit Details der eigenen Biografie versorgte. Demnach wurde er 129 nach Christus in Pergamon (heute Bergama in der Türkei) geboren und war der Sohn eines gelehrten Architekten, der sich schon von Berufs wegen auch auf die Kunst der Mathematik verstand.

Pergamon war damals eine sehr reiche Stadt mit einer langen Geschichte. Im äußersten Westen Kleinasiens gelegen, hatte sie sich zu einem bedeutenden Zentrum der Pergamentproduktion entwickelt. Der Legende nach soll der antike Schreibstoff hier sogar erfunden und deshalb nach der Stadt benannt worden sein. Jedenfalls wurde er seither in Pergamon in großen Mengen produziert, umgeschlagen und in vieler Herren Länder exportiert.

In Pergamon gab es zu Galens Zeiten die zweitgrößte Bibliothek der Antike (die größte und bedeutendste befand sich in Alexandria), aber auch ein Gymnasion, ein Theater und eine große und weithin berühmte Gladiatorenarena. Und natürlich gab es auch mehrere Tempel, die verschiedenen Göttern geweiht waren. Neben dem allgegenwärtigen Göttervater Zeus wurde in der Stadt und ihrer Umgebung vor allem der Heilgott Asklepios verehrt. Für Mediziner und Heilkundige, aber auch für ihre Patienten, war er schon seit Jahrhunderten von größter Bedeutung.

Entsprechend imposant präsentierte sich die weiträumige Tempelanlage, die Asklepios geweiht und gewidmet war. Sie war über eine lange Prunkstraße zu erreichen und der Hauptanziehungspunkt für viele nach Heilung suchende Menschen von nah und fern. Von besonderer Bedeutung waren die heiligen Quellen, zu denen man über einen etwa achtzig Meter langen unterirdischen Gang gelangte.

Galen wuchs in der unverwechselbaren Atmosphäre dieser von Handel, Wissenschaft und Tempeln geprägten Stadt auf und wurde anfangs von seinem gelehrten Vater unterrichtet. Der führte seinen Sohn mit Geduld und großer Ausdauer an die Grundlagen der Naturwissenschaften, der Technik und der Mathematik heran, erteilte ihm aber auch Ratschläge hinsichtlich einer ausgewogenen und daher gesunden Lebensführung.

Als Galen 14 Jahre alt war, schien die Zeit reif dafür zu sein, um mit den eigentlichen Studien zu beginnen. Die Lehrer, die er nun auf Vermittlung seines Vaters konsultierte, sollen die besten und klügsten Köpfe der Stadt gewesen sein. Jedenfalls machten sie ihn wohl mit den wichtigsten Geistesströmungen der Zeit vertraut – unter anderem mit der Philosophie von Platon und Aristoteles, aber auch mit den Lehren der Epikureer und der Stoiker.

 

Durch väterliche Träume zur Bestimmung

 

Als Galen dann 17 Jahre alt war, soll sein Vater von merkwürdigen, sich wiederholenden nächtlichen Träumen erzählt haben. Die veranlassten ihn schließlich dazu, dem Sohn das Studium der Medizin zu ermöglichen. Aber bereits am Anfang gab es ein paar Schwierigkeiten. Galen selbst berichtete später, er habe sich zu jener Zeit durch übermäßiges und bis in die Nachtstunden dauerndes Lernen und den wohl allzu reichlichen Genuss unreifer Früchte ein ernstes Leiden zugezogen. Die Krankheit, an der er lange litt, besserte sich erst, als ihm der Vater zu einer geregelteren Lebensweise und insbesondere zu einer gesünderen Ernährung riet.

Allerdings kamen die Beschwerden mehrfach wieder. Erst viele Jahre später, als das Leiden offenbar schon lebensbedrohliche Formen angenommen hatte, konnte Galen die eigene Krankheit durch eine konsequente Diät und den weitgehenden Verzicht auf Früchte heilen.

Als der Vater schließlich starb, hinterließ er Galen ein beträchtliches Vermögen, das es dem jungen Mann ermöglichte, zu Studienzwecken nach Smyrna und Korinth zu reisen. Dort lernte er bei ebenso bekannten wie erfahrenen Ärzten viele Geheimnisse der Medizin kennen. Auf seinen Reisen gelangte er schließlich sogar bis nach Alexandria in Ägypten.

 

Ausbildung in Alexandria

 

In Alexandria, das zum römischen Imperium gehörte, verfügte man über die bedeutendste und berühmteste Bibliothek der Welt. Sie war Magnet und geradezu unwiderstehlicher Anziehungspunkt für Forscher und Gelehrte aus allen vier Himmelsrichtungen. In Alexandria, der konkurrenzlosen Wissenshochburg der Antike, fühlte sich Galen von Anfang an wohl und tauchte immer tiefer ein in jene wohl einzigartige Atmosphäre, die von den Schriften und Lehren der Alten ebenso durchdrungen war wie von den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Hier praktizierten einige der berühmtesten Ärzte der Zeit und gaben ihr profundes Wissen über den menschlichen Körper und seine Krankheiten an eine ständig wachsende Zahl von Studenten weiter. Im Zentrum der Stadt konnte man nahezu an jeder Häuserecke Neuem und Interessantem begegnen.

Alexandria bot den Ärzten und Studenten sogar die Möglichkeit, die Anatomie des menschlichen Körpers an echten Skeletten zu erforschen. Viele Lehrer verfügten über eigene Sammlungen von Knochen, und im Museum der Stadt waren wohl ganze Skelette ausgestellt. Aus wie vielen Knochen besteht der Mensch? Was hält den Körper aufrecht und im Gleichgewicht? Woher kommt die Vernunft? Wo befindet sich der Sitz der Seele?

Während man zu jener Zeit anderswo höchstens mit toten Tierkörpern experimentierte, weil alles andere tabu und oft auch streng verboten war, griffen die Anatomen von Alexandria bisweilen selbst zum Skalpell, um die Körper Verstorbener im Dienst der Wissenschaft und Medizin zu öffnen. Sie sezierten.

Galen, der mehrfach bei anatomischen Demonstrationen anwesend war und bei diesen Gelegenheiten vielleicht auch selbst sezierte, erwarb hier den Grundstock seines anatomischen und chirurgischen Wissens, das später in seine Werke einfloss und die Ansichten über den Aufbau des menschlichen Körpers für viele Jahrhunderte beeinflusste. Die Irrtümer jedoch, die Galen dabei unterliefen, blieben eineinhalb Jahrtausende lang unentdeckt. Erst dann wurden sie von Anatomen der Neuzeit erkannt und korrigiert.

 

Weiterbildung in der Arena

 

Nachdem er seine medizinische und anatomische Ausbildung in Alexandria abgeschlossen und vervollständigt hatte, kehrte Galen als Mann von nunmehr etwa 30 Jahren in seine Heimatstadt Pergamon zurück. Hier wollte er fortan als Arzt und Chirurg wirken. Die Nachrichten über seine außerordentlichen medizinischen Fähigkeiten kamen schließlich auch den Priestern von Pergamon zu Ohren, die ihn sogleich als Arzt für die Wettkampfarena verpflichteten.

In dieser Eigenschaft musste sich Galen um die Gladiatoren kümmern, die bei ihren Kämpfen vor dem zahlenden Publikum immer wieder schwere Verletzungen davon trugen. Galen verarztete also im Sand der Arena tiefe Hieb- und Stichwunden, stillte Blutungen, nahm in den Unterkünften der Gladiatoren chirurgische Eingriffe vor, renkte Schultern und Gelenke ein und versorgte gebrochene Knochen. Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass sich seine Kenntnisse als Arzt und Chirurg unter diesen Umständen von Tag zu Tag weiter verbesserten.

 

Ein neuer Anfang in Rom

 

Nachdem er einige Jahre im Schmutz und Staub der Arena zugebracht und seine ärztliche Kunst nach eigenen Angaben fast alle Gladiatoren am Leben erhalten hatte, fühlte er sich eines Tages zu Neuem und Höherem berufen. Er, der lange genug fürchterliche Verletzungen versorgt und behandelt hatte, fasste nun den Entschluss, nach Rom aufzubrechen. Dort, in der Ewigen Stadt und am Nabel der Welt, würde er sich niederlassen, um fortan, wie er hoffte, das ebenso angenehme wie einträgliche Leben eines Arztes der Schönen und Reichen zu führen.

Als Galen 161 nach Christus Rom erreichte, wurde er sogleich, wie Millionen Menschen vor und nach ihm, von der besonderen Strahlkraft, die diese Stadt ausübte, in den Bann gezogen. Rom war eine riesige, eine überbevölkerte Metropole. In ihren Bezirken lebten so viele Menschen, dass man deren Zahl nicht einmal annähernd kannte. Und ständig kamen neue Einwanderer dazu. Frauen, Männer und Kinder, die eines Tages irgendwo in einer weit entfernten Gegend aufgebrochen waren, um in Rom ihr Glück zu suchen. Schwarze aus den heißesten Wüstengegenden Afrikas waren ebenso unter ihnen wie blonde und hellhäutige Menschen, deren ursprüngliche Heimat irgendwo im Norden Europas lag.

In Rom dürften damals wohl etwas mehr als eine Million Menschen gelebt haben, dicht an dicht zusammengedrängt, in oft erbärmlichen Behausungen und Wohnungen. Tagsüber herrschten überall Gedränge, Lärm und Gestank. Erst wenn es Abend wurde, ließ das bunte und laute Treiben allmählich nach, um bald nach Einbruch der Dunkelheit fast völlig zu verebben.

Sobald es Nacht war und sich die meisten Menschen längst in die Häuser und Wohnungen zurückgezogen hatten, gehörten die kaum beleuchteten Wege und Gassen den Fuhrwerken der Bauern und Händler. Tagsüber war es ihnen verboten, ihre Waren auszuliefern. Erst jetzt, in der Dunkelheit, war überall das Klappern der Hufe von Ochsen und Pferden zu hören, aber auch das Quietschen und Leiern der Wagen und das Husten und Fluchen der Fuhrleute. Jedes Jahr gelangten auf diese Weise Hunderttausende Tonnen Weizen, Öl und Wein zu nächtlicher Stunde in die Stadt, um die ständig wachsende Zahl ihrer Einwohner zu ernähren.

 

Ein ziemlich gefragter Arzt

 

Tatsächlich fiel es Galen nicht schwer, den Zugang zur besseren Gesellschaft Roms zu finden. Als es ihm schon bald nach seiner Ankunft gelang, den überaus angesehenen Philosophen Eudemos wieder gesund zu machen, wurde er rasch bekannt. Sein Ruf, selbst solche Krankheiten heilen zu können, bei denen andere Ärzte kläglich versagten, drang von den Straßen und Plätzen Roms bis in den Kaiserpalast und an die Ohren von Kaiser Mark Aurel. So kam es schließlich, dass Galen bald Mitglieder der kaiserlichen Familie und hohe Beamte zu seinen Patienten zählte.

So abwechslungsreich und angenehm sich sein Leben in Rom gestaltete – nach einigen Jahren kam es erneut zu tief greifenden Veränderungen. 166 nach Christus erreichte eine bereits seit vielen Monaten in Teilen des Reiches grassierende Epidemie die Hauptstadt. Als die Krankheit, die man damals für die Pest hielt (heute geht man eher davon aus, dass es sich um die Pocken handelte), auch in Rom immer mehr Menschenleben forderte, verließen die meisten Aristokraten und viele Bürger die Stadt. Sie zogen sich aufs Land zurück, um dort entweder auf eigenen Gütern zu leben oder bei Verwandten und Freunden Unterschlupf zu suchen.

Auch Galen verließ nun Rom und damit seine Patienten. Er reiste nach Pergamon, wo er sich einigermaßen in Sicherheit wähnen konnte, um dort in aller Ruhe die weiteren Entwicklungen abzuwarten. Er soll von Pergamon aus einige Reisen unternommen haben. Später ereilte ihn dann der Ruf Kaiser Mark Aurels. Der Herrscher lud ihn ein, als Arzt an einem Feldzug gegen die Markomannen teilzunehmen. Galen folgte der Einladung des Kaisers zwar, schloss sich aber nicht den Truppen in Aquileia an, sondern reiste direkt nach Rom weiter. Dort verfügte er nach wie vor über gute Kontakte. So konnte er hohe Beamte davon überzeugen, dass er in Rom und als Leibarzt und Berater des Kaisersohnes und Thronfolgers Commodus von weitaus größerem Nutzen war. Mark Aurel scheint es ihm nicht übel genommen zu haben.

 

Seine letzten Jahre

 

Galen lebte, schrieb und lehrte jedenfalls bis ins hohe Alter in Rom. Dort dürfte er irgendwann im ersten Viertel des dritten Jahrhunderts (nach neueren Forschungen wahrscheinlich um 216 nach Christus) gestorben sein. Das Vermächtnis, das er der Nachwelt hinterließ, bestand im Wesentlichen aus den zahlreichen von ihm verfassten Büchern, kleineren Schriften und Traktaten. Sie wurden in den Jahrhunderten nach seinem Tod immer wieder neu übersetzt, mit Kommentaren versehen und neu herausgegeben.

Mit seinen zumindest teilweise auf Hippokrates beruhenden Lehren wurde Galen nun für viele Jahrhunderte die maßgebliche medizinische Autorität. Noch für Ärzte des 16. und des 17. Jahrhunderts führte an dem Griechen kaum ein Weg vorbei.

Zahlreiche Schriften Galens haben die Zeiten überdauert. Trotzdem weiß man, dass ihre Zahl ursprünglich wohl noch weitaus größer war. In vielen seiner Abhandlungen gibt Galen die Schriften von Hippokrates wieder, kommentiert und ergänzt sie jedoch entscheidend und lässt vor allem eigene Ansichten und Erfahrungen mit einfließen. Zu Galens wichtigsten Werken zählen unter anderem die Bücher über die Anatomie, über die Medizin im Allgemeinen und über die Krisen- und Fieberlehre. Dazu kommen mehrere diätetische Schriften.

In seinen Werken scheint es Galen in erster Linie darum gegangen zu sein, für die Medizin seiner Zeit sowie für die ärztliche Kunst der kommenden Jahrhunderte eine feste und sichere, eine vor allem wissenschaftlich fundierte Basis zu schaffen. Besonders bekannt ist Galen für die von ihm erneut formulierte Lehre von den vier Säften, die im Kern ebenfalls auf Hippokrates zurückgeht. Demnach lassen sich die Ursachen der Krankheiten auf ein Ungleichgewicht zwischen den vier Körpersäften Blut, gelbe Galle, schwarze Galle und Schleim zurückführen. Im Gegensatz dazu ist Gesundheit nur dort zu finden, wo eine ausgeglichene und harmonische Mischung der Körpersäfte besteht. Mit den Säften werden bei Galen auch die Elemente Luft, Wasser, Feuer und Erde sowie die vier Jahreszeiten in Beziehung gesetzt.

Tritt eine Krankheit auf, geht es natürlich in erster Linie darum, bald wieder gesund zu werden. Um dieses Ziel jedoch zu erreichen, muss die ursprüngliche Harmonie der Körpersäfte wieder hergestellt werden. Zu diesem Zweck setzte man bis weit in die Neuzeit hinein bestimmte diagnostische und therapeutische Verfahren ein: unter anderem Harnschau, Aderlass, Schröpfen, Abführen, Erbrechen- und Niesenlassen. Galen selbst empfahl besonders gern den Aderlass, mit dem man ungesunde Säfteansammlungen beseitigen und das ursprüngliche Gleichgewicht und damit die Gesundheit wieder herstellen könne.

Galen hat nicht nur die europäische, sondern auch die arabische Medizin maßgeblich beeinflusst und über weite Strecken geprägt. Angesichts dieser Übermacht Galens sind viele Fachleute heute der Ansicht, dass der Mann aus Pergamon den medizinischen Fortschritt gebremst, wenn nicht sogar verhindert hat, indem er die alten antiken Lehren und den Rationalismus seiner Wissenschaft über alles andere stellte. Seine beim Sezieren von Tieren gewonnenen Erkenntnisse übertrug er bedenkenlos auf den Menschen – allerdings auch die vielen Irrtümer, die sich dabei ganz zwangsläufig ergeben mussten.

 

***

 

5. Paracelsus: Wegbereiter der Ganzheitsmedizin

 

Abb. 4 Paracelsus,
1493 – 1541

 

Als Paracelsus 1493 als Philippus Theophrastus Aureolus Bombastus von Hohenheim in Einsiedeln im Kanton Schwyz geboren wurde, erblickte er das Licht einer Welt, die seit Kurzem ein gutes Stück größer war. Im Jahr zuvor hatte Christoph Kolumbus den Seeweg nach Amerika entdeckt, und schon wurden weitere Erkundungsfahrten zu den neuen Ufern vorbereitet.

Zum Entdecker und mehr noch zum Wegbereiter war auch der Knabe aus Einsiedeln bestimmt, nur war die Welt, der er sein ereignisreiches Leben widmen sollte, überall erfüllt von Krankheit, Schmerzen und Tod. Immer wieder dezimierten heimtückische Seuchen und Epidemien die Bevölkerungen der Dörfer und Städte, und selbst alltäglicheren Leiden standen die wenigen ausgebildeten Ärzte oft ebenso rat- wie hilflos gegenüber.

Auf seinem lebenslangen Weg zum begnadeten Arzt und Naturforscher, zum legendenumwobenen Wunderheiler und Alchemisten hat Paracelsus fast ganz Europa durchwandert und in vielen Ländern die Spuren seines Wirkens hinterlassen. Dass er dabei nicht immer Dank und Anerkennung erntete, sondern weitaus häufiger Ablehnung, Spott und offen ausgetragene Feindschaft, gehört ebenso zu seinem Lebensbild wie die zahlreichen Gerüchte, die sich bis heute um seine geheimnisvolle Kunst des Heilens ranken.

 

Kindheit in Kärnten

 

Zu Anfang des Jahres 1502 kam Paracelsus als acht- oder neunjähriger Knabe, der den frühen Tod der Mutter zu verschmerzen hatte, nach Villach in Kärnten, wo sein Vater Wilhelm Bombast von Hohenheim auf eine gut bezahlte Stelle als Arzt hoffen konnte. Villach, das seit dem 11. Jahrhundert zu den Kärntner Besitzungen des fernen fränkischen Bistums Bamberg gehörte, übertraf an wirtschaftlicher Bedeutung damals alle anderen Städte des Landes.

Vor allem die günstige verkehrsgeografische Lage der knapp 3000 Einwohner zählenden Stadt, die Knotenpunkt wichtiger Handelsstraßen nach Venedig, Wien, Salzburg und Regensburg war, und die montanindustrielle Bedeutung der an Bodenschätzen so reichen Gegend waren die Grundlagen für den schon sprichwörtlichen Reichtum der Villacher Bürgerfamilien. Hier, wo es auch Spitäler und ein schon damals berühmtes Warmbad gab, ließ sich für einen gebildeten Arzt und seinen Sohn ein durchaus gutes Auskommen erwarten. Das Haus Nr. 18 auf dem Villacher Marktplatz wurde für Paracelsus dann auch zum eigentlichen Elternhaus, in das er später, zwischen seinen vielen und langen Reisen, immer wieder gerne zurückkehrte.

In Villach jedenfalls hat jene Ausbildung begonnen, die ein Leben lang andauern und ihn schließlich zum aus heutiger Sicht bedeutendsten Arzt seiner Zeit machen sollte. Anfangs allein vom Vater unterrichtet, lernte der Knabe dann an Villachs städtischer Lateinschule das Lesen und Schreiben. Hier und bei den Experimenten im Labor des Vaters dürften auch seine vielfältigen Begabungen zum Vorschein gekommen sein, was Wilhelm von Hohenheim wohl dazu veranlasste, den Bildungsweg seines einzigen Sohnes weiter zu fördern.

Obwohl ein endgültiger Beweis bisher ausständig geblieben ist, spricht doch vieles dafür, dass Paracelsus irgendwann nach 1502 die Möglichkeit erhielt, die wohl berühmteste Kärntner Schule jener Zeit zu besuchen: die klösterliche Lateinschule des Benediktinerstifts St. Paul im Lavanttal. Dort und im unweit von St. Paul gelegenen St. Andrä, damals noch Sitz des Bischofs von Lavant, folgte der junge Paracelsus nicht nur aufmerksam dem Wissen seiner geistlichen Lehrer, sondern kam wohl auch mit den Armen und Kranken in Berührung, die bei den heilkundigen Mönchen Rat und Hilfe suchten.

 

Auf dem Weg zu einer ganzheitlichen Medizin

 

1509, im Alter von etwa 16 Jahren, verließ Paracelsus Kärnten, um mit dem Medizinstudium zu beginnen. Dieses Vorhaben führte ihn zunächst nach Wien und dann an mehrere deutsche Universitäten, ehe er in der berühmten italienischen Universitätsstadt Ferrara zum Doktor »beider Heilkunden« promovierte.

Auf ausgedehnten Reisen, die ihn in fast alle Länder Europas führten, kam er nicht nur mit den offiziellen Lehren der Heilkunde in Kontakt, sondern erlernte auch die geheimnisvolle Kunst der Alchemie. Das hat später viel zu seinem Ruf beigetragen, mit dem Teufel im Bund zu sein und die Kunst des Goldmachens zu beherrschen.

Tatsächlich hat er nicht nur bei erfahrenen Ärzten seine Kenntnisse vertieft, sondern auch bei Wunderheilern, Magiern und Kräuterfrauen. Er hat die Grenzen der an Universitäten gelehrten Medizin überschritten, um das Heilen in einem umfassenderen Sinn zu erlernen. In der Einheit von Mensch und Natur, von Körper und Geist, von Wissen und Glauben hat Paracelsus den richtigen Weg erblickt und wurde dadurch zum Begründer einer ganzheitlich orientierten Medizin.

Als er dann sogar öffentlich gegen die Schulmedizin auftrat, in Basel medizinische Lehrbücher verbrannte und Medikamente selbst herstellte, zog er sich endgültig den Zorn der Ärzte und Apotheker zu. Wo immer er in diesen Jahren auftrat und Menschen heilte, soziale Missstände anprangerte und sein Wissen in zahlreichen medizinischen, philosophischen und theologischen Schriften mitteilte, eilte ihm sein Ruf voraus. Von den einen wegen außerordentlicher Behandlungserfolge als Wunderheiler gefeiert, von den anderen als Scharlatan gefürchtet und bekämpft, war sein Weg gepflastert mit zahlreichen Schwierigkeiten, die ihn nicht nur immer wieder in große Armut stürzten, sondern schließlich auch sein Leben in erste Gefahr brachten.

 

Die letzten Lebensjahre

 

Nach einem neuerlichen Aufenthalt in Wien kehrte der ruhelose Doktor 1538, im Alter von 45 Jahren, nach Villach zurück. Dieses Mal in der festen Absicht, sich hier für den Rest seines Lebens als Arzt niederzulassen. Aber es hatte sich viel verändert, zu viel. Noch bevor er die Stadt seiner Kindheit erreichte, ereilte ihn die Nachricht, dass sein Vater vor Jahren schon gestorben war. Paracelsus ließ sich in Villach amtliche Papiere ausstellen und besuchte das Grab des Vaters am Villacher Jakobsfriedhof. Er, der gekommen war, um in seiner »anderen Heimat« Kärnten zu leben und zu arbeiten, musste nun feststellen, dass es hier niemanden mehr gab, der ihn halten wollte.

Noch nicht ganz ohne jede Hoffnung wanderte er zunächst in die Herzogstadt St. Veit, die jahrhundertelang das politische Zentrum des Landes gewesen war, ehe sie diese Vorrangstellung 1518 an die neue Kärntner Landeshauptstadt Klagenfurt abtreten musste. In St. Veit verfasste Paracelsus seine Schrift »Chronica und ursprung dises lants Kernten« und wandte sich mit ihr an die in Klagenfurt residierenden Kärntner Stände. Das Echo, das er fand, war zunächst durchaus vielversprechend. Man stellte ihm die baldige Veröffentlichung seiner Kärntner Schriften in Aussicht und bat ihn, höchstpersönlich nach Klagenfurt zu kommen.

Paracelsus, der ein Leben lang bestrebt war, die Summe seiner Erfahrungen und Gedanken in schriftlicher Form vorzulegen, wähnte sich seinem Ziel nahe, als er die Landeshauptstadt erreichte. Aber schon kurze Zeit später musste er auch hier eine bittere Enttäuschung erleben. Trotz monatelangen Aufenthalts unternahm niemand eine wirkliche Anstrengung, ihm ein Bleiben auf Dauer zu ermöglichen, und auch aus dem ersehnten Druck seiner Kärntner Schriften wurde nichts.

Daher brach er, von seiner »anderen Heimat« bitterenttäuscht und im Stich gelassen, im Jahre 1540 zu seiner letzten Reise auf. Die führte ihn, der, wie es heißt, bereits »schwachen Leibes« war, nach Salzburg. Dort versammelte er am 21. September 1541 im Wirtshaus »Zum weißen Ross« einige Vertraute um sich, um einem ebenfalls anwesenden Notar sein Testament zu diktieren. Er selbst saß auf einem Reisebett und war, wie die Anwesenden bestätigten, bei klarem Verstand. Nur drei Tage später, am 24. September, starb er in einem Zimmer des Gasthauses. Er wurde, seinem letzten Wunsch gemäß, am Salzburger St. Sebastianfriedhof beigesetzt. Zwei Jahrhunderte später, 1752, errichtete man in der Vorhalle der Sebastiankirche ein Grabdenkmal, in das man seine noch erhaltenen Gebeine umbettete.

Über die Todesursache wurde im Laufe der Jahrhunderte immer wieder spekuliert. Schon früh wurde behauptet, dass er letztlich an den Folgen eines hinterlistigen Anschlages auf sein Leben gestorben sei. Man habe ihn vergiftet oder mit einem Schwert tödlich verletzt. Auch ein Sturz über eine Treppe wurde in Betracht gezogen.

Als man die Reste seines Skeletts in den 1990er Jahren erneut und diesmal mit modernen gerichtsmedizinischen Verfahren untersuchte, konnte an seinen Gebeinen eine extrem hohe Quecksilberkonzentration gemessen werden. Aufgrund dieses Befundes ging man davon aus, dass Paracelsus zu Lebzeiten einer »beachtlichen« Quecksilberbelastung ausgesetzt war und schließlich an den Folgen der chronischen Quecksilbervergiftung starb. Die Vergiftung hatte er sich höchstwahrscheinlich selbst zugefügt, indem er sich immer wieder mit Quecksilber und quecksilberhaltigen Arzneien behandelte.

 

Die Heilkunst des Paracelsus

 

Als sich Philippus Theophrastus Aureolus Bombastus von Hohenheim den Beinamen »Paracelsus« zulegte, demonstrierte er damit vor allem den Sinn und Zweck seiner Berufung. Mit dem Pseudonym Paracelsus, »über Celsius hinaus«, bezog er sich auf den Römer Aulus Cornelius Celsus (um 25 vor Christus – um 50 nach Christus), dessen Medizinbücher bis heute eine wichtige Quelle der antiken Heilkunst sind, ging jedoch deutlich über diesen und die antiken Lehren hinaus.

Dazu kam, dass er in Basel, wo er eine Zeit lang Stadtarzt war, bedeutende medizinische Schriften zerriss, darunter Traktate Galens. Damit vollzog er, für jeden deutlich erkennbar, den Bruch mit der bisherigen Medizin. Denselben Zweck erfüllten auch seine öffentlichen Vorlesungen, in denen er Lehren und Ansichten verbreitete, die gegen praktisch alles gerichtet waren, was man an den medizinischen Fakultäten der Universitäten sonst für wahr und richtig hielt. Dazu passte es auch, dass Paracelsus seine eigenen Werke nicht mehr länger in der internationalen Gelehrtensprache Latein verfasste. Er schrieb deutsch, um seine Ideen der Allgemeinheit zugänglich zu machen.

In seinen Schriften blieb nahezu kein Gebiet der Medizin ausgeklammert. Paracelsus schrieb als Internist, als Pharmakologe, Psychologe und Philosophie, beschäftigte sich aber auch mit den Naturwissenschaften, der Theologie sowie Alchemie und Chemie. Gerade die Chemie hat er wie kein anderer vor ihm für seine ärztliche Kunst genutzt. Er stellte besonders wirksame Medikamente her und schreckte nicht davor zurück, Krankheiten mit »Gift« zu behandeln. Paracelsus: »Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis machts, dass ein Ding kein Gift sei.«

Wie bei Hippokrates in der Antike war die Heilkunst auch bei Paracelsus eine in erster Linie praktische Angelegenheit. Er schrieb und lehrte zwar viel, seine eigentliche Berufung erblickte er jedoch im Ausüben der ärztlichen Kunst, im direkten Kontakt mit den Patienten, im Verstehen ihrer Krankheiten und deren Behandlung und Heilung. Das wiederum macht die Betrachtung der großen Zusammenhänge erforderlich, in die der Mensch ebenso wie die ihn umgebende Natur und alles andere eingebettet ist.

Bekommt es der Arzt mit den Krankheiten seiner Patienten zu tun, muss er wissen, dass sie aus verschiedenen Quellen herrühren können. Der Einfluss der Gestirne kann dabei ebenso eine Rolle spielen wie Gift, das vom Körper aufgenommen wurde. Die angeborene Konstitution des Kranken kann ebenso von Bedeutung sein wie der Einfluss von »Geistern« oder der Einfluss Gottes. Jede Krankheit lässt sich nach Paracelsus auf eine oder mehrere dieser Ursachen zurückführen. Das setzt voraus, dass der gute Arzt, der erfolgreich behandeln möchte, sowohl Mediziner als auch Philosoph, Astrologe oder gar Alchemist sein muss.

Im Grunde, so Paracelsus, bewirken alle Krankheitsursachen im Körper ein Ungleichgewicht der Grundsubstanzen, bei Paracelsus Schwefel, Quecksilber und Salz. Will man eine Krankheit also heilen, geht es vorrangig darum, das Gleichgewicht wieder herzustellen – durch die Verabreichung des jeweils passenden Medikaments, das die benötigten Eigenschaften mitbringt.

Paracelsus hat der Medizin nicht nur einen Weg, sondern gleich mehrere neue Wege in die Zukunft gewiesen. Er hat den menschlichen Körper und damit Gesundheit und Krankheit als Teil eines großen Ganzen gesehen und gilt in vielerlei Hinsicht noch heute als Pionier oder zumindest Wegbereiter der »Ganzheitsmedizin«.

 

***

 

6. Die verbotene Wissenschaft

 

Abb. 5 Anatomische Illustration (1775)

 

 

Jahrhundertelang war es Ärzten und Gelehrten mehr oder weniger streng untersagt, die Körper Verstorbener zu öffnen. Selbst die Begründung, die Wissenschaften und die Medizin durch die immerhin möglichen neuen Erkenntnisse voranbringen zu wollen, zählte nicht. Wer es trotzdem wagte, zu sezieren, riskierte Verfolgung, Gefängnis und manchmal sogar den Tod. Auch durchaus angesehene Professoren, die sich vielleicht um entsprechendes Anschauungsmaterial für ihre Studenten bemühten, sahen sich ständig mit der Gefahr von Disziplinarmaßnahmen und Schlimmerem konfrontiert.

Dass sich an diesen durch und durch wissenschaftsfeindlichen Verhältnissen sehr lange Zeit nicht wirklich etwas änderte, dafür sorgten nicht nur Gesetze, Gerichte und Universitäten, sondern vor allem auch die Lehren und Grundsätze der Kirche. Trotzdem gab es immer wieder Wissbegierige, die sich viel brennender als andere für die Frage interessierten, wie der menschliche Körper unter seiner schützenden Hülle aus Haut und Muskeln denn in Wirklichkeit beschaffen war.

Entsprachen die Entdeckungen, die Gelehrte der Antike einst an den Kadavern von Hunden, Schweinen, Ziegen und Affen gemacht hatten, tatsächlich den Gegebenheiten beim Menschen? Waren alle menschlichen Körper in ihrem Aufbau gleich, oder gab es vielleicht bedeutende anatomische Unterschiede und Abweichungen nicht nur zwischen Frauen und Männern, sondern auch zwischen Jungen und Alten, Hellhäutigen und Dunkelfarbigen? Wie funktionierte der Körper, wie wurden seine inneren Organe am Leben erhalten, wie sein Herz angetrieben? Wo in diesem ebenso großartigen wie komplizierten Werk der Schöpfung war die Lebenskraft, wo war die unsterbliche Seele zu finden?

 

Eine der ältesten Fragen der Wissenschaft

 

Die Anatomie, also die Lehre vom Aufbau der Organismen und insbesondere des menschlichen Körpers und seiner Organe und Gewebe, ist eine der ältesten wissenschaftlichen Disziplinen überhaupt. Sie blickt auf eine lange Geschichte zurück, die vielleicht schon im Ägypten der Pharaonen ihren Anfang nahm. Der Begriff »Anatomie« kommt vom altgriechischen Wort für »Aufschneiden«. Sogar vom großen Philosophen und Naturwissenschaftler Aristoteles (384 – 322 vor Christus) ist bekannt, dass er im Rahmen seiner Forschungen auch sezierte – allerdings nicht menschliche Körper, sondern ausschließlich Tiere.

Die wohl ersten Ärzte der Antike, die es wagten, Menschenkörper zu öffnen und zu zerlegen, sollen Herophilos von Chalkedon (um 330 – um 255 vor Christus) und Erasistratos von Keos (um 305 – um 250 vor Christus) gewesen sein. Beide arbeiteten und lehrten im ägyptischen Alexandria, wo sie zu einer Reihe wichtiger Entdeckungen und Erkenntnisse gelangten. Sie unterteilten die Nerven, auf die sie bei ihren Untersuchungen stießen, in sensorische und motorische Nerven und konnten schließlich auch das Großhirn und das Kleinhirn beschreiben. Dabei kamen sie zu dem bemerkenswerten Schluss, dass die Intelligenz eines Lebewesens in erster Linie von der Anzahl der Großhirnwindungen abhänge. Je mehr, desto besser.

Ärzte wie Herophilos und Erasistratos sollen in ihrem Wissensdurst nicht lange gezögert haben, Sektionen an noch lebenden und daher Schmerzen empfindenden Menschen vorzunehmen. Dafür kamen in erster Linie verurteilte Verbrecher in Betracht.

Wie auch immer sie letztlich ausgesehen haben mag, diese erste und schaurige Blütezeit der anatomischen Forschung, sie war jedenfalls nicht von allzu langer Dauer. Schon bald nach dem Tod von Herophilos und Erasistratos scheint man wieder damit aufgehört zu haben, den von ihnen vorbereiteten Weg weiter zu beschreiten. Der Verzicht, Menschen zu sezieren, ob er nun ein freiwilliger oder doch eher erzwungener war, dauerte im Großen und Ganzen eineinhalb Jahrtausende lang, also bis an die Schwelle vom Mittelalter zur frühen Neuzeit.

Wann immer während dieser langen Phase anatomische Fragen nach einer verlässlichen Antwort verlangten, wurden offenbar ausschließlich Tiere seziert. Vor allem Schweine, weil man von ihnen annahm, dass ihre Anatomie in vielem der des Menschen am ähnlichsten sei. Aber auch Hunde, Affen, Ziege und Schafe, manchmal sogar Löwen, Tiger und Elefanten kamen den Anatomen damals unter das Skalpell.

Erst im 15. und erst recht im 16. Jahrhundert wurde die Zeit allmählich reif dafür, die noch aus der Antike stammenden anatomischen Lehren erneut zu überprüfen und sie gegebenenfalls zu revidieren. Vieles von dem, was sich nun ereignete, war jedoch nach wie vor mit großen Gefahren verbunden. Es musste daher im Stillen und Verborgenen geschehen.

 

Die Anatomie hält noch heute so manche Überraschung bereit

 

Ehe wir uns einigen wenigen Pionieren in der Geschichte der Anatomie zuwenden, soll daran erinnert werden, dass die anatomische Forschung heute zwar einen sehr hohen Wissensstand erreicht hat, dass sie aber keineswegs ein ganz und gar abgeschlossener Wissenschaftszweig ist. Obwohl Ärzte und Forscher Baustein für Baustein zusammengetragen und den menschlichen Körper bis ins kleinste Detail untersucht, durchleuchtet, zergliedert und vermessen haben, wäre es nicht richtig, zu meinen, es gäbe in dieser Hinsicht heute nichts mehr zu entdecken.

Das zeigen zwei Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit. So ist es belgischen Forschern erst vor wenigen Jahren gelungen, ein bis dahin unbekanntes Band im menschlichen Knie zu sichten. Dieses so genannte »anterolaterale Ligament« soll mit daran beteiligt sein, die Stabilität des Knies aufrechtzuerhalten. Damit, so die Belgier, wäre auch zu erklären, warum es nach komplizierten Kreuzbandoperationen immer wieder zu Instabilitäten im Knie kommt. Die Forscher haben die Knie von insgesamt 41 verstorbenen Menschen untersucht und in 40 Fällen das besagte »anterolaterale Ligament« gefunden.

Dass Entdeckungen wie diese nicht unbedingt Einzelfälle sind, sondern öfter vorkommen, als man vielleicht denkt, musste die medizinische Fachwelt schon einige Monate vor der Nachricht aus Belgien zur Kenntnis nehmen. Wissenschaftler der englischen Universität Nottingham überraschten ihre Kollegen damit, dass die Hornhaut des Auges offenbar nicht aus fünf Schichten, wie man davor angenommen hatte, sondern aus sechs besteht. Die neu entdeckte »Dua-Schicht« wird als extrem dünn, aber dennoch sehr widerstandsfähig beschrieben und befindet sich an der Rückseite der Hornhaut. Mit ihrer weiteren Erforschung verbindet man die Hoffnung, Augenoperationen wie zum Beispiel Hornhauttransplantationen, einfacher und zugleich sicherer zu machen.

 

***

 

7. Leonardo da Vinci: Ein Genie erforscht die Anatomie

 

Abb. 6 Leonardo da Vinci,
1452 – 1519

 

Leonardo da Vinci, der aus einem kleinen, unscheinbaren italienischen Dorf in der Toskana stammte, galt schon zu seinen Lebzeiten als einzigartiges Künstlergenie. Er wurde als Maler und Bildhauer gerühmt und gefeiert, ließ sich für seine Dienste stets großzügig entlohnen und brachte es mit seinen Werken zu einigem Wohlstand. Nur sein zumindest aus heutiger Sicht berühmtestes Kunstwerk, das Bildnis der »Mona Lisa«, gab er das ganze Leben lang nicht aus der Hand. Heute, Jahrhunderte später, hängt Leonardos Meisterwerk im Louvre in Paris gut gesichert und klimatisiert hinter Panzerglas und zieht als das bekannteste Exponat des Museums Jahr für Jahr über sieben Millionen Besucher an.

Aber der Künstler Leonardo hatte nicht nur viele Seiten, sondern mindestens ebenso viele Geheimnisse. Erst lange Zeit nach seinem Tod entdeckte man nach und nach das wahre Ausmaß und die Bedeutung seiner Leistungen auf den Gebieten der Naturwissenschaften, der Technik und der Architektur, aber auch seine erstaunlichen Studien und Skizzen zur Anatomie. Gerade Letztere, die Leonardo selbst kaum jemand zeigte, sind heute sowohl von künstlerischem als auch von wissenschafts- und medizinhistorischem Interesse. Mit diesem lange verborgen gebliebenen und später oft unterschätzten Teil seines Schaffens hat der ebenso vielseitige wie facettenreiche Leonardo da Vinci seinen Anteil an der Geschichte der Medizin.

 

 

Ein ganz und gar ungewöhnliches Kind seiner Zeit

 

Ein halbes Jahrhundert war Leonardo bereits tot, als Giorgio Vasari (1511 – 1574), selbst ein bekannter Künstler und einer der ersten Kunsthistoriker überhaupt, über ihn schrieb: »Wohin er den Geist auch lenkte, verhalf ihm seine Begabung, die schwierigsten Dinge mit Leichtigkeit zur Vollendung zu bringen.« Vasari verbreitete und überlieferte mit seiner 1568 erschienenen Biografie Leonardos vor allem das Bild vom ständig schaffenden, alles erfassenden und immer wieder Neues erfindenden Genie, das sich fortan hartnäckig halten und im Laufe der Jahrhunderte Heerscharen von Künstlern, Kunsthistorikern, Historikern und Erfindern beeindrucken und inspirieren sollte. Und das bis zum heutigen Tag.

Während Leonardo als Künstler und in mancherlei Hinsicht auch als Architekt und Techniker schon zu Lebzeiten eine Legende war, wurden viele seiner anderen Arbeiten – vor allem auf den Gebieten der Naturwissenschaften, der Philosophie und der Anatomie – erst im Laufe des 19. Jahrhunderts wiederentdeckt. Und zwar oft erst anhand seiner Briefe, Skizzen und Tagebücher. Durch sie wurde Leonardo Jahrhunderte nach seinem Tod endgültig zu jenem universalen Genie, über das der Schweizer Historiker Jakob Burckhardt (1818 – 1897) schrieb: »Die ungeheuren Umrisse von Leonardos Wesen wird man ewig nur von ferne ahnen können.«

Leonardo, von dem nur ein einziges Selbstbildnis erhalten blieb, das er zudem erst im Alter von etwa 60 Jahren schuf, wurde am 15. April 1452 in Vinci geboren. Er war das uneheliche Kind eines Bauernmädchens und eines Notars und wuchs beim Großvater auf. Weil er keine wirkliche Schulbildung besaß und ihm auch später, im Gegensatz zu anderen Künstlern, ein akademischer Weg verwehrt blieb, bezeichnete er sich selbst als »ungebildet«. Trotzdem wurde schon in seiner Kindheit seine außerordentliche künstlerische Begabung offenbar, die von einem regen Interesse an allen Vorgängen in der Natur und allen ihren Lebewesen begleitet war.

1469 übersiedelte Leonardo zu seinem Vater nach Florenz und erhielt in der toskanischen Metropole die Möglichkeit, in der Werkstatt des berühmten Bildhauers Andrea del Verrocchio (1435 – 1488) zu lernen. Der Meister, dessen Schüler und Mitarbeiter Leonardo von da an ganze zwölf Jahre lang war, erkannte schon recht bald das Ausnahmetalent seines Schützlings und förderte es nach Kräften und Möglichkeiten.

Nach Abschluss seiner Lehrzeit widmete sich Leonardo weiterhin den verschiedenen künstlerischen und technischen Problemstellungen der Malerei, so zum Beispiel der Perspektive und der Frage der richtigen Proportionen. Gerade weil ihm diese Themen und die perfekte Beherrschung seines Handwerks so wichtig waren, verwundert es nicht, dass Leonardo früher oder später mit der Anatomie, der Wissenschaft und Lehre vom Aufbau des Körpers, in Berührung kam.

 

Leonardos geheime anatomische Studien

 

Leonardo hatte bekanntlich ein sehr abwechslungsreiches Leben, das ihn immer wieder an die Höfe und in die Paläste ebenso mächtiger wie eigensinniger Herrscher führte. Für sie arbeitete er eine Zeit lang, schuf einige seiner berühmtesten Kunstwerke in ihrem Auftrag und betätigte sich als Architekt, Ingenieur, Erfinder und Wissenschaftler. Er plante Befestigungsanlagen, Dämme und Kanäle und beschäftigte sich zumindest gedanklich mit der Konstruktion gepanzerter Fahrzeuge, ausgeklügelter Maschinen und früher Fluggeräte.

Er war aber auch der erste Künstler überhaupt, von dem bekannt ist, dass er verstorbene Menschen sezierte. Seine anatomischen Skizzen und Studien, das Resultat dieser mehr als gewagten Experimente, sind heute nicht nur einzigartige und daher sehr kostbare Kunstwerke, sondern ermöglichen auf eine ganz besondere Weise Einblicke in das Wesen der menschlichen Natur.

Dabei wurde dem Künstler aus Vinci eine große Portion Mut abverlangt. Als er seine anatomischen Arbeiten nämlich schuf und zu diesem Zweck wiederholt eingehende Untersuchungen an Leichen durchführte, war das Sezieren menschlicher Körper noch streng verboten. Dennoch wagte Leonardo im Geheimen das, was andere vor und nach ihm mitunter den Kopf kostete.

Was er bei der Öffnung eines toten menschlichen Körpers mit den Sinnen wahrnahm und dann oft bis ins kleinste Detail erforschte, nutzte er in erster Linie, um seine Malkunst weiter zu perfektionieren. Er erkannte, dass es ihm nur auf diese Weise möglich war, die Proportionen des menschlichen Körpers und seine komplexen Bewegungen und Möglichkeiten wirklich zu erfassen.

Gleich am Anfang seiner anatomischen Studien beschäftigte er sich mit dem menschlichen Schädel. Er präparierte verschiedene Exemplare, um sie dann aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und zu zeichnen. Auch das menschliche Auge faszinierte ihn. Er folgte den Sehbahnen und fand so jene Stelle im Gehirn, an der sie einander kreuzen. Dort vermutete Leonardo dann auch den Sitz der Seele. Er studierte die Muskeln, die Nerven und die inneren Organe und erblickte in seinen Reisen durch den menschlichen Körper sowohl eine künstlerische als auch eine persönliche Herausforderung.

Leonardo da Vinci studierte freilich auch die noch immer sehr spärliche Fachliteratur über Anatomie. Hauptsächlich waren das Werke, die aus der Zeit Galens von Pergamon stammten. Dessen Erkenntnisse, vorwiegend beim Sezieren von Tieren gewonnen, hatte bisher noch niemand wirklich in Zweifel gezogen. Wohl auch deshalb nicht, weil seit der Antike die Möglichkeit fehlte, sie beim Zerlegen menschlicher Körper zu überprüfen.

Nach Leonardos Zeit in Mailand, wo er für das Herrscherhaus tätig war, Kunstwerke schuf und Kanäle und Schleusen baute, kehrte er schließlich wieder nach Florenz zurück. Dort schuf er nicht nur das bis heute so geheimnisumwitterte Gemälde der »Mona Lisa«, sondern setzte auch seine anatomischen Forschungen fort.

 

Interesse am Inneren und seinen Veränderungen

 

Als Leonardo 1503 erfuhr, dass in einem florentinischen Spital, trotz aller nach wie vor bestehenden Verbote, immer wieder Leichen geöffnet wurden, bemühte er sich sofort um die Erlaubnis, dort selbst Sektionen durchführen zu dürfen. Tatsächlich erhielt er sie. Im Laufe einiger Jahre soll er über 30 Leichen seziert und dabei Körperteile systematisch untersucht und ihre Gestalt und ihren Aufbau in Form von Skizzen festgehalten haben. Sein Interesse galt den Muskeln, den Knochen und der Wirbelsäule ebenso wie den Organen, bei deren Untersuchung er etliche Details entdeckte, die in der Medizin und den anderen Wissenschaften bis dahin noch gänzlich unbekannt waren.

An der Leiche eines Hundertjährigen erkannte Leonardo, dass sich im Laufe des Lebens nicht nur das Äußere des Menschen verändert, sondern auch sein Inneres. Er sah, dass zum Beispiel die Blutgefäße eines jungen Menschen normalerweise noch glatt und gerade waren, während sie sich im Alter zunehmend verkrümmten und oft dünner oder dicker wurden.

Als das Krankenhaus dann aber die ursprünglich erteilte Erlaubnis widerrief und Leonardo damit die Fortsetzung anatomischer Studien an toten menschlichen Körpern untersagte, musste sich der berühmte Künstler fortan mit dem Sezieren von Tieren begnügen. Aber selbst dabei waren seinem so genau beobachtenden, seinem außerordentlich scharfen Verstand noch viele wichtige und überraschende Einsichten möglich. Als Leonardo etwa das Herz eines Schweines genauer untersuchte, erkannte er, dass das Herz ein Muskel ist.

Leonardo, der im Laufe seines Lebens viel Zeit in der Gesellschaft von Leichen zubrachte, schuf als Ergebnis dieser seiner »Nachtstunden« Hunderte von anatomischen Zeichnungen. Dieses eindrucksvolle »andere« Werk des berühmten Künstlers, das er über viele Jahre hinweg sorgsam hütete und niemals veröffentlichte, blieb auch nach Leonardos Tod in Frankreich lange unbeachtet. Es sollte noch das eine oder andere Jahrhundert vergehen, ehe seine anatomischen Skizzen zum ersten Mal geordnete, wissenschaftlich aufgearbeitet und schließlich herausgegeben wurden. Obwohl es dann längst schon zu spät dafür war, dass sie Einfluss auf die weitere Entwicklung der Medizin hätten nehmen können, fanden sie als Zeugnisse von Leonardos eingehender Beschäftigung mit der Anatomie weltweit große Beachtung.

 

***

 

8. Andreas Vesal: Grabräuber im Dienst der Wissenschaft

 

Abb. 7 Andreas Vesal,
1514 – 1564

 

 

Einer der berühmtesten Pioniere der Anatomie und zugleich wohl der unerschrockenste unter ihnen war der flämische Arzt und Gelehrte Andreas Vesal, auch Vesalius genannt. Wie kaum ein anderer vor und nach ihm war er geradezu besessen davon, dem Bauplan und den Geheimnissen des menschlichen Körpers nachzuspüren. Vesalius, der nicht davor zurückschreckte, Grenzen zu überschreiten und althergebrachte Tabus zu brechen, ging durch seinen unstillbaren Forscherdrang und eines der bedeutendsten anatomischen Lehrbücher aller Zeiten in die Medizingeschichte ein.

 

Unangebrachte Distanz zu toten Leibern

 

Vesalius kam am letzten Tag des Jahres 1514 zur Welt und wurde auf den Namen Andreas oder Andries Vesal getauft. Seine Heimatstadt war Brüssel, in den habsburgischen Niederlanden gelegen und damals die Hauptstadt von Burgund. Als das Kind am 31. Dezember zum ersten Mal seine Stimme zu einem Schrei erhob, stand sein Vater, ein angesehener Apotheker am Hof zu Flandern, in den Diensten von Kaiser Karl V. Dadurch wurde er später in die glückliche Lage versetzt, dem Sohn eine gute schulische Ausbildung zu ermöglichen.

Andreas studierte zunächst an der Universität von Löwen (heute »Leuven« in Belgien) klassische Sprachen und Medizin, wechselte dann aber schon 1533 an die Universität von Paris. Dort wurden, wie man sich erzählte, während anatomischer Vorlesungen ab und zu Leichen geöffnet. Allerdings nicht von den Professoren selbst, die sich viel zu schade für solche Tätigkeiten waren, sondern von einfachen Gehilfen, die in ihren Brotberufen meistens als Fleischer oder Barbiere arbeiteten.

Die Professoren aber hielten, so gut es eben ging, Abstand zu den toten Leibern und wiesen ihre staunenden Studenten höchstens mit dem langen Zeigestock auf die soeben vom Gehilfen freigelegten Muskeln, Knochen und inneren Organe hin. Sonst aber blätterten sie die meiste Zeit über in antiken Lehrbüchern und lasen, auf Latein natürlich, die ihnen wichtig erscheinenden Stellen vor.

Natürlich waren sämtliche Professoren der medizinischen Fakultät zu Paris erklärte Anhänger Galens, der im zweiten Jahrhundert nach Christus das medizinische und anatomische Wissen der antiken Welt zusammengefasst und ihm sozusagen eine bleibende Form verliehen hatte. Seither war die Medizin ein auf weiten Strecken abgeschlossenes System, das keiner der auf ihren Ruf bedachten Pariser Professoren ernsthaft anzuzweifeln wagte. Dabei hätte doch der eine oder andere durchaus bemerken müssen, dass zwischen Galens Beschreibungen der menschlichen Anatomie und dem, was man im Hörsaal zu sehen bekam, oft beträchtliche Unterschiede bestanden. So soll es gar nicht selten vorgekommen sein, dass ein sezierender Gehilfe ein Organ, dessen Lage der Professor soeben anhand von Galens Schriften beschrieben hatte, just an der bezeichneten Stelle nicht fand. Irgendetwas konnte da nicht stimmen; aber noch war niemand dazu bereit, diesen Abweichungen wirklich auf den Grund zu gehen.

Vesal selbst fiel zu jener Zeit seinen Lehrern und Mitstudenten vor allem durch den besonderen Eifer auf, den er bei allen seinen Studien, vor allem jedoch den anatomischen, an den Tag legte. Wann und wo immer es etwas zu entdecken, zu sehen, zu erfahren und zu lernen gab, war Vesal als einer der Ersten zur Stelle. Es war bereits absehbar, dass aus dem ehrgeizigen Flamen irgendwann ein bedeutender Arzt und vielleicht sogar ein berühmter Gelehrter werden würde.

 

Merkwürdige Gerüchte machen die Runde

 

Vesal war an der menschlichen Anatomie so sehr interessiert, dass die kühle und äußerst distanzierte Art und Weise, mit der die Professoren das Thema behandelten, keinesfalls seine Zustimmung finden konnte. Auch deshalb kehrte er Paris, der Pariser Universität und deren medizinischer Fakultät eines Tages den Rücken, um wieder in die Heimat zu reisen. Dort setzte er das Medizinstudium an der Universität Löwen fort und beendete es schließlich erfolgreich.

Damals kursierten allerdings bereits merkwürdige Gerüchte über ihn. Er sei, wie man munkelte, mitten in der Nacht zum Galgenhügel vor den Toren der Stadt geschlichen und habe dort einen schon vor längerer Zeit Gehenkten vom Galgen abgenommen. Das von der Verwesung und den Raben bereits fast vollständig freigelegte Skelett habe er im Schutz der Dunkelheit mit sich genommen, um es im Geheimen zu präparieren. Und immer wieder sei er nachts auch in der Nähe von Friedhöfen anzutreffen gewesen.

An diesen Gerüchten war, so abwegig sie vernünftigen Geistern zunächst erschienen, zumindest einiges, wenn auch nicht alles wahr. Tatsächlich hatte Vesal zu jener Zeit mindestens ein menschliches Skelett unerlaubt entwendet und für seine Forschungen benutzt. Er hatte mehrmals alle Knochen gezählt und einige anatomische Lehrsätze überprüft. Dabei fand er, wie kaum anders zu erwarten war, zahlreiche Abweichungen gegenüber den Behauptungen in den Lehrbüchern und fühlte sich dadurch umso mehr bestätigt, seinen einmal eingeschlagenen Weg weiter fortzusetzen. Koste es, was es wolle.

Wenig später war Vesal dann in der oberitalienischen Universitätsstadt Padua zu finden, wo man ihn trotz seiner noch jungen Jahre sogleich zum Professor für Chirurgie und Anatomie ernannte. Vesal wiederum war fest entschlossen, die nunmehr erlangte Position an der damals wohl berühmtesten medizinischen Fakultät Europas dafür zu nützen, um von Padua aus die Wissenschaft von der menschlichen Anatomie grundlegend zu erneuern. Sehr zum Missfallen seiner Professorenkollegen setzte er sich sogleich über feste Regeln hinweg, als er damit begann, im Unterricht mit eigenen Händen zu sezieren und den Studenten jeden Schnitt und Schritt, jeden freigelegten Muskel, jeden Knochen und jedes Organ zu zeigen und zu erklären.

Jede einzelne seiner Demonstrationen führte er mit denkbar höchster Konzentration und größter Kunstfertigkeit aus und war bald nicht nur an der Universität, sondern in der ganzen Stadt dafür bekannt, die über zweihundert verschiedenen Knochen des menschlichen Körpers noch mit verbundenen Augen auseinanderhalten zu können. Andreas Vesal lehrte mehrere Jahre in Padua, hielt sich einige Zeit lang aber auch in Bologna und Venedig auf.

 

Grabräuber im Dienst der Wissenschaft

 

In Padua soll er mehrmals Grabräuber dafür bezahlt haben, dass sie sich zu nächtlicher Stunde auf die Friedhöfe schlichen, erst vor Kurzem geschlossene Gräber wieder öffneten und ihn, den Professor, mit frischen Leichen versorgten. Als besonders geeignet erschienen ihm die Toten vom jüdischen Friedhof, weil die Juden stets großen Wert darauf legten, ihre Verstorbenen so rasch wie möglich zu bestatten.

Mehrmals wurden Vesal und die Verantwortlichen seiner Universität von den Behörden ermahnt, das fürchterliche Treiben zu unterlassen bzw. dafür zu sorgen, dass es unverzüglich eingestellt werde. Aber Andreas Vesal machte einfach weiter. Immer wieder gelang es ihm, rechtliche Schlupflöcher ausfindig zu machen und so der Gefahr, in der er sich zweifellos befand, gerade noch einmal zu entgehen. Allerdings wechselte er im Laufe der Jahre einige Male die Städte und die Universitäten.

Weil Vesal unter seinen Studenten schon bald Helfer und sogar einige Nachahmer fand, sahen die von den grabräuberischen Aktivitäten auf das Höchste beunruhigten Bürger keine andere Möglichkeit, als zur Selbsthilfe zu greifen. Sie bezahlten starke und unerschrockene Männer dafür, dass diese die ganze Nacht über den Friedhof und vor allem die noch frischen Gräber bewachten.

Aber Andreas Vesal forschte und lehrte relativ unbehelligt weiter. Er untersuchte und sezierte zahlreiche Leichname und hielt die dabei gemachten Beobachtungen im Dienst der Wissenschaft akribisch genau fest. Aber als Arzt, der er schließlich in erster Linie war, kümmerte er sich auch um die Lebenden. So etwa in Venedig, wo er seine außerordentlichen chirurgischen Fähigkeiten bei mehreren schwierigen Operationen unter Beweis stellte und dafür eine Professur für Chirurgie und Anatomie erhielt.

Er arbeitete eine Zeit lang am städtischen Spital von Venedig und nützte jede Gelegenheit, um nicht nur vom wissenschaftlichen, sondern auch vom kulturellen und vor allem vom künstlerischen Leben der reichen Lagunenstadt zu profitieren. Als er mit der Malschule Tizians in Berührung kam, erwies sich dieser Kontakt als besonders fruchtbar und richtungsweisend für die Gestaltung seiner künftigen wissenschaftlichen, vor allem anatomischen Werke.

 

Begründer der modernen Anatomie

 

Schon 1538 hatte Vesal sechs anatomische Lehrtafeln veröffentlicht, die ihm zunächst vor allem als Anschauungsmaterial im Rahmen seiner chirurgischen und anatomischen Vorlesungen dienten. Während drei Tafeln dem Netz der Adern im Körper gewidmet waren, zeigten die anderen detaillierte Darstellungen des menschlichen Skeletts. Für die qualitativ hochwertigen Zeichnungen, auf deren besondere Detailtreue Vesal von Anfang an großen Wert legte, war es dem Professor gelungen, den Maler, Grafiker und Holzschneider Jan Stephan van Calcar (1499 – 1546) zu gewinnen.

Calcar, der ebenfalls vom Niederrhein stammte, aber mit einer Frau nach Venedig durchgebrannt war, hatte sich als Tizian-Schüler einen Namen gemacht. Die Zeichnungen, die Calcar im Auftrag Vesals schuf, erwiesen sich jedenfalls als besonders brauchbar für den Unterricht. Sie fanden nicht nur bei den Studenten, sondern auch bei einigen Professoren und Ärzten großen Anklang.

Vesal sah sich durch den großen Erfolg der Tafeln in der Absicht bestärkt, weitere wissenschaftliche Studien von zumindest ähnlich hoher Qualität zu veröffentlichen. Schließlich begann er, von der Zusammenarbeit mit Calcar beeinflusst, mit der Arbeit an einem monumentalen Lehrbuch der Anatomie. Um sein ehrgeiziges Ziel zu erreichen, war er bereit, weder Kosten noch Mühen zu scheuen. Vesal wollte in dem Werk die zahlreichen Irrtümer der antiken Ärzte aufdecken und richtigstellen und es sogar wagen, den große Galen und seine Lehren zu kritisieren und zu korrigieren. Ein äußerst wagemutiges Unterfangen.

 

Ein Buch wie kein anderes

 

Tatsächlich wurde die Arbeit an diesem Lehrbuch zu einer gewaltigen Herausforderung für den Flamen. Er verfasste nicht nur ein umfangreiches Manuskript, sondern verbrachte viel Zeit damit, die Zeichner und Holzschneider – wahrscheinlich war auch Calcar unter ihnen – zu instruieren und zu koordinieren. Als die Arbeiten 1542 endlich soweit vorangekommen waren, dass man an die Drucklegung des Werkes denken konnte, reiste Vesal höchstpersönlich über die Alpen in die Schweiz, um in Basel den Druck der ersten Auflage zu überwachen.

Das Ziel seiner Reise war die Druckerwerkstatt von Johannes Herbst, der in den gelehrten Kreisen seiner Zeit vor allem als Johannes Oporinus (1507 – 1568) bekannt war. Oporinus war der Sohn eines Malers, hatte selbst eine akademische Ausbildung absolviert, war Professor gewesen und hatte schließlich bei dem bedeutenden Basler Buchdrucker Johann Froben (um 1460 – 1527) das Druckerhandwerk gelernt. Darüber hinaus war Herbst alias Oporinus einige Zeit lang Sekretär von Paracelsus gewesen, ehe er sich ganz der Buchdruckerkunst widmete.

Monatelang überwachten Vesal und Herbst gemeinsam den Druck des gewaltigen Werkes. Vesal las Korrektur, war mit Änderungen und Ergänzungen beschäftigt und blickte, wenn gerade nichts anderes zu tun war, den Druckern bei ihrer Arbeit über die Schultern.

Und dann war das Werk, das den lateinischen Titel »De humani corporis fabrica« (dt. »Über den Bau des menschlichen Körpers«) trug, endlich fertig. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Jede der insgesamt 663 Seiten mit Text, jede der über 400 Illustrationen war genau so, wie es Vesal gehofft hatte. Diejenigen, die das Buch schließlich in den Händen hielten, es betrachteten und in ihm lasen, kamen aus dem Staunen nicht heraus. Nicht nur die großartigen Bilder waren etwas Besonderes, sondern auch die Texte, die viel Neues boten. Immerhin wagte es Vesal, dem großen Galen mehr als 200 Irrtümer nachzuweisen, angestammte Professorenmeinungen zu widerlegen und so manche seit Jahrhunderten gelehrte und geglaubte Ansicht über den menschlichen Körper von ihrem nur scheinbar so sicheren Platz am Podest zu stoßen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752132762
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Februar)
Schlagworte
Entdeckungen Ärzte Medizingeschichte Geschichte Archäologie Ägyptologie Biographie

Autor

  • Werner Thelian (Autor:in)

Der Journalist und Autor Werner M. Thelian, Jahrgang 1964, schrieb bereits in jungen Jahren Erzählungen und Romane. Nach dem Studium der Germanistik und Philosophie arbeitete er u.a. für den Rundfunk, als Redakteur einer Tageszeitung und als Chefredakteur eines Ärztemagazins. Als Journalist und Autor schrieb er zahlreiche Beiträge und Serien für Zeitungen und Magazine, v.a. über historische, naturwissenschaftliche und medizinische Themen. Er lebt und arbeitet in Wolfsberg in Kärnten.