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Der Bauernschreck

Die wahre Geschichte einer Zeitungssensation

von Werner Thelian (Autor:in)
256 Seiten

Zusammenfassung

Vor etwas mehr als 100 Jahren, am Vorabend des Ersten Weltkrieges, versetzten merkwürdige Ereignisse die Bevölkerung der Steiermark und Kärntens in Angst und Schrecken und ganz Österreich-Ungarn in Erstaunen und Entsetzen. Von Mitte Juni 1913 bis Anfang März 1914 tötete ein unbekanntes, aber offenbar besonders gefährliches Raubtier die Schafe und Rinder der Bauern und das Wild. Das schreckliche Treiben, das auf der Stubalpe in der Steiermark begann und sich später bis mitten in das Herz des Kärntner Koralpengebietes fortsetzte, blieb sowohl den mit der Aufklärung des Falles beschäftigten Behörden als auch den Fachleuten lange ein Rätsel. Aber die Zeit drängte, denn schon bald waren auch Menschen in Gefahr. Vieles von dem, was damals passierte, erinnerte an Ereignisse, die sich 150 Jahre zuvor in Frankreich zugetragen und über 130 Menschen das Leben gekostet hatten. War der Albtraum von einst nun wiedergekehrt? Man setzte Krisenstäbe ein, gründete Sonderkommissionen, und in besonders gefährdeten Gebieten wurden aus Angst um die Kinder Schulen geschlossen und Hunderte von Jägern, Gendarmen und Soldaten auf die Almen entsandt, um der von dort ausgehenden Gefahr endlich Einhalt zu gebieten. Aber nichts half. Der „Bauernschreck“, wie man die mysteriöse Bestie bald überall nannte, tötete weiter. Dieses Buch ist die Erzählung einer ebenso seltsamen wie wahren und sorgfältig recherchierten Geschichte, die monatelang die Zeitungen und ihre Leser beschäftigte, berühmte „Afrikajäger“ auf den Plan rief und international anerkannte Fachleute an die Grenzen ihres Wissens und ihrer Erfahrungen führte. Sie nimmt den Leser mit in eine Zeit, in der gedruckte Sensationen zu kostbaren Waren wurden, Wandermenagerien ihr Publikum begeisterten, der Tiergarten von Schönbrunn seine bis dahin größte Ausdehnung erfuhr und Kaiser Franz Joseph I. sich höchstpersönlich für die merkwürdigen Vorkommnisse in der Provinz interessierte. Aber noch ahnte niemand etwas von dem merkwürdigen Zusammenhang, den es schließlich zwischen der Lösung des Rätsels und jenem Attentat in Sarajevo geben sollte, das den Ersten Weltkrieg auslöste.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

Prolog

Die Zeit des »Bauernschrecks« beginnt

Tiere, die es auf Erden bisher nicht gegeben hat

Die Meldungen erreichen Wien

Die Geburt einer Zeitungssensation

Eine Belohnung wird ausgesetzt

Ein merkwürdiges Telegramm

Erinnerungen eines alten Pfarrers

Die Bestie von Gévaudan

Ein Koordinator wird eingesetzt

Die Jagd auf Löwen

Der »Afrikajäger« oder »Wie bitte erlegt man einen Löwen?«

Dem »Bauernschreck« auf der Spur

Interview mit Dr. Hoffer

Der Kaiser möchte Ergebnisse sehen

Das Jahr geht zu Ende

Das Ende des »Bauernschrecks«

Die Obduktion einer Bestie

Die Ausstellung in Graz

Der »Bauernschreck« im Museum

Vorläufiger Abschied vom »Bauernschreck« (1914)

Nachwort

Anhang

Über den Autor

 

Prolog

Vor etwas mehr als 100 Jahren und nur wenige Monate vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges versetzten die merkwürdigen Ereignisse, die das Thema dieses Buches sind, die Bevölkerung Österreich-Ungarns in Erstaunen und Entsetzen. Von Mitte Juni 1913 bis Anfang März 1914 dezimierte ein unbekanntes, aber offenbar besonders gefährliches Raubtier in den Grenzgebieten zwischen der Steiermark und Kärnten das Weidevieh der Bauern und das Wild.

Das unablässige und brutale Töten, das im Frühjahr 1913 auf der Stubalpe in der Steiermark begann und sich später bis mitten in das Herz des Kärntner Koralpengebietes fortsetzte, blieb sowohl den mit der Aufklärung des Falles beschäftigten Behörden als auch den Fachleuten lange ein Rätsel. Aber die Zeit drängte, denn schon bald waren nicht nur Tiere, sondern auch Menschen in Gefahr.

Durch die enormen, für die betroffenen Bauern existenzgefährdenden Schäden und die in der Bevölkerung allmählich um sich greifende Panik wurden die Behörden nicht nur alarmiert, sondern zum sofortigen Handeln gezwungen. Man setzte Krisenstäbe ein, gründete Sonderkommissionen und ordnete »sicherheitspolizeiliche Maßnahmen« an. In den besonders gefährdeten Gebieten wurden aus Angst um die Kinder Schulen geschlossen und neben Hunderten von Jägern und Gendarmen auch Soldaten auf die Almen entsandt, um der von dort ausgehenden Gefahr endlich Einhalt zu gebieten. Aber nichts half. Der geheimnisvolle »Bauernschreck«, wie man die Bestie bald überall nannte, war nicht zu fassen, und er tötete weiter.

Unter dem wachsenden Druck der Öffentlichkeit, der nicht zuletzt aus der Flut von Zeitungsberichten widerhallte, wurden alle zur Verfügung stehenden Mittel in den Dienst der Aufklärung des merkwürdigen Falles gestellt. Verdächtige Spuren wurden gesichert, vermessen und ausgewertet, die angerichteten Schäden registriert, grausam zugerichtete Tierkörper untersucht, angebliche Augenzeugen befragt und angesehene Fachleute im In- und Ausland konsultiert. Jedem noch so kleinen Hinweis ging man nach. Aber echte Erfolge, die eine baldige Lösung des Rätsels zumindest in Aussicht gestellt hätten, blieben sowohl den Ermittlern als auch den Jägern monatelang versagt.

Das ausgesetzte Kopfgeld lockte nicht nur Weidmänner von nah und fern an die Orte des Geschehens, sondern rief auch verwegene Abenteurer, Geschäftemacher und zahlreiche Reporter auf den Plan. Die Zeitungen verbreiteten die Nachrichten über das Wüten des »Bauernschrecks« und die Jagd nach ihm in allen Teilen Österreich-Ungarns, sodass es in der ganzen Donaumonarchie bald kaum noch jemanden gab, der von dem geheimnisvollen Untier in den Bergen nicht gelesen oder wenigstens gehört hätte.

Über Nachrichtenagenturen und Redaktionen in Wien, Graz, Klagenfurt, Marburg und Leoben gelangten die Meldungen von den Vorkommnissen in der Provinz bis nach Triest, Prag, Budweis, Budapest und Czernowitz und wurden dort ebenso interessiert aufgenommen wie in Berlin, Paris, London und St. Petersburg. Selbst in den allerhöchsten Wiener Kreisen, in den Kanzleien der Hofburg und den kaiserlichen Gemächern im Schloss Schönbrunn, ließ man sich regelmäßig über die neuesten Entwicklungen auf dem Laufenden halten.

Die »Bauernschreck-Affäre« wurde, je länger sie dauerte und je verworrener sie erschien, zu einem umso größeren Medienereignis. Spezial- und Sonderberichterstatter wurden ausgeschickt, Leserbriefschreiber äußerten gewagte Vermutungen und die in hohen Auflagen gedruckten »Bauernschreck«-Ansichtskarten erfreuten sich großer Beliebtheit. So mancher Künstler nahm sich des Themas schon deshalb gerne an, weil das zunehmende Interesse der Öffentlichkeit besonders einträgliche Geschäfte mit den Fantasiebildern und Karikaturen verhieß.

Vieles von dem, was damals über die Telegrafen und die Telefonleitungen die Redaktionen erreichte, war aber auch durchaus geeignet, schon längst in Vergessenheit Geratenes wieder heraufzubeschwören. Erfahrene Journalisten gingen den unterschiedlichsten Aspekten der Geschichte nach und recherchierten in Bibliotheken und verstaubten Zeitungsarchiven, um ihre staunenden Leserinnen und Leser mit haarsträubenden Details über Ungeheuer, Werwölfe und andere Ausgeburten der Hölle und des Aberglaubens zu versorgen.

Nicht nur in Paris erinnerte man sich jetzt wieder einer Reihe ganz ähnlicher Begebenheiten, die sich fast genau 150 Jahre zuvor in Frankreich zugetragen und über 130 Menschen das Leben gekostet hatten. Betroffen waren damals fast ausschließlich Frauen und Kinder, von einer unheimlichen Bestie wie dieser getötet, furchtbar entstellt und grausam verstümmelt. War der Albtraum von einst nach so langer Zeit erneut wiedergekehrt?

Die ebenso wahre wie seltsame Geschichte von der monatelangen und zunehmend verzweifelten Jagd nach dem »Bauernschreck«, die sich in einigen der schönsten Regionen Österreichs zugetragen hat, ist zugleich auch eine Geschichte von Helden, Beinahe-Helden und Trittbrettfahrern. Sie erzählt nicht nur von einer der größten und aufwendigsten Raubtierjagden, die man in Europa jemals gesehen hat, sondern auch von namhaften Experten, die sich unter dem Eindruck der Ereignisse zu folgenschweren Fehlurteilen hinreißen ließen.

Aber in diesem Buch geht es um mehr. Denn die »Bauernschreck-Affäre« von damals ist, aus der Distanz eines ganzen Jahrhunderts betrachtet, auch ein Geschehen, bei dem sich am Vorabend des Ersten Weltkrieges und damit mitten in einer auf ihre technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften so stolzen Zeit längst schon überwunden geglaubte Urängste erneut an die Oberfläche wagten: die Furcht davor, einem bisher verborgenen Teil der Natur hilf- und wehrlos ausgeliefert zu sein, aber auch die in der ländlichen Bevölkerung noch immer tief verwurzelte Sorge, eines Tages für begangene Sünden und Verfehlungen kollektiv zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Und schließlich bietet die Zeitungssensation »Bauernschreck« die Möglichkeit, einen Blick auf die Veränderungen des Pressewesens zu werfen, das sich gerade zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einer der vielleicht entscheidendsten Phasen seiner Entwicklung befand. Weitreichende Umwälzungen, vor allem nachrichten- und drucktechnischer Natur, machten aktuelle, die Leser fesselnde Meldungen zu besonders kostbaren Waren, die mit immer größerer Geschwindigkeit an immer zahlreichere Abnehmer weiterverbreitet wurden.

Zu der Zeit, als das »Bauernschreck-Rätsel« auf diese zusehends an Dynamik gewinnende Presselandschaft traf und von ihr begierig aufgesogen und verwertet wurde, erlebten zahlreiche Blätter gerade einen kräftigen Modernisierungsschub. So gut wie alle Pressehäuser, Herausgeber und Redaktionen mussten schon aus wirtschaftlichen Gründen daran interessiert sein, an den vielversprechenden Entwicklungen des neuen, goldenen Pressezeitalters Anteil zu nehmen. Risikobereitschaft, Geschwindigkeit und Exklusivität zahlten sich mehr denn je aus und wurden gemeinsam zum beinahe alleinigen Maßstab des Erfolges, der sich vor allem in der Höhe der Auflage, der Anzahl der Leser und Abonnenten und der Zufriedenheit der inserierenden Kunden widerspiegelte. Auf diesem Nährboden konnte die Sensationsgeschichte vom »Bauernschreck« besonders gut gedeihen.

Kaum jemals zuvor und nur selten danach hat ein Thema abseits der großen Kriegsschauplätze und außerhalb der Zentren der politischen und der wirtschaftlichen Macht über einen so langen Zeitraum hinweg die Gemüter der Zeitungsleser ähnlich intensiv bewegt wie der »Bauernschreck«. Und trotzdem ging das Wissen darüber im Laufe der Zeit fast vollständig verloren.

Überschattet von den weltbewegenden und welterschütternden Ereignissen, die folgten, dem Ersten Weltkrieg nämlich, rückte die »Bauernschreck-Affäre« mehr und mehr in den Hintergrund, um schließlich zu verblassen und beinahe ganz in Vergessenheit zu geraten. Nicht einmal in den Gebieten, die einst so unmittelbar von ihr betroffen waren – in der Steiermark und in Kärnten – erinnerte man sich noch an sie. Erst eine Reihe glücklicher Umstände eröffneten nach über 100 Jahren die Möglichkeit, die wahre Geschichte vom »Bauernschreck«, die einst so viele Menschen in ihren Bann gezogen hat, wieder freizulegen und noch einmal zu erzählen.

Dieses Buch ist kein Roman, sondern die Erzählung einer wahren Begebenheit. Es beschreibt Tatsachen – und zwar so, wie sie aus den originalen Quellen, vorwiegend aus den österreichischen, aber auch den internationalen Zeitungen der Jahre 1913 und 1914 hervorgehen oder sich auf der Grundlage der damals sehr ausführlichen Berichterstattung im Nachhinein rekonstruieren ließen.

Alle Originalzitate sind entsprechend gekennzeichnet und lassen sich anhand der Quellenangaben im Anhang dieses Buches leicht nachverfolgen. Dabei wird wahrscheinlich auffallen, dass diese Abschnitte aus Gründen der Einheitlichkeit und der besseren Lesbarkeit in gemäßigter Form an die moderne Rechtschreibung angepasst wurden. Sämtliche Interviews, die in diesem Buch vorkommen, beruhen auf tatsächlich geführten Gesprächen zwischen Journalisten und Experten.

Werner M. Thelian

Die Zeit des »Bauernschrecks« beginnt

1

»Wohl wollen pessimistische Schwarzseher uns vor der Zahl 1913 gruseln machen und aus kindlichem Aberglauben heraus das neue Jahr voll Unglück sehen. Aber der klare Blick braucht sich vor Gespenstern nicht zu fürchten.«

Prager Tagblatt
Prag, am 1. Januar 1913

Als das Jahr 1913 begann, das letzte vor dem großen Krieg, schickte man ihm von allen Seiten viele Erwartungen und noch mehr hoffnungsvolle Wünsche entgegen. Das soeben zu Ende gegangene Jahr 1912 war für die meisten der über 50 Millionen Menschen, die damals in Österreich-Ungarn lebten, alles andere als eine gute Zeit gewesen. Die Kriegsgefahr breitete sich vom Balkan her langsam, aber vielleicht schon unaufhaltbar immer weiter nach Norden und Westen aus und lag nun bereits seit geraumer Zeit mit erdrückender Schwere über den Völkern des Habsburgerreiches und Europas.

Aber ab und zu keimte auch noch in dieser äußerst angespannten Lage echte Zuversicht auf. Vielleicht, so hofften viele, würde es 1913 mit politischem Augenmaß gelingen, die gefährlich brodelnden Konflikte beizulegen und im Interesse aller zu »friedlicher Arbeit und sicherem Fortschreiten« zurückzukehren. Die Menschen in den Städten, Märkten und Dörfern sehnten sich nach Sicherheit und Frieden, während sich die Bauern draußen auf dem Land vom Sommer dieses Jahres endlich wieder eine gute und ertragreiche Ernte versprachen.

Während einige Zeitungen bereits vorsichtig dazu übergingen, in der momentan herrschenden »politischen Wetterlage« erste, wenn auch noch recht zarte Zeichen allmählicher Entspannung auszumachen, wurden die mittlerweile überall anzutreffenden Pazifisten rund um ihre Galionsfigur, die österreichische Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner, nicht müde, vor einem bevorstehenden großen Krieg zu warnen. Dieser würde angesichts der neuen technischen Möglichkeiten alle bisher dagewesenen Kriege in den Schatten stellen und wohl den Rückfall Europas, wenn nicht sogar der ganzen Welt, in dunkelste Zeiten mit sich bringen.

1913 wurde kein gutes Jahr. Schon wegen des Wetters nicht. Nach einem außerordentlich strengen Winter wurden im Frühjahr und im Sommer weite Teile Europas von heftigen Unwettern heimgesucht. Orkanartige Stürme, heftige Wolkenbrüche und schwere Hagelschauer führten vielerorts zu Überflutungen und Zerstörungen wie auch zur Vernichtung der beinahe gesamten noch ausstehenden Ernte. Es war das erste große Wetterkatastrophenjahr des noch recht jungen 20. Jahrhunderts, und die zerstörerische Kraft der scheinbar außer Rand und Band geratenen Elemente war von Anfang an rund um den Erdball zu spüren.

Schon früh im März litten vor allem der Nordosten und der Süden der USA unter den Auswirkungen der Wetterkapriolen, die dort, begleitet von Stürmen und ungeheuren Wasserfluten, einige der schwersten Zerstörungen seit Menschengedenken anrichteten. Als Teile Ohios überschwemmt wurden, waren mehr als 1.000 Todesopfer zu beklagen. Mehr als 75.000 Amerikanerinnen und Amerikaner wurden praktisch über Nacht obdachlos.

In Mitteleuropa erwies sich das Wetter im März noch als viel gemäßigter, wenn es auch ausgesprochen kühl und wechselhaft war. Im April wurde es dann sogar richtig kalt für die Jahreszeit. In Deutschland verzeichnete man am 11. April 1913 eine mittlere Tagestemperatur von nur 0,6 Grad Celsius und damit den kältesten Apriltag seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Die frostige Kälte, die den Menschen so unbarmherzig in die Glieder kroch, zerstörte in Österreich und in Deutschland die Baumblüte, während in Ungarn, in Italien und in den österreichischen Gebieten an der Adria Schneestürme tobten.

Dann aber schlug das Wetter plötzlich um, und die Kälte des April wurde im Mai von einer beinahe ebenso unerträglichen Hitze abgelöst, die der ohnehin schon leidgeprüften Bevölkerung Tage mit Temperaturen weit jenseits von 30 Grad Celsius bescherte. Es war gefährlich trocken, was natürlich vor allem die Landwirtschaft zu spüren bekam. Aber auch dabei blieb es nicht. Kaum zeigte der Kalender den Beginn des Sommers an, herrschte wieder überall ungewöhnlich kaltes und nasses Wetter. Gewitter, Regenfälle, Stürme und Hagelschauer führten in Mitteleuropa zu einer Reihe von Überflutungen, von denen auch Wien, das Donautal und die gesamte Steiermark schwer betroffen waren.

Als wäre das alles jedoch nur das Vorspiel zu weitaus größerem Unheil gewesen, brach am Mittwoch, dem 16. Juli 1913, über die steiermärkische Landeshauptstadt Graz buchstäblich der Weltuntergang herein. Gegen 13 Uhr zogen dichte und dunkle Wolkenmassen auf, die bald alle Plätze, Straßen und Parks der Stadt in gespenstische Dunkelheit hüllten. Es war kurz vor 16 Uhr, als die Wolken brachen und sich wahre Unmengen von Regen auf die Straßen und die dicht an dicht gebauten Häuser ergossen.

Der Wolkenbruch, dessen Heftigkeit von Stunde zu Stunde weiter zunahm, dauerte bis kurz nach 21 Uhr. Das Hochwasser und die von ihm unterwegs mitgerissenen Baumstämme und Geröllmassen beschädigten nicht nur zahlreiche Brücken, sondern ließen einige auch krachend in sich zusammenstürzen. Die Mur trat über ihre Ufer und die schlammigen Wassermassen überschwemmten Straßen, Keller und Parterrewohnungen.

Menschen, die sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten, wurden mitgerissen und ertranken hilflos in den schmutzigen Fluten. Über die Gebiete im östlichen Teil der Stadt wälzte sich eine meterhohe Flutwelle hinweg, die Häuser, Wohnungen und Geschäfte zerstörte und auch zahlreiche Villen, Gärten und Parks der besseren Gesellschaft dem Erdboden gleichmachte. Die Aufräumungsarbeiten in der steiermärkischen Landeshauptstadt sollten noch lange dauern.

2

Neben den Verrücktheiten des Wetters und den daraus resultierenden Zerstörungen widmete sich die Berichterstattung der österreichischen Zeitungen auch weiterhin Kriminal- und Unglücksfällen und den jüngsten »Sensationen« vom militärischen und politischen Parkett. Allen voran dem unerhörten Spionagefall um Oberst Alfred Redl, der als Generalstabschef des Prager Armeekorps und einer der ranghöchsten und bestinformierten Nachrichtenoffiziere der Monarchie offenbar nichts Besseres zu tun gehabt hatte, als militärische Geheimnisse an Russland, aber auch an Frankreich und Italien zu verraten. Darunter waren auch einige, die Österreich-Ungarn im Falle eines Krieges schweren Schaden zufügen konnten.

Ende Mai 1913 hatte man den Offizier, der so großen Wert auf sein Äußeres legte, in einem Wiener Postamt bei der Abholung eines Geldkuverts entlarvt und ihn bis zu jenem Hotelzimmer in der Innenstadt verfolgt, in dem er sich in der Nacht darauf das Leben nahm. Dann stellte sich auch noch heraus, dass der oberste Generalstab der Armee versucht hatte, die peinliche Affäre, in der neben Geld auch Redls Homosexualität eine Rolle spielte, zu verschweigen und unter den Teppich zu kehren. Nur durch Zufall stieß der Prager Journalist Egon Erwin Kisch auf die Wahrheit, erkannte die Tragweite des Geschehenen und brachte die Geschichte an die Öffentlichkeit.

Die »Affäre Redl« zeichnete ein ebenso schockierendes wie beklemmendes Bild von den Zuständen in der österreichisch-ungarischen Armee und sorgte noch wochenlang für Aufregung. Wo immer man in Wien, Prag oder in einer der anderen Städte Österreich-Ungarns zusammenstand, wurde zumindest hinter vorgehaltener Hand darüber gesprochen. Und denen, die zuvor noch so stolz ihre Offiziersuniform getragen hatten, schlug nun immer öfter ein rauer Wind des Misstrauens und der Schadenfreude entgegen.

Spürbar war das auch bei der großen Adria-Ausstellung, die man im Mai im Wiener Prater eröffnet hatte. Die vom österreichischen Flottenverein organisierte Schau wartete mit einem großen Themenpark auf und lockte Massen von Besuchern an. Obwohl es häufig regnete – genauer gesagt: an 79 von insgesamt 155 Ausstellungstagen – wurde die noch bis Anfang Oktober dauernde Ausstellung, die täglich von 10 Uhr vormittags bis 2 Uhr früh geöffnet hielt, zu einem großen Publikumserfolg. Über zwei Millionen Besucher wurden gezählt.

Darüber hinaus galt das Interesse der Öffentlichkeit auch weiterhin den andauernden Wirren am Balkan sowie dem 25-jährigen Regierungsjubiläum des deutschen Kaisers. Das Vierteljahrhundert der Regentschaft von Kaiser Wilhelm II. wurde in Berlin noch ausgiebig gefeiert, als man sich am Hof in Wien schon längst auf die bald wieder bevorstehende Sommerfrische von Kaiser Franz Joseph I. in Bad Ischl vorbereitete, ausgiebige Jagdausflüge des Monarchen inklusive. Die Abreise war für den 1. Juli geplant.

Ehe es jedoch soweit war, erregte in Wien auch der »Jubiläumsbesuch« des weltberühmten Grafen Zeppelin beträchtliches Aufsehen. So bevölkerten am Montag, dem 9. Juni 1913, Hunderttausende die Straßen und Plätze der Stadt, um schließlich zum Himmel aufzublicken, wo das majestätische Luftschiff »Sachsen« mit Zeppelin an Bord über die österreichische Hauptstadt schwebte.

In Schönbrunn war der Kaiser höchstpersönlich auf den Balkon getreten, um den Überflug zu beobachten. Der mittlerweile 82 Jahre alte Monarch, der nun schon seit sechseinhalb Jahrzehnten die Geschicke eines großen Reiches und seiner Menschen lenkte und dem technischen Fortschritt sonst eher ablehnend gegenüberstand, zeigte sich wenigstens diesmal ebenso begeistert wie die meisten Wienerinnen und Wiener.

Noch während die »Sachsen« in Richtung Aspern steuerte, um dort am erst vor kurzem eröffneten Flugfeld vor Anker zu gehen, bereitete sich Franz Joseph schon auf die für den nächsten Tag geplante Audienz vor, bei der er Zeppelin das Ehrenzeichen für Kunst und Wissenschaft überreichen würde. Dann konnten die beiden längst schon in die Jahre gekommenen Männer, der mächtige Herrscher und der deutsche Luftschiff-Pionier, einander mit der Gewissheit in die Augen sehen, dass jeder von ihnen zwar noch die Tugenden der alten Zeit verkörperte, zugleich aber auch dazu bestimmt war, den Menschen den Weg in die Zukunft zu weisen.

3

Aber dann, gegen Ende Juni 1913, häuften sich in den Redaktionen der Zeitungen plötzlich Meldungen aus der Provinz, wonach auf den Bergen und den Almen im steirisch-kärntnerischen Grenzgebiet ein geheimnisvolles »Untier« wüte. Auf der Hirschegger Alpe in der Steiermark, mitten in einem beliebten Urlaubs- und Ausflugsgebiet, hatte man mehrere tote Rehe gefunden. Ihre Kadaver waren ungewöhnlich grausam zugerichtet. Einigen der Tiere waren große Stücke Fleisch aus dem Körper gerissen. An verschiedenen Stellen war ihre Haut von tiefen Kratzern zerfetzt. Einem der Rehe fehlte der Kopf.

Die angesichts so fürchterlicher Verletzungen weitgehend ratlosen Jäger verdächtigten zunächst wildernde Hunde, die in der Gegend öfter ihr Unwesen trieben. Sogleich waren die weidmännischen Sinne geschärft und ihre Träger fest entschlossen, in nächster Zeit auf ähnliche Vorkommnisse zu achten. Die aber hatte es, wie sich rasch herausstellte, auf der benachbarten Stubalpe schon kurz zuvor gegeben.

Weil die Strahlen der Sonne in diesem wettermäßig so unbeständigen Frühling viel länger als sonst benötigten, um den letzten Schnee auf den Bergen zurückzudrängen und ihn schließlich ganz zu besiegen, waren auch die Bauern und die Viehbesitzer ungewöhnlich spät dran. Erst nach mehreren Erkundungsgängen zu den Höhen lag endlich die Bestätigung vor, dass die Almweiden nun tatsächlich wieder schneefrei waren. So konnte man in der zweiten Junihälfte damit beginnen, die Rinder, Kälber, Schafe und Lämmer auf die Almen zu treiben, wo die Tiere, wie in jedem Sommer, bald schon herrlich blühende Almwiesen vorfinden würden, deren Gräser und Kräuter so saftig und nahrhaft waren, dass die Kühe hier oben weitaus mehr Milch als unten im Tal gaben.

Eigentlich sollte alles so verlaufen wie immer. War man nach oft langem und beschwerlichem Fußmarsch mit den Tieren gut auf der Alm angekommen, bezogen die Hüter die Hütten, wo sie den ganzen Sommer verbringen würden, um in der Nähe der ihnen anvertrauten Herden zu sein. Schließlich konnte es immer wieder vorkommen, dass sich das eine oder andere kostbare »Stück Vieh« im weitläufigen Gebiet verirrte, vielleicht sogar über einen Abhang stürzte oder nach einem Ausrutscher im oft steilen und felsigen Gelände hilflos in einem Bachbett liegen blieb.

Kündigte sich gar ein Unwetter an, was in diesem Sommer sicher öfter vorkommen würde, mussten die Tiere rechtzeitig in die Unterstände gebracht und dort beruhigt und entsprechend versorgt werden, bis das Schlimmste vorüber war. So war es immer gewesen, so würde es wohl auch diesmal sein.

Aber auch sonst konnte man sich oben auf den einsamen Almen über Mangel an Arbeit nicht gerade beklagen. Das Tagwerk der Hüter begann für gewöhnlich schon früh am Morgen, wenn sich die Kühe vor der Hütte versammelten, um anschließend zum ersten Mal am Tag gemolken zu werden. Neben dem Melken und Füttern der Tiere und dem Ausmisten der Ställe gehörte es zu den Aufgaben der Hüter, die Bergweiden regelmäßig abzugehen, um sich nur ja zu vergewissern, dass alle Tiere noch da, unversehrt und bei guter Gesundheit waren.

Dann wurden auch schadhafte Stellen an den Zäunen repariert, Tränken und Brunnen gereinigt, Gras und Unkraut gemäht und störende und das Vieh behindernde Sträucher und Büsche entfernt. Alle paar Tage hackte man Holz, machte Heu für Schlechtwetterzeiten und für den Winter unten im Tal und verarbeitete die Milch der Kühe und Schafe zu Butter, Topfen und Käse.

Das zumindest auf den ersten Blick so idyllisch erscheinende Almleben, das gewiss jederzeit genügend Motive für die bei Wanderern und Feriengästen immer beliebter werdenden Ansichtskarten geboten hätte, würde erst Anfang September enden, wenn die Tage schon merklich kürzer waren und es auf den Bergen zunehmend kälter und unfreundlicher wurde. Dann würden Mensch und Tier wieder ins Tal zurückkehren, wo der Almabtrieb freudig erwartet und gefeiert wurde. Waren die Tiere vollzählig und gesund in ihren Ställen angekommen, war der Sommer gut verlaufen. Dann konnten die Bauern zufrieden sein.

Aber dieses Mal kam alles anders, denn dieses Mal endeten schon einige der ersten Almauftriebe auf der Stubalpe in einem fürchterlichen Desaster.

Abb. 2 Im Frühsommer wurden die Tiere der Bauern auf die Almen getrieben und normalerweise Anfang September wieder ins Tal gebracht.

 

4

Kaum waren die Hüter mit den Tieren auf der Alm eingetroffen, hatten die Hütten bezogen, die Räume gereinigt und das im letzten Jahr sorgfältig in Kisten, Schränken und Truhen verstaute Inventar wieder ausgepackt, wurden einige von ihnen, wie von einem Blitz aus heiterem Himmel, vom Unglück überrascht. Im Laufe von zwei aufeinanderfolgenden Nächten tötete ein zunächst unbekanntes Raubtier nicht weniger als 27 Schafe. Der Räuber – vielleicht waren es auch mehrere – schlug im Schutz der Dunkelheit an verschiedenen Stellen der Stubalpe zu, überwand offenbar spielend leicht alle Hindernisse und Zäune und fügte den von ihm gejagten und in den meisten Fällen schließlich getöteten Tieren fürchterliche Verletzungen zu. Eine blutige Spur zog sich über die Alm.

Die ebenso erschrockenen wie ratlosen Hüter schworen, sie hätten nichts Außergewöhnliches bemerkt. Das Blöken der Schafe sei nicht anders als sonst gewesen. Freilich müsse man bedenken, dass Schafe, ganz im Gegensatz zu den Rindern, selbst bei größter Gefahr erst gar nicht ernsthaft zu flüchten versuchen. Sie drängen sich vielmehr möglichst eng aneinander, schieben andere zur Seite oder vor sich her, reißen schließlich unfreiwillig aus der Herde aus und werden gleich danach umso leichter zur Beute. Vor allem dann, wenn es sich bei dem Angreifer um einen großen, schnellen und kräftigen Räuber handelt, der genau weiß, wie man sich möglichst unauffällig nähert, eine Herde zunehmend beunruhigter Tiere umkreist, für Furcht und Verwirrung sorgt, die Kreise immer enger zieht und schließlich nicht nur ein einzelnes Lamm oder Schaf, sondern gleich zahlreiche Tiere tötet.

Erst wenn der Tag anbricht, wird das gesamte Ausmaß des nächtlichen Schreckens sichtbar. Überall geschundene, zerbissene und gerissene Tierkörper, die der in einen wahren Blutrausch verfallene Angreifer inmitten der noch Lebenden zurückgelassen hat.

Der mysteriöse Räuber schlug auch in den folgenden Nächten immer und immer wieder an verschiedenen Stellen der Stubalpe zu, nützte dabei stets die Dunkelheit, wechselte oft viele Dutzende Kilometer weit auf benachbarte Almen über, jagte und tötete dort erneut und blieb bei alledem von den Menschen unbemerkt wie ein Phantom. Nur die fürchterlichen Ergebnisse seines grausamen Wirkens waren unübersehbar.

5

Rasch gelangten die Nachrichten von den ebenso merkwürdigen wie besorgniserregenden Vorfällen nicht nur zu den Bauernhöfen und in die Ortschaften in den Tälern, sondern auch zu den lokalen Zeitungen. Am 23. Juni 1913 berichtete das »Grazer Tagblatt« bereits zum wiederholten Mal darüber:

»Zur Raubtierjagd an der steirisch-kärntnerischen Grenze. Man schreibt uns aus Voitsberg: Mittwoch nahm man die verderbliche Tätigkeit des Raubtieres wahr. Fünf Stück Rehwild und ein Stück Jungvieh wurden zerfetzt gefunden. Die Verletzungen ließen vermuten, dass das Raubtier seine Opfer von einem erhöhten Punkte aus anfalle. Dem Besitzer Gratz in Schiefling wurden fünf Schafe getötet, dem Märtemandre in Hirschegg-Rein sieben Schafe. Der Gesamtschaden wird auf 3.000 Kronen geschätzt.«

Aber auch danach riss die Schreckensserie nicht ab. Schon nach wenigen Wochen gingen zumindest 80 Schafe und Lämmer, 15 Rinder und möglicherweise auch zwei Fohlen, die wie vom Erdboden verschluckt waren und es auch blieben, auf das Konto des unbekannten Räubers. Die betroffenen Bauern wussten keinen Rat, verständigten in ihrer Not die Jäger und mussten dann oft erfahren, dass es nicht nur die eigene Herde, sondern auch die des Nachbarn getroffen hatte. Und oft noch viel schlimmer. Ein ebenso todbringendes wie mysteriöses Rätsel lag in der Luft, für das selbst die Erfahrensten unter den Bewohnern der immer stärker betroffenen Gebiete keine wirkliche Erklärung fanden. Jedenfalls konnte sich niemand unter den Bauern und Viehbesitzern daran erinnern, Ähnliches in dieser Gegend schon einmal erlebt zu haben.

Während die Jäger und die Bauern damit begannen, die Almen, Wälder und Wiesen nach den Anzeichen von gefährlichen Raubtieren abzusuchen, erzählten einige, dass es früher einmal auch in den Wäldern der Steiermark und im benachbarten Kärnten Bären, Luchse und Wölfe gegeben habe. Aber die waren, wie man sogleich überall versicherte, schon seit vielen Jahrzehnten ausgerottet oder wer weiß wohin vertrieben. Kaum jemand konnte sich auch nur die Möglichkeit vorstellen, dass gefährliche Tiere wie diese nach so langer Zeit wieder zurückgekehrt sein könnten.

6

Am Anfang war der Wald. Vor Jahrhunderten, als die Menschen längst schon damit begonnen hatten, der ursprünglichen und urwüchsigen Landschaft Platz für mehr Lebensraum, für Wiesen- und fruchtbare Ackerflächen, für den Bergbau, für Wege, Märkte und Städte abzutrotzen, waren ihre weit auseinanderliegenden Ansiedlungen noch überall von dichten, dunklen und schwer zu durchdringenden Wäldern umgeben. Dort vermutete man die Heimat jener Fabelwesen, von denen die Alten schaurige Geschichten zu erzählen wussten, und auch die Bären, Luchse und Wölfe, die damals noch in ihnen lebten, waren eine nicht zu unterschätzende Gefahr.

Vor allem in kalten und schneereichen Wintern, wenn die Nahrungsreserven in der Natur wie auch in den Häusern der Menschen knapp wurden und Hunger und Not wie ein brennender und schmerzender Schleier das Land überzogen, wagten sich die Raubtiere aus den Wäldern näher als sonst an die menschlichen Behausungen heran. Sie näherten sich vorsichtig den Ställen und den ohnehin nur noch spärlich gefüllten Vorratsspeichern.

Selbst später noch, als große Waldflächen bereits abgeholzt und gerodet waren, kam es gar nicht so selten vor, dass Fuhrleute oder Holzfäller in der Dämmerung einem Bären oder einem Rudel von Wölfen begegneten. Manchmal, so wird berichtet, musste man den hungrigen und bedrohlich knurrenden Tieren sogar einen Ochsen oder ein Pferd überlassen, um selbst mit dem Leben davon zu kommen.

Abb. 3 Auf der Stubalpe in der Steiermark hat alles begonnen. Im weiträumigen Gebiet kam es immer wieder zu Attacken.

 

Trotz aller Hindernisse und Gefahren waren die Wälder und die über den Wipfeln ihrer Bäume in weiter Ferne sichtbaren Berg- und Almregionen seit jeher wichtige Lebensgrundlagen für die Menschen. Von hier bezog man den kostbaren Rohstoff Holz, der zum Bauen, zum Heizen, zur Herstellung von Werkzeugen und Geräten, zur Errichtung von Befestigungen, Brücken und Zäunen so dringend benötigt wurde. Die Wälder waren Orte, die eine Vielzahl von Nahrungsmitteln boten, auch wenn das Jagen des Wildes fast immer den adeligen Grundbesitzern vorbehalten blieb und jede Form der Wilderei streng verfolgt und schwer bestraft wurde.

Auf den Wiesen an den Waldrändern wurden die Nutztiere – vor allem Schweine, Kühe, Ochsen, Ziegen, Schafe und Lämmer – gehalten, und im Schatten von Fichten-, Tannen- und Zirbenbäumen sammelte man die Früchte, die der Waldboden so reichlich hervorbringt: Kräuter, Beeren und Pilze. Aber auch die Nadeln, die Blätter, Blüten und das Harz der Bäume fanden Verwendung.

In den Tiefen der Wälder erntete man den Honig wilder Bienen und sammelte allerlei wertvolle Kräuter, die bei der Heilung von Krankheiten und der Linderung von Gebrechen seit jeher eine wichtige Rolle spielten. Auf den Lichtungen in den höher gelegenen Gebieten, wo der Wind beständig über den Boden jagt, legte man Brennöfen und Köhlergruben an, um in ihnen das Erz vom Gestein zu trennen und Holzkohle herzustellen.

Für die Vorfahren der Menschen dieser Gegend waren die Wälder aber auch Stätten der religiösen Verehrung. Lange Zeit, noch ehe christliche Kirchen gebaut wurden, galten manche Quellen, Felsen und Bäume als heilige Plätze, an denen man geheimnisvolle, von Generation zu Generation überlieferte Rituale vollzog und einst wohl auch Tiere opferte. Für die Angehörigen jener zunehmend in Vergessenheit geratenen Kultur lag nichts näher, als die scheinbar schon seit Anbeginn der Zeiten aufragenden Felsen und die uralten Bäume mit ihren tief im Erdreich verankerten, weit verzweigten Wurzeln als Mittler zwischen Diesseits und Jenseits anzusehen. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb wäre auch noch lange Zeit danach niemand ernsthaft auf den Gedanken gekommen, die Gefahren, die auf den Bergen und in den Wäldern lauerten, für gering zu schätzen.

Wölfe, Bären und Luchse hat es auf dem Boden des heutigen Österreich wie in den meisten Regionen Mitteleuropas schon immer gegeben. Aber ab dem späten Mittelalter wurden sie mit deutlich zunehmender Intensität verfolgt und gejagt. Die häufig stattfindenden, später oft behördlich koordinierten Treibjagden kosteten viele Tiere das Leben und zwangen die Wölfe, Luchse und Bären schließlich, ihre angestammten Reviere zu verlassen und sich anderswo, fernab von den Menschen, nach geeigneteren Lebensräumen umzusehen.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts ordnete das österreichische Kaiserhaus sogar die vollständige Ausrottung von Bär und Wolf an, was schließlich dazu führte, dass es Wölfe und Bären spätestens im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts hierzulande praktisch nicht mehr gab. Sie waren allesamt vertrieben oder getötet und ausgerottet und damit der so unerbittlichen Konkurrenz des Menschen um Lebensraum und Nahrung zum Opfer gefallen. Zumindest vorläufig.

Tiere, die es auf Erden bisher nicht gegeben hat

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Am 1. Juli 1913, einem Dienstag, trat Kaiser Franz Joseph I. wie geplant die Reise nach Bad Ischl an, um sich in seiner bevorzugten Sommerresidenz von den Anstrengungen der Regierungsgeschäfte zu erholen. Franz Joseph war mittlerweile ein alter, vom Schicksal geprüfter und gebeugter Mann, der in eineinhalb Monaten – am 18. August – 83 Jahre alt werden würde. Nach sechseinhalb ereignisreichen Jahrzehnten auf dem Thron und mehreren schweren Schicksalsschlägen war er nicht nur der am längsten regierende Herrscher Europas, sondern neuerdings auch immer öfter amtsmüde.

Wie in so vielen zurückliegenden Sommern seines langen Lebens freute sich der Kaiser auch in diesem auf Bad Ischl, die Kaiservilla, die Besuche bei Frau Schratt und die schöne und abwechslungsreiche Landschaft des Salzkammergutes, die ihm wieder genügend Gelegenheiten zur Zerstreuung bieten würden. Neben regelmäßigen Spaziergängen standen natürlich auch seine geliebten Jagdausflüge auf dem Programm.

Der Hofsonderzug verließ Wien pünktlich um 7.35 Uhr. Zunächst ging es nach Amstetten, wo Franz Joseph den Eisenbahnwaggon verließ und mit dem Automobil zum Schloss Wallsee gefahren wurde. Dort nahm er in der Schlosskapelle an der Taufe der jüngsten Tochter von Graf und Gräfin Waldburg-Zeil teil. Die stolzen Eltern hatten Erzherzogin Marie Valerie, die Schlossherrin von Wallsee und jüngste Tochter des Kaisers, gebeten, die Patenschaft für das Kind zu übernehmen.

Nach der Taufe und dem anschließenden Mittagessen ging es für den Kaiser weiter zur Bahnstation von St. Valentin, die der Zug um 14.30 Uhr in Richtung Bad Ischl verließ. Für die weitere Reise hatte sich Franz Joseph, schon aus Zeitgründen, jede weitere Unterbrechung durch Empfänge und Begrüßungs- und Dankesreden auf den Bahnhöfen entlang der Reiseroute verbeten.

Als der Zug schließlich kurz vor 18.30 Uhr in den Bahnhof von Bad Ischl einfuhr, warteten dort trotz des nach wie vor schlechten Wetters bereits Tausende Menschen auf die Ankunft des Monarchen. Ganz Bad Ischl war beflaggt. Der Kaiser nahm am Fenster des Hofsalonwagens stramme Haltung an, während sich draußen unter den neugierigen Blicken der Menge das Empfangskomitee formierte. Neben den Bad Ischlern waren auch die meisten der zahlreichen Kurgäste gekommen, die den mondänen, für seine Sohle- und Schwefelbäder bekannten Ort in diesen Wochen bevölkerten. Sie alle stimmten in den lauten Chor der Jubelrufe ein.

Dann trat Franz Joseph auf den Bahnsteig, hörte sich die von Kindern vorgetragenen Gedichte an und hielt eine kurze, aber außerordentlich freundliche Ansprache. Als die Dankesworte des Kaisers schon von den lauten Klängen der Militärmusik und dem tosenden Beifall der begeisterten Zuschauer abgelöst wurden, schüttelte Franz Joseph in gewohnter Weise noch einige Hände. Als die Reihe jedoch an Hofrat Graf von Saalburg war, der diesem Augenblick schon seit einiger Zeit mit zunehmender Unruhe entgegenfieberte, passierte etwas ganz und gar Ungewöhnliches.

Der Graf überreichte, ohne die kaiserlichen Adjutanten und die im Protokoll festgelegten Abläufe zu beachten, dem hohen Gast ein Telegramm, das kurz zuvor in Bad Ischl eingetroffen war. Franz Joseph nahm es entgegen, blickte kurz darauf, brauchte seine alten Augen aber gar nicht weiter zu bemühen, weil Saalburg ihn sogleich über dessen Inhalt informierte. Franz Joseph schien interessiert. Er nahm den Grafen und den gleich neben ihm stehenden Jagdleiter Hofrat Böhm zur Seite und zog die beiden in ein längeres Gespräch.

Erst nach einigen Minuten, nachdem der kaiserliche Generaladjutant Graf von Paar zum wiederholten Male zum Aufbruch mahnte, setzte sich der Kaiser mit von Paar und Leibarzt Dr. Kerzl in die geschlossene Kutsche, die ihn durch das nicht endenwollende Spalier der noch immer jubelnden, winkenden und Tücher schwenkenden Menschen zur kaiserlichen Villa fuhr. Dahinter folgten die Wagen der Begleiter, in denen wohl schon darüber diskutiert wurde, was in dem Telegramm gestanden haben mochte.

Am späteren Abend gab man im Saal des Bad Ischler Kurhauses ein Festkonzert, das vom Wiener Tonkünstlerorchester mit der großen »Kaiser-Ouvertüre« von Wilhelm Westermayer eingeleitet wurde. Obwohl Franz Joseph der Einladung folgte, bemerkte man nicht nur in seiner engsten Umgebung, dass der Kaiser – entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten – nicht ganz bei der Sache war. Während sich die Musiker alle nur erdenkliche Mühe gaben, das Publikum zu begeistern, nützte der Kaiser von Zeit zu Zeit die Gelegenheit, ein paar geflüsterte Worte mit den neben ihm sitzenden Grafen von Paar und von Hoyos, seinen engen Vertrauten, zu wechseln.

Obwohl sich viele Beobachter die Unruhe des Kaisers damit erklärten, dass er mit den Gedanken schon längst bei den für die kommenden Tage geplanten Jagdausflügen weilte, wollten andere zumindest nicht ganz ausschließen, dass seine Stimmung auf das Telegramm vom Bahnhof zurückzuführen war.

8

Aber schon am nächsten Tag standen in Kurorten wie Bad Ischl wieder ganz andere Sorgen im Vordergrund. Der Wettergott kannte offenbar tatsächlich kein Mittelmaß mehr. Es regnete tagelang, praktisch ununterbrochen. Und wenn es einmal gerade nicht regnete, so war es für die Jahreszeit ungewöhnlich kühl und windig, oft sogar ausgesprochen kalt.

Kein Wunder, dass das ständige Schlechtwetter überall beklagt wurde. Am meisten ärgerten sich die zahlreichen Kurgäste und Sommerfrischler, die sich, wie ihr Kaiser auch, ebenso sonnige wie unbeschwerte und erholsame Ferientage erhofft hatten. Nun sahen sie sich jedoch mit der Tatsache konfrontiert, dass die Zimmer und Aufenthaltsräume – im Juli – wieder geheizt werden mussten.

Noch viel schlimmer ging es oben auf den Bergen zu, wo der Winter jetzt erneut Einzug hielt. Am Hochobir in den Karawanken schneite es schon seit Tagen. Der Neuschnee lag an vielen Stellen über 20 Zentimeter hoch. Von der Rax wurde ergiebiger Schneeregen gemeldet, und in den zahlreichen Hotels und Restaurants am Semmering jammerten die Gäste ununterbrochen über den Nebel und das nasskalte Wetter.

In Bad Ischl selbst war über Nacht so viel Schnee gefallen, dass die Angestellten eines Nobelhotels am Morgen auf die Idee kamen, einen Schneemann zu bauen, um die zunehmend deprimierten Gäste wenigstens vorübergehend aufzuheitern. Das Foto vom Schneemann im Juli wurde in mehreren Zeitungen veröffentlicht und kursierte bald auch in Wien.

Auf den Almen wurden die Hüter und die Tiere vom erneuten Wintereinbruch überrascht. Das »Neuigkeits-Welt-Blatt« beschrieb in seiner Ausgabe vom 3. Juli 1913 die recht dramatische Situation:

»Jetzt regnet es schon eine gute Woche ununterbrochen und auf den Bergen ist sogar Schnee gefallen bis auf die Almen herunter. Manche Almbauern erleiden durch dieses Wetter viel Schaden. Sehr zum Erbarmen ist das Vieh; auf den Almen leidet es jetzt Kälte und Not und unterdessen verregnet‘s ihm daheim noch sein Winterfutter. Ein großer Teil der Heuernte ist bereits verdorben.«

Von einer hochgelegenen Alm bei Bad Zell in Oberösterreich wurde sogar eine »Massenverendung« von Schafen gemeldet. Während die zu Dutzenden verhungerten Tiere wegen der anhaltenden Schneefälle und der Lawinengefahr lange nicht geborgen werden konnten, plagten die Hüter und die Bauern von der Stubalpe ganz andere Sorgen. Sie befürchteten nämlich, dass das geheimnisvolle Untier, von dem noch immer jede Spur fehlte, die angespannte Lage dazu nützen könnte, erneut auf große Jagd zu gehen. Eine Befürchtung, die sich schon bald auf schaurige Weise bewahrheiten sollte.

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Im Juli 1913 alarmierten die enormen und entsprechend beklagten Schäden nicht nur die Bauern und die Jägerschaft, sondern auch die Behörden, die Zeitungen und die Öffentlichkeit. Überall wurde darüber spekuliert, welchen Tieren derartige Blutbäder zuzutrauen wären. Die Rede war von Wölfen, Luchsen oder Bären, und weil die Fantasie angesichts des zunehmenden öffentlichen Interesses immer wildere Kapriolen zu schlagen begann, wurden bald auch exotische Tiere in Betracht gezogen. Am 2. Juli 1913 schrieb das »Grazer Tagblatt«:

»Allgemein ist man der Ansicht, dass Fachmänner im Jagdfache zur Feststellung der Spuren des Raubtieres herangezogen werden müssen. Auch gehört dazu eine Prämie in angemessener Höhe. Eine Verfolgung der Spuren wäre in den letzten Tagen, wo Schneefall im bedrohten Gebiete eingetreten war, leicht möglich gewesen. Auffallend ist es, dass gerade erfahrene Forstleute stets die Vermutung wiederholen, dass es sich doch um einen Hund oder um einen Wolf handle. Die geängstigte Fantasie vieler Landbewohner sieht bereits Tiere, die es auf Erden bisher noch nicht gegeben hat. Sollten Fachkreise wirklich die Behauptung aufstellen, es handle sich um einen Luchs oder Wolf u. dgl., so möge die Regierung eine Einkreisung durch Militär verfügen.«

Die Behörden und die Jäger unternahmen jedenfalls ihr Bestes, um der wahren Ursache der so plötzlich aufgetretenen Plage auf die Spur zu kommen. Aber das war, wie die folgenden Monate noch zeigen sollten, alles andere als ein leichtes Unterfangen. Dafür gab es gleich mehrere Gründe: Zum einen war das betroffene Gebiet recht groß, reichte von der Stubalpe, wo alles begonnen hatte, über den Obdacher Raum, die St. Leonharder Alpe und die Packalpe bis in das Herz des Kärntner Koralpengebietes, wobei zunächst die steirische Seite viel stärker betroffen war. Zum anderen waren die meisten dieser hoch gelegenen Almregionen unwegsam, und dichte Wälder und tiefe, enge Schluchten erschwerten jede Suche.

Und nicht zuletzt kam es im Laufe der Zeit immer öfter zu jenen grundlegenden Meinungsverschiedenheiten zwischen Bauern und Jägern, über die Gustav Schuster, Herausgeber der angesehenen Jagdzeitschrift »Halali« und Leiter einer der großen Jagdexpeditionen in den betroffenen Gebieten, in den lokal weit verbreiteten »Unterkärntner Nachrichten« berichtete:

»Leider geschieht es nur zu oft, dass die Bauern, die ziemliche Gleichgültigkeit zeigen, erst nach Tagen den Abgang eines Stückes (Vieh, Anm. d. Verf.) bemerken und das Raubtier unterdessen, wenn der Kadaver gefunden, sich schon längst in ein anderes Gebiet begeben hat. Andererseits kommt es auch vor, wie wir es selbst zu unserem Leidwesen erfahren mussten, dass falsche Nachrichten zu einem stundenlangen Marsche veranlassen; kommt man dann zu dem betreffenden Bauern, so heißt es dann in ganz gleichgültigem Tone: Ja, bei uns is‘ nix g‘schegn.«

Für den Donnerstag, den 3. Juli, wurde eine große »Streifung« angesetzt, die trotz des nach wie vor ungünstigen Wetters mehrere Stunden dauern und das gesamte Stubalpengebiet erfassen sollte. Die Jagd, kündigte das »Grazer Tagblatt« an, werde von Soldaten und Offizieren der Kaserne der nahen Stadt Judenburg organisiert und durchgeführt. Zur Teilnahme wären jedoch ausdrücklich »alle mit Waffen vertrauten Personen« eingeladen.

Als am Donnerstagmorgen die ganze Besatzung der Judenburger Kaserne, einschließlich aller Offiziere, ausrückte, wurde sie von Gendarmen der steirischen Posten Judenburg, Fohnsdorf, Knittelfeld, Zeltweg und Obdach unterstützt. Auch einige Jäger, Jagdbesitzer und Bauern kamen, um sich dem ersten großen »Feldzuge« gegen das Raubtier anzuschließen.

Das Militär bewegte sich in leichter Marschadjustierung in einer geschlossenen Linie gegen den Größenberg, St. Georgen bei Obdach, Schwarzenbach und Groß-Lobming, überschritt schließlich den Gebirgskamm und kam erst am späten Nachmittag bei Weißkirchen wieder im Tal an. Bald schon war überall zu hören, dass die so groß angelegte Aktion gegen das mysteriöse Raubtier ohne Erfolg geblieben war. Nicht einmal die kleinste Spur des Räubers war zu finden.

Im Nachhinein wurde sogar bemängelt, dass man es verabsäumt hatte, auch die benachbarten Bezirkshauptmannschaften zu informieren. Schließlich wäre es weitaus sinnvoller gewesen, wenn sich zur gleichen Zeit auch von dort aus einige Trupps von Jägern aufgemacht hätten, um sich auf die Suche nach dem gefährlichen Tier zu begeben.

Abb. 4 Die zahlreichen Vermutungen wurden zu Fantasiebildern verarbeitet.

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In der Zwischenzeit hatten die Zeitungen damit begonnen, dem so plötzlich und völlig unerwartet aufgetauchten Schrecken aus den Bergen einen Namen zu geben. Sie nannten ihn »Bauernschreck«. Wer die Benennung in diesem Zusammenhang als Erster aufbrachte, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Wer auch immer es war, er dachte dabei wohl an ein ebenso bekanntes wie verrufenes Kartenspiel, das sich vor allem in den Spelunken und engen, schwer einzusehenden Gassen der Städte einer gewissen Beliebtheit erfreute: »Kümmelblättchen«, in Österreich auch bekannt als »Bauernschreck«.

Weil das Glück bei diesem Kartenspiel in Wirklichkeit so gut wie keine Rolle spielte und dem Betrug von vornherein Tür und Tor weit geöffnet waren, stand es in Österreich-Ungarn schon seit Langem auf der vom k. u. k. Justizministerium veröffentlichten Liste der verbotenen Spiele. Anhänger fand es trotzdem. Ursprünglich von Gaunern erfunden, bestand es lediglich aus drei Karten – aus zwei schwarzen Assen und dem Herzass – und wurde zwischen dem Geber oder »Werfer« und einem Spieler oder »Setzer« gespielt.

Der Geber, der das Spiel fast immer vorschlug, warf die beiden schwarzen Asse für den Spieler und eventuelle Zuschauer deutlich sichtbar auf den Tisch. Dann zeigte er das Herzass und legte es verdeckt zu den beiden anderen Karten, die nun ebenfalls umgedreht wurden. Nachdem der Spieler seinen Einsatz vorgenommen hatte, begann der Geber vor allen Augen damit, die drei verdeckten Karten hin und her zu schieben und dabei immer wieder ihre Position zu vertauschen. Dann kam der Spieler an die Reihe und hatte die Aufgabe, auf die Karte seiner Wahl zu tippen. Erriet er die Trumpfkarte, also das Herzass, gewann er das Spiel und den doppelten Einsatz. Fiel seine Wahl jedoch auf eine der beiden schwarzen Karten, waren das Spiel und der Einsatz für ihn verloren.

Der Betrug bestand nun darin, dass sich der Geber während der ersten Runden noch absichtlich zurückhielt und es dem Spieler relativ einfach machte, dem Wechsel der Karten mit den Augen zu folgen und das Spiel zu gewinnen. Mit der Zeit wurden die Einsätze höher und die Gewinne für den Spieler immer seltener. Der Geber warf die Karten nun viel schneller auf den Tisch, tauschte sie blitzschnell untereinander aus und sorgte mit allerlei Tricks dafür, dass es für den Spieler immer schwieriger wurde, die Position der Herzass-Karte auszumachen. Der Spieler verlor immer öfter und immer höhere Summen.

Dazu kam noch, dass auch Lockvögel eingesetzt wurden. An ihnen, mit denen natürlich alles genauestens abgesprochen war, demonstrierte der Geber interessierten Zuschauern und späteren Opfern, wie einfach es doch war, gegen ihn zu gewinnen. Und dann gab es auch noch die starken Männer im Hintergrund, die dafür sorgten, dass geprellte und verärgerte Spieler nicht im Nachhinein auf die Idee kamen, ihr Geld zurückzufordern.

Auch wenn der »Bauernschreck« seinen Namen wahrscheinlich diesem höchst zweifelhaften Kartenspiel zu verdanken hatte, so war die von seinem plötzlichen und unerwarteten Auftauchen, den wiederholten Ortswechseln und seinen überraschenden, blitzartigen Angriffen ausgehende Gefahr mehr als real.

Die Meldungen erreichen Wien

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Wien, Anfang Juli 1913. – Der Erste, der Max Wegenthaler auf die merkwürdige Geschichte aufmerksam machte, war Fauser. Ausgerechnet Fauser, der Nachtredakteur, den man sonst praktisch nie zu Gesicht bekam. Heute war er aber plötzlich da, um sich, wie Wegenthaler auch, in dem kleinen, aber umso gemütlicheren Café gleich gegenüber dem Redaktionsgebäude der »Reichspost« ein Frühstück zu gönnen.

Nachdem Fauser die mit Veranstaltungshinweisen, Theaterzetteln und Ansichtskarten behängte Glastür des Cafés hinter sich zugezogen hatte und das Klirren der Scheiben jedem im Raum die Ankunft des neuen Gastes verriet, zwängte er den nassen Schirm in den dafür vorgesehenen Ständer. Dann blickte Fauser nach links und rechts, als wolle er den Raum, aus dem ihm sogar jetzt im Juli die trockene Hitze des Ofens entgegenschlug, mit den noch von den Anstrengungen der vergangenen Nacht ermüdeten Augen vermessen.

Dann steuerte Fauser geradewegs auf Wegenthaler zu. Die Schritte des groß gewachsenen, schlanken Nachtredakteurs erinnerten Wegenthaler an einen Tänzer, der soeben zum ersten Mal den Ballraum betrat und sich zugleich auch schon nach einer geeigneten Tanzpartnerin umsah.

Der Redakteur Max Wegenthaler saß schon seit einer halben Stunde an dem kleinen Tisch am Fenster, von wo aus er die Geschehnisse draußen beobachten konnte. Die morgendlichen Trottoirs waren regennass, und mit Regenmänteln bekleidete und mit Schirmen bewehrte Menschen eilten an den blank geputzten Glasscheiben vorüber. Soeben blieb ein älterer Mann stehen, hob die rechte Seite seines grauen, schon etwas verschlissenen Regenschutzes und zog eine silbern glänzende Taschenuhr hervor. Der Deckel sprang auf, der Mann blickte mit zusammengekniffenen Augen auf das Ziffernblatt und schüttelte den Kopf. Vielleicht, dachte Wegenthaler, war er zu spät dran.

Seit Neuestem richtete sich in Großstädten wie Wien alles nach der Uhr. Jedermann blickte unentwegt auf seine Taschenuhr, um nur ja nicht zu spät zu kommen. Die einen mussten pünktlich bei der Arbeit sein, die anderen hetzten zu irgendwelchen Verabredungen oder Terminen, und die, die in Wirklichkeit keine solchen Verpflichtungen hatten, täuschten oft gerade deshalb die größte Geschäftigkeit vor. Der Mann jedenfalls verstaute die Uhr wieder in seiner Kleidung und ging rasch weiter.

Ein Kind, das in Begleitung einer jungen Frau, wahrscheinlich seiner Mutter, war, riss sich gerade von der schützenden Hand los und hüpfte in die nächste Pfütze, dass es nur so spritzte. Die Frau, eine hübsche Person, eilte ihm nach, schimpfte aber nicht, sondern versuchte sofort, die Schmutzflecke notdürftig von seiner Hose zu entfernen. Das Kind, ein Junge mit Sommersprossen und rötlich-blondem Haar, dessen Gesicht schelmisch unter der Mütze hervorlugte, kicherte und hielt bereits nach der nächsten Pfütze Ausschau. Aber die Mutter bemerkte es und war offenbar fest entschlossen, es erst gar nicht soweit kommen zu lassen. Sie nahm den Jungen wieder an der Hand und bemühte sich beim Weitergehen sichtlich, um jede noch vor ihnen liegende Pfütze einen weiten Bogen zu machen. Dabei wich sie auch den Zeitungsverkäufern aus, die schon vor zwei oder drei Stunden damit begonnen hatten, die Morgenausgaben der gefragtesten Blätter von Wien unter die Leute zu bringen.

Draußen regnete es noch immer in Strömen, als der Nachtredakteur Franz Fauser vor Wegenthaler stand. »Guten Morgen, Herr Wegenthaler«, sagte er und nickte. Ohne danach zu fragen, ob es gestattet sei, setzte er sich zu Wegenthaler an den Tisch, legte die mitgebrachten, noch den Geruch von frischer Druckerschwärze verbreitenden Zeitungen auf das Tischtuch und schob den Zuckerstreuer zur Seite. Fauser war nicht nur groß gewachsen und hager, sondern hatte auch ein kantiges Gesicht, das jetzt durch seine noch von der letzten Nacht herrührende Blässe und die dunklen Ringe unter den Augen irgendwie gespenstisch aussah. Hätte er sich nicht vor Kurzem gründlich rasiert, wäre er eine geradezu beängstigende Erscheinung gewesen.

Fauser war um die vierzig Jahre alt und damit nur ein paar Jahre jünger als Wegenthaler selbst. Er trug einen dunkelgrauen Anzug, der, wie sein Besitzer, wohl schon viel bessere Zeiten erlebt hatte. Den Hut nahm er ab und legte ihn neben sich auf den noch freien Stuhl. Fauser bestellte Kaffee. Der Ober war zu dieser frühen Stunde noch etwas mürrisch und bemühte sich erst gar nicht, seine miserable Stimmung vor den »Herren von der Zeitung«, wie er sie und ihresgleichen nannte, zu verbergen.

Obwohl so kurz nach dem Aufsperren erst wenige Gäste im Lokal waren, die in den alten Ausgaben von gestern blätterten oder sich beim Kartenspiel die Zeit vertrieben, würde es heute wohl etwas länger dauern als sonst, ehe Fauser seinen Kaffee bekam. Bei Wegenthaler waren es fast 15 Minuten gewesen, die der Ober, der von Uhren und Eile offenbar weniger hielt als viele seiner Zeitgenossen, benötigte.

Der Nachtredakteur blätterte in der Morgenausgabe der »Reichspost« und schob, nachdem er kurz aufgeblickt hatte, auch Wegenthaler ein Exemplar hin: »Die neue. Noch ganz druckfrisch«.

Wegenthaler nahm die Zeitung und betrachtete kurz die Titelseite, die mit der Schlagzeile »Der Beginn des zweiten Balkankrieges?« auf sich aufmerksam machte. Er blätterte weiter, um zu prüfen, ob seine Berichte von gestern alle erschienen waren. Der über die Straßenräuberbande von Ottakring war jedenfalls da, auch der Bericht über den dreisten Heiratsschwindler, einen gut aussehenden Ägypter, der einer leichtgläubigen Wienerin zwar noch die Ehe versprochen, schließlich aber nur ihre Ersparnisse in der Höhe von 12.000 Kronen mitgenommen hatte. Keine Zeile fehlte. Der Bonner Männergesangsverein war in Wien eingetroffen, um bei der Adria-Ausstellung ein Konzert zu geben. In Klosterneuburg war ein Zehnjähriger vor ein Militärautomobil gelaufen und jetzt so schwer verletzt, dass man um sein Leben bangte. Wegenthaler blätterte rasch weiter.

Auf der nächsten Seite stand über den neuerlichen Brand in der Pulverfabrik am Steinfeld zu lesen, der gestern Nachmittag zahlreiche heftige Detonationen ausgelöst hatte, die in Wiener Neustadt für große Aufregung unter der Bevölkerung sorgten. Obwohl bisher glücklicherweise keine Todesopfer zu beklagen waren, standen mehrere Objekte der Munitionsfabrik in Vollbrand. Neben dem Militär waren auch 20 Feuerwehren im Einsatz. Als Wegenthaler schließlich auch noch seine beiden Absätze über die jüngste Forderung der Wiener Uhrmachermeister nach Einführung der 24-Stunden-Zeit in Wien erblickte, war er zufrieden. Alles, was er gestern geschrieben und den Druckern überlassen hatte, war da. Es musste also eine alles in allem recht ereignislose Nacht für Fauser gewesen sein.

Wegenthaler wusste, dass Fauser seine Arbeit um diese Zeit längst beendet hatte und für gewöhnlich schon im Bett lag. Aber heute war er hier, weil er in etwa einer halben Stunde, wie am Anfang jedes Monats, das Büro des Herausgebers betreten würde, um bei dem mürrischen älteren Buchhalter in der Kanzlei sein Gehalt abzuholen. Unter Protest natürlich. Er würde kurz auf die beigefügte Auflistung blicken und dann mit einer seiner mittlerweile ebenso berühmten wie gefürchteten Schimpftiraden beginnen, die stets denselben Inhalt hatten. Er könne es sich nicht mehr länger leisten, für ein derart geringes Honorar zu schreiben. Er werde demnächst wahrscheinlich kündigen und sich bei einem Konkurrenzblatt bewerben, das ihm schon früher einmal viel bessere Konditionen geboten habe.

Das wiederholte sich, wie jeder bei der »Reichspost« wusste, fast Monat für Monat. Manchmal warf Fauser die Tür so fest zu, dass das Bild des Kaisers, das darüber hing, bedenklich wackelte. Aber schon am Abend, pünktlich um halb elf, war er wieder da. Ausgeruht, frisch gewaschen und rasiert, um sich während der nächsten Stunden jenen Arbeiten zu widmen, die man wohl von jedem Nachtredakteur Wiens erwartete.

Fauser war ein typischer Nachtredakteur. Sobald er seinen Dienst antrat, erinnerte seine Anwesenheit die letzten an ihren Arbeitsplätzen verbliebenen Redakteure daran, dass es nun endgültig Zeit war, nach Hause zu gehen. Fauser schritt durch die Redaktionsräume, grüßte, wen immer er noch finden konnte, und schob sich an alten, längst abgenutzten Schreibtischen vorbei bis zu seinem Platz. Von dort aus würde er in den kommenden Stunden das alleinige Kommando führen. Noch war er frisch und ausgeruht und stellte diesen Optimalzustand eines Redakteurs geradezu demonstrativ zur Schau.

Seine mit Abstand wichtigste Aufgabe war es, Meldungen zu empfangen. Wenn die Kollegen alle längst zu Hause waren, trudelten sie noch immer über den Fernschreiber ein, mussten ausgewählt und bearbeitet werden. Manche erwiesen sich dabei als so interessant und wichtig, dass sie andere von ihren bereits fix dafür vorgesehenen Plätzen verdrängten. Manchmal wurden die Nachrichten darüber und darunter einfach umgebaut und gekürzt, um für die neu hinzugekommenen Platz zu schaffen. Fauser wurde dafür bezahlt, wenn auch kläglich, dass er solche Entscheidungen traf und die daraus resultierenden Änderungen an die Drucker weitergab. Waren die von ihm bearbeiteten Teile der Zeitung gesetzt, kontrollierte er die Bürstenabzüge und bestätigte ihre Richtigkeit mit seiner Unterschrift.

12

»Die Bestie hat wieder zugeschlagen«, sagte Franz Fauser, um auf Wegenthalers fragende Blicke hin weiter auszuführen: »Der Bauernschreck, Sie wissen schon. Vorgestern Nacht ist die Meldung hereingekommen, dass er jetzt sogar einen Ochsen angegriffen hat. Das Tier hat zwar überlebt, aber schwere Verletzungen davongetragen. Es ist ganz in der Nähe eines Bauernhofs passiert. Der Bauer, seine Familie und der Knecht wurden vom plötzlichen Lärm aus dem Schlaf gerissen. Der Bauer und der Knecht haben jeder eine Mistgabel ergriffen und sind zur Tür hinaus und zur Halt hinunter. Der Ochse hat gebrüllt wie am Spieß und ist wie verrückt herumgelaufen. Überall soll Blut gewesen sein. Die Bestie war aber schon weg. Sie hat dem Ochsen ein großes, tiefes Loch in den Schenkel gerissen und das Fleisch mitgenommen. Der Bauer erzählte später, dass er das Untier noch kurz gesehen hat. Es soll riesig gewesen sein. Viel größer jedenfalls als ein Hund, Luchs oder Wolf.«

»Wenn man Angst hat, sieht so manches größer aus, als es eigentlich ist«, sagte Wegenthaler.

Er wusste zwar, dass dort unten in der tiefsten Provinz seit einiger Zeit angeblich ein geheimnisvolles Untier wütete und bereits mehrfach große Schäden angerichtet hatte, war aber bisher vorsichtig, wenn nicht sogar ausgesprochen zurückhaltend geblieben. Geschichten wie diese hatten es oft an sich, eines Tages plötzlich aufzutauchen und von den Zeitungen aufgebauscht zu werden, um dann schließlich sang- und klanglos wieder in der Versenkung zu verschwinden. Das hatte er schon mehr als einmal erlebt.

»Und was unternehmen die jetzt gegen das Raubtier, falls es eines ist?«, fragte er.

»Noch viel zu wenig, wenn es nach den Leuten geht. Die sind allmählich in großer Panik, fürchten sich, glauben an allerlei Ungeheuer und haben Angst um ihre Kinder und um ihre Tiere. Die Behörden werden bereits kritisiert. Sie reagieren viel zu langsam oder auch gar nicht. Die Leute wollen jetzt, dass gute Fachleute geholt werden und dass nicht nur ein paar einzelne Jäger, sondern das Militär Jagd auf die angebliche Bestie macht; damit man sie endlich erwischt, bevor Schlimmeres passiert. Aber jetzt scheint wirklich neuer Schwung in die Sache zu kommen.«

Wegenthaler hörte Fauser, der seinen Kaffee endlich bekommen hatte, nun aufmerksamer als zuvor zu. Sollte sich hinter dem, was er sagte, tatsächlich eine interessante Geschichte verbergen? Fauser nahm einen Schluck vom Kaffee, blätterte in der neuesten Ausgabe der »Reichspost« und sah nicht hoch, als er schließlich sagte: »Sie und ich. Wir sollen zusammenarbeiten.«

Wegenthaler war überrascht, setzte zu einer Frage an, ließ es aber bleiben.

»Funder möchte die Sache groß herausbringen. Die Konkurrenz hat sich bisher ziemlich zurückgehalten. Nur die lokalen Blätter dort unten berichten schon seit einiger Zeit darüber. Die Leser scheinen sehr interessiert zu sein. Das will sich Funder natürlich nicht entgehen lassen.«

Max Wegenthaler hatte Ähnliches schon ein paar Mal erlebt. Daher wusste er, dass es wenig Sinn haben würde, dagegen Protest einzulegen. Wenn sich Friedrich Funder, der Herausgeber der »Reichspost«, etwas in den Kopf gesetzt hatte, würde es auf jeden Fall in der einen oder anderen Weise geschehen. Wenn es um Geschichten ging, aus denen Sensationen werden konnten, kannte Funder kein Pardon, und natürlich war dann auch der Chefredakteur auf seiner Seite.

»Und wie stellen die sich das vor?«, fragte Wegenthaler und schloss Chefredakteur Heinrich Ambros gleich mit ein. Fauser verstand.

»Das weiß ich nicht. Aber ich glaube, es wird demnächst ein Gespräch mit Ihnen geben. Wir sollen zusammenarbeiten, alles zusammentragen, mit einigen Leuten sprechen, die sich auskennen, und so auf jeden Fall mehr und bessere Informationen bringen als die Konkurrenz. Sie vor Ort und ich und die anderen Kollegen in Wien.«

Nun würde also wieder jene Maschinerie anlaufen, zu der jede einigermaßen bedeutende Zeitung jederzeit fähig sein musste. Und Funder, der Herausgeber, würde nicht eher ruhen, ehe er die Geschichten hatte, die er wollte. Er würde wahrscheinlich sogar ein paar zusätzliche Mittel zur Verfügung stellen, die es erlaubten, so ziemlich alles zu tun, um die Sensationslust der Leser zu wecken.

Wegenthaler wusste, dass Proteste weder sinnvoll noch möglich waren. Aber vielleicht würde sich der »Bauernschreck« tatsächlich als interessante Geschichte erweisen. Denkbar war aber auch, dass sich das Ganze als aufgelegter Schwindel herausstellte. Dagegen sprachen allerdings die vielen toten oder verletzten Tiere, die es bisher gab und deren Verletzungen sich in dieser Form bisher niemand erklären konnte. Vielleicht hatten die Bauern die Tiere einfach nur vernachlässigt, nicht ausreichend versorgt und gefüttert, und nun wollten sie die Begleichung ihrer Schäden den Behörden überlassen. Vielleicht steckte aber wirklich sehr viel mehr dahinter.

Schon nach weniger Minuten hatte Wegenthaler damit begonnen, sich mit dem Thema, das so unausweichlich auf ihn zukam, anzufreunden. Aber das war wohl auch seine Aufgabe als Journalist. Das war das Handwerk, das er schon in jungen Jahren gelernt hatte und mittlerweile seit fast dreißig Jahren ausübte. Wegenthaler hatte Lunte gerochen.

Die beiden Männer tranken den Kaffee aus. Wegenthaler zahlte für beide. Vor dem Café verabschiedete er sich von Fauser und trat, ohne sich nochmals nach dem Kollegen umzusehen, auf die Pflastersteine der Straße und ging eilig, um nicht mehr als notwendig nass zu werden, auf das gegenüberliegende Redaktionsgebäude zu.

Die »Reichspost« war eine der angesehensten deutschsprachigen Zeitungen der Monarchie. Seit Friedrich Funder in allen ihren Angelegenheiten das Sagen hatte, war ihr Aufstieg, von einigen Zwischenfällen einmal abgesehen, im Großen und Ganzen beinahe ungebremst verlaufen. Und schon bald sollte ein ganz neuer Abschnitt in der so positiven jüngeren Geschichte des Blattes beginnen.

Wenn alles nach Plan verlief, würde man in wenigen Monaten in das neue Druck- und Verlagsgebäude in der Strozzigasse 8 übersiedeln, für das die Bauarbeiten beinahe abgeschlossen waren. Vor Kurzem hatte der »Ausschmückungsausschuss« unter der Leitung der Gräfin Wenckheim und des akademischen Malers Prof. Josef Reich mit der Planung der Innendekoration begonnen und die Freunde der christlichen Presse dazu aufgerufen, alte Kupferstiche, gute Gemälde und wertvolle Kartenwerke für die Ausstattung der Räume zur Verfügung zu stellen. Wegenthaler war schon gespannt, welches der großzügig geplanten Redaktionsbüros für ihn abfallen würde.

Die Geburt einer Zeitungssensation

13

Während die Meldungen über den mysteriösen »Bauernschreck« von den meisten Zeitungen zunächst noch eher vorsichtig, ja geradezu zurückhaltend an die Leser weitergegeben wurden, änderte sich das bereits im Laufe der ersten beiden Juliwochen deutlich. Die Vorsicht und die Zurückhaltung begannen zu bröckeln. Und nur die wirklich Eingeweihten wussten, warum.

Wie in jedem Sommer war nämlich auch in diesem die Zeit angebrochen, die selbst erfahrene Presseleute wie der Teufel das Weihwasser fürchteten. Weil sich schon die halbe Stadt auf Urlaub befand, war in Wien nicht nur das öffentliche Leben, sondern auch der damit in Zusammenhang stehende Fluss von Informationen und Nachrichten auf ein Minimum reduziert. Alle, die es sich leisten konnten und wollten, brachen mit ihren Familien in die Sommerfrische auf – irgendwo hinaus aufs Land, auf den Semmering, ins Ausseerland oder ins Salzkammergut, wo die Natur, die Wälder und die Berge die besten Voraussetzungen für Erholung und Entspannung boten.

Wer auf die Wiederherstellung oder Erhaltung seiner Gesundheit bedacht war, zog sich in einen der zahlreichen Kurorte zurück, die mit heilkräftigen Wannen- und Sonnenbädern, Spaziergängen und sportlicher Betätigung an der frischen Luft um zahlungskräftige Gäste warben. Während sich Adelige, Politiker, bekannte Künstler, höhere Beamte und erfolgreiche Geschäftsleute dort gleich für mehrere Wochen einrichteten, mussten sich andere wohl oder übel mit wesentlich kürzeren Aufenthalten begnügen.

In diesen Wochen, in denen täglich Hunderte, vielleicht sogar Tausende Ansichtskarten und Briefe in prall gefüllten Säcken in den Wiener Postämtern eintrafen und wenig später die eigentlichen Empfänger erreichten, gehörte die Hauptstadt wieder denen, die daheim geblieben waren. Sie beherbergte aber auch eine immer größere Zahl von Städtetouristen, die tagsüber die Sehenswürdigkeiten, Galerien und Museen der Innenstadt bevölkerten und am Abend und in den frühen Nachtstunden in Theatervorstellungen, Konzerten, Vorträgen, Tanzrevuen, Kinos und Nachtlokalen anzutreffen waren.

Für Journalisten wie Max Wegenthaler waren also jene Wochen angebrochen, die jedes Mal ein hohes Maß an Erfindungsreichtum und erhebliche Anstrengungen erforderten, wollte man auch weiterhin die Seiten der Zeitung mit Nachrichten füllen. Denn Meldungen, die einigermaßen aktuell waren, blieben nun Mangelwaren.

So kam es, dass man sich als Presseredakteur auf alles stürzte, das nur einigermaßen brauchbar erschien – auf das Wetter, auf die von frechen Taschendieben ausgeraubten Touristen, auf die bei Automobil-, Kutschen- oder Fahrradunfällen Verletzten im mühsam dahinplätschernden Straßenverkehr und auf jede Auseinandersetzung unter Betrunkenen, die ein Eingreifen der Polizei oder gar einen Rettungseinsatz provoziert hatte. Dazu kam die große Zahl von Unfällen, die draußen auf dem Land passierten und von denen oft auch Sommerfrischler und Ausflugsgäste betroffen waren.

In diesem Sommer, der eigentlich keiner war, kam es besonders häufig vor, dass Menschen vom Blitz erschlagen wurden. Die einen traf es bei der Besichtigung der vom Regen überschwemmten Felder, die anderen beim Spazierengehen unter dem Regenschirm oder bei Ausflügen ins Gebirge. Bei der »Blitzkatastrophe auf der Rax« wurde eine zwölfköpfige Touristengruppe aus Wien, die in einem Schutzhaus Zuflucht vor einem schweren Unwetter suchte, im Inneren des Gebäudes vom Blitz getroffen. Zwei Männer waren auf der Stelle tot, drei schwerverletzte Frauen mussten geborgen, am Leben erhalten und von den Helfern unter schwierigsten Bedingungen ins nächste Spital gebracht werden.

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Jeden Sommer dasselbe trostlose Lied, hatte Wegenthaler noch vor Kurzem gedacht. Aber dann zeigte sich, dass gerade die Geschichte vom »Bauernschreck« auf der Stubalpe durchaus geeignet war, in die Bresche zu springen und die so problematische Nachrichtenlücke bemerkenswert gut aufzufüllen. Die Geschichte, so aberwitzig und skurril sie auch klingen mochte, interessierte die Leser, stabilisierte die im Sommer normalerweise schwindenden Auflagen, hielt viele der Inserenten bei der Stange und bereitete daher jedem Herausgeber große Freude.

Unter diesen Umständen konnten selbst die Vorsichtigeren unter den Journalisten nicht mehr länger darüber hinweg sehen, dass der »Bauernschreck« allmählich damit begonnen hatte, den Zeitungsverkauf anzukurbeln. Und vielleicht hatte die Geschichte, wenn man es nur einigermaßen geschickt anstellte und ordentlich recherchierte, noch einiges Potenzial. Interessante Schlagzeilen, vielleicht sogar Leserbriefe und möglicherweise neue Inserenten konnte schließlich jede Zeitung der Welt gut gebrauchen.

Die Zeitungslandschaft Österreich-Ungarns war nicht nur ausgesprochen groß und vielfältig, sondern auch heiß umkämpft. Allein in Österreich gab es etwa 2.200 Zeitungen in 20 verschiedenen Sprachen. Mehr als 110 davon erschienen täglich oder sogar zweimal am Tag, meistens in einer Morgen- und einer Nachmittags- oder Abendausgabe. Dazu kamen Hunderte von Wochen- und Monatszeitungen.

Weit mehr als die Hälfte aller Zeitungen wurden in deutscher Sprache verfasst, gedruckt und gelesen und widmeten sich zum überwiegenden Teil politischen, volkswirtschaftlichen, gewerblichen und technischen Themen. Daneben gab es aber auch Publikationen mit landwirtschaftlichen Schwerpunkten, amtliche Anzeiger, Zeitungen mit vorwiegend kultureller Ausrichtung, Satireblätter, Militärzeitungen, medizinische Zeitungen, Reise- und Fremdenzeitungen, belletristische Zeitungen, nicht-politische Lokalblätter und mehrere Frauenzeitungen.

Die Plätze an der Spitze waren natürlich besonders heiß umkämpft. Zu den wichtigsten Zeitungen in deutscher Sprache zählten die »Neue Freie Presse« sowie das »Neue Wiener Tagblatt« und das »Wiener Tagblatt«, die »Wiener Allgemeine Zeitung«, die »Österreichische Volkszeitung«, das offizielle Amtsblatt »Wiener Zeitung« und die eher konservativ ausgerichtete »Reichspost«.

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Mittlerweile hatte das geheimnisvolle Raubtier auf der Stubalpe tatsächlich weitere Opfer gefordert. Man entdeckte mehrere tote Schafe und Rinder – eines der Rinder sogar ganz in der Nähe eines Bauernhofes. Als man sich an die Untersuchung des Kadavers machte, meinten einige, in unmittelbarer Nähe die Spuren eines Luchses erkannt zu haben. Rasch wurde diese Neuigkeit an die Zeitungen weitergegeben.

Einige Tage später behauptete der Knecht des betroffenen Bauern, den Luchs erneut, und zwar auf einem Baum, gesehen zu haben, als er Nachschau nach den noch immer beunruhigten Tieren hielt. Weil er jedoch keine Waffe bei sich hatte, sei ihm aus »Angst« nichts anderes übrig geblieben, als so rasch wie möglich das Weite zu suchen. Obwohl die angeblichen Beobachtungen des Mannes für einiges Aufsehen sorgten, gingen erfahrene Jäger nun immer häufiger davon aus, dass es sich bei dem Räuber nur um einen Hund oder, wenn es auch noch so unwahrscheinlich war, um einen Wolf handeln könne.

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Max Wegenthaler wurde zwei Tage nach dem Gespräch mit Fauser in das Büro des Herausgebers gebeten, wo ihn Dr. Friedrich Funder und Chefredakteur Heinrich Ambros bereits erwarteten. Die beiden Herren, die sich bei Wegenthalers Eintreten gerade in einem angeregten Gespräch befanden, das sie jedoch gleich unterbrachen, hätten nicht unterschiedlicher sein können.

Dr. Friedrich Funder, der Herausgeber der »Reichspost«, war um die vierzig Jahre alt und konnte, wie jeder in der Zeitungsbranche wusste, trotz seiner noch relativ jungen Jahre schon auf ein bedeutendes Lebenswerk blicken. Obwohl die »Reichspost« seit zwei Jahrzehnten erschien, hatte ihr eigentlicher Aufstieg in der Gunst der Leserschaft und damit sozusagen in den Olymp der in Wien herausgegebenen Zeitungen erst mit dem 1872 in Graz geborenen Funder begonnen.

Funder hatte zunächst in Graz Theologie studiert, war dann aber mit Unterstützung einiger Professoren nach Wien gelangt, um dort juristische Vorlesungen zu belegen. Weil er trotz seiner guten Herkunft bald eine Beschäftigung benötigte, die ihm ein wenig Geld einbringen würde, vermittelte ihn ein Mentor schließlich an die »Reichspost«, der gerade der Korrekturleser abhandengekommen war.

Weil er sich beim Korrigieren und Redigieren von Zeitungsmeldungen als fleißig, genau und zuverlässig erwies und bald auch das notwendige Gespür für gute und spannende Geschichten erkennen ließ, wurde er 1896 als Redakteur übernommen. Neben seiner journalistischen Tätigkeit fand er noch ausreichend Zeit, seine Studien weiter zu betreiben und promovierte zwei Jahre später an der Universität zum Doktor der Rechte. Spätestens jetzt wären dem jungen Mann aus der Provinz in Wien alle Türen offen gestanden. Aber zum Erstaunen seiner Kollegen blieb Funder der »Reichspost« treu. Er zeigte sich geradezu fest entschlossen, den Fortgang seiner eigenen Karriere mit der Weiterentwicklung des Blattes zu verknüpfen.

Als Funder 1902, im Alter von nur 30 Jahren, Chefredakteur der Zeitung wurde, sorgte das für einiges Aufsehen in der Zeitungsbranche, das noch größer wurde, als er zwei Jahre später sogar zum alleinverantwortlichen Herausgeber des Blattes avancierte. Schon damals munkelte man, dass neben Funders unbezweifelbarem journalistischen Können und seinem Verständnis für die wirtschaftlichen Grundlagen des Geschäfts wohl auch die vielfältigen Kontakte eine Rolle spielten, die er zur Politik, vor allem zur Christlichsozialen Partei, und zum Klerus unterhielt. Aber Funder war noch nicht ganz zufrieden.

Als Herausgeber war er zu einem der mächtigsten Männer der österreichischen Presselandschaft aufgestiegen, nahm bald eine Schlüsselposition im Netzwerk von Politik, Presse und Kirche ein und erwies sich als vehementer Unterstützer aller slawenfreundlichen Reformversuche des Kreises um Erzherzog Franz Ferdinand.

Unter Funders Führung konnte die »Reichspost« ihr journalistisches und politisches Profil beträchtlich schärfen, vertrat eine politisch konservative, christlich-soziale Linie und bildete so ein starkes Gegengewicht zu der in Wien so mächtigen liberalen Presse. Der Auflage tat es jedenfalls gut, denn sie florierte. Während vom Blatt 1901 täglich 6.000 Exemplare abgesetzt wurden, waren es 1913 schon fast 30.000 – in einer Morgen- und einer Abendausgabe.

Heinrich Ambros war sicher weitaus weniger ambitioniert als Funder, hatte sich aber stets als getreuer Gefolgsmann Funders erwiesen. Es hieß, er habe für ihn schon mehrfach richtig heiße Kohlen aus dem Feuer geholt. Legendär war etwa seine Verwicklung in den Friedjung-Prozess von 1909, die er Funder und dessen Kontakten zu verdanken hatte.

Österreich-Ungarn hatte 1908 die Provinzen Bosnien und Herzegowina annektiert, weil es Gebietsansprüche vonseiten des Osmanischen Reiches befürchtete. Durch die förmliche Annexion kam es prompt zu einer internationalen Krise, in der die österreichische Politik vor allem Russland und Serbien gegenüberstand. Österreich-Ungarn versuchte in der Person von Außenminister Alois Lexa von Aehrenthal die Presse dafür einzuspannen, das eigenmächtige Vorgehen im Nachhinein als von den Serben verursacht darzustellen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739393674
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (August)
Schlagworte
Österreich-Ungarn Wölfe Zeitungsgeschichte Ereignis Wolf Sachbuch Historisches

Autor

  • Werner Thelian (Autor:in)

Werner M. Thelian, Jahrgang 1964, studierte Germanistik und Philosophie. Er arbeitete für den Rundfunk, als wissenschaftlicher Mitarbeiter einer Landesausstellung, Redakteur einer Tageszeitung, Chefredakteur eines Ärztemagazins und im PR- und Marketingbereich. Als Journalist und Autor schrieb er zahlreiche Beiträge und einige Bücher v.a. über historische, naturwissenschaftliche und medizinische Themen. Er lebt und arbeitet in Wolfsberg in Kärnten.
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Titel: Der Bauernschreck