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Namiko und das Flüstern

von Andreas Séché (Autor:in)
180 Seiten

Zusammenfassung

Als der deutsche Reporter in den Gärten von Kyoto die geheimnisvolle Namiko kennenlernt, ist er sofort von ihr fasziniert: Die Studentin fährt gern Traktor, braucht zum Lesen kein Buch und entführt ihn mitten in der Nacht in den »Garten der Mondseufzer«. Und Namiko flüstert. Nicht nur mit Worten, sondern auch mit Gesten, Blicken und Berührungen. Je näher sie sich kommen, desto intensiver spürt er die große Magie der leisen Töne: in den alten Gärten von Kyoto, in der Natur – und in der Liebe. Schnell entwickelt sich zwischen den beiden eine tiefe Zuneigung. Doch der Tag seiner Heimreise nach Deutschland rückt immer näher. Und mit ihm eine folgenreiche Entscheidung.


»Mit viel Raffinesse werden die Selbstfindung eines Menschen und der Weg zu einem erfüllten Leben geschildert.« (Financial Times)


»Andreas Séché hat eine poetische Liebesgeschichte der besonderen Art geschrieben. Seine philosophischen Exkurse erinnern dabei an die besten Romane von Paulo Coelho.« (Nürnberger Nachrichten)


»180 Seiten große Lesefreude.« (Südwest Presse)

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Wir müssen nicht weiter gehen.

Aber tiefer.



Prolog


Manchmal schaue ich zum Mond auf und sehe mich selbst. Oft stehe ich dabei im Garten, direkt neben dem Nadelbaum, und während ich in den Himmel starre, drehe ich langsam einen Kiefernzapfen zwischen meinen Fingern. In letzter Zeit mag ich pathetische Gesten.

Irgendwie habe ich immer gewusst, dass die Zeit kommen würde, in der ich still den Mond anblicke und an meine Entscheidung denke und an das, was geschehen ist. Natürlich bin ich traurig, aber ich bin auch glücklich. Vielleicht ist das ohnehin dasselbe, wer kann das schon sagen.

Wenn ich den Blick wieder senke, schauen meine Augen durch das Fenster in den hell erleuchteten Raum hinein, und wenn ich mich konzentriere, sehe ich dort zwei verschwommene Gestalten auf dem Sofa sitzen, Rotwein trinken und lachend den Kopf nach hinten werfen.

Wir sehen uns, flüstere ich dann und blicke auf den Kiefernzapfen.


1


Immer wenn ich eine Flöte höre, muss ich an Namiko denken.

Namiko liebte die Flöte und die Töne, die aus ihr herausströmten, sie mit Haut und Haar erfassten und ihre Seele forttrugen in Welten, zu denen mir der Zutritt verwehrt war. Wenn Namiko eine Flöte hörte, schien sie wie in einen Bann gezogen. Meistens waren es die langsamen, tiefen Töne der japanischen Shakuhachi, deren Zauber sie trunken machte und dem auch ich mich nicht entziehen konnte. Aber um wie viel tiefer konnte die Musik in ihr Inneres vordringen als in meines.

Überhaupt liebte Namiko die sanften Töne. Das leise Atmen des ersten Oktoberwinds, das gedämpfte Geschwätz der Bäche von Kyoto, das Knistern des Schnees auf dem Moos, den fernen Klang buddhistischer Tempelglocken und natürlich das Flüstern.

Manchmal lag sie einfach neben mir im Gras, und dann spürte ich bereits, dass sie gleich wieder zu flüstern beginnen würde. Flüstern, sagte Namiko immer, das sei betonen, indem man gerade nicht betone. Wenn man die Stimme zurücknehme, verlagere sich das Gewicht von der Form des Gesagten auf seinen Inhalt und verleihe dem, was man ausdrücken wolle, den unaufdringlichen Hauch des Bedeutungsvollen.

»Flüstern«, flüsterte sie mir einmal ins Ohr, »ist Intimität mit der Stimme.«

Solche Sachen konnte nur Namiko sagen.

Wenn ich heute, nach all den Jahren, zurückblicke, dann überkommt mich jenes seltsame Gefühl, das Glück und Wehmut in sich vereint. An dem Tag, als unsere Wege sich zum ersten Mal kreuzten, hatte ich ja keine Ahnung, wie machtvoll das Schicksal gerade im Begriff war, in meine Zukunft einzugreifen. Das war in Kyoto damals. Namiko trat in mein Leben mit der stummen Herausforderung eines Rätsels, das endlich gelöst werden wollte. Wären wir uns damals nicht begegnet, manches wäre anders verlaufen in meinem Leben. Vieles hätte ich verpasst, weil es durch meine Wahrnehmung hindurchgesickert wäre wie Wasser durch ein Sieb. Dank Namiko weiß ich, dass für mich das wichtigste Geschenk der Liebe in der Nähe liegt und nicht im Freiraum. Wäre Namiko nicht gewesen, ich hätte vielleicht niemals die sanften Töne des Lebens wispern hören. Plötzlich war ich auf der Reise durch mein eigenes Leben bewegungslos verharrt und hatte überrascht die Luft angehalten, und da war es dann gewesen, das Atmen einer ganzen Stadt, ihrer Architektur, ihrer flüsternden Gärten, ihrer Rätsel und Schriftzeichen. Und auch in der Natur war ich mit einem Mal von einem wohltuenden Raunen durchdrungen, denn das Flüstern der Welt ist allgegenwärtig.

Ich war damals neunundzwanzig, arbeitete als Redakteur für eine deutsche Zeitschrift und war nach Kyoto gekommen, um einen Artikel über japanische Gärten zu schreiben. Mein Plan bestand darin, mir einige Gartenanlagen anzusehen, im alten Geisha-Viertel Gion meine Wahrnehmung ein bisschen spazieren zu führen und nach einer Woche wieder nach Hause zu fliegen. Aber was sind schon Pläne? Man macht sie, und wenn man einfallslos genug ist, hält man sich daran. Tatsächlich sind Pläne eine groteske Angelegenheit: Wenn jemand sie schmiedet, scheint er erfinderisch, aber eigentlich zeugt es von mehr Ideenreichtum, sich nicht an sie zu halten. Denn Pläne sind nichts weiter als Entwürfe, die eine trügerische Sicherheit verleihen und zur Ausrede werden, wenn man nicht auf die Spontaneität des Augenblicks reagieren möchte.

Seit einer halben Stunde schlenderte ich durch den Garten des Silbernen Pavillons und versuchte, mit eigenen Augen wiederzuerkennen, was ich zuvor in Büchern über die Gartenkunst Japans gelesen hatte. Da verirrte sich mein Blick und fiel auf eine Frau. Sie lehnte an einem Kirschbaum und hatte ihr weißes Männerhemd hochgerafft, damit sie die Hände in die Hosentaschen stecken konnte. Das glatte, schwarze Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, und während sie auf dem Bügel ihrer Sonnenbrille herumkaute, sprang die Neugier aus ihren Augen. Sie musste mich zuerst entdeckt haben. Als ich sie erfasste, ruhte ihr Blick bereits in meinem.

Mein erstes Gefühl war Verblüffung. Fast war mir, als seien wir hier miteinander verabredet gewesen und beide erleichtert, uns endlich zu sehen. Ihr Blick trug einen vorwitzigen Forschungsdrang zu mir herüber, blätterte hemmungslos mein Äußeres auseinander und drohte in meine Innenwelt zu spähen. Meine Empfindungen verwischten. Ich schaute zur Seite und versuchte, meine Gedanken für ein paar säuberlich gepflanzte und geschnittene Büsche zu interessieren. Doch tief in mir war in diesem kurzen Augenblick etwas geweckt worden, das für Pflanzen nur wenig übrig zu haben schien, also hielt ich der Versuchung nur kurz stand und blickte wieder zum Kirschbaum hinüber. Die Frau stand nicht mehr dort, und ich sah sie auf eine nahe gelegene Bambusgruppe zugehen, ohne dass sie sich noch einmal umdrehte.

Dann war sie weg.


2


Vier Tage später schwang unsere Begegnung noch immer leise in mir nach. Ich hatte mir vorgenommen, mich von theoretischen Abhandlungen über japanische Gärten zu lösen und stattdessen lieber selbst darin zu baden. Also saß ich im Zengarten, und um mich herum keimte die Stille. Die Landschaft hatte sich stumm vor mir aufgebaut und wartete nun darauf, gewürdigt und, wenn das von einem Europäer nicht zu viel verlangt ist, auch verstanden zu werden. Denn die Zengärten der alten Kaiser- und ehemaligen japanischen Hauptstadt Kyoto sind keine diktatorischen Kunstwerke: Sensibel haben Mönche Ordnung in das Kiesfeld gerecht, aber niemand schreibt vor, was der Staunende damit anfangen soll. Vielleicht möchte er sich an ein Reisfeld erinnern, vielleicht an eine Wüste, und vielleicht fühlt er sich auch eingeladen, sich in übermütigen Metaphern zu verlieren, während eine Eidechse durch seine Wahrnehmung huscht. Gartenbaulich hingegen ist hier nichts dem Zufall überlassen. Jeder Baum, jeder Busch und jeder Stein wird von Menschenhand geplant, gesetzt und gehegt. Und doch hat der Garten nichts von dem Reißbrettflair eines, sagen wir, französischen Gartens, in dem man manchmal fürchtet, über die Einstichlöcher des Zirkels zu stolpern, mit dem einst die Planer die Konturen auf dem Millimeterpapier scharf zogen. Japanische Gärtner sind wohl näher am Herzschlag der Natur. Mit einem Sinn für das Filigrane und für Nuancen haben die Japaner, wie ich irgendwo gelesen hatte, zahllose Wörter für Regengeräusche und für das Aufschlagen von Regen auf unterschiedlichen Oberflächen erfunden; so lässt sich ein Garten zur Welt bringen, als habe die Erde selbst ihn geboren.

Im Zengarten hüllte mich die Harmonie ein. Ich versuchte, danach zu greifen, wandelte ein wenig umher und überquerte eine kleine geschwungene Holzbrücke, die geduldig über einem Bach ausharrte. Den benachbarten See beseelten Zierkarpfen, die sich streicheln ließen und von denen manche so wertvoll waren wie ein Auto. Die vier Elemente des Zengartens sind Stein, Wasser, Baum – und Moos, das grüne Meer des Festlandes, das über die Steine schwappt und die Baumrinden emporklettert. Ich bemühte mich, nicht auf das Moos zu treten, denn das wird in Japan nicht naserümpfend als Unkraut abgetan. Moos, das hält nicht nur die Feuchtigkeit gefangen, Moos bedeutet auch Alter, und dem Alter und der Vergangenheit bringen viele Japaner etwas wahrlich Seltenes entgegen: Verehrung. Auch ich sollte den Wert des Gewesenen bald vollkommen neu schätzen lernen, aber davon ahnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Und nicht nur vor dem Moos, überhaupt vor der Natur pflegen viele Japaner eine gesunde Ehrfurcht, kein Wunder bei all den Erdbeben und Taifunen, die das Land immer wieder durchwühlen. Und der in Japan verbreitete Shintoismus, der kami no michi, der »Weg der Götter«, bietet eine verschwenderische Auswahl an Naturgöttern und Geistern, den kami. Weil sie überall stecken, in jedem Stein, Baum, Fluss, eben in allen Dingen, wird Japan gelegentlich das »Land der acht Millionen kami« genannt. Dieses Idyll meinen die Japaner, wenn sie Kyoto nihon no furusato nennen, sozusagen die Geburtsstätte Japans.

Vor einer säuberlich zurechtgestutzten Kiefer endete mein gedankenversunkenes Dahinschlendern. Ich blätterte in meinem Reiseführer und fand in einem Kapitel über Gartenkunst, dass Kiefern Langlebigkeit symbolisieren. Plötzlich hörte ich eine Stimme hinter mir.

»Konnichiwa.«

Überrascht blickte ich von meinem Buch auf und drehte mich um. Vor mir stand die Frau mit dem Männerhemd. Diesmal trug sie ein rot-weiß kariertes. Sie hatte es locker über eine weiße Jeanshose hängen und ihre Haare wieder zu einem Pferdeschwanz gerafft, der von einem einfachen weißen Band gehalten wurde. Dass Konnichiwa guten Tag bedeutete, hatte ich in den paar Tagen meines Aufenthaltes zum Glück gelernt.

»Konnichiwa«, stammelte ich also zurück, und ich spürte, dass ich rot wurde. Was nun? Mehr Japanisch konnte ich nicht, und gerade wollte ich aus den Tiefen meines Gedächtnisses mein Schulenglisch hervorkramen, als die Frau mir mit einem sanften Lächeln zu Hilfe kam. »Wenn Sie kein Japanisch können, sollten wir vielleicht in Ihrer Sprache weiterreden«, schlug sie vor.

»Sie sprechen Deutsch!«, brachte ich heraus und gab mir für diese einfältige Feststellung innerlich selbst eine Ohrfeige.

»Von einer Germanistikstudentin sollte man das wohl erwarten können«, lachte sie. »Was sagt Ihr Buch über die wartende Geliebte?«

»Hm?«, fragte ich und blickte verdutzt auf meinen Reiseführer.

»Die wartende Geliebte. Diese Kiefer da!« Sie deutete auf den Baum, vor dem wir gerade standen, und lächelte mich nachsichtig an. »Das japanische Wort für ›Kiefer‹ klingt genauso wie das für ›warten‹. Was, wenn der Baum eine Frau darstellt, die sehnsüchtig auf ihren Geliebten wartet?«

»Was, wenn ich einen Mann darstelle, der sehnsüchtig auf Ihren Namen wartet?«, fragte ich. Offenbar hatte ich mich wieder halbwegs gefangen.

»Namiko«, lachte sie und streckte mir sehr unjapanisch die Hand entgegen. Ich nannte ihr meinen Namen.

»Ich bin überrascht. Jetzt treffe ich Sie schon zum zweiten Mal in einem Garten, und Sie verstehen seine Sprache nicht?«

»Nun –«

»Dieser Garten hier, er erzählt Ihnen Geschichten. Sie befinden sich quasi in einem Pflanzen gewordenen Märchen. Das Wort für ›Kiefer‹ ist matsu, und matsu bedeutet auch ›warten‹.«

»Ich spreche leider kein Japanisch, ich kann bloß Konnichiwa«, lächelte ich.

»Da gibt es nur eins –«

»Jemanden wie Sie fragen«, schlug ich vor.

»Japanisch lernen«, schmunzelte sie zurück.

»Bis es so weit ist, übersetzen Sie mir, was so ein Garten sagt?«

Ich fragte das nicht aus beruflichem Interesse. In diesem Moment konnte ich mich nicht einmal daran erinnern, überhaupt je einen Beruf gehabt zu haben. Ich sah nur Namiko und wollte sie mit Fragen wie dieser daran hindern, wieder wegzugehen.

Aber da war noch mehr. Da war das Gefühl, die Geschichte mit der wartenden Geliebten und all den anderen als Pflanzen getarnten Gestalten um mich herum könnte irgendwie wichtig sein.

Wir schlenderten zusammen weiter und verließen den kleinen Garten, um nach einem Café Ausschau zu halten.

»Woher wussten Sie, dass ich aus Deutschland bin?«, fragte ich unterwegs.

»Wir sind uns ja schon im Garten des Silbernen Pavillons begegnet. Darum hab ich heute etwas genauer hingesehen und das da entdeckt«, sagte sie und deutete lächelnd auf den deutschsprachigen Reiseführer in meiner Hand. »Ich musste Sie einfach ansprechen, denn dass man sich gleich zweimal in einem Garten begegnet, kommt wohl nicht so häufig vor. Obwohl ich selbst ziemlich oft in den Gärten bin.«

»Wozu?«

»Zum Lesen.«

»Ohne Buch?«, fragte ich und blickte suchend an ihr herab.

»Dafür brauche ich kein Buch«, sagte sie.

Wir schwiegen eine Weile.

Schließlich betraten wir ein Café, wo Namiko sich einen Cappuccino bestellte, in den sie fünf Löffel Zucker kippte. Ich ließ mir einen Kaffee kommen und saugte ihn schwarz aus der Tasse, obwohl ich ihn sonst mit Milch trinke. Aber irgendwie wollte ich auf Namiko abgehärtet wirken. Männer sind manchmal so.

»Find ich schön, dass unter der Rinde einer Kiefer mehr steckt als nur Holz«, sagte ich und rollte beim Trinken die Zunge ein, um die Geschmacksknospen vor dem Schlimmsten zu verschonen.

»Manchmal führe ich Touristen aus Europa herum und versuche, die Sprache der Gärten zu übersetzen.«

»Zum Beispiel, indem Sie die wartende Geliebte enttarnen?«

»Ist das nicht ein unglaublich starkes Bild? So eine Kiefer steht da, Jahr für Jahr, unerschütterlich. Ich finde, das lässt eine Menge Vertrauen erkennen in denjenigen, den sie erwartet. Sie bleibt. Schlägt Wurzeln. Wartet, wartet, wartet. Wenn man übrigens die Schriftzeichen für ›Zeit‹ und ›warten‹ nebeneinander setzt, bilden sie zusammen das Wort ›Hoffnung‹. Ich denke, die Hoffnung auf die gemeinsame Zukunft schöpft die Wartende aus der gemeinsam erlebten Vergangenheit. Deshalb kann sie so lange ausharren. Sie weiß, dass er irgendwann kommen wird, bei all dem, was sie verbindet. Ein großartiger Vertrauensbeweis, finden Sie nicht?«

»Obwohl sie schon so lange ohne ihn ist, müssen die beiden sich weiterhin sehr nahe sein.«

»Ja«, flüsterte Namiko, und das war das erste Mal, dass ich sie flüstern hörte, »das müssen sie.« Gedankenverloren sah sie mich an. »Kiefern in japanischen Gärten symbolisieren auch Beständigkeit.«

»Beständigkeit?«

»Wegen der Farbe der Nadeln. Kiefern sind immergrün.«

»Das ist – wirklich schön.«

Namiko blickte mich schweigend an und fuhr sich nachdenklich mit dem Zeigefinger über den Nasenrücken. Dann holte sie einen Stift hervor und begann auf eine Serviette zu kritzeln. »Magst du dir morgen einen geheimnisvollen Garten ansehen?«, fragte sie schließlich und war damit unkompliziert zum Du übergegangen.

Ich nickte. Während sie mir den Treffpunkt erklärte, schrieb sie weiter auf der Serviette. Dann stand sie auf.

»Ich muss los. Ich freu mich auf morgen. Hier«, sagte sie, drückte mir die Serviette in die Hand und ging. Auf dem Papier stand ein rätselhafter Text:


Der Zenmeister Sekkyo fragte seinen Mönch: »Kannst du die Leere fassen?« Der Mönch bildete mit seinen Händen ein leeres Gefäß. »Du hast ja gar nichts drin«, sagte Sekkyo unzufrieden.

»Zeig mir einen besseren Weg«, forderte der Mönch den Meister auf. Da packte Sekkyo die Nase des anderen und zog kräftig daran. »Au«, rief der Mönch. »Du tust mir weh!«

»Das«, sagte Sekkyo, »ist der Weg, die Leere zu fassen.«


Ich verstand kein Wort.


3


Mit dem Taxi fuhr ich zurück ins Hotel. An der Rezeption erkundigte ich mich, ob es möglich wäre, meinen Aufenthalt zu verlängern. Der freundlich lächelnde Mann hinter dem Schalter tippte etwas in seinen Computer und nickte. Also schickte ich ein Fax an die Redaktion in Hamburg und bat darum, an meine Recherchen in Japan noch drei Wochen Urlaub anhängen zu dürfen. Dann setzte ich mich in die Lobby, blickte durch die Glasfront nach draußen und dachte an Namikos Geschenk. Was hatte der Text auf der Serviette zu bedeuten? Erwachsene Männer, die sich an der Nase ziehen! Und was hat das mit dem Fassen der Leere zu tun? Was sollte das überhaupt: die Leere fassen? Wie auch immer ich den kurzen Dialog in meinen Gedanken hin und her wendete, er ergab einfach keinen Sinn. Er sträubte sich. Ich beschloss, mich später damit zu beschäftigen, schließlich gingen mir gerade viel wichtigere Dinge durch den Kopf.

Vielleicht war diese Frau verrückt. Jedenfalls las sie gerne ohne Buch, kippte löffelweise Zucker in ihren Cappuccino, philosophierte über Bäume und kritzelte bizarre Texte auf Servietten – das war nicht eben das, was ich von einem typischen Großstadtmenschen erwartet hätte. Anständige Großstadtmenschen laufen zielstrebig wie Pfeile über Zebrastreifen, schauen niemandem in die Augen, denken einmal wöchentlich an Selbstmord und halten ihre Neurosen instand. In einem Baum sehen sie einen Baum und nicht eine wartende Geliebte.

Normalerweise.

Ich hatte Feuer gefangen. Nicht nur, was Namiko selbst betraf. Eine geheime Welt hatte ihr Eingangstor einen Spaltbreit geöffnet und mich kurz hineinspähen lassen. Eine Welt, die mitten in der normalen Welt zu existieren schien, am selben Ort und zur selben Zeit. Ich hatte die Chance, diese versteckte Welt zu betreten.

Und Namiko hatte den Schlüssel.

Etwas Magnetisches streckte sein Kraftfeld nach mir aus und zog meine Gedanken in eine neue Richtung. Und so, wie ich beim ersten Anblick von Namiko überzeugt war, wir hätten einander schon erwartet, schien auch das, was sich da hinter der Fassade des Alltäglichen versteckt hielt, schon immer für mich da gewesen zu sein. Für einen kurzen Moment glaubte ich, der Sessel unter mir habe sich in einen mit weichem Moos bewachsenen Fels verwandelt und ein leises, unbestimmtes Wispern streife mich.

Auf der Straße vor der Glasfront fuhr ein Sattelschlepper vorbei. Ein Mann im dunkelgrauen Anzug machte sich an einem jener Getränkeautomaten zu schaffen, die man in Japan an jeder Straßenecke findet. Ein Mädchen saß auf der Kante eines Blumenkübels und wiegte ein Baby im Arm. Der Feierabend war da, und man hätte meinen können, überall sei der Asphalt aufgeplatzt und die Menge krieche direkt daraus hervor. Schwärme abgespannter Menschen bewegten sich hinter der Scheibe wie stumme Fische in einem Aquarium. Ein Taxi hielt vor dem Hoteleingang und entließ zwei Frauen, die lachend in die Lobby traten und durch die geöffnete Tür den Tumult der Straße mitbrachten.

Die Außenwelt sickerte herein.

Während ich im Eingangsbereich des Hotels saß und durch die Glasfront nach draußen auf die keuchende Wirklichkeit Kyotos blickte, beschloss ich herauszufinden, was da im Verborgenen lag. Meine freien Tage sollten kein Urlaub in Japan werden. Eher eine Reise in jene rätselhafte Welt, deren Anwesenheit ich bereits spürte, noch bevor ich in sie eingetaucht war.

Etwas wartete auf mich.


4


Heute, wo der Überblick möglich ist, weiß ich, dass die Faszination, die Namiko von unserer ersten Begegnung an auf mich ausübte, auch mit einer früheren Liebe zu tun hatte, die gar keine war und die sich deshalb wenige Monate vor meiner Reise nach Japan in Nichts aufgelöst hatte.

Sie hieß Eva und ließ sich genauso leicht zu delikaten Fehltritten verleiten wie ihre apfelpflückende Vorgängerin. Als ich mich von ihr löste, hatte die Beziehung ihr Haltbarkeitsdatum eigentlich schon lange überschritten, und folglich war vieles faul; aber das Entscheidende war, dass ich Evas Litaneien über die Wichtigkeit von Freiräumen nicht mehr ertragen konnte. Wann immer sie wieder einmal eigene Wege beschritt, an denen sie mich nicht teilnehmen ließ, schmückte sie ihre Ansprachen mit Thesen wie denen, dass Abstand das Wichtigste sei in einer Beziehung, dass ein Liebespaar ohne die nötige Distanz nicht atmen und darum nicht überleben könne und dass jeder Mensch seine Geheimnisse brauche. Ihre Verteidigungsreden fluteten in mich hinein wie Wasser in eine Pfanne mit heißem Fett.

Vielleicht war ich wirklich langweilig. Ich hatte keine Geheimnisse. Wenn ich ohne sie weggehen wollte, wusste sie, warum, mit wem und wohin, ohne dass sie mich danach hätte fragen müssen. Wenn ich wiederkam, erzählte ich ihr, wie es gewesen war. Wenn Eva alleine weg war, erzählte sie anschließend im Grunde nichts. Sie war dann sehr aufgekratzt, blickte gedankenverloren ins Nichts, und wenn ich sie fragte, wie es gewesen sei, wurde sie aggressiv. Mit Aggression schafft man Distanz, jedes in die Enge getriebene Tier weiß das.

Eva nutzte Aggressionen, um Fragen nicht beantworten, seltsame Situationen nicht klären und mich an ihrem Leben nicht teilhaben lassen zu müssen. Einmal lag ein Geschenkband mit roten Herzchen in ihrem Bett. Als ich sie danach fragte, wurde sie wütend und warf mir vor, ihr nicht zu vertrauen. In dem Moment dachte ich, es sei wohl tatsächlich an der Zeit, ihr nicht mehr zu vertrauen. »Mir hat jemand was geschenkt«, sagte sie schließlich, als könne es für ein Geschenkband eine andere Erklärung geben.

»Und was?«

»Ein Parfum.«

»Und wer hat es dir geschenkt?«

»Kennst du nicht.«

Mit jeder einzelnen Antwort wuchs in mir der Verdacht, dass Eva etwas zu verbergen hatte. Ich stellte mir damals oft vor, ich wäre mit einer Frau zusammen, die solche Fragen ganz einfach beantwortet hätte, und dann würden wir uns lachend in den Armen liegen, weil ich etwas missverstanden hatte und die Wahrheit ganz banal aussah. Aber so war es nicht mit Eva. Evas Lieblingssatz war: »Ich muss mich ja nicht rechtfertigen.« Natürlich musste Eva sich nicht rechtfertigen. Die Frage ist ja auch eher, ob man sich rechtfertigen möchte.

Auch meine eigene Rolle in diesem merkwürdigen Spiel missfiel mir immer mehr. Wie um das Gleichgewicht zu halten, war auf meiner Seite der Wippe auch ich immer weiter nach außen gekrochen, was uns nicht nur noch mehr voneinander und vom Mittelpunkt der Balance entfernte, sondern auch meinen Wunsch der Teilhabe an Evas Leben in ein Bedürfnis nach Kontrolle verwandelte. Ich erinnere mich, dass mich in den letzten Wochen der Sex mit ihr abgestoßen hatte. Ich fand ihre Küsse ekelerregend. Sie küsste so, wie man gegen das Schmelzen von Vanilleeis anleckt. Ich lag neben ihr und hoffte, dass sie mich nicht anfassen würde, dass sie keinen Sex in die Wege leiten würde, denn es war immer ein »in die Wege leiten«. Sex wuchs nicht, Sex wurde beschlossen und vollzogen.

Ich hatte das vor der Beziehung mit Eva nie erlebt, dass Sexualität sich auf das Zusammendübeln zweier mit Fleisch umhüllter Skelette reduzieren ließ. Eva fand das so in Ordnung. Ich fand das erbärmlich. Irgendwo auf dem Weg durch unsere Beziehung musste mir die rosarote Brille heruntergefallen sein. Ich sah einfach viel zu klar, was ich an Eva hatte: nichts.

Ich warf Eva aus meiner Wohnung, aus meinem Fotoalbum, aus meinem Herzen und aus meinem Leben, und es schmerzte nicht. Weh tat nur, dass es nicht wehtat, denn das war ein Zeichen dafür, dass ich Lebenszeit verschwendet hatte. Ich finde, man hat ein Recht darauf, dass ein Abschied wehtut. Denn die Fähigkeit, aus Liebe zu leiden, setzt die Fähigkeit zur Liebe voraus. Auch wenn sie sich im Schmerz viel stärker äußert als im Glück. Wenn eine Beziehung in die Brüche geht, dann hat man einfach einen Anspruch darauf, sich den ganzen Tag unter seiner Bettdecke verkriechen zu wollen und in Selbstmitleid zu versinken. Man sollte sich schlecht genug fühlen, um täglich einen Freund anzurufen und ihm wieder und wieder dasselbe vorzujammern. Und wenn er ein wirklich guter Freund ist, wird er mit dem Zuhören nicht aufhören, wenn er es nicht mehr hören kann, sondern wird warten, bis man selbst seine eigene Litanei nicht mehr erträgt. Dass eine Beziehung die Sache wert war, merken wir an dieser betäubenden Ich-Entleerung, nachdem in unserem Inneren noch jemand anders Platz gefunden hatte und diese besondere Art von Erfüllung mit einem Mal entfällt. Wenn wir das Tragische inszenieren wollen, neigen wir vielleicht dazu, diese Ich-Entleerung mit Alkohol wieder aufzufüllen. Aber was immer wir tun, Trauer sollte nach einer Trennung verdammt noch mal aufkommen.

Bei Eva war da nichts. Ich hatte nie die Gelegenheit gehabt, sie zu durchdringen, und ich war auch nicht durchdrungen von ihr. Sie bestand auf ihren Freiräumen, die sie zum Luftholen brauchte. Wahrscheinlich wollte sie sicher gehen, dass sie mich nicht einatmete.

Also schickte ich Eva in die Wüste. Dort hatte sie allen Platz der Welt zum Atmen.


5


»Konbanwa«, lächelte Namiko. »Das bedeutet ›Guten Abend‹.«

»Konbanwa, Namiko-san«, versuchte ich.

Namiko hockte auf dem Sims eines Springbrunnens und ließ zwei Kieselsteine in ihrer Hand kreisen. Sie trug ein schlichtes rotes Kleid, weiße Schuhe, einen kleinen braunen Rucksack über der Schulter und einen weißen Reif im Haar. Mit dem Bus war ich eine Weile unterwegs gewesen, denn der Treffpunkt lag am Stadtrand. Offenbar ein Wohngebiet, wie mir auf dem Weg von der Busstation zum Springbrunnen aufgefallen war.

Namiko sprang auf und warf die Steine ins Wasser. »Der Garten ist gleich hier«, sagte sie und marschierte los.

»Mitten im Wohngebiet gibt es einen öffentlichen Garten?«, fragte ich und folgte ihr.

»Wer sagt, dass er öffentlich ist?«

»Nicht?«

»Nein.«

»Wem gehört er?«

»Frag lieber, wie wir hineinkommen.«

»Wie kommen wir hinein?«

»Über diese Mauer hier!« Namiko war stehen geblieben und deutete auf eine weiße Mauer vor uns. Ein paar Bäume standen dahinter und reckten ihre Kronen über die Wand, als seien sie Schaulustige hinter einer Polizeiabsperrung.

»Namiko?«

»Ja?«

»Wir – ich meine, wir brechen nicht da ein, oder?«

»Nein, wir klettern einfach über diese kleine Mauer und schauen uns den Garten an«, sagte sie und zog sich hoch. Mit einem Rascheln verschwand sie. »Komm«, hörte ich ihre leise Stimme von drüben. Ich zog mich über die Mauer und ließ mich auf die andere Seite fallen. Plötzlich fühlte ich mich wie ein Entdecker, der Neuland betritt.

»Hier entlang«, flüsterte Namiko und trat durch ein paar Büsche.

Die Sonne stahl sich bereits davon und tauchte uns in ein diffuses goldenes Licht. Ich folgte Namiko zu einem kleinen Weg aus flachen Steinen, deren unregelmäßig geformte Kanten auf harmonische Weise ineinander griffen, ohne in eintönige Symmetrie zu verfallen. Wir schlichen weiter, bis wir auf einem größeren Stein standen, der eine Art Plattform bildete.

»Auf diesem Weg«, sagte Namiko leise, »hast du noch nicht viel von der Umgebung wahrnehmen können, stimmt’s?«

»Das stimmt.«

»Es liegt an den Steinen«, fuhr sie fort und deutete auf den Weg, den wir gerade gekommen waren. »Sie sind mit Absicht so unregelmäßig geformt. Beim Gehen muss man immer nach unten schauen und sich konzentrieren, damit man nicht stolpert. So wird verhindert, dass jemand zu schnell durch den Garten hetzt.«

»Aber so sieht man natürlich nicht viel von der Umgebung.«

»Außer, man bleibt auf einem der größeren Steine stehen, so wie wir jetzt, und schaut sich um.«

Namiko raffte ihr rotes Kleid und ging in die Hocke. Mit der Hand deutete sie auf eine Stelle zwischen den Büschen. Von dort aus war eine säuberlich geharkte Spur aus weißem Sand ausgelegt, die sich neben unserem Weg entlangzog und sich weiter hinten verlor.

»Sand symbolisiert fast immer Wasser«, erklärte sie. »Und hier haben wir einen kleinen Bach, der da vorne aus der Erde sprudelt. Diese Stelle ist sozusagen der Quell des Lebens, und der Bach ist der Lauf des Lebens. Sehen wir nach, wo er hinfließt.«

Respektvoll schritten wir weiter über die steinernen Platten, und bei jedem Geräusch blickte ich mich um. Ich grübelte gerade darüber nach, wem dieser Garten wohl gehören könnte, als Namiko wieder stehen blieb und auf eine Kiefer deutete, die direkt neben dem Sandbach aus der Erde wuchs.

»Eine wartende Geliebte. Und dahinter eine Malve«, erklärte sie. »Auf Japanisch aoi. Das Wort kann man aber auch als ›Tag des Treffens‹ deuten. Wie du siehst, wächst von der Malve an Gras aus dem Boden, das den Sandstrom umwuchert. Gras steht für eine junge Liebe.«

»Warum sehe ich hier keine einzige Blume? Alles ist wundervoll gepflegt, aber es gibt kaum bunte Pflanzen. Wenn zwei sich endlich treffen und daraus eine neue Liebe erblüht, wäre es doch schön, blühende Blumen hierhin zu setzen.«

»In solchen Gärten geht es nicht so sehr darum, woraus sie gestaltet werden, sondern wie. Ein wichtiges Stilmittel der Zenkunst ist etwas, das man ›kostbare Einfachheit‹ nennt. Dazu gehört eine gewisse Schmucklosigkeit, ein Abwenden von äußeren Formen. Alt werden zum Beispiel ist so gesehen kein Sterben, sondern ein bewusster Verlust des äußeren Fleisches, um die Knochen sichtbar werden zu lassen, sozusagen den Kern der Dinge. Der Kern der Dinge wird von äußeren Hüllen umso mehr verdeckt, je farbiger und schmuckvoller sie uns den Blick ins innere Wesen versperren. Das ist vielleicht der Grund, warum sowohl die Gartenkunst als auch der Zenbuddhismus so sehr von Kargheit geprägt sind: Beide sind darauf aus, hinter die sichtbaren Fassaden des Lebens zu blicken und innere Wahrheit zu finden. Du kennst ja die großen, weißen Sandflächen in vielen japanischen Gärten.«

»Klar.«

»Man nennt das yohaku no bi, die Schönheit des besonders Weißen. Das gleiche Prinzip findest du in der japanischen Tuschemalerei, wo der Künstler sich auf wenige Pinselstriche beschränkt und der Rest des Bildes weiß bleibt. Manchmal ist das Weglassen wichtiger als das Hinzufügen«, erklärte Namiko und senkte beim letzten Satz ihre Stimme. Und ich glaube, an diesem Tag wurde mir bereits bewusst, dass Namiko gerne betonte, indem sie reduzierte.

Grüne Bambussträucher säumten den Weg des Sandes, und Namiko erklärte mir, dass Bambus zwar biegsam ist, dabei aber nicht zerbricht und deshalb Anpassungsfähigkeit oder das Leben an sich darstellt.

Und dann stand vor uns plötzlich ein Tor.

Es war aus Bambusstämmen zusammengesetzt und bestand aus einem einfachen Rahmen und einer kleinen Schwingtür, in die filigrane Muster hineingewebt waren. Das Besondere an dem Tor war, dass es rechts und links davon keinen Zaun oder sonst eine Barriere gab. Man hätte also einfach daran vorbeigehen können, und so schien das Tor zunächst keinerlei Zweck zu erfüllen.

»Das Tor ist eine Idee aus dem Teegarten«, erklärte Namiko auf meinen fragenden Blick hin. »Es dient nicht im eigentlichen Sinne als Hürde, sondern symbolisiert den Eintritt in ein tieferes Bewusstsein. Im Teegarten, wo die Teezeremonien vollzogen werden, ist der Besucher an dieser Stelle aufgefordert, seine weltlichen Sorgen abzustreifen und mit leerem Kopf weiterzugehen. Schau, der Sandfluss des Lebens geht hier weiter. Komm!«

Die Sonne war inzwischen mit einem letzten Aufblitzen am Horizont verschwunden, und hinter dem Tor erwartete uns ein kleiner, dichter Wald aus Kiefern, Ahornbäumen, Azaleen und Kamelien. Im schwächer werdenden Licht standen die Bäume dicht an dicht, als ob sie in ihren Reihen etwas zu verbergen hätten.

»Wald«, setzte Namiko bereits zur Erklärung an, als könnte sie meine Gedanken lesen, »heißt auf Japanisch mori. Aber es gibt noch ein anderes Schriftzeichen, das ebenfalls mori ausgesprochen wird. Es bedeutet Beschützer. Und ich bin sicher, dir wird gefallen, was dieser Wald beschützt!«

Abermals wurde der Weg von einer steinernen Plattform unterbrochen. Neugierig sah ich mich um, konnte auf den ersten Blick jedoch nichts Besonderes entdecken. »Was gibt es von dieser Stelle aus zu sehen?«, fragte ich.

»Dort, gleich neben dem Sandfluss! Da steht eine Steinlaterne, und auf der anderen Uferseite liegt ein alter Stein.«

»Was bedeutet das?«

»Die Laterne ist ein sogenanntes mitate mono. Damit bezeichnet man eine alte Sache, die einen neuen Sinn bekommen hat. Manchmal werden zum Beispiel alte Mühlsteine als Trittsteine benutzt. Auch diese Vorstellung stammt eigentlich aus den Teegärten, in welche die Teemeister ausgediente Steinlaternen einarbeiteten, die nicht mehr zur Beleuchtung dienten, sondern als Dekoration. Das Wort mitate kann man auch als ›etwas neu sehen‹ interpretieren. Im Garten können die alten Dinge zu neuem Leben erwachen. Zum Beispiel eine Laterne, die nicht mehr leuchtet, aber weiter teilnimmt am Lauf des Lebens. Etwa wie eine Erinnerung: Das Erlebnis ist vorbei, aber die Erinnerung daran lebt trotzdem weiter. Je älter man wird, desto wichtiger werden Laternen.«

»Und der Stein?«

»Ergänzt den Gedanken an Erinnerungen und Vergangenes. Steine stehen für das Alter, und die Steinhändler graben sie manchmal vor dem Verkauf im Boden ein, damit die Steine Patina ansetzen. Patina ist sehr wichtig. Sie ist das Sichtbarwerden der Geschichte eines Gegenstandes. Dieser Stein hier brauchte für die Ablagerungen nicht extra eingegraben zu werden. Er hat tatsächlich eine lange Geschichte hinter sich, denn er ist ein abgebrochenes Teil des legendären Fujito-Steins, das durch eine Menge Hände, Säcke, Verstecke und Herzen wanderte, bis es schließlich hier in diesem kleinen, unbedeutenden Garten landete.«

Namiko stand wieder auf, berührte mich sanft am Arm und zog mich weiter. Der Weg aus Steinen schlängelte sich durch die Bäume, und es ging leicht abwärts. Im abnehmenden Licht mussten wir besonders langsam gehen, um nicht zu stolpern. Und dann lag das Geheimnis des kleinen Wäldchens plötzlich vor uns.

Eine Lichtung schien die Bäume zur Seite geschoben zu haben, der Weg und der Sandfluss kamen mit einem Schwenk unter den Bäumen hervor und liefen direkt auf einen kleinen See zu, der etwas unterhalb von uns in der Mitte der Lichtung angelegt war. Während der Sandfluss direkt in den See hineinfloss, mündete unser Weg in eine kleine Brücke, die über das Wasser zu einer winzigen Insel führte. In der Mitte des Sees ruhte sie so sicher wie ein fest verankertes Schiff. Der Himmel hatte sich dunkelblau verfärbt, die ersten Sterne blitzten herab und spiegelten sich im Wasser.

»Die Seele«, flüsterte Namiko respektvoll und deutete auf das sanft schaukelnde Wasser. »Die Idee, einen Teich mit einer Insel anzulegen, kommt eigentlich aus dem Daoismus, einer Naturphilosophie des stillen Sichvertiefens in den Kern der Dinge. Man hatte im alten China die Vorstellung, dass man unsterblich sein und auf einer solchen Insel der Seligen wohnen werde. Das Schöne am Wasser ist übrigens seine absolute Glätte, wenn es windstill ist und man die Oberfläche aus der Luft betrachtet. Man nennt das fukan-bi, Schönheit aus der Vogelperspektive.«

»Der Sandfluss da drüben endet an einem sehr schönen Ort«, sagte ich.

»Und unser kleiner Spaziergang auch. Komm mit!«

Wir gingen auf das Wasser zu und setzten uns ans Ufer. Der Mond schimmerte vom Himmel, und ich ahnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht, welche Rolle er bald in meinem Leben spielen würde. Das Wasser gab leise, gluckernde Geräusche von sich, als ob es sich ständig an sich selbst verschluckte, und einzelne Wellen versuchten, der Begrenztheit der kleinen Teichwelt zu entfliehen und an Land zu springen. Längliche, orange-weiße Schatten schwammen auf das Ufer zu, und die O-förmigen Mäuler japanischer Karpfen tauchten aus dem Wasser auf. Ihre Köpfe durchbrachen die Wasseroberfläche wie eine flüssige Fensterscheibe, und schwarze nasse Augen blickten von einem Kosmos in den anderen. Namiko legte ihren kleinen Rucksack neben sich ab und ließ ihre Hand vorsichtig durch die Wasseroberfläche hindurchgleiten, eine einladende Geste von der einen Welt an die andere, und die Fische schwammen auf ihre Finger zu und stupsten neugierig dagegen.

»Das Wort für japanische Gärten lautet teien«, sagte sie schließlich. »Es setzt sich aus zwei chinesischen Schriftzeichen zusammen, von denen das eine ›gebändigte Natur‹ bedeutet und das andere ›belassene Natur‹. Das scheint erst einmal ein Gegensatz zu sein, ist aber ein wesentliches Prinzip der japanischen Gärten. Darum findest du hier zum Beispiel so viele Bambuszäune: Ein Zaun ist natürlich etwas Geformtes, aber Bambus ist ein naturbelassener Stoff. Es geht um das Wechselspiel zwischen Belassen und Formen. Wie in einer Liebesbeziehung.« Sie lächelte sanft und blickte mich an. »Da geht es auch darum, das Wesen des anderen zu erkennen und zu lieben und zu belassen – und doch auch darum, gemeinsam etwas Neues zu gestalten. Wenn man genau hinsieht, haben die Gärten einem also eine ganze Menge zu sagen. Siehst du die Weide dort drüben?«

»Was ist mit der?«

»Es ist nicht nur ein Baum, es ist auch eine Geschichte. Eine solche Weide stand einmal im Garten eines Samurai, hier in Kyoto. Ihrem Besitzer war sie nicht geheuer, also wollte er sie fällen lassen. Doch ein anderer Samurai rettete den Baum, indem er ihn kaufte und in seinen eigenen Garten umpflanzen ließ. Der Geist dieser Weide war ihm sehr dankbar, also verwandelte er sich in eine schöne Frau, die beiden heirateten und bekamen einen Jungen. Leider stieß der Lehnsherr, dem das Grundstück gehörte, auf der Suche nach Holz für eine Tempelrestaurierung auf die Weide und beschloss, sie fällen zu lassen. Die Frau gestand ihrem Samurai daraufhin, dass sie der Geist des Baumes sei und sie nun würde sterben müssen; der entsetzte Samurai versuchte natürlich alles, um seinen Herrn davon abzubringen, die Weide zu fällen. Der aber ließ sich nicht beirren, also kehrte der Geist in den Baum zurück. Doch nachdem er gefällt worden war, waren dreihundert Männer nicht in der Lage, ihn auch nur einen Millimeter vom Fleck zu bewegen. Dreihundert Männer, verstehst du? Und weißt du, was dann geschah?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Nun, der kleine Junge, der aus der Ehe des Samurai mit dem schönen Baumgeist hervorgegangen war, schritt auf den Baum zu, ergriff mit seiner kleinen, schwachen Hand sanft einen Zweig, und die Weide, die dreihundert Männer nicht stemmen konnten, ließ sich von dem zarten Jungen zum Tempel bringen.«

Ich blickte Namiko schweigend in die Augen und hoffte, dass sie an meinem Gesicht ablesen konnte, wie sehr mir ihre Geschichte gefallen hatte.

»Manchmal«, flüsterte Namiko, »kommt man mit den kleinen Gesten weiter als mit großen Gebärden.«

Sie zog ihre Hand aus dem Wasser, und die Fische, die sich die ganze Zeit an ihren Fingern gerieben hatten, schwammen langsam davon.

»Die Serviette«, sagte ich. »Da hast du auch eine Geschichte drauf geschrieben. Was bedeutet sie? Ich verstehe sie nicht.«

Noch während ich sprach, hörte ich aus dem Wäldchen hinter uns Schritte, die sich näherten. Namiko hatte sie offenbar auch gehört, denn sie sprang sofort auf und zog mich am Arm hoch. »Weg hier«, hauchte sie, griff nach ihrem Rucksack und lief los.

Wir rannten über die Lichtung in das vom Mond spärlich erleuchtete Dunkel, während hinter uns die überraschte Stimme eines älteren Mannes irgendetwas auf Japanisch rief. Wir hasteten weiter, erreichten ein paar dicht beieinander stehende Bäume und tauchten unter ihren Kronen hindurch. Äste peitschten mir ins Gesicht, wie um mich zu bestrafen, und plötzlich stellte sich uns eine Mauer in den Weg. Namiko zog sich daran hoch und war auf der anderen Seite verschwunden. Offenbar war sie deutlich besser auf überstürzte Fluchten vorbereitet als ich, denn mir bereitete es einige Mühe, mich am Mauersims hochzustemmen, und erst als ich rasche Schritte zwischen den Bäumen hinter mir vernahm, gelang es mir, mich über die Wand hinwegzuziehen.

Auf der anderen Seite stand Namiko am Straßenrand und bog sich vor Lachen.

»Wer war das?«, keuchte ich.

»Der Besitzer«, kicherte sie und lief weiter. An der nächsten Straßenecke blieben wir schwer atmend stehen. »Das machst du nicht noch mal mit mir«, lachte ich und drohte mit dem Zeigefinger. »Wir sind da eingebrochen!«

»Ja, ich fand’s auch nett«, gluckste Namiko. »Aber jetzt muss ich nach Hause. Wegen dieser Geschichte auf der Serviette – da könnte ich dir jemanden nennen, den du fragen kannst.« Sie kramte in ihrem Rucksack herum und brachte einen selbst gezeichneten Straßenplan zum Vorschein, den sie mir in die Hand drückte. »Da wohnt ein etwas kauziger, aber ansonsten ganz netter älterer Herr, mit dem du dich über die Serviettengeschichte viel besser unterhalten kannst als mit mir.«

»Aber ich kann doch nicht einfach –«

»Riskier was!«, rief sie und lief davon.


6


Der Alte schwieg eine ganze Weile und starrte über eine kleine, runde Brille hinweg auf meine englische Übersetzung von Namikos Text. Nachdenklich zupfte er an den spärlichen grauen Barthaaren, die um seinen Mund herum wuchsen. Schließlich räusperte er sich.

»Ein Koan. Es ist ein verfluchtes Koan«, brummte er in fehlerfreiem Englisch mit starkem japanischem Akzent. Dann legte er den Zettel nahe des Tischrands ab, als sei er jener grätendurchzogene Teil einer gebratenen Forelle, in dem herumzustochern sich nicht weiter lohnt.

»Ein – was?«

»Damit das gleich klar ist: Erwarten Sie nicht, dass Sie es begreifen werden. Ich werde Ihnen sagen, was das ist, aber glauben Sie bloß nicht, dass Ihnen Erklärungen da viel weiterhelfen werden.«

»Bitte versuchen Sie’s.«

»Versuchen, versuchen! Ich hab jahrelang versucht, Koans zu begreifen. Und was ist dabei rausgekommen? Ein unausstehlicher alter Mann, der zu viel Lebenszeit in unnütze Dinge gesteckt hat. Eine Frage: Wer hat Sie hergeschickt?«

»Sie heißt Namiko.«

Überrascht blickte der Alte mich an. »Namiko also. Woher kennen Sie sie?«

»Wir sind uns in einem Garten begegnet.«

»Das ist allerdings kein Kunststück. Namiko verbringt vermutlich mehr Zeit in irgendwelchen Gärten als die Gärtner selbst.«

»So ein Koan –«

»So ein Koan ist ein kleiner tückischer Text, der einem das Leben schwer machen will. Das Wort bedeutet eigentlich ›öffentlicher Aushang‹. Gemeint ist sozusagen ein öffentliches Dokument als höchstes Prinzip, das keine persönlichen Deutungen zulässt. Klar?«

»Klar«, sagte ich zögernd. Ich verstand kein Wort.

»Blödsinn! Nichts ist klar!«, rief er und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Ich fühlte mich ertappt und wusste nicht, was ich erwidern sollte. Der Alte kratzte seinen dichten grauen Haarschopf und schien darüber nachzudenken, ob das Thema es wert sei, näher vertieft zu werden. »Ein Koan«, brummte er endlich, »ist ein Text aus dem Zenbuddhismus. Zenmeister quälen damit ihre Schüler. Mal ist es ein überlieferter Dialog zwischen Meister und Schüler, mal eine längere Geschichte und manchmal einfach nur eine kurze Frage.«

»Ein philosophisches Rätsel also!«

»Ein Rätsel ist es eben nicht. Und wissen Sie, warum?«

»Sie werden es mir sicher sagen.«

»Weil es keine Lösung gibt. ›Wie klingt das Klatschen einer einzelnen Hand?‹ ist so ein Koan. Wenn Sie bei so was mit Logik ankommen, sind Sie schon auf dem Holzweg.«

Seine Blicke irrten über die Tischplatte, mieden den Zettel mit dem Koan und fixierten dann seine Hand, die noch immer flach auf dem Tisch lag. War es ihm vielleicht selber nie gelungen, die Koans zu begreifen? Warum hatte Namiko mich dann ausgerechnet zu ihm geschickt?

»Versuchen Sie nicht, ein Koan mit dem Verstand zu lösen! Das Koan will Ihnen ja gerade das zeigen: die Begrenztheit Ihres Verstandes. Ich schreibe Ihnen ein anderes Koan auf, das Ihnen vielleicht verstehen hilft, warum der Mönch den Schüler an der Nase zieht.«

Und dann zog der Alte den Zettel heran und schrieb ein weiteres Koan darauf:


»Wenn man ein Gänseküken in eine Flasche steckt«, fragte der große Philosoph Riko, »und es füttert, wie kann man später die erwachsene Gans herausbekommen, ohne sie zu töten und ohne die Flasche zu zerstören?« Der Zenmeister Nansen klatschte laut in die Hände und rief so laut »Riko!«, dass dieser vor Schreck zusammenzuckte. »Siehst du«, sagte Nansen, »nun ist die Gans raus!«


Na gut, dachte ich. Wie man eine leibhaftige Gans aus einer Flasche bekommt, ist eine Frage an den Verstand – und sie lässt sich nicht beantworten. Es gibt keine Lösung.

»Die Gans«, sagte der Alte, »steht für das Bewusstsein, die Flasche für den Körper. Und jetzt lösen Sie sich von der vordergründigen Geschichte einer Gans und einer Flasche. Sie ist nicht nur unlösbar, sondern auch unwichtig. Schauen Sie, was Riko und Nansen tun!«

»Nansen brüllt Riko seinen Namen ins Gesicht.«

»Und?«, schrie der Alte mich plötzlich aus Leibeskräften an, und ich wich zurück wie ein verschrecktes Tier. Ich war sprachlos, und eine Sekunde lang war mein Kopf vollkommen leer.

Die Sprachlosigkeit wich dem Begreifen. In dem Moment, in dem der Alte mich angebrüllt hatte, war es passiert. Die Gans war aus der Flasche.

»Der Meister brüllt Riko an«, versuchte ich mein Glück, »reißt ihn so aus dem Denken heraus und in die Gegenwart hinein. Riko vergisst seine Frage, sich selbst und was sein wird oder gewesen ist. Das Erschrecken lässt sein Bewusstsein schlagartig aus dem Körper heraustreten und das Jetzt spüren!«

Der Alte brummte zufrieden. »Jetzt zurück zu diesem anderen Koan«, sagte er dann. »Der Meister zieht den Schüler schmerzvoll an der Nase und sagt: So fasst man die Leere! Auch hier geht es nicht ums Erraten, sondern ums Erfühlen. Es geht um den Schmerz, um plötzlichen, unerwarteten Schmerz. Der Verstand, das Denken wird betäubt, verstehen Sie? Es gibt in diesem Augenblick kein Bewusstsein mehr, kein Riechen, kein Hören, keine Farben, kein Analysieren. Im Moment des Schmerzes gibt es im Inneren nur eines: Leere.«

»Das ist wundervoll!«

»Das ist vor allem schwierig. Es geht um das Ausschalten des Denkens. Haben Sie schon einmal versucht, den ewigen Strom der Gedanken in Ihrem Kopf anzuhalten? Wie das Klatschen einer einzelnen Hand klingt, wird das Gehirn Ihnen nicht verraten. Erst wenn Ihr Gedankenstrom still steht, tritt klärende Stille ein – so still wie eine einzelne klatschende Hand. Es gibt keine Verstandeslösung beim Koan. Versuchen Sie nicht, die Leere rational zu fassen. Erfühlen Sie sie, wenn nötig mit Schmerz. Versuchen Sie nicht, eine Gans aus einer Flasche zu befreien, indem Sie Scharfsinn benutzen. Wenn Sie zu denken anfangen, sind Sie verloren, dann hat das Koan Sie besiegt. Die Kunst ist, das Koan in den Bauch zu verlagern. Es zeigt Ihnen, wie sehr Sie im Denken verhaftet sind und wie stark das Denken die Wahrnehmung einschränkt. Da kommt so ein paradoxes Koan daher, völlig unlösbar eigentlich, aber in Ihnen rattert die Denkmaschine los, beginnt mit dem Sezieren der Sätze, ungefragt und wie ein Automatismus, zerpflückt jeden Satz, dreht und wendet Wörter und versucht sich in Logik, aber nicht in Intuition, sucht nach dem Sinn, aber nie nach dem Sein.«

»Intuition? Sein?«

»Intuition ist etwas Großartiges. Wir benutzen sie nicht mehr so oft. Geben uns lieber nachdenkend. Erfassen Situationen zu oft mit dem Kopf und zu selten mit dem Bauch. Analysieren, statt einfach das Sein wahrzunehmen. Passen Sie auf.« Er schrieb:


Einmal blickte ein Mönch zur Sonne hinauf und fragte schließlich Dogo: »Ist Licht kein Licht mehr, wenn es sich verfinstert?« Dogo antwortete: »Heute ist ein guter Tag, den Weizen zu trocknen.«


Der Alte sah mich herausfordernd an, und ich blickte auf meinen Zettel und begann unruhig auf dem Stuhl hin und her zu rutschen. Schließlich schaute ich ihm ratlos ins Gesicht.

»Dogo will sagen: Denk nicht, halt die Gedanken an. Sei! Du bist da, der Weizen auch, und die Sonne – alles was du brauchst, ist im Hier.«

»Was beschweren Sie sich? Sie haben es doch begriffen.«

»Nein.« Der Alte schüttelte den Kopf. »Angelesen hab ich es mir. Ich hab begriffen, dass Koans den Verstand ausschalten wollen – doch ich habe mir diese Erkenntnis mit dem Verstand erschlossen. Aber man muss es leben, atmen, fühlen. Ich weiß, dass man die Welt mit dem Bauch fühlen sollte, aber ich kann es nicht tun. Dinge fühlen ist das Wichtigste. Erst dann findet man Intensität.«


7


In den folgenden Tagen traf ich mich regelmäßig mit Namiko. Sie nahm mich mit in wundervolle Restaurants voller geheimnisvoller Speisen, entführte mich in Winkel, in welche Touristen nur selten Einblick bekommen, und schlenderte mit mir durch die Gärten von Kyoto. Dort hockten wir oft auf einem Stein oder einer Stufe, blickten in die wuchernde Szenerie und versuchten, dem Garten seine Geheimnisse zu entlocken.

Im Ostteil der Stadt gibt es einen bewaldeten Hügel, dessen Bäume den Yoshida-Schrein vor den Touristen verstecken, einen wundervoll mystischen Ort des Shintoismus mit stummen Gebäuden und brüchigen Holzhäuschen. Wenn man den Hügel noch ein Stück weiter hinaufsteigt, gelangt man in einen kleinen, halbwilden und doch liebevoll angelegten Garten und zum Café Moan, einem dunklen Holzhaus, in dem Namiko und ich manchmal saßen und die Sicht auf Kyoto genossen.

»Wenn dieses Café nicht schon um sechs schließen würde«, sagte Namiko, »könnten wir hier warten, bis es dunkel wird, und etwas genießen, das man auf Japanisch yakei nennt.«

»Wie nennt man es auf Deutsch?«

»Es gibt kein Wort dafür in deiner Sprache. Das kommt vor. Wo man in anderen Sprachen eine halbe Geschichte erzählen muss, genügt uns manchmal ein einziges Wort, und die Geschichte dahinter erschließt sich von alleine. Yakei ist, wenn man aus der Entfernung die Lichter einer Stadt bei Dunkelheit sieht.«

Namiko nahm einen Schluck grünen Tee. »Über solche einzelnen Wörter, die eine Kette von Assoziationen nach sich ziehen, wurden schon ganze Bücher geschrieben. Zum Beispiel über das Wort iki, das im Wörterbuch einfach mit ›chic‹ übersetzt ist. Aber es bedeutet eigentlich viel mehr, wenn man einen Kimono iki nennt. Es schwingen Gedanken an die alte Samuraizeit mit, an eine gewisse souveräne Gleichgültigkeit, an Raffinesse und unaufdringliche Erotik und Koketterie. Einer unserer Ästhetiker erkannte in iki den Atem des Frisch-Lebendigen, wie man ihn bei einer Frau verspürt, die eben dem Bad entstiegen und geradewegs in einen Kimono geschlüpft ist. Das liegt vielleicht auch daran, dass das Wort für Atem ebenfalls iki ausgesprochen wird.«

»Das ist schön.«

»Wir haben viele Wörter, die eigentlich sehr komplexe Stimmungen oder Zustände beschreiben. Zum Beispiel für die Lücken zwischen den Wolken oder für die Situation, dass man vom Schlafplatz aus die Wellen des Meeres hören kann.«

»Ich würde sehr gerne mal für ein paar Tage ans Meer fahren«, sagte ich spontan, und Namiko erzählte von einer kleinen Insel namens Ishigaki, die sehr weit südlich vom japanischen Festland liegt und zu den OkinawaInseln gehört. Sie sprach von glühenden Temperaturen, Mangrovenbäumen, Palmen und weißen Stränden. Und sie sprach von Tropen.

»Tropen?«, fragte ich und sah mich mit Namiko barfuß und mit hochgekrempelten Hosenbeinen zwischen Palmen über den Sand auf das blaue Meer zuwandern, während uns die Wellen entgegenzulaufen versuchten und Möwen kreischend über unsere Köpfe zogen. Wenn man verliebt ist, gibt es vielleicht in jeder Sprache Wörter, die plötzlich ganze Geschichten enthalten.

»Lass uns da hinfliegen«, schlug ich vor.


8


Namiko nahm mich beim Wort und besorgte zwei Flugtickets nach Ishigaki. Die Maschine startete zwei Tage später morgens um elf vom Flughafen in Osaka, und Namikos Vater hatte sich angeboten, uns am Bahnhof von Kyoto abzuholen und mit dem Auto ins benachbarte Osaka zu bringen.

»Guten Morgen«, sagte Namiko, die vor dem Bahnhof auf einem großen Rucksack saß und Kirschen aß. »Ein schöner Tag für Überraschungen«, meinte sie und zeigte in den blauen Himmel hinauf. Ich dachte natürlich, dass sie sich auf die Insel bezog, zu der wir unterwegs waren, aber ich sollte mich irren. Dass ich, noch bevor wir überhaupt am Flughafen in Osaka ankamen, bereits zwei Überraschungen erleben würde, konnte ich ja nicht ahnen. Also fragte ich nicht weiter nach, ließ meine Tasche zu Boden gleiten, ging in die Hocke und nahm von den Kirschen, die Namiko mir hinhielt. Namiko hatte sich neben ein Blumenbeet gesetzt, ließ die Kirschkerne diskret vom Mund in die Hand fallen und drückte sie dann mit dem Finger gewissenhaft in den Schoß der Erde, um der Schöpfung die Gelegenheit zu geben, aus einem so kleinen Kern einen großen Baum herauszuholen.

»Da kommt er. Es geht los«, rief sie plötzlich, stieß mir kumpelhaft ihren Ellbogen in die Seite, packte die restlichen Kirschen in eine Seitentasche ihres Rucksacks und sprang auf. Ein alter Toyota war auf den Bahnhofsvorplatz eingebogen und hielt direkt vor uns. Ich achtete nicht weiter auf das Auto, sondern griff umständlich nach meiner Tasche, um die Schüchternheit zu verbergen, jetzt, wo ich Namikos Vater begegnen würde. Man konnte ja nie wissen, was ein Vater durchmachte, dessen Tochter mit einem fremden Mann für ein paar Tage auf eine tropische Insel fliegen und dort mit ihm vermutlich ein Appartement teilen würde. Es würde außerdem nicht einfach werden, einen guten Eindruck auf ihn zu machen, ohne ein Wort Japanisch zu können, dachte ich. Als ich mich wieder aufrichtete, war ihr Vater bereits ausgestiegen, und Namiko redete ausgelassen in ihrer Muttersprache mit ihm, während er den Kofferraum öffnete und seine Tochter schwungvoll ihren Rucksack hineinwarf. Mir hingegen verschlug es die Sprache.

Denn diesem Mann war ich schon einmal begegnet.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739363905
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (September)
Schlagworte
japanisch japan meditation spirituell poetisch garten selbstfindung literarisch multikulturell intuition

Autor

  • Andreas Séché (Autor:in)

<p>Die Wiesen, Wälder, Seen und Flüsse des Niederrheins sind die Orte seiner Kindheit. Hier wuchs Andreas Séché auf und schrieb als Reporter für Tageszeitungen, bis er seine Heimat verließ, um Politik mit Medienwissenschaft und Jura zu studieren. Danach war er zwölf Jahre lang Zeitschriftenredakteur beim Verlagshaus Gruner + Jahr in München. Schließlich zog es ihn an den Niederrhein zurück, wo er nun lebt und Bücher schreibt.</p>
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Titel: Namiko und das Flüstern