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Schattenblau 2: Das Raunen des Meeres

Urban Fantasy

von Karla Fabry (Autor:in)
584 Seiten
Reihe: Schattenblau, Band 2

Zusammenfassung

Ein Seelenband reißt. Das Gute kehrt sich zum Bösen. Der Tod lauert unsichtbar. »Ich habe immer geglaubt, dass die machtvollste Kraft in mir meine Liebe zu dir ist, gewaltiger als meine Gaben, größer als das Leben. Doch ich habe mich geirrt. Wir waren Traumtänzer, Lilli. Die Zeit ist nun gekommen, aufzuwachen ... Dich gehen zu lassen, zu gehen – nie musste ich etwas Schmerzhafteres tun … Danke, dass du mich geliebt hast. Leb wohl. Alex« Nach den schrecklichen Ereignissen des vergangenen Jahres genießt Lilli zusammen mit Alex die sinnlichste Zeit ihres Lebens. Doch kaum ist die Furcht verhallt und sie wähnt sich sicher in seinen Armen, entsteigt dem tosenden Meer ein neues Böses: hinterhältig, grausam und wild. Der gesamten Menschheit droht die totale Vernichtung, sollte es den Anhängern Danyas gelingen, ihre diabolischen Pläne in die Tat umsetzen. Und dann wird Alex von einem schrecklichen Familiengeheimnis eingeholt und er muss alles aufgeben, was er liebt. Auch Lilli. In der lichtlosen Tiefsee hat schon bald die Bestie in ihm seine Menschlichkeit aufgezehrt. Lilli und Alex müssen sich ihren persönlichen Dämonen stellen, wenn sie sich nicht gegenseitig vernichten wollen. Gemeinsam mit einem Zirkel Auserwählter nehmen sie aber auch einen viel bedrohlicheren Kampf auf sich, um die Menschheit vor den skrupellosen Machenschaften Danyas zu retten. Doch der Stein ist bereits ins Rollen geraten und ein Wunder nicht in Sicht … Der zweite Teil der Romantasy-Saga erzählt temporeich und spannend von einem Kampf gegen eine mächtige Finsternis; vom Verlieren des geliebten Menschen und vom Sich-selbst-Verlieren; von dunklen Familiengeheimnissen und befreienden Enthüllungen; von Rache im Rausch des Blutes, einem kraftvollen Amulett und einem Ritual am Abgrund des Todes. Ein Fantasy-Abenteuer voller Dramatik und Herzschmerz!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhalt

Prolog

Teil 1

1. Schneeblut

2. Eisfluten

3. Black

4. Freier Fall

5. Enrico

6. Shakespeare in La Perla

7. Ein Besuch zu Hause

8. Mitternachtspicknick

9. Natürliche Feinde

10. Das Amphibion erwacht

11. Das Gewicht der Seele

Teil 2

Lilli

Verdrängen

Wut

Trauer

Loslassen

Neubeginn

Alex

Qualen

Taubheit

Sterben

Leben

Erwachen

Teil 3

12. Dem Tod ein Schnippchen geschlagen

13. Das Observatorium

14. In allen Welten

15. Im Kopf der Finsternis

16. Die Fünfte der fünften Tochter

17. Danyas Plan

18. Crossroads

19. Rubinsplitter

20. Kleine und große Katastrophen

21. Der schräge Leuchtturm

22. Am Rande des Vulkans

23. Auf Thalassa 3

24. Palimpsest

25. Eine Nacht in den Hamptons

26. Auf der Naufragia

27. New York reloaded

28. Im wilden Rausch des Blutes

29. An Bord

30. Mahlstrom

31. Der dunkle Kuss des Meeres

Über die Autorin

Bücher von Karla Fabry

Marines Glossar

 

Prolog

 

Die Zeit rast. Wie der Herzschlag der Fremden in meinen Armen. Der Schrei ist verhallt, doch etwas bleibt. Ich schmecke ihre Furcht auf den Lippen, höre sie in ihrer Brust donnern und dicht unter der samtigen Haut fühle ich sie in ihrem Blut rauschen.

Mit der Zunge streife ich über ihren Hals. Bis zum Kinn hinauf. In den Zähnen pocht das Gift, das mich drängt. Es gefällt mir, diese Angst zu spüren, ihr pulsierendes Leben. Das kaum fühlbare Zittern – die Ahnung des Nachbebens, nachdem die große Erschütterung verebbt ist. Mein Herz schlägt bei der Vorstellung schneller, fast so schnell wie ihres.

Ich. Will. Ich sehne mich danach, den Taumel wieder zu kosten. Von tief unten entsteigt mir das vertraute Knurren. Es erfüllt mich nicht mit Abscheu und Scham wie früher. Ich habe akzeptiert, was ich bin. Der Jäger aus den Tiefen der Meere. Wie vor Tausenden von Jahren meine Vorfahren suche ich heute meine Beute an Land. Die Gesetze meiner Welt haben es längst verboten, aber das ist mir egal. Ich habe nichts mehr zu verlieren.

Besonders dieses Menschenmädchen lockt mich. Sie ist schön, sie erinnert mich an jemanden. Ich merke ihren Widerstand, obwohl sie sich nicht wehren kann. Es ist ein inneres Aufbäumen, das Auflehnen einer furchtvollen, unschuldigen Seele, die noch kein Sterben erfahren hat. Verführerischer als alles andere. Keine Jagd betört mich so wie der stumme Aufschrei einer gejagten Seele.

Noch schlägt ihr Herz. Noch kann ich sie loslassen und bei ihr bleiben, bis die Lähmung ihren Körper freigibt. Doch der Grat zwischen Bestie und Mensch wird mit jedem Mal schmaler, der Schwebezustand an der Kreuzung zweier Wege zunehmend aufregender. Ein Weg bedeutet leben lassen. Der andere ist tödlich. Und nie weiß ich vorher, wie ich mich entscheiden werde.

Ich sollte die Macht haben. Es ist jedoch immer nur sie. In ihrem Duft, ihrem Herzschlag liegt jene befehlende Gewalt, die von mir nur Instinkt übrig lässt. Die Stärke der Beute.

Ich lege den Kopf in den Nacken. Es ist Zeit für den anderen Weg: Dieses Mädchen hat mein Gesicht gesehen.

An der hauchdünnen Grenze von Haut und Blut – nicht ganz Todesbiss, aber mehr als nur Berührung – halte ich inne. Jemand hat meinen Namen gerufen.

Langsam schaue ich mich um. Blicke ich in die Augen meiner Vergangenheit, zurück in ein Leben, in dem ich alles dafür getan hätte, diese Augen glücklich zu sehen. Und darin meine eigene Menschlichkeit gespiegelt zu finden.

Ich flüstere ihren Namen.

 

1.
Schneeblut

 

Lilli war sich einen Moment sicher, dass sie noch träumte. Es schneite?

Sie war aus dem Albtraum der Nacht hochgeschreckt, in dem sie durch die Straßen New Yorks gerast war. Und in dem sie durch die dichten Schneeflocken das Dunkle zu erkennen suchte, das sie töten wollte. Das hier war die Wirklichkeit. Und ihre spielte schon seit einem halben Jahr nicht in New York, wo Schnee nichts Verrücktes wäre. Sie lag im Bett. In ihrem Zimmer in La Perla, ein Provinznest an der spanischen Costa Granada. Und hier schneite es nie! Auch nicht im Februar. Da allerdings, jenseits der halb zugezogenen Gardinen, sah es so aus, als fiele Schnee in echt.

Lilli warf die Decke von sich und trat an die Balkontür. Sie blinzelte den letzten Rest Schlaf weg, wischte ungeduldig eine Haarsträhne aus dem Gesicht und mit ihr das albtraumhafte Gefühl. Ihr rasender Herzschlag, mit dem sie aus dem Schlaf hochgeschreckt war, beruhigte sich allmählich. Sie lehnte die Stirn an die Scheibe, suchte mit dem Blick die Landschaft ab. Münzengroße Schneeflocken wirbelten durch die Luft und brachten sie zum Flirren. Eine weiße Flauschdecke begrub schon die Palmen, Sträucher und üppigen Blumenranken an der Hofmauer. Als hätte eine überdimensionale Schneekanone die Frühlingskulisse auf der Anhöhe bearbeitet, die sich jetzt unter ihrer Verkleidung wie zur Flucht duckte. Die Bergkette, hinter der das Meer lag, erahnte sie nur als Silhouette. Das seltsame Licht, das über allem lag, teilte das Bild entzwei. Blendendes Weiß unten, als strahle die Erde aus sich heraus. Und darüber der Himmel, der Lilli an hellgrauen Marmor erinnerte. Der einzige Farbfleck war der leere Pool im Hof zur Linken. Mit seinen türkisfarbenen Kacheln leuchtete er wie ein riesiges mystisches Auge.

Eine Bewegung, unwirklich wie die Schneekulisse, lenkte Lillis Aufmerksamkeit auf den Berg. Dort, wo die Umrisse seiner Kuppe ins neblige Nichts verschwanden, ein schattenhaftes Grau. Für die Dauer eines Augenaufschlages hatte es wie die Kontur eines Menschen ausgesehen, der auf allen vieren den Hang hochkletterte. Lilli zögerte. Schaute angestrengt hin. Wenn da tatsächlich jemand oben gestanden hatte, dann war er jetzt hinter dem Berg verschwunden. Vermutlich eine Bergziege, sagte sie sich. Morgens, solange sich keiner draußen aufhielt, hatte Lilli manchmal welche beim Grasen am Hang beobachtet. Oder es war nur Einbildung. Die inzwischen bekannten, aber stets aufwühlenden Träume, die sie auch die vergangene Nacht heimgesucht hatten, nicht fern genug. Wer sollte da hochklettern? Es gab Tunnels im Berg, die zum Meer führten. Wer wollte überhaupt bei dem Wetter ans Meeresufer?

Lilli verharrte noch eine Weile so, beobachtete die Stelle, an der sie die Bewegung zu sehen geglaubt hatte. Doch als sich nichts mehr dort rührte, löste sie sich von der Balkontür. Ihr Atem hatte einen Nebelfleck auf der kalten Scheibe hinterlassen und sie schaute zu, wie er sich verflüchtigte. Dann ging sie ins Bad. Die Schattenbewegung auf der Bergkuppe hatte sie auch schon vergessen.

Wie jeden Morgen hatte Lilli freie Bahn. Ein Luxus, der längst selbstverständlich geworden war. In ihrer New Yorker Wohnung hatte der morgendliche Kampf ums Bad meistens zugunsten ihrer Mutter geendet. Nebst eigenem Balkon und Rieseneinbauschrank gehörte jetzt ein Bad mit Badewanne zu ihrem Zimmer. Alle Räume des Apartments, das ihre Familie in der Anlage unter dem Leuchtturm bewohnte, hatten diese Annehmlichkeiten. Die Morgen waren seitdem zur kampffreien Zone geworden.

Flink duschte sie, trocknete sich ab und putzte die Zähne. Fröstelnd lief sie zurück ins Zimmer und schlüpfte in ihre Jeans. Die Temperaturen in Andalusien waren auch im Winter mild, so hatte Lilli nicht mehr als zwei Sweatshirts in ihrem Schrank. Beide zog sie jetzt übereinander an. Anschließend trug sie eine leichte Creme aufs Gesicht auf. Dabei schaute sie kritisch in den Spiegel über der Kommode. Ihre Bräune war in den letzten Wochen einer Winterblässe gewichen, die ihre Augen in einem dunkleren Grün erscheinen ließ. Es wurde Zeit, dass der Frühling kam, dachte Lilli und verließ ihr Zimmer.

Während sie den S-förmigen Flur zur Wohnküche vorlief, drangen die Stimmen ihres Bruders und ihrer Mutter zu ihr.

Im Wohnzimmer fand sie beide an der Balkontür stehen und hinausglotzen, als würde es Geldscheine vom Himmel regnen. Chris trug einen dicken Wollpullover mit einem Rollkragen, der ihm bis zu den Ohren reichte. Seine schulterlangen Haare und der Kinnbart, den er sich seit zwei Wochen wachsen ließ, betonten zusätzlich den Naturburschen-Look. Er sah wie ein Schäfer aus. Fehlten nur noch Stock und Schafe, dachte Lilli. Wenn sie aber ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie diesen männlichen Stil mochte. Er stand Chris.

»Neulich, als es kälter geworden war«, sagte ihre Mutter gerade, »habe ich die Kassiererin des Mercado in Calahonda gefragt, ob es im vergangenen Winter geschneit hat. Sie hat mich ausgelacht. Hier hätte es das letzte Mal vor dreißig Jahren geschneit, hat sie gesagt. Ganze drei Stunden wäre der Schnee liegengeblieben.« Lillis Mutter lachte, als sie Chris’ verdutztes Gesicht bemerkte. Sie fuhr sich durch die schulterlangen Locken, die eindeutig einen Kamm vertragen könnten. »Morgen, Schatz«, wandte sie sich an Lilli. »Was sagst du dazu?« Mit einer Kopfbewegung deutete sie nach draußen. »Wenn dein Dad das sieht, wird er bestimmt wieder stundelange Vorträge über den Klimawandel halten.«

Lilli verkniff sich ein Auflachen. Nicht die Worte fand sie so komisch, sondern ihre Mutter. Sie stand wie eine verirrte Märchengestalt vor der Balkontür, eine Mischung aus Hexe und Fee. Suzanne hatte ihren flauschigen tannengrünen Hausanzug hervorgekramt und ihre Füße steckten in sonnenblumengelben Filzpantoffeln. Das Weinrot ihrer Haare, die leuchtenden grünen Augen, so wie die hohen Wangenknochen und die Sommersprossen verrieten die irischen Wurzeln.

»Cool«, sagte Lilli vergnügt. Einen Moment überlegte sie, die beiden zu fragen, ob sie auch jemanden auf dem Berg gesehen hatten. Doch sie ließ es sein.

Chris kratzte sich am Kinnbart und ein Grinsen blitzte plötzlich über sein Gesicht. »Toni holt mich gleich mit dem Auto ab, wir fahren zu Eugene.« Er betonte das letzte Wort, als müsse er überprüfen, wie Lilli auf diesen Namen reagierte.

»Mhm«, brummte sie. »Würde mich nicht wundern, wenn der noch seinen Winterschlaf hält.«

Chris gluckste. »Ich richte ihm aus, dass du ihn vermisst.«

»Bah! Du kannst es nicht lassen, was?«, sagte Lilli und bedachte ihren Bruder mit einem stechenden Blick.

»Erst, wenn du es zugibst.« Chris hob mit blasierter Miene eine Augenbraue.

Lilli stöhnte theatralisch auf. Ihr Bruder war der Meinung, sie sei in Eugene verliebt. Seine besserwisserischen Ich-bin-der-große-Bruder-Bemerkungen überhörte sie inzwischen stoisch und machte sich nicht mehr die Mühe, ihm klarzumachen, dass Eugene nur ein guter Freund war. Besser er dachte, sie hätte etwas mit ihm, als dass er dahinterkam, in wen sie wirklich verliebt war.

Als sie das breite Grienen ihrer Mutter sah, die dem kurzen Wortwechsel offensichtlich gefolgt war, seufzte sie innerlich. Ihre Mutter mochte Eugene und hätte eindeutig nichts dagegen, wenn Lilli in ihm nicht nur einen guten Freund sehen würde.

Ihre Mutter räusperte sich vieldeutig, wandte sich aber wieder Chris zu. »Ich hoffe, Tonis Auto hat gute Reifen, die Straße ist völlig zugeschneit«, sagte sie und deutete nach draußen.

Wenn es nicht gerade schneite, hatten sie von hier einen tollen Blick über die Küstenstraße bis nach Calahonda hinüber, der Ortschaft am anderen Ende der weitläufigen Bucht. Doch heute sah man davon nichts, die Straße verschwand in einer konturlosen Landschaft.

»Das könnte ein Problem werden. Schneeketten kennt man hier vermutlich nicht«, sagte Chris nachdenklich und fischte sein Smartphone aus der Hosentasche. »Keine Nachricht, was bedeutet, dass er wie ausgemacht kommt«, sagte er nach einem Blick aufs Display. Er schob das Handy in die Hosentasche zurück, legte Lilli einen Arm um die Schulter und dehnte ein »Hm?« in die Länge. Chris ließ sie noch nicht vom Haken.

Lilli löste sich aus seinem Klammergriff. »Was soll ich noch mal zugeben?«, fragte sie resigniert. »Und wer ist Eugene gleich?« Sie spielte darauf an, dass sie Eugene seit Silvester nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte.

»Schon gut. Ich weiß, dass ihr euch nicht getroffen habt«, brummte Chris.

»Wieso nervst du mich dann noch?«

»Weil es Spaß macht. Aber heute bist du gar nicht rot geworden.«

Lilli funkelte ihn an. War sie auch sonst nie, wenn die Rede auf Eugene kam. Doch sie hielt ihren Mund.

Ihr Bruder hatte sich wieder ihrer Mutter zugewandt. »Keiner hat es geschafft, Eugene aus seiner Höhle zu locken«, erklärte er ihr. »Und weil wir das megaseltsam finden, haben wir beschlossen, ihn heute zu überfallen. Sein Onkel hat am Telefon erwähnt, dass er mit Eugene im Mesón del Mar die fälligen Reparaturen machen muss. In zwei Wochen öffnet die Tapasbar nämlich wieder. Barry klang zwar nicht besonders erfreut, als ich angekündigt habe, dass wir dorthin kommen und Eugene besuchen. Aber das ist uns jetzt auch egal.«

»Habt ihr die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass er euch nicht sehen will?«, fragte Lilli spöttisch.

»Ständig. Aber wenn das so ist, soll er es uns gefälligst ins Gesicht sagen.« Chris schaute jetzt grimmig, als wolle er sich für eine Auseinandersetzung mit Eugene innerlich wappnen.

»Super Plan«, kommentierte Lilli trocken.

»Habt ihr eigentlich jemanden vorhin auf dem Berg gesehen?«, fragte Lilli in die Stille hinein.

Beide wandten sich Lilli zu, einen verwunderten Ausdruck in den Gesichtern. Noch bevor sie antworten konnten, betrat ihr Vater die Wohnküche. Er sah verschlafen aus, die vollen grauen Haare fielen ihm verstrubbelt in die Stirn und der Wochenendbart zeichnete Schatten auf seine Wangen. Er hatte seinen Morgenmantel über den Schlafanzug gestreift und Socken angezogen.

Lilli kam eine Idee. »Wer hat Lust, ein paar andalusische Winterimpressionen zu sammeln?« Als sie die fragenden Gesichter bemerkte, fügte sie ungeduldig hinzu: »Ich überlege, ein paar Bilder zu machen. Kommt jemand mit? Familienfotos im Schnee? Mom, du hast noch nie das Meer bei Schneefall aufgenommen.«

Ihre Mutter war Fotografin. Mit den letzten Worten versuchte Lilli, den Profi aus ihr herauszukitzeln. Denn sie sah nicht so aus, als würde sie der Gedanke reizen, jetzt die Wohnung zu verlassen. Hätte Lilli gefragt, ob sie eine Tauchexpedition machen wollte, hätte sie mit Sicherheit ein ähnliches Gesicht gemacht. Ihre Mutter hasste nämlich seit eh und je das Tauchen. Resolut schüttelte sie den Kopf.

»Dad! Hast du Lust, ein paar Bilder draußen zu machen?« Lilli erwartete nicht ernsthaft eine zustimmende Antwort, obwohl sie ihre beste Bettelmiene aufsetzte.

Ihr Vater machte den Eindruck, als könne er in der nächsten Stunde nicht geradeaus gucken. Er antwortete mit einem herzhaften Gähnen, trat hinter die beiden an die Balkontür und legte rechts und links einen Arm um ihre Schultern.

Wollte er dort weiterschlafen?, fragte sich Lilli belustigt.

»Was sagt man dazu?«, brummte er.

Lilli gab nicht auf. »Ich kann auch gerne warten, bis ihr euren Kaffee getrunken habt.« Schließlich war es Wochenende, nur keine Eile.

»Kaffee«, war alles, was ihr Vater über die Lippen brachte. Er löste sich schwerfällig aus der Betrachtung des Schneetreibens und schlurfte Richtung Küche.

Ein letzter Versuch. »Mom, was ist nun? Du bist doch sonst so verrückt nach speziellen Bildern. Wenn das nicht ungewöhnlich ist! Und alles direkt vor der Haustür … Du kannst die neue Kamera auch gleich einsetzen. Die ultimative Winterimpression.«

Ihre Mutter hatte sich den letzten Schrei in Sachen Profikameras zugelegt, nachdem sie mehrere Fotografien aus ihrer Ausstellung gut verkauft hatte. Sie hatte es damit begründet, dass sie nur so mit der Konkurrenz mithalten konnte, wenn ihre Bilder auch technisch hochwertig waren. Lange hatte sie sich gegen die Digitaltechnik gewehrt. Sie hing an den »guten alten handgemachten« Bildern, wie sie immer sagte. Außerdem fand sie die ganze neue Technik unverschämt teuer. Nicht, dass die Familie kein Geld gehabt hätte, das war nie ein Thema gewesen. Sie waren zwar nicht das, was die New Yorker gemeinhin unter reich verstanden, sie hatten aber genug Geld, um sorgenfrei leben zu können. Ihr Vater hatte einen gutbezahlten Job am Biomedizinischen Institut für Ozeanforschung in New York, der auch diese anderthalb Jahre in Spanien finanzierte. Und ihre Mutter verdiente inzwischen nicht schlecht mit ihren Reportagebildern, die sie als freischaffende Fotografin an diverse Zeitschriften, Magazine und Zeitungen verkaufte. Die Kunstfotos stellte sie in Galerien aus. Ihre Freundin Marge besaß eine kleine Galerie in Brooklyn. Sie war die Erste gewesen, die ihr vor Jahren eine Ausstellung angeboten hatte. Die Fotos hatten Marge beeindruckt. Seitdem organisierte sie in regelmäßigen Abständen thematische Ausstellungen für Suzanne. Marge hatte Lilli beim ersten Besuch in der Galerie ins Herz geschlossen und im Lauf der Jahre wurde sie auch Lillis Freundin.

»Ach, ich weiß nicht. Geh du nur. Mir ist es eher wie Winterdepression zumute«, brummte ihre Mutter, ohne den Blick von draußen abzuwenden. »Ich muss nicht unbedingt mit. Ich habe keine gescheiten Klamotten für dieses Wetter. Außerdem sieht man die besten Bilder, wenn man allein ist.«

Lilli machte nur »aha« über diese modisch-philosophische Betrachtungsweise und verzog enttäuscht das Gesicht. Ihre Familie schien in einen plötzlichen Winterschlaf versunken zu sein. Feiglinge!

»Na gut, dann gehe ich eben allein auf Fotosafari. Wartet nicht mit dem Frühstück.«

Wie zum Protest polterte es in der Küche und ein unverständlicher Fluch folgte. Ihr Vater hatte wieder etwas fallengelassen. Diese Ungeschicktheit war bei ihm neu. Obwohl Lilli es vermied, über seinen Tauchunfall letztes Jahr nachzudenken: In solchen Momenten erinnerte sie sich immer daran. Der Gedanke an Spätfolgen machte ihr Angst. Niemand sprach das allerdings an. Gut, ihr Dad war nie als Koordinationskünstler berühmt geworden, redete sie sich immer wieder ein. Früher allerdings waren ihm Dinge nicht einfach aus der Hand gefallen.

Lilli blieb im Durchgang zur Küche stehen, einen heiteren Kommentar auf den Lippen. Die Worte blieben ihr im Hals stecken. Ihr Vater hatte die Hände auf die Arbeitsplatte gestützt, sein Kopf hing zwischen den Schultern und er atmete schwer. Einen Moment sah es aus, als wolle er die Küchenmöbel wegschieben, so kräftig spannte er seine Armmuskeln an. Offensichtlich ärgerte er sich über den Topf zu seinen Füßen und die Wasserlache, die sich dort ausbreitete.

Sein Anblick ließ Lilli erzittern. »Dad? Ist alles in Ordnung?«

Er löste sich rasch aus der Stellung und räusperte sich verlegen. Obwohl er sie nicht anschaute, erkannte sie bestürzt, dass seine Augen gerötet waren.

»Alles gut«, murmelte er. »Bin noch ganz verschlafen.« Er bückte sich und hob den Topf auf. »Nicht weiter schlimm. Ist nur Wasser für die Eier gewesen. Du willst doch ein gekochtes Ei?«

»Ich will, dass du dich durchchecken lässt.« Lilli dämpfte ihre Stimme. »Ich weiß, dass es nicht nur die Müdigkeit ist. Der Unfall hat …«

»Schluss damit«, zischte ihr Vater und schaute sie zornig an.

Lilli versteifte sich. Sie hatte ihn lange nicht mehr wütend erlebt, ihr Vater war hier am Meer die Ruhe in Person geworden. Doch auch er konnte von Zeit zu Zeit explodieren. Sie hob beschwichtigend die Hände.

Sein Blick bohrte sich in ihren und verbot ihr stumm jedes weitere Wort. Keiner hatte das Recht, ihn vom Tauchen abzubringen, sagte sein Gesichtsausdruck. Auch kein dämlicher Unfall. Tauchen war seine große Leidenschaft. Als Biomediziner und Ozeanograf hatte ihn ein größeres Projekt an die Küste Südspaniens gelockt. Er erforschte die Auswirkungen der Zivilisation auf das Meeresleben, wie er ihnen einmal erklärt hatte. Spanier waren nicht sehr fortschrittlich, was Umweltschutz anging, und so konnte er hier die Einflüsse des Menschen auf die Lebewesen im Meer untersuchen. Dass die ganze Familie für anderthalb Jahre mitgehen durfte, war einer der Vorteile dieses Projekts. Nach langer Zeit in einem New Yorker Labor jetzt wieder tauchen zu können, der andere. In der Saison machte er außerdem mit Touristen Tauchausflüge vom Calahonda Diving Club aus. Dort arbeitete er jeden Tag ein paar Stunden. Seine eigenen Tauchexpeditionen waren ihm aber heilig, selbst wenn sie vorrangig seiner Arbeit dienten. Nicht nur einmal hatte er sein großes Vorbild zitiert, wenn es um die Leidenschaft zu forschen ging. Der Pionier auf dem Gebiet der Meeresforschung, Jacques Cousteau, war überzeugt, wer diesen Virus einmal hatte, den Forscherdrang, die Neugierde, der würde sich von äußeren Umständen nie aufhalten lassen. Und er würde nur noch seine Sache ernst nehmen, nicht mehr sich selbst. Anscheinend war ihr Vater darauf aus, das »Sich-selbst-nicht-Ernstnehmen« in letzter Zeit verstärkt zu üben.

Ein Lächeln trat in seine Mundwinkel. »Wie gut, dass ich die rohen Eier nicht im Topf hatte«, sagte er vergnügt.

Lilli schnaubte verärgert. Eigensinnige Person, dachte sie, während sie zurück zu ihrem Zimmer ging.

Chris und ihre Mutter hatten von der kurzen Szene nichts mitbekommen. Gott sei Dank! Ihre Mutter würde Louis sicher an den Haaren ins Krankenhaus schleifen, wenn sie merken würde, dass mit ihm etwas nicht stimmte.

»Willst du nun ein Ei?«, rief ihr Vater ihr nach.

Sie knallte statt einer Antwort die Tür hinter sich zu. Wenn jemand das Recht auf eine Portion Wut hatte, dann sie. Allein sie wusste nämlich, wie wenig es ein Unfall gewesen war. Die Erinnerung brachte ihr Blut zum Kochen, wie jedes Mal, wenn sie an die Geschehnisse des letzten Jahres zurückdachte. Ihr einziger Trost war die Gewissheit, dass es für immer vorbei war. Lilli spürte wieder die bekannte brennende Wut in ihren Adern rauschen. Aber auch Hilflosigkeit. Jedes Mal diese verfluchte Hilflosigkeit! Sie hatte nichts tun können. Es war irrational, aber sie war immer noch auf Rex wütend, obwohl er längst tot war. Wieder wurde ihr heiß vor Zorn, als sie sich an all das erinnerte, was er angerichtet hatte. Das Beben, das er ausgelöst und das sechs Menschen getötet hatte; ihr eigener Unfall, bei dem sie während des Bebens schwer verletzt ins Meer gespült worden war und beinahe ertrunken wäre. Dann war da ihre Tante Emily, deren Ermordung Rex ohne einen Funken Reue zugegeben hatte. Und ihr Dad, den er in einer Unterwasserhöhle zum Sterben zurückgelassen hatte. Allein in ihrer Familie hatte Rex eine Spur von Gewalt und Zerstörung hinterlassen, die sie bis in alle Ewigkeit quälen würde.

Trotz alledem war Lilli aber auch froh, dass sie diese Welt kennengelernt hatte. Die Sache mit der Ewigkeit sah sie inzwischen sowieso anders. Jedenfalls seitdem sie Alex kannte. Der Gedanke an ihn weckte das bekannte Ziehen in ihrem Bauch. Die Welt unter Wasser hatte auch ihre schönen und faszinierenden Seiten. Eine davon war ihr Freund Alex. Tief unten im Meer gab es eine Welt, die so fantastisch war, dass Lilli bis heute nicht aus dem Staunen herauskam. Ganz besonders, wenn sie mit ihrem wunderschönen, gewitterwolkenäugigen Freund zusammen war. Nicht nur sein Äußeres war ein Traum, seine ganze Existenz hatte etwas Traumhaftes an sich. Zumindest für ihren menschlichen Verstand.

Der Mensch hatte die Tiefen der Ozeane kaum durchdrungen und erforscht. Zum Glück, denn er würde dort auf die uralte Art der Wasseramphibien stoßen. Und das wäre eine Katastrophe, schließlich sollte niemand an Land wissen, dass es diese Wesen gab. Wie sie sie davon erfahren hatte? Pures Glück, ein Sechser in der Lotterie der fantastischen Dinge. Lilli hatte sich von einer solchen Legendengestalt wortwörtlich auf Armen tragen lassen. Dass es nach ihrem Unfall geschehen und sie währenddessen bewusstlos gewesen war, hatte sie immer bedauert. Für alles Darauffolgende fand sie allerdings bis heute keine Ausrede. Denn als sie sich anschließend in ihren Retter verliebte, war sie wohl bei Bewusstsein gewesen. Aber Alex war gut zu ihr und so tröstete sie sich über den Gedanken hinweg, wie gefährlich diese Wesen hinter ihrer menschlichen Erscheinung sein konnten.

Wobei ihr ein Puzzleteil noch fehlte, um das Bild zu vervollständigen. Die Wasseramphibien gehörten der Gattung der Menschenamphibien an, und davon gab es noch eine Art. Jene, die an Land lebten. Sie hatte bislang kein einziges Landamphibion kennengelernt und war total neugierig, wie diese waren. Alex hatte ihr verraten, dass sie im Gegensatz zu den Wasseramphibien Gestaltwandler waren. Etwas, was Lilli sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte. Kiemen in den Nasenlöchern zum Atmen unter Wasser, schön und gut. Das war nichts Abartiges, man sah sie noch nicht einmal. Doch sich jemanden vorzustellen, der sich in ein eidechsenähnliches Wesen verwandelt, dabei enorme Kräfte entwickelt und kaum mehr menschliche Züge hat? Da musste sogar ihre Fantasie Überstunden machen.

Lilli betrachtete von der Balkontür aus das Schneetreiben. Nicht der Gedanke an die Kälte da draußen ließ sie frösteln. Es war die Erinnerung an die Ereignisse des vergangenen Jahres, die an diesem winterlichen Morgen zum hundertsten Mal über sie hereinbrach. Die dunkle, böse Seite ihres Geheimnisses. Dinge, die sie tief erschüttert und an ihre Grenzen gebracht hatten. All dies als eine Achterbahn der Gefühle zu bezeichnen, wäre die Untertreibung des Jahres.

Nein, es war keine Zeit, auf die Lilli zurückblickte und sich rundum glücklich fühlte. Es hatte sie hin- und hergerissen zwischen den glücklichsten Stunden ihres Lebens mit Alex und abgrundtiefer Angst, zwischen intensivem Leben und der Erfahrung des Sterbens. Dass Rex keine Bedrohung mehr war, tröstete sie zwar, aber Alex’ frühere Teamkameradin Danya war noch irgendwo da draußen. Sie hatte sich Rex angeschlossen, hatte sich auf die dunkle Seite geschlagen und war bis zum Schluss seine Verbündete gewesen. Für einen Moment blitzte wieder eine Erinnerung auf: Danyas wildes Gesicht, nachdem die Explosion die Nacht über dem Meer zerrissen hatte und ihr klar geworden war, dass Rex mit der restlichen Mannschaft auf seiner Yacht in Stücke zerfetzt worden war. Danya hatte nur noch eines gewollt: Lilli töten.

Sie sah jetzt in der Erinnerung das Feuer, hörte die Detonationen, spürte den Schlag ins Gesicht, den Danya ihr verpasst hatte. Es war, als wäre sie wieder mittendrin. Als würde Danya sie packen, über Bord zerren, einmal beißen und noch einmal. Lilli erzitterte wieder, als der Frost in sie kroch und sie von innen lähmte, während sie tiefer zum Meeresgrund sank. Sie griff sich in den Nacken, ertastete die Kerben von Danyas Zähnen, spürte wieder das Feuer im ganzen Körper und die Kälte, die ihm gefolgt war.

Ob es jemals besser würde und die Zeit das Grauen jener Nacht verblassen ließ?, fragte Lilli sich und schüttelte den Kopf, als könne sie sich so von den Erinnerungen befreien. Das seltsame Gefühl, als habe sie all dies nur geträumt, folgte diesen Bildern auch heute wieder. Als hätte sie sich eingebildet, dass sie beinahe gestorben wäre. Dass sie die giftigen Bisse eines Wasseramphibions überlebt, dem Ertrinken entgangen war, erschien ihr immer rätselhafter, je mehr Zeit verstrich. Und doch wusste Lilli mit untrüglicher Sicherheit, dass nichts von dem ihrer Fantasie entsprang. Spätestens, wenn sie ihre Narben im Nacken berührte, wusste sie, wie real alles gewesen war. Und Alex erinnerte sie täglich daran, dass es diese Welt gab, weil er wirklich war. Wenn sie ihn in der Schule sah, wo er nur eine Armlänge von ihr entfernt saß. Oder während sie in seinen Armen gekuschelt lag. Wenn sie tief in seine Augen blickte, die die Farbe der Gewitterwolken am Himmel hatten, oder mit den Fingern durch seine weichbraunen Haare fuhr, die in seidigen Wellen sein schönes Gesicht umrahmten. Oder seinen Duft nach Salz und frisch geschliffenem Bernstein einatmete. Ja, es gab ihn. Er war der Beweis, dass tief unter dem Meer diese jahrtausendealte Art lebte.

Prompt wuchs Lillis Sehnsucht, als sie sich erinnerte, dass sie Alex heute erst am späten Abend sehen würde. Es war ganz gut, dass sie etwas hatte, was sie ablenkte: Schnee!

Lilli kehrte in die Gegenwart zurück und löste sich von der Balkontür. Alex würde ihr bestimmt etwas aus dem Meer mitbringen. Diese Mitbringsel waren ihr einziger Trost an solchen Tagen wie heute, an denen er für mehrere Stunden dorthin verschwand. Neulich hatte er ihr erzählt, dass er seine beiden Delfinfreunde Black und White erneut getroffen hatte und ein kleines Wettschwimmen mit ihnen gemacht hatte.

Ein Lächeln huschte über Lillis Gesicht. Sie hatte die Delfine letztes Jahr kennengelernt und nahm sich vor, mit Alex wieder hinaus aufs Meer zu fahren, sobald es wärmer werden würde. Vielleicht traf er Black und White auch heute. Denn selbst bei diesem Wetter würde Alex ins Meer gehen. Seine Körpertemperatur passte sich in Sekundenbruchteilen seiner Umgebung an. Er könne ohne das Meer leben, hatte er einmal zugegeben. Doch seine Sehnsucht danach trieb ihn regelmäßig unter die Oberfläche. Und wenn er Lilli etwas mitbrachte, wusste sie, dass er auch dort an sie dachte. Wie neulich das faustgroße Gehäuse von einem Seeigel, das er in neunhundert Metern Tiefe gefunden hatte und das, wie eine steinerne Miniaturkuppel, auf ihrer Kommode stand. Oder davor die Muschel, die einem rosa Blütenblatt gleich auf ihrem Schreibtisch lag und wie Perlmutt schimmerte.

Heute konnte sie Alex etwas schenken, dachte sie fröhlich, trat an die Kommode und zog aus der untersten Schublade die Fototasche mit ihrer Kamera hervor. Lilli prüfte, ob der Akku Saft hatte, und legte sie zufrieden aufs Bett. Bei der Digitalkamera handelte es sich um eine jener dreitausend Dollar teuren Spiegelreflexmodelle, die ihre Mutter benutzte und ihr letztes Jahr geschenkt hatte. Eine klasse Kamera. Durch das Metallgehäuse und das Teleobjektiv lag sie schwer in der Hand, kein Vergleich zu den modernen Fliegengewichten. Lilli mochte es aber, dieses Gewicht zu spüren. Es gab ihr ein Gefühl von Wichtigkeit. Anders als die Fast-Food-Bilder, die sie mit ihrem Smartphone schoss, waren die Fotos aus dieser Kamera für die Ewigkeit gedacht. Zumindest in ihrer Vorstellung. Sie zerbrach sich immer wieder den Kopf, womit sie Alex eine Freude bereiten konnte. Doch seine Geschenke würde sie wohl nie überbieten. Denn kein Mensch könnte ihr diese Dinge schenken. In ihrer Welt hingegen gab es nichts, was er sich nicht auch selbst besorgen könnte. Ein Winterbild würde ihm sicher gut gefallen. Sie würde einen passenden Rahmen dazu kaufen und Alex könnte es in seinem Zimmer in Calahonda aufhängen.

Lilli genoss noch einen Moment lang die Vorstellung seiner Freude über ihr Geschenk. Es tat so gut, ihn zu lieben, von ihm geliebt zu werden, dachte sie glücklich. Alex hatte ihre Welt aus den Angeln gehoben, hatte sie auf den Kopf gestellt und für immer verändert. Er stand ihr näher als sonst jemand. Ein Schicksalsband vereinte ihre Seelen und es entsprang nicht einer Redewendung, sondern stellte das Gesetz seiner Welt dar. Wasseramphibien retteten manchmal Menschen und empfanden danach ihr Leben lang diese Verbindung zum Geretteten. Alex und sie verband ein doppeltes Seelenbündnis, denn sie hatte auch ihn gerettet. Selbst wenn sie manchmal unterschiedliche Meinungen hatten, geschah es selten in den wichtigen Dingen. Jenseits dieser Äußerlichkeiten waren sie im wahrsten Sinn ein Herz und eine Seele. Eines fehlte neben diesen beiden zwar immer noch, doch dass sie mit ihm in absehbarer Zeit körperlich eins werden würde, blieb Wunschdenken. Da zeigte sich Alex einfach unglaublich vernünftig.

»Hmm«, entfuhr es Lilli. Sofort spürte sie eine unbändige Sehnsucht nach ihm. Himmel, wie war es möglich, jemanden so zu vermissen, obwohl sie sich erst gestern Abend voneinander verabschiedet hatten? Schnee, tolle Bilder, Ablenkung ...

Schnell machte sie sich fertig, um auf andere Gedanken zu kommen. Lilli zog die dickste Jacke an, die sie besaß, und mit der Fototasche auf der Schulter verließ sie die Wohnung.

Draußen empfing Lilli feuchte Kälte. Sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke zu. Auf einen richtigen Winter war sie mit ihrer Kleidung nicht vorbereitet, hatte weder Mütze noch Handschuhe dabei. Doch das kümmerte sie jetzt nicht. Zügig loslaufen, ein paar Bilder machen und dann wieder heimkehren war ihr Plan.

Im frisch gefallenen Schnee waren noch keine Fußspuren, als sie den Hof überquerte und durch das hüfthohe Holztor das Anwesen verließ. Nur Don Pedro, der Hausmeister, und eine ältere englische Dame namens Miss Lorraine, die seit Mitte Januar im ersten Stock der Wohnanlage ein Apartment gemietet hatte, wohnten außer ihnen hier. Die restlichen Ferienwohnungen standen zu dieser Jahreszeit leer.

Die Luft roch anders, ungewohnt. Als sie den kleinen Hügel hinunterstapfte, stieg Lilli eine Mischung aus Schneegeruch und nassem Stein in die Nase. Er vermischte sich mit dem herben Duft von Harz, der von den Pinienbüschen im Hang hinter dem Anwesen kam. Ihre Schritte knirschten im Schnee. In der Stille der Morgenlandschaft klang es unnatürlich fremd, beinahe unheimlich. Unwillkürlich ging ihr Blick dorthin, wo sie vorhin von oben jemanden zu sehen geglaubt hatte. Doch der sanfte Bergkamm lag unter einer unberührten Schneedecke.

Trotzdem verlangsamte sie ihre Schritte. Nach ein paar Metern blieb sie stehen, schaute sich um. Der Strahl des Leuchtturms auf der Klippe durchdrang schwerfällig den Flockenvorhang. In Sekundenintervallen rotierte er über ihrem Kopf, verlor sich über dem Meer und kehrte zur Klippe zurück. Es war ein unwirkliches Bild, als hätte eine höhere Macht die Elemente durcheinandergebracht und diese seltsame Landschaft geschaffen. Nichts passte mehr zusammen: der Leuchtturm, die verschneiten Blumenranken, das Meer. Sonst war aber niemand zu sehen oder hören.

Lilli nahm sich vor, auf dem Rückweg ein Bild vom Fuß des Hügels aus zu machen, drehte sich um und lief am Rand des Zuckerrohrfeldes entlang Richtung Küstenstraße.

Einem Impuls folgend, schlug sie den Pfad ins Feld ein. Die Lil Majestic würde sicher ein tolles Bild abgeben. So hatte Alex das Boot getauft, das ihr geheimes Zuhause geworden war. Er hatte es verlassen und verwittert im Feld entdeckt und liebevoll wieder aufgepäppelt. Dann hatte Alex ihr das Boot einfach geschenkt.

In freudiger Erwartung beschleunigte Lilli ihre Schritte. Die drei Meter hohen Pflanzen links und rechts hatten den Schnee aufgefangen, neigten sich unter der Last. Der Pfad lag dunkel vor ihr, nur von Zeit zu Zeit schneegesprenkelt. Das Geräusch ihrer Schritte wurde leiser. Fasziniert nahm sie das unwirkliche Licht in sich auf. Eine vertraute Landschaft lag vor ihr und doch war sie ihr in diesem Licht fremd.

Lilli nahm ihre Kamera aus der Tasche, hängte sie am Gurt um den Hals und machte das erste Bild. Den Auslöser drücken ist wie Blinzeln mit dem Finger, dachte sie. Kaum gesehen und schon ist der Moment vorbei. Als sie mit kalten Fingern das nächste Bild auslöste, streifte eine Windbö durchs Feld und fegte weiße Wölkchen von den Pflanzen. Sie lachte leise auf, als ein Schneehäufchen auf ihrem Haar landete, schüttelte sich und setzte gut gelaunt ihren Weg fort. Schnee brachte die kindliche Seite in ihr zum Schwingen und unwillkürlich dachte sie an Alex. Wo er jetzt war? Ein Teil von ihr hoffte, ihn im Boot anzutreffen. Es würde ihr gefallen, dabei zu sein, wenn er den allerersten Schnee seines Lebens erlebte. Als Lilli die Pflanzen teilte, die hier enger standen, verscheuchte sie ihre Gedanken an Alex’ Heimat. Sie brachten stets die Angst mit, er könne eines Tages für immer dorthin zurückkehren. Nun, da seine Aufgabe hier an Land erledigt war.

Sie kam der Lichtung mit ihrer Lil Majestic näher. Das schneebedeckte Boot, die kleine Wiese davor ... Lilli sah vor ihrem geistigen Auge schon die Bilder, die sie gleich schießen wollte. Einen Teil der Fotos könnte sie Alex auf sein Smartphone schicken. Als Vorabgeschenk sozusagen. Wenn er nicht vergaß, nachzuschauen. Lilli musste schmunzeln. Alex verhielt sich am Anfang gegenüber der Technik der Menschen misstrauisch. Auf Thalassa 3, seinem Unterwasserzuhause fünfzehn Kilometer vor der Küste von La Perla, hatten sie zwar einige Computer, doch Handys oder Tablets waren ihm fremd gewesen. Inzwischen jedoch zeigte er sich begeistert von seinem »Smarty«, wie er sein neues Smartphone nannte, obwohl er oft vergaß, dass er es besaß und es gar nicht einschaltete.

Zuerst traf Lilli der Geruch. Heftige Übelkeit stieg ihr in die Kehle, sie würgte. Einen Moment hielt sie im Feld inne und schluckte ein paar Mal, in der Hoffnung, die Übelkeit hinunterzuschlucken.

Mit wild rasendem Herzen trat sie auf die Lichtung. Der Aufschrei blieb Lilli im Hals stecken. Nur mit Mühe verhinderte sie, dass sie sich übergab. Der Schnee auf der Lichtung leuchtete purpurn und sie hatte das schreckliche Gefühl, dass ihre Füße in Blut ertranken. Ihre Knie gaben nach. Lilli ging zu Boden, schluchzte und hyperventilierte gleichzeitig. Es war so hell. Das viele Blut im Schnee, an ihren Händen. Es war so schrecklich hell. Für Sekunden konnte sie den heftigen Brechreiz unterdrücken. Schließlich übergab sie sich laut würgend. Atemwolken lösten sich in schnellen Intervallen von ihren Lippen, als sie aufstand und über die Wiese zum Boot taumelte. Lilli zwang sich, nicht hinzuschauen. Doch das Bild hatte sich ihr für immer eingebrannt: der sterbende Tümmler.

Plötzlich durchzuckte Lilli ein heftiger Schmerz. Nicht ihrer. Und doch schrecklich real. Jemand schlitzte ihr den Brustkorb auf. Sie fuchtelte mit den Armen, als wolle sie einen Angreifer abwehren. Druck im Kopf, ein Taumeln. Lilli stürzte vor dem Boot in den Schnee. In schwindelerregender Geschwindigkeit wechselten sich Bilder in ihrem Kopf ab. Nicht ihre Erinnerungen und doch so wirklich. Bilder von Landschaften tief im Meer, Bilder einer Delfinschule. Sie mittendrin, als würde sie mit den Delfinen schwimmen, umgeben von silbrigen Körpern, umkreist von lauten, schrillen Pfeiftönen. Als wäre sie selbst ein Tümmler. Bilder eines Sturms, durch den sie schwamm, mal über, dann wieder unter Wasser. Und plötzliche Stille. Bewegte Bilder zuckten vor ihr auf und wichen anderen, wie in einem experimentellen Film. Da waren Wracks von Schiffen, eine ferne Gruppe Taucher, ein unglaublich langes Netz, in dem Tausende von Fischen dichtgedrängt zappelten. Die Jagd nach einem Sardinenschwarm. Fressen. Zufriedenheit. Auftauchen. Die weite Fläche des Ozeans, Sonnenaufgang am Horizont, in der Ferne ein Dampfer. Sie flog im Regen über den Wellen. Sie tauchte ein und wieder auf. Der Anblick einer Unterwassersiedlung, Kinder, die dort spielten. Alex! Wie er mit ihr mitschwamm. Um die Wette schwimmen und wieder spielen. Und dann sah sie in der Finsternis der Tiefsee das Skelett eines Wals, daneben ein Unterwassergebäude mit Glaskuppeln. Kahler Meeresboden, zerklüfteter Abgrund, Schwarze Raucher, Wärme. Das riesige Felsenlabyrinth, Schluchten ohne Grund, tief und beängstigend. Das weite Meer. Urplötzlich ein einsames Schiff! Muschelbewachsener Kiel, still trieb es dahin. Gerade diese Stille umfing sie bedrohlich. Und dann eine neue Unterwasserlandschaft. Sie schwamm durch eine Schlucht. Ein bläuliches Licht an einem U-Boot, das sich blinkend entfernte. Ein Unterwassersee, über den sie zog, gesäumt von Millionen Muschelschalen. Ein anderer Delfin an ihrer Seite, Zuneigung und Zärtlichkeit. Das Liebesspiel. Dann plötzlich Hände, die zupackten. Die Todesangst in jeder Faser des Körpers und der vergebliche Versuch, sich zu befreien. Die Küste, wie sie näher kam, und der Wunsch, von dort zurück ins tiefe Wasser zu fliehen. Auftauchen aus dem vertrauten Nass, aus der Sicherheit der Leichtigkeit. Kies unter der Haut und das eigene Gewicht, wie es sie erdrückte, als hätte es sich verdreifacht. Schwere, die Berührung der Luft auf der Haut, wie ein feingewebtes Fischernetz, das sich darüber legte. Langsam werdender Herzschlag und Atemnot. Ein Aufbäumen, ein verzweifelter Versuch, zurück ins Meer zu kommen. Hände wie eine Stahlklammer, unnachgiebig, tödlich. Kurz zuckte ein Gesicht ins Blickfeld. Dann hohe Pflanzen, ganz dicht wie ein Seetangwald. Vertraut und doch fremd unter dem kalten Licht des schneienden Himmels. Aufreißende Haut, während sie tiefer ins Feld gezogen wurde.

Unerträglicher spitzer Schmerz plötzlich. Ein Kreischen, fast menschlich, entfloh ihr. Die Wunde am Bauch brannte und trieb sie an den Rand der Dunkelheit. Doch die Überraschung, das eigene Blut im Schnee zu sehen, es zu schmecken, zu riechen, hielt sie wach. Das Blut sickerte vom Bauch herab, sie spürte es. Nichts fühlte sich wie zu Hause an, alles war kalt, fremd und grausam. Schmerz überall. Ersticken. Sterben. Ein schreckliches Grinsen im Gesicht des Mädchens, das den Tod brachte – das letzte Bild. Dann Dunkelheit.

Lilli fasste sich an den Bauch, krümmte sich. Ein stummer Schrei drang aus ihrer Kehle. Und dann noch einer. Endlich kehrte ihre Stimme zurück. Der Ton löste sich von ihren Lippen. Hoch, wie ein Tier, das vor Schmerz schreit.

»Danya«, wimmerte sie, brach im Schnee zusammen und verlor das Bewusstsein.
 

Geräuschlos glitten die Zuckerrohrstängel wieder zurück, die die Hände geteilt hatten. Die Gestalt richtete sich geschmeidig auf, lief flink zu Lilli und kniete neben ihr. Sie nahm Lillis Kopf in ihre bleichen Hände und schloss die Augen. Es hatte den Anschein, als würde sie Stimmen lauschen. Ein kaltes Lächeln trat langsam auf ihr Gesicht. Sie ließ Lilli los, erhob sich und ging ins Zuckerrohrfeld zurück. Es schien, als würde sie zwischen den Pflanzen hindurchschweben. Kein Stängel rührte sich, kein Laut war zu hören. Die Gestalt verschwand wie ein Geist in der Tiefe des Feldes.

 

2.
Eisfluten

 

Es war nie Eugene O’Gradys Plan gewesen, eine Bar zu betreiben, doch sein Traum vom Studieren war längst im nüchternen Licht seines Alltages verpufft. Seit den Ereignissen des letzten Jahres hatte er sich hinter diesem Job versteckt. Es stellte sein Stückchen Normalität dar, das er noch nicht aufgeben wollte.

Eugene musste zunächst lernen, mit etwas anderem umzugehen. Und das lag so weit weg vom Normalen, dass es eigentlich gar nicht möglich war.

Mit dem Tablett blieb er im Türrahmen des Mesón del Mar stehen. Seine honigfarbenen Locken flatterten im Wind.

Es hatte aufgehört zu schneien. Richtung La Perla löste der Himmel sein Nachtschwarz auf, graue Schneewolken zogen schnell weiter und Windböen fegten über den Strand von Calahonda. Zu der Jahreszeit brachen die Tage noch spät an. An diesem Samstag aber würde es nicht richtig hell werden, dachte Eugene.

Seit Tagen hatte die Luft einen milden Hauch von Frühling angenommen, wenn nicht gerade der Südostwind blies und die Kälte vom Wasser herüberbrachte, wie heute. Die Gärten waren nach dem kurzen Winterschlummer zu neuem Leben erwacht und viele Sträucher trugen schon Blüten.

Einen Moment lang schaute Eugene den schäumenden Wellen zu, die sich ihren Weg bis weit auf den Kies hoch bahnten. Als hätte das Meer nicht genügend Platz jenseits des Berges. Der Schaum der Wellen verschmolz mit dem Schnee und vor Eugenes Augen entstand die Illusion, dass sich das brodelnde Meer über den ganzen Strand gelegt hatte. Aus den Tunnels und Gängen streckte der Berg seine Schaumzungen heraus, als wolle er den Schnee weglecken.

Eugene atmete die kalte Luft tief ein. Die Bergkette sah ursprünglich aus, wie die Felsformationen, an denen der Zahn der Zeit und das Meer Tausende von Jahren genagt hatten und die erstaunlichsten Riesenskulpturen an den Küsten hinterließen. Dabei waren es die Bagger der Menschen gewesen, die Tunnels und Durchgänge in der Sierra Virgen del Mar gegraben hatten. Eugene bereute es jetzt, nicht doch seinen Fotoapparat oder wenigstens das Handy mitgenommen zu haben, als er heute überstürzt und in aller Herrgottsfrüh mit seinem Onkel Barry von zu Hause aufgebrochen war.

Sierra Virgen del Mar, der Name passte, fand Eugene. Übertrieben, pompös und imposant. Mit der Plötzlichkeit, mit der Gerüchte auftraten, war nur wenige Tage nach dem Beben der Name in aller Munde gewesen: der Berg der Meerjungfrau. Keiner wusste, woher er kam. Doch weil er dafür wie geschaffen war, hatte man beschlossen, im Frühjahr ein Fest zu veranstalten und die Hügelkette offiziell auf diesen Namen zu taufen. Schließlich war man stolz auf den neuen Berg.

Auch wenn nach dem Beben letztes Jahr bald Ruhe eingekehrt war, hatte das Ereignis die Welt in diesem Teil der Costa Granada tief erschüttert und ihr Gesicht für immer verändert. Das spürte Eugene jedes Mal, wenn er durch die Ortschaft streifte. Die lokalen Sagen und Legenden waren populärer denn je und schmückten als Bücher oder Zeitungen die Läden. Die Alten strömten in die Kirche, als wären sie noch gläubiger geworden, und die Jungen ließen überall ihren Schutzgott Indalo auferstehen, malten die Figur, die einen Regenbogen auf ihren Händen trägt, auf Häuserwände oder hängten sie in Torbögen auf. Aber am stärksten kam das Gefühl hier am Meeresufer auf. Der unspektakuläre Flecken Küstenlandschaft hatte sich in einen Ort verwandelt, der durch den Berg etwas Wildes und Geheimnisvolles angenommen hatte. Diese Veränderungen würden einem Fremden nicht auffallen. Nur wer hier länger gelebt hatte wie Eugene, spürte den neuen Geist an der andalusischen Küste.

In der Vorsaison lagen die Straßen und Ferienwohnungen verlassen da, das Mesón hatte noch geschlossen. Vor einer Stunde aber waren Eugenes Freunde Chris LeBon und Toni Pereira einfach hier aufgetaucht. Barry, der Besitzer des traditionellen Chiringuito, war mit Ausbesserungsarbeiten im Gebäude beschäftigt und hatte sie, ungeachtet des scharfen Windes und Schnees, nach draußen verbannt. Hier standen die Tische und Stühle noch von der Winterpause gestapelt und mit Ketten gesichert. Eugene hatte einen Tisch freigemacht und drei Stühle hingestellt. Die Ecke lag hinter einem mannshohen Paravent etwas windgeschützt. Mit wenigen Zutaten war es ihm gelungen, ein Frühstück zuzubereiten. Der Kaffee, den er für seine Freunde und sich aufgebrüht hatte, dampfte nun verlockend aus drei großen Tassen auf seinem Tablett.

Sein Verhältnis zu Barry gestaltete sich nach den Ereignissen des letzten Jahres noch schwieriger, als ohnehin schon. Eugene mied seinen Onkel, wo es ging. Die Schäden in der Bar, die sich während einer Saison immer ansammelten, boten den unwillkommenen Anlass, einige Stunden zusammenarbeiten zu müssen und er begrüßte jede Ablenkung. Der Besuch seiner Freunde kam wie gerufen, obwohl er ihnen wochenlang aus dem Weg gegangen war.

Eugene war in die Sache mit der Bar so hineingerutscht. Zunächst hatte er nur ab und zu ausgeholfen. Als der Berg die Sensation geworden war und eine Menge Leute anzog, musste er öfter Barry unterstützen. Daraus wurde schließlich eine tägliche Angelegenheit und nun konnte er sich Mitinhaber schimpfen. Wenn Barrys Nörgeleien und Sticheleien nicht wären, hätte ihm die Arbeit in einer Tapasbar sogar gefallen, gestand sich Eugene ein. Neuerdings entdeckte er nämlich eine merkwürdige Leidenschaft für das Kochen. Und die Beschäftigung lenkte ihn von dem ab, was jenseits der menschlichen Erscheinung tief in ihm arbeitete.

Manchmal, wenn sich längere Zeit nichts regte (die Abneigung gegen rohem Fisch hatte er inzwischen gut im Griff), dachte er erleichtert, dass es nur ein vorübergehender Zustand gewesen war, wie eine ausgeheilte Krankheit. Doch Eugene wusste, dass diese Hoffnung ein bemitleidenswerter Versuch darstellte, sich etwas vorzugaukeln. Es gab keine Menschenamphibienkrankheit, die man mit dem richtigen Tee heilen konnte, oder wie sein Onkel, wenn er krank war, mit viel Irish Whiskey. Es war weder ein verrücktes Symptom noch seine blühende Fantasie. Sondern seine wahre Natur. Das Wesen des Landamphibions. Und dieses forderte langsam, aber sicher sein Recht ein.

Bei dem Gedanken an eine vollständige Verwandlung riss Eugene sich aus der Betrachtung der verschneiten Landschaft. Mit Schauern erinnerte er sich an neulich Nacht, an die veränderten Zähne. Wie sich die Spitzen der Schneidezähne in seine Zunge gebohrt hatten, der Geschmack des eigenen Blutes und wie er sie am liebsten tief in die Matratze versenkt hätte. Doch als er das Tablett mit den Kaffeetassen an den Tisch trug, war er wieder gefasst.

Chris und Toni hatten ihr Frühstück aufgegessen und unterhielten sich laut. Die beiden wussten nichts von Eugenes Geheimnis und das musste auch so bleiben. Nicht nur, weil er geschworen hatte, niemals etwas zu verraten, sondern weil er mit Sicherheit keine Freunde mehr hätte, würde er ihnen sagen, was er war. Die beiden Kindsköpfe waren sowieso seine einzigen Freunde. Also hielt Eugene den Mund und tat so, als wäre er ein stinknormaler irischer junger Mann, der endlich eingesehen hatte, dass es nichts Schöneres als dieses andalusische Kaff gab.

Eugene bahnte sich zwischen den fuchtelnden Händen seiner Freunde einen Weg und stellte die Tassen auf dem Tisch ab. Stumm betrachtete er die beiden, während sie ihr hitziges Gespräch über Segelboote und Fregatten fortführten, als gäbe es ihn nicht. Er hatte sich seit Silvester hinter fadenscheinigen Ausreden verkrochen und war den Freunden aus dem Weg gegangen. Aus Angst, in ihrer Gegenwart plötzlich spitze Zähne oder schuppige Haut zu bekommen. Insgeheim freute er sich, sie zu sehen, er war in letzter Zeit vereinsamt. Erst jetzt, da sie hier saßen, merkte er, wie sehr sie ihm gefehlt hatten.

Toni hatte sich in den vergangenen Wochen wenig verändert. Nur seine rabenschwarzen Haare wellten sich länger hinter den Ohren. Es war offensichtlich, wen er damit nachahmen wollte. Chris, der die Haare immer noch schulterlang trug, hatte sich als Krönung seines Marinero-Looks einen Kinnbart wachsen lassen. Seine wilden Gesten und die alberne alte Strickmütze, die ihm bis in die Augen hing, trugen aber dazu bei, dass er nicht älter als fünfzehn aussah, obwohl er auf die zwanzig zuging.

»Setz dich, Eugene«, sagte Chris und deutete auf den freien Stuhl. »Wir müssen reden.« Mit dem Daumen schob er sich die Mütze höher auf die Stirn.

Toni nickte beflissen. Er richtete sich im Stuhl auf, rieb sich die Hände und griff nach der Tasse, die Eugene ihm hingestellt hatte. »Her mit dem Kaffee, ich friere. Barry ist doch nicht ganz dicht, uns einfach nach draußen zu komplimentieren. Wir wollen den Kaffee ja nicht umsonst.«

»Super, Toni, du lädst uns ein!«, rief Chris und grinste breit.

»Hä? Hab ich das gesagt?«

Chris nickte überzeugt.

»Ach, egal. Ich lade euch ein«, sagte Toni und nahm einen Schluck aus seiner Tasse.

»Ihr wollt reden?«, fragte Eugene, während er Chris eine Tasse rüberschob.

»Und zwar ernsthaft«, bestätigte Chris. Er nahm seinen Kaffee mit einem dankbaren Nicken an.

Eugene blickte von einem zum anderen und setzte sich schließlich. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Seine Freunde benahmen sich merkwürdig. Erst kreuzten sie hier unerwartet auf, dann wollten sie mit ihm »ernsthaft« reden. Ob sie gemerkt hatten, dass er sich verändert hatte? Auf den ersten Blick sah man vermutlich nichts, doch er wusste, dass sein Gesicht schmaler geworden war. Dafür waren seine Schultern nun breiter, obwohl er nicht trainierte. Er hatte es neulich an seinem alten Lieblingshemd gemerkt, das neuerdings über der Brust spannte.

»Wir haben nachgedacht«, begann Chris und dämpfte seine Stimme.

Oh nein, dachte Eugene. Das konnte nichts Gutes bedeuten. So war es auch.

»Die Skelette in der Höhle …«, setzte Toni an.

»Mann!«, rief Eugene. Das konnte doch jetzt nicht wahr sein! Sie waren sich einig gewesen, über jenes Ereignis nie wieder zu sprechen. Er umklammerte seine Tasse fester.

»Wir können nicht so tun, als gebe es keine Knochen in einem Loch unter dem Meer«, sagte Toni zwischen zwei Schlucken. »Wir können echt nicht länger vorgeben, nichts in der Tropfsteinhöhle gesehen zu haben. Ich weiß, wir wollten nicht mehr darüber reden …«

»Genau!«, fauchte Eugene, »nie wieder.« Da war sie. Die Situation, vor der er sich gefürchtet hatte. Er stand kurz davor, die Beherrschung zu verlieren.

»Jetzt warte doch mal.« Chris beugte sich über den Tisch. Er war offensichtlich von Eugenes heftiger Reaktion überrascht worden und blinzelte schneller. »Ich weiß, ich hatte wahnsinnige Schmerzen und alles, aber ich weiß, was ich gesehen habe. Die Zähne …«

»Herrgott noch mal! Vergiss doch die Zähne. Du warst im Fieberwahn. Kein vernünftiger Mensch würde an spitze Zähne glauben.«

»Selbst wenn ich mir die Zähne nur eingebildet habe, Eugene, die Skelette waren keine Einbildung. Und …«

»Und was?« Eugene stand so abrupt auf, dass Kaffee aus den Tassen auf den Tisch schwappte. Er spürte das vertraute innere Zittern. Schnell schaute er auf seine Hände. Sie sahen normal aus. Noch hatte er sich im Griff.

»Scht! Willst du, dass Barry dich hört? Und unterbrich uns nicht dauernd. Hör doch mal zu, was wir zu sagen haben.« Das war Toni.

»Ach, wir also. Dann habt ihr zwei hinter meinem Rücken schon alles besprochen, was?« Mühsam brachte Eugene die Worte über die Lippen, bemüht, so gelassen wie möglich zu klingen.

»Du hast dich ja nicht mehr blicken lassen«, sagte Toni und schaute Eugene vorwurfsvoll an.

»Und da habt ihr die ganze Sache ohne mich wieder aufgewärmt.« Einatmen, ausatmen.

»Wir können es nicht ohne dich. Der einzige uns bekannte Weg zurück in die Höhle ist über Barrys Keller«, sagte Chris.

Eugene lachte freudlos auf. »Ihr seid verrückt! Was wollt ihr? Noch einmal die Mauer einreißen?«

Als er nur stumme Blicke erntete, begann er, auf und ab zu laufen. Aber die bescheuerte Idee der beiden war nicht das Einzige, das ihn umtrieb. Er hoffte, dass seine Erregung durchs Laufen nachließ. Es wäre eine Riesenkatastrophe, wenn er plötzlich begann, sich zu verwandeln. Einatmen, ausatmen. Dieses elende Ziehen in den Zähnen. Zweiundzwanzig, dreiundzwanzig … Der Schnee knirschte unter seinen Schuhen.

»Ihr meint es ernst?«, fragte er schließlich und verlangsamte seine Schritte. »Verflucht! Und ich hatte mich gefreut, euch wiederzusehen.«

»Was soll schon dabei passieren? Wir gehen diesmal vorbereitet hinein. Werkzeug, Fotokamera …«

»Unter der Gefahr, dass du mich verprügelst, weil ich dir wieder ins Wort falle – aber kommt nicht in Frage, Toni! Ich will nichts mehr davon hören. Wir beenden jetzt das Thema und reden über Segelboote.« Das meinte er verdammt ernst. Es reichte ihm allemal, sich auf seinen Zustand zu konzentrieren, da konnte er nicht auch noch dieser bescheuerten Idee nachgehen.

»Wovor hast du solche Angst?«

Pah! Wenn du wüsstest. Im Moment ist meine größte Angst, mich nicht in ein hässliches Reptil zu verwandeln und dich in Stücke zu reißen. Natürlich sprach Eugene diesen Gedanken nicht aus, so sehr er es sich auch wünschte. Doch man sah ihm wohl an, dass er nicht begeistert war, in welche Richtung das Gespräch ging.

»Wir reden über Segelboote«, zischte Eugene, »und zwar, vom ersten gebauten bis zum modernsten. Wer fängt an?«

Chris schnalzte mit der Zunge.

Toni öffnete den Mund und schloss ihn wieder.

»Na gut, dann fang ich ...«

Chris unterbrach ihn. »Eugene, wir müssen vernünftig sein.«

»Eben! Vernünftig ist, die Sache für immer zu begraben. Wortwörtlich sozusagen.« Eugene holte für den nächsten Satz tief Luft. »Wenn ihr es nicht bleiben lasst, dürft ihr sofort gehen.« Er blickte in ihre verdutzten Gesichter. Seltsamerweise hatte ihn das Aussprechen dieses Gedankens mit einem Schlag beruhigt. Gott sei Dank!

»Du willst uns rausschmeißen?« Toni sprach in die Kaffeetasse. Eine Dampfwolke stieß heraus und verflüchtigte sich sofort.

»Ich will nicht. Aber wenn ihr diese Geschichte nicht aufgebt, dann bleibt mir nichts anderes übrig. Lasst es doch endlich gut sein.« Eugenes Stimme war jetzt ruhig. Vielleicht wirkten die Worte gerade deshalb so eindringlich.

Toni stellte seine Tasse ab. Er fasste sich an die Stirn. Dann hob er den Blick. »Deine Gesellschaft ist mir wichtiger, als die … du weißt schon, was.«

»Was ist mir dir?«, fragte Eugene und schaute Chris finster an.

Dieser zuckte nur mit den Schultern. Seine Schuhspitze malte Kreise in den Schnee.

»Ich nehme das als ein Ja«, sagte Eugene mit gezwungen gedrosselter Stimme.

Als wäre es das Stichwort für seinen Einsatz, kam Barry aus dem Mesón geschossen. Sein Gesicht war rot angelaufen und er schnaubte wie ein wildgewordener Stier. Die schütteren rostbraun gefärbten Haare standen ihm wirr vom Kopf ab und der Schnauzer zitterte. »Was habt ihr getan?«, brüllte Barry, trat auf Eugene zu und packte ihn grob an der Schulter. »Was zum Teufel hast du getan?«

Eugene drehte sich langsam zu ihm um. Sein Blick ging zu Barrys Hand auf seiner Schulter. Barry ließ ihn los, doch seine Wut brannte auf Eugenes Schulter wie ein glühender Abdruck.

»Señor Barry, was ist los?«, fragte Toni überrascht, bevor Eugene etwas erwidern konnte.

»Was los ist? Ich werde dir sagen, loco, was los ist! Die Mauer unten im Keller ist wieder eingerissen worden. Das ist los! Und jetzt will ich wissen, was ihr euch dabei gedacht habt!« Speichelflocken lösten sich von seinen Lippen und fielen auf Eugenes Schulter.

Eugene starrte seinen Onkel sprachlos an, dann zuckte sein Blick zu Toni und Chris.

»Oho!«, war alles, was Chris sagte.

»Oho mich nicht an, Junge! Raus mit der Sprache! Warum habe ich wieder ein Loch im Keller?«

»Mister Barry, ich schwöre, wir wissen nichts von einem Loch.« Das war Chris, der sich nun vom Tisch erhob. Er war sichtlich verärgert.

Eine wirklich blödsinnige Beschuldigung, in Anbetracht der Tatsache, dass er und Toni vor wenigen Sekunden den Wunsch geäußert hatten, das Loch erneut zu öffnen. Kurz überlegte Eugene, ob es möglich war, dass die beiden es getan hatten. Doch er verwarf diesen Gedanken sofort. Hätten sie es, wären sie nicht so dumm gewesen, ihn zu fragen, ob er bei ihrem Plan mitmachte. Es war zu komisch.

Drei Paar Augen schauten ihn an, als er in schallendes Gelächter ausbrach. Eugenes Lachen verebbte. »Es ist witzig, das müsst ihr zugeben.«

Eugene bemerkte, wie es um Tonis und Chris’ Mundwinkel zuckte. Barry fand es am wenigsten lustig, in seinen Augen blitzte Wut auf.

»Barry, wir wissen wirklich nichts davon«, sagte Eugene an seinen Onkel gewandt. »Ich schlage vor, du beruhigst dich und wir schauen uns das Ganze an.«

»Beruhigen soll ich mich? Das sagt gerade der, der schon einmal ein Loch in meinem Keller gebuddelt hat.« Barry versetzte Eugene einen bösen Blick. Er war noch weit davon entfernt, ruhig zu werden. Und er hatte offensichtlich beschlossen, nicht mehr so zu tun, als hätte es das erste Loch in seiner Kellerwand nie gegeben.

Er hatte Eugene kein einziges Mal direkt darauf angesprochen. Die stummen Vorwürfe, die Andeutungen und Anspielungen allerdings standen zwischen ihnen und vergifteten die Stimmung. Dass Eugene an den Ereignissen des letzten Jahres Schuld trug, stand praktisch in glühenden Lettern auf seiner Stirn geschrieben. Die eingerissene Kellerwand, das Beben, die Verletzungen seiner Freunde, Lillis »Rausch« … Gut, für einen Teil davon fühlte er sich verantwortlich, doch vor Barry würde er das nie zugeben.

»Was regst du dich über ein altes Loch auf? Deine blöde Mauer wurde ja repariert, schon vergessen?«, sagte Eugene säuerlich. Er hatte es nicht vergessen. Seraphim und seine Leute hatten das Loch schnell zugemauert. Dass Barry es trotzdem entdeckt hatte, war eines jener ungeplanten Dinge, die nach dem Beben passiert waren.

Barrys Augen funkelten böse in die Runde. Er atmete schwer.

»Wir wissen wirklich nichts von einem neuen Loch.« Auch Toni hatte sich vom Tisch erhoben. Er sagte es so gelassen wie nur möglich, schob die Schultern zu den Ohren hoch und schaute Barry direkt in die Augen.

Barry beschloss nach einem kurzen Blickduell, Toni zu glauben. Sein Atem beruhigte sich allmählich. Er schüttelte missmutig den Kopf, sagte aber nichts mehr. Plötzlich trat er mit dem Fuß gegen den Tisch. Alle zuckten zusammen, als die Tassen schepperten. Eugene war sich sicher, dass sein Onkel sich über sich selbst ärgerte, weil er die Beherrschung verloren und endlich ausgesprochen hatte, was er die ganze Zeit heruntergeschluckt hatte. Ohne ein weiteres Wort machte Barry kehrt und stapfte ins Mesón zurück. Mit einem lauten Knall fiel die Tür ins Schloss.

Die drei standen einige Sekunden sprachlos da.

»Nun gut, dann sehen wir uns mal das neue Loch an«, sagte Eugene schließlich.

Mit diesen Worten ging er zur Eingangstür und verschwand ins Innere, seine Freunde folgten. Die quadratische Falltür im Boden war zurückgeklappt und ein Lichtschimmer drang von unten zu ihnen. Eugene stieg die schmale steile Kellertreppe als erster hinab. Obwohl er entschlossen vorlief, war ihm gar nicht danach zumute, in dieses Kellerloch hinabzusteigen. Eine Gänsehaut breitete sich auf seinen Armen aus, als ihm der vertraute Geruch zwischen Regalen, Kisten und anderen Gegenständen in die Nase stieg. Diesen Keller hatte er gemieden wie der Teufel das Weihwasser.

Barry war dabei, einen Kasten ins Regal zu hieven. Als er Eugene erblickte, richtete er sich auf. Stumm deutete er auf die Wand.

Eugene zwängte sich an Barry vorbei. Die Mauer, in die letztes Jahr ein Loch geschlagen hatten, war an der gleichen Stelle durchbrochen worden. Es sah aus, als hätte es jemand mit einem einzigen Schlag eingerissen. Für sie allerdings wäre die Öffnung zu klein zum Hindurchschlüpfen gewesen, schoss es Eugene durch den Kopf.

Toni und Chris waren inzwischen bei ihm angekommen.

»Was sagt man dazu?«, brummte Chris.

»Muss aber ein Zwerg gewesen sein, wenn er es durch dieses Loch geschafft hat. Señor Barry, fehlt Ihnen etwas aus dem Keller?«

Dieser verneinte mit einem Kopfschütteln.

Toni bückte sich und rückte eine der Holzkisten beiseite, die neben der Wand standen. »Bin ich der Einzige, der es merkwürdig findet, dass Steine auf dieser Seite liegen?« Er deutete auf die Mauerbrocken, die jetzt hinter der Kiste zum Vorschein kamen. Dabei klopfte er sich den Staub von den Händen.

Eugene begriff nicht, was Toni meinte. Nach Chris’ Gesichtsausdruck zu urteilen, dieser auch nicht.

»Es sieht ganz so aus, als wäre die Mauer von der anderen Seite aufgerissen worden.«

Klar! Eugene schob Toni zur Seite und steckte seinen Kopf durchs Loch. Der bekannte muffige Geruch nach abgestandenem Wasser wehte aus dem Dunkel heran. Mit ihm kamen die Bilder ihres ersten Erkundungsausflugs zurück. Die Falltür in der großen Tropfsteinhöhle, die ihnen den Weg nach Hause versperrt hatte. Das Beben, das sie überrascht hatte und sie schwer verletzt wurden. Und dann das Erscheinen von Seraphim und Marc, während seine beiden Freunde bewusstlos gewesen waren. Die Szene, als er erfahren hatte, dass es die Menschenamphibien gab, und ihr gemeinsamer Weg durch den zweiten Tunnel, der nach Thalassa 3 führte. Vor allem aber, wie Seraphim ihm gesagt hatte, dass er selbst zum anderen Zweig der Menschenamphibien gehörte, den Landamphibien, während er gewartet hatte, dass die Thalassier seinen schwerverletzten Freunden halfen. Eugene schüttelte die Erinnerungen sofort ab.

Toni hatte recht, die Mauer war vom Tunnel aus eingerissen worden. Im Graben dahinter machte er wieder Wasser aus. Als er seinen Kopf zurückziehen wollte, fiel Eugene ein Gegenstand auf. Er schob den Arm hinein und versuchte, heranzukommen. Keine Chance.

»He, Chris! Versuch du, das Ding da zu kriegen, du hast längere Arme.« Eugene hatte sich aus dem Loch zurückgezogen.

»Welches Ding?«, fragte Chris.

»Im Wasser liegt ein Hammer. Oder etwas, das so aussieht.«

»Zeig her«, sagte Chris und drängte Eugene zur Seite. Er steckte den Kopf durch das Mauerloch. »Ich sehe was. Gebt mir mal eine Taschenlampe!«, rief Chris nach einer Weile. Es klang, als würde er in einen Becher sprechen.

Jemand reichte ihm eine und nach wenigen Sekunden rief Chris: »Hab es!« Er richtete sich auf, in seiner Hand den Gegenstand. Er sah tatsächlich wie ein Hammer aus, hatte aber einen größeren Metallkopf, der zu einem Ende hin spitz zulief, was ihm das Aussehen einer Waffe verlieh. Ein ungewöhnliches Ding und doch kam es Eugene merkwürdig vertraut vor.

»Was ist das?«, fragte Chris und schüttelte das Wasser von seinem Arm ab.

Eugene nahm den Gegenstand an sich und betrachtete ihn lange. Der Hammer war nicht sonderlich groß, dafür aber überraschend schwer. Auf einer Seite entdeckte Eugene eine Gravur, ein Symbol. Plötzlich fiel ihm ein, wo er ein ähnliches Objekt schon einmal gesehen hatte: auf Thalassa 3. Als er damals nach dem Beben mit Seraphim durch die vielen Räume und Gänge gelaufen war, hatte er irgendwo auf einem Tisch einen solchen Hammer gesehen. Nicht gut. Das war gar nicht gut. Eugene bemühte sich, seine Gesichtszüge zu kontrollieren. Wie sollte er seinen Freunden und Barry erklären, dass er mit ziemlicher Sicherheit die Waffe eines Thalassiers in Händen hielt?

»Und?«, fragte Toni.

Eugene zuckte zusammen. »Ich schätze, es ist eine Spitzhacke«, sagte er schnell. »Mit der muss unser Unbekannter die Mauer eingeschlagen haben.«

»Gib her!«, befahl Barry, der die ganze Zeit hinter Toni und Chris gewartet hatte. Jetzt schob er die beiden weg und nahm Eugene den Gegenstand aus der Hand. Er musterte ihn von allen Seiten, wobei er beim eingravierten Symbol länger verharrte. Als er schließlich den Blick zu Eugene hob, stand darin eher Besorgnis denn Verwunderung.

Toni und Chris konnten Barrys Gesicht nicht sehen, doch Eugene hätte wetten können, dass Barry wusste, was er da in Händen hielt. Bevor er diesem Gedanken nachgehen konnte, drehte sich Barry wieder um und lief zur Kellertreppe vor. »Ihr seid aus dem Schneider!«, rief er noch, bevor er nach oben verschwand.

Die drei standen eine Weile stumm da und betrachteten das Loch.

Eugene war der Erste, der schließlich sprach. »Lasst uns von hier verschwinden.«

»Geht es nur mir so, oder ist diese ganze Sache gespenstisch?«, murmelte Chris.

»Nur dir!«

»Gespenstisch!«

Das Erste hatte Eugene gerufen, das Zweite gleichzeitig Toni.

»Wie dem auch sei, lasst uns gehen«, wiederholte Eugene bestimmt.

»Jetzt warte mal. Offensichtlich kommt man von irgendwo auf der anderen Seite dieser Mauer in den Tunnel. Was Sinn macht, denn so ein Tunnel muss ja irgendwohin führen. Wenn wir schon hier sind, könnten wir überlegen, ob wir nicht …«

»Toni, du legst es echt drauf an. Mann, die Sache ist doch bescheuert!« Eugene spürte die bekannte Wut in sich hochsteigen.

»Lass mich ausreden! Ich wollte vorschlagen, dass wir Wache schieben. Wenn jemand angefangen hat, ein Loch zu schlagen, kehrt er vielleicht zurück und vollendet es.«

»Super Plan, Toni«, sagte Eugene spöttisch. »Und wir sitzen von morgens bis abends jeden Tag und jede Nacht hier herum und warten, dass vielleicht jemand kommt.«

Toni verzog das Gesicht. »Na ja, ist unrealistisch, ich gebe es zu.«

»Und deshalb vergessen wir das Ganze und hauen jetzt schleunigst ab. Ich werde das Loch in diesen Tagen zumauern und gut ist.« Eugene sah seinen Freunden genau an, dass ihnen eher vorschwebte, es zu vergrößern und wieder hineinzugehen.

»Hättest du was dagegen, wenn nur Toni und ich es versuchen?« Chris klang verunsichert.

Eugene musste sich eingestehen, dass auch ihn die Existenz der Skelette immer wieder beschäftigt hatte. Und wenn schon jemand ein Loch geschlagen hatte, dann konnten sie genauso gut noch einmal in die Tropfsteinhöhle gehen.

Toni und Chris sahen ihn erwartungsvoll an.

Er nickte schließlich. »Also gut, wir gehen hinein. Aber es läuft nach meinem Plan.«

»Klar, jefe!«, sagte Toni mit einem zufriedenen Grinsen.

»Yes!«, flüsterte Chris triumphierend.

Sie verließen den Keller und traten aus dem Mesón. Ihre Tassen standen noch auf dem Tisch, doch der Kaffee war längst kalt geworden.

Als Eugene sie einsammeln wollte, blieb sein Blick an der Klippe hängen. Er erstarrte zu einer Bildsäule. »Was ist jetzt wieder?«, murmelte er.

Chris und Toni folgten seinem Blick.

»Da ist …« Chris schnappte nach Luft.

Mit unverhohlenem Entsetzen in den Augen schaute auch Toni zur hohen Felsnase, die wenige Meter hinter der Tapasbar senkrecht aus dem Meer ragte. Die steinerne Balustrade der Autobahn zog eine Kurve, darunter fiel zerklüftet die rostfarbene Felswand hundert Meter tief ab. In der Kurve befand sich ein unbefestigtes Plateau, das als Parkplatz und Aussichtspunkt diente.

Die Gestalt stand nicht auf dem Parkplatz hinter den Steinplanken. Sie lehnte eine Mannshöhe unterhalb mit dem Rücken zur Felswand. Im dämmrigen Licht des Morgens, mehr Schatten als Wirklichkeit, schien sie zu überlegen.

Möwen zogen vor der Klippe ihre Kreise, ab und zu brach ein Vogel aus, flog zu einem Felsspalt und verschwand darin.

»Hat der vor, zu springen?«

 

3.
Black

 

Überrascht trat Alex auf die Terrasse seiner Souterrainwohnung. Der Morgen dämmerte erst heran und doch erschien der Innenhof der Anlage heller, leuchtender. So fühlte sich also echter Schnee an! Vergnügt ließ sich Alex die Schneeflocken um die Nase wehen. Er kannte das nur aus Filmen.

Einen Augenblick lang war er versucht, Lilli anzurufen. Dann bremste er sich aber. Sicher schlief sie um diese frühe Morgenstunde noch, es war ja Samstag. Und er sollte bei seinem Plan bleiben und zum Meer aufbrechen. Von Zeit zu Zeit brauchte Alex das Wasser, das Abtauchen in sein Element. Sonst wurde er unausstehlich, nervös und schlecht gelaunt. Außerdem näherte sich Lillis Geburtstag. Und er hatte vor, ihr ein besonderes Geschenk aus seiner Welt mitzubringen. Einen seltenen Seestern, der sich nur wenige Tage an diesem Ort aufhielt, bevor die Kolonien mit der warmen Strömung aus Afrika weitertrieben. Immer, wenn sie hier vorbeizogen, blieben Tiere zurück, die zu schwach waren und starben.

Einmal hatte Alex Seesterne in einem Souvenirladen gesehen und zuerst gedacht, sie wären unecht. Knochenbleich und hart hatten sie seltsam fremd ausgesehen. In seiner Welt waren Seesterne farbenfrohe Geschöpfte, pelzig beim Berühren. Sie schwebten geschmeidig über dem Meeresgrund. Der Verkäufer hatte ihm leicht pikiert erklärt, dass es sehr wohl echte Sterne waren, dass man sie natürlich trocknen lässt und sie erst dann hart wurden, aber auch ihre Farben einbüßten. Damals war ihm die Idee gekommen, Lilli einen zu schenken.

Alex betrachtete die Schneeflocken, die in seinen Handflächen liegen blieben. Sie schmolzen nicht, denn seine Hände waren kalt wie die Morgenluft und er konnte ihre perfekte Struktur bewundern. Sie erinnerten ihn an Seesterne. Heute passte ihm seine wechselwarme Veranlagung prima. Er war Teil der Landschaft geworden, wie er im Innenhof mit seinen verschneiten Palmen und Sträuchern stand. Der Schnee fiel inzwischen dichter und bald legte sich das nasse Weiß auf seine Haare, in die Kapuze des Sweatshirts und auf die Schultern.

Das Klingeln des Smartphones im Zimmer riss Alex aus der Betrachtung der winterlichen Landschaft. Vergnügt klopfte er sich den Schnee ab, wischte eine letzte Flocke weg, die sich in seinen Wimpern verfangen hatte, und ging zurück ins Zimmer.

Er antwortete mit einem fröhlichen »Guten Morgen, Schneeflocke!«

Lilli schrie und wimmerte abwechselnd.

»Bitte beruhige dich. Ich verstehe dich nicht.« Sein Herz begann zu rasen. Als Alex endlich heraushörte, dass sie bei der Lil Majestic war, legte er auf und stürmte aus dem Zimmer. Er stieg auf sein Rad, das vor dem Haus an der Wand lehnte, und fuhr los, ohne etwas Wärmeres anzuziehen. Er hatte keine Zeit, sich um die Meinung der Leute Gedanken zu machen. Auf den ersten Metern schlitterte er und verlor beinahe die Kontrolle über das Rad. Über Schnee zu fahren, war ungewohnt.

Alex schlug den Weg Richtung La Perla ein, mehr rutschend denn fahrend kam er durch die Gassen Calahondas. Als er um eine Häuserecke bog, verlor er das Gleichgewicht und glitt seitlich weg. Unsanft knallte er mit der Schulter gegen die Hauswand und landete mit einem Knie auf dem Boden. Ohne sich um den stechenden Schmerz zu kümmern, richtete er sich auf und setzte seinen Weg fort.

Scharfer Wind pfiff Alex um die Ohren, als er endlich die Küstenstraße erreichte. Ein fremder Geruch schlug ihm entgegen, feucht und schwer fühlte sich die Luft beim Atmen an. Die sieben Kilometer erschienen ihm wie siebentausend. An Land spürte er nicht, was in dieser Entfernung geschah, wie er es unter Wasser tun würde. Die Ungewissheit machte das Atmen noch mühsamer.

Nach wenigen Minuten sprang er entnervt vom Rad, ließ es am Straßenrand zurück und rannte weiter. Er war gewiss schneller da, wenn er sich nicht mit dem Rad abmühte. Für die winterliche Landschaft hatte Alex keinen Blick, als er durch den knöchelhohen Schnee die Straße entlang raste. Noch keine Reifenspuren waren auf der Straße zu sehen, keine Menschenseele begegnete ihm.

Zwanzig Minuten später erreichte Alex den Rand des Zuckerrohrfeldes. Ohne zu überlegen, hastete er ins Feld hinein, obwohl hier kein Pfad nach innen führte. Für Umwege blieb keine Zeit, er musste sich bis zur Lil Majestic irgendwie durchschlagen. Mit Händen und Füßen bahnte er sich den Weg zwischen den hohen Zuckerrohrstängeln ins Herz des Feldes.

Urplötzlich drehte der Wind, der Geruch von Blut schlug ihm entgegen. Entsetzt hielt Alex inne. Doch er beruhigte sich etwas, als er nach dem ersten Schockmoment erkannte, dass er nicht Lillis Blut roch. Was war hier los? Keuchend setzte er seinen Weg Richtung Boot fort. An manchen Stellen wuchs das Zuckerrohr so dicht, dass er Mühe hatte, zügig voranzukommen. Nach wenigen Metern gelangte Alex unerwartet an einer breiten Schneise. Sie führte ins Feld hinein. Die Pflanzen waren niedergedrückt worden, eine dünnere Schicht Schnee lag darüber und Alex spürte, wie von dort der Geruch nach frischem Grün aufstieg. Ein weiterer mischte sich darunter. Salzig, nach Meer und Fisch. Ohne weiter darüber nachzudenken, folgte er der Schneise und erreichte wenig später die Lichtung.

Alex schnappte nach Luft, als hätte er plötzlich verlernt, an Land zu atmen. Ein braunes Tümmlerauge schaute in den schneienden Himmel, als könne es nicht glauben, was es dort sah. Doch es schimmerte glasig und ausdruckslos.

Es war Black.

Der Delfin lag zur Seite gekippt da, Blut sickerte aus einer langen, tiefen Schnittwunde am Bauch in den Schnee und bildete dort Rinnsale. Die Flocken, die in die Fußspuren um Black fielen, saugten sich mit Rot voll, kaum dass sie unten angekommen waren.

Lilli lag zusammengekauert und mit blau angelaufenen Lippen vor der Lil Majestic. Schnee bedeckte ihre Haare und sammelte sich in den Tälern ihrer Kleidung, als läge sie schon Stunden dort. Ihr Kopf war seltsam verdreht, die Augen geschlossen und die Hände hatten sich um ihre Fotokamera geklammert.

Dem Tier war nicht mehr zu helfen, wie Alex sofort begriff. Doch Lilli … halb erfroren, mitten in diesem See aus Schneeblut. Er musste sie schleunigst ins Trockene bringen.

Er bückte sich, berührte sanft ihre Schulter. »Lilli …«

Himmel noch mal, was war hier nur los? Als sie kein Zeichen gab, dass sie ihn wahrnahm, hob er Lilli kurzentschlossen auf seine Arme und brachte sie ins Boot.

Unten angekommen, bettete Alex sie auf die Koje. Er nahm ihr die Kamera aus den klammen Händen, zog ihre blutgetränkten nassen Sachen vorsichtig aus. Hastig raffte er alle Decken zusammen, die er finden konnte, und wickelte Lilli darin ein. Aus der Tischschublade holte er Kerzen und Teelichter, verteilte sie um die Koje und zündete sie an. Dann streifte Alex seine Schuhe ab und legte sich zu Lilli. Insgeheim verfluchte er jetzt seine wechselwarme Veranlagung. Von draußen hatte er die Kälte mitgebracht und hatte somit keine Chance, Lilli zu wärmen. Dennoch nahm er sie fest in seine Arme und rieb kräftig ihren Rücken. Er hielt erst inne, als er merkte, dass sie stumm zu weinen begann. Verzweifelt ließ Alex es geschehen, hielt Lilli noch fester, als könnte er sie vor dem Grauen draußen beschützen.

Auf dem Weg hierher hatte er sich darauf eingestellt, dass etwas Schlimmes passiert war. Die ersten Spuren im Feld, der seltsame Geruch. Nichts von dem hatte ihn aber auf diese Gräueltat vorbereitet.

Wieso war Lilli nur so früh hierhergekommen?

Sie beruhigte sich allmählich in seinen Armen. Das stumme Weinen, das ihren Körper geschüttelt hatte, wich einem leisen Wimmern.

Es trieb Alex nun doch die Tränen in die Augen. Er spürte deutlich, dass Lilli Schmerzen hatte und das verwirrte ihn zusätzlich. Sie war unverletzt, wie er sofort erkannt hatte, doch etwas schien ihr die Brust zu zerreißen. Ein Schmerz wie aus einem anderen Leben. Seine Sorge wuchs. Er versuchte, dies zu begreifen, hütete sich aber, sie zu fragen, aus Furcht vor der Antwort. Während er sie fest umschlungen hielt, überstürzten sich seine Gedanken. Wer würde so etwas tun? Es kam nur eine Person in Frage, gab er sich sogleich die Antwort. Jemand, der schnell genug war, einen Delfin zu jagen und einzufangen. Jemand, der so kräftig war, einen ausgewachsenen Tümmler aus dem Meer hierher zu schleppen. Und der nichts mehr hatte, was menschlich war. Aber warum der aufgeschlitzte Bauch? Es hätte gereicht, den Delfin einfach an Land zu bringen, um ihn zu töten. Warum ihm noch eine solche Wunde zufügen? Noch mehr Schmerzen? Oder Blut …?

Black war das Männchen im Paar gewesen, mit dem Alex sich vor langer Zeit auf Thalassa 3 angefreundet hatte. Als er letztes Jahr an Land gegangen war, waren die Tümmler ihm bis nahe der Küste gefolgt. Lilli kannte die beiden Delfine auch, er hatte sie ihr im vergangenen Jahr kurzentschlossen vorgestellt. Zu jener Zeit war das Tümmlerpärchen das Einzige, was er ihr aus seiner Welt zeigen konnte, ohne sein Geheimnis preiszugeben. Die Tiere hatten sie sofort akzeptiert und Lilli hatte sie getauft. Der dunkelgraue, fast schwarze Rücken des Männchens hatte sie auf den Namen Black gebracht. Und der helle Bauch des Weibchens bot sich für White an.

Hatte sie den Delfin erkannt?

Alex presste seine Stirn an Lillis Rücken, hielt sie weiter fest umschlungen. Er hatte es gewusst! Er hatte gewusst, dass es noch nicht vorbei war.

Letztes Jahr hatten die Ereignisse zwar eine gute Wendung genommen, sie hatten Rex und dessen Mannschaft beseitigt. Lilli hatte es mehr oder weniger heil überlebt und langsam war der Alltag zurückgekehrt. Doch tief im Inneren hatte Alex gewusst, dass die Normalität nur eine Pause darstellte. Danya war ihnen entwischt und niemand aus seinem Team glaubte ernsthaft daran, dass sie für immer untergetaucht war. Marc, seinem besten Freund und Danyas Bruder, hatte Alex versprechen müssen, sie zu finden. Seraphim, seinem Mentor, hatte er ebenfalls versichert, die Abtrünnige aufzutreiben. Alex hatte es aber aufgeschoben, hatte irgendwann sogar vergessen, dass sich da draußen eine Auserwählte mit dem Bösen in der Seele herumtrieb. Er hatte sich zu sehr darauf verlassen, dass seine Freunde auf Thalassa 3 sich darum kümmerten. Das war ein Fehler, wie er jetzt einsah. Er hätte die Suche nach Danya zu seiner wichtigsten Aufgabe machen müssen. Er hätte es nicht so weit kommen lassen dürfen, dass sie Zeit gewann und den ersten Schritt wagte. Denn dass der tote Black das Werk Danyas war, wusste Alex mit untrüglicher Sicherheit. Einen Moment war er geneigt, der Überlieferung der Thalassier zu glauben: dass die Monster dieses Leben verlassen und für immer an einem Ort der Finsternis blieben, ohne die Möglichkeit, sich ein neues Leben auszusuchen. Doch darauf wollte er lieber nicht vertrauen, dachte er voller Abscheu. Danya musste noch in diesem Leben bestraft werden!

Langsam wurde Lilli ruhiger. Nach Ewigkeiten, in denen sie einfach nur dalagen, drehte sie sich um und schaute ihn mit geröteten Augen an. »Es ist Black, nicht?«

Alex nickte.

»Ich konnte ihn nicht retten«, sagte sie matt.

»Du hättest nichts ausrichten können«, antwortete Alex kraftlos. »Selbst ich kann nichts mehr für ihn tun.«

»Ich hatte wahnsinnige Schmerzen. Hier. Warum hat es mich fast umgebracht?« Lilli legte die flache Hand auf ihre Brust.

Das war der Schmerz, den auch er gespürt hatte. Schock allein kann es nicht gewesen sein, überlegte er. Eine Verletzung allerdings auch nicht. Jedenfalls nicht Lillis Verletzung. Beunruhigt betrachtete Alex ihre Hände, die sich unaufhörlich über ihrer Brust kneteten, als könnten sie eine unsichtbare Schmerzquelle beseitigen.

»Wie geht es dir jetzt?«, fragte er vorsichtig zurück, da er keine Antwort wusste. Gleichzeitig hoffte er, dass sie die eine Frage nicht stellte, die Frage nach dem Täter.

»Der Schmerz ist fast weg. Aber vorhin, draußen, da dachte ich, ich ersticke. Ich war dann ganz weg, bewusstlos. Alex, was war mit mir los? Es macht mir Angst.«

Alex setzte an, doch Lilli sprach auch schon weiter: »Und dann diese Bilder, als hätte ich Blacks ganzes Leben gesehen. Als wäre ich Black gewesen! Ich habe auch dich gesehen.«

Ein Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Er wischte sich über die brennenden Augen. Verflixt, war das verrückt! Hatte sein Mentor doch recht und Lilli war mehr als ein gewöhnliches Menschenmädchen? Alex musste allerdings seine Vermutung noch für sich behalten, sich an logischen Erklärungen festhalten. Denn was Seraphim glaubte, lag im Bereich von Legenden und Magie.

»Delfine stoßen Schallwellen aus, für menschliche Ohren nicht wahrnehmbar. Damit orten sie. Im Wasser spüre ich diese Schwingungen, wenn ich in ihrer Nähe bin. Kann sein, dass Black im Sterben solche Wellen ausgesendet hat. Und diese trugen seinen Schmerz zu dir. Du warst wie ein Empfänger.« Alex machte eine kleine Pause, in der er überlegte, ob er ihr eine weitere Theorie erzählen sollte. Er entschied sich dafür.

»In unserer Überlieferung steht geschrieben, dass im Anfang alles Leben eins war. Legenden, Mythen, Götter, Natur und alle Lebewesen existierten in Symbiose. Es heißt, dass unsere Vorfahren, die Ur-Amphibien, mit allem eng verbunden waren, und dass sie mit anderen Lebewesen kommunizierten. Die Wasseramphibien spüren seit Urzeiten diese Verbindung wie eine nahe Verwandtschaft. Wir sind heute noch in vielem dieselben Geschöpfe der Natur wie vor Millionen Jahren. Manche sagen, wir werden nie diese Triebe ablegen oder kontrollieren können. Sie denken, wir werden immer noch gelenkt von den Instinkten, wie sehr wir uns auch bemühen, den Gesetzen einer Kultur oder Zivilisation zu gehorchen. Vielleicht haben Menschen diese Instinkte ebenfalls und fühlen wie früher die Verbundenheit zur Natur. Es wäre doch denkbar, dass besonders sensible Menschen das Leid eines Tieres erkennen können, wenn sie ihm nahe standen. Und womöglich stimmt es«, schloss Alex, »dass einige, wenn sie das Blut eines Tieres berühren, sein Leben mit den eigenen Augen sehen können.«

Vielleicht ist es aber auch die Tatsache, dass wir uns nahe sind, obwohl es gegen die Gesetze unserer Welt verstößt. Oder die Fünfte der fünften Tochter in dir erwacht. Diese Gedanken sprach Alex jedoch nicht aus. Er musste es für sich behalten. Vor allem, was Seraphim über Lillis Stammbaum herausgefunden hatte. Er wollte sich zunächst selbst überzeugen. Denn bis heute schien ihm die Theorie seines Mentors ziemlich an den Haaren herbeigezogen. Noch blieb Zeit, den natürlichen Lauf der Dinge abzuwarten. Aber es wurde immer deutlicher, dass in Lilli mehr schlummerte. Eine beunruhigende Erkenntnis. Zumal er nicht wusste, wie viel von diesen Veränderungen an ihm lagen.

»Was meinst du mit Verwandtschaft?«, unterbrach Lilli seine Überlegungen. Sie zog die Stirn in Falten. Offensichtlich hatte sie sich seine Worte durch den Kopf gehen lassen.

»Seelenverbündete. Wesen, die auf eine geheimnisvolle Weise miteinander verwoben sind. Unsere Heiler nutzen manchmal diese Verbindung, um uns gesund zu machen. Frag mich nicht, wie. In den meisten Fällen funktioniert es.« Alex richtete sich auf und bettete Lillis Kopf auf seine Oberschenkel. In Gedanken versunken streichelte er ihre Stirn.

»Heißt es wirklich, dass man durch das Berühren von Blut, die … Gedanken eines Delfins sehen kann?«, fragte Lilli nach einer langen Schweigeminute.

Alex schaute zu ihr hinunter, sein Herz zog sich zusammen. Sie sah blass und krank aus. Er musste sich zusammenreißen, mit ihr so normal wie möglich reden. Sie beruhigen, indem er erklärte. Sie brauchte jetzt etwas, woran sie sich festhalten konnte. Logische Infos, Zusammenhänge. Damit konnte er ihr helfen, den Schock zu verkraften. Und sich selbst ablenken.

»Es steht in der Überlieferung«, begann er und zwang sich, seiner Stimme einen neutralen Ton zu geben, »dass manche von uns diese Gabe besitzen. Ich selbst glaube nicht daran. Es sei denn, man meinte uns Auserwählte. Denn dass wir besondere Gaben haben, ist unbestritten. Die Legenden sagen, dass das Blut die Essenz eines Tieres, seine Lebensquelle ist. Dass es Erlebnisse, Instinkte und Gefühle speichert. Manche kommen durch Berühren des Blutes dem Lebewesen so nahe, dass sie durch seine Augen sehen. Jetzt, wo du mir das erzählt hast, muss ich wohl meine Einstellung zu diesem Kapitel überdenken. Wer weiß schon, vielleicht gibt es ja auch Menschen, die das können. Wir haben schließlich gemeinsame Wurzeln: die Ur-Amphibien. Wenn wir unsere Fähigkeiten bewahrt haben, wieso nicht auch ihr Menschen? Auf jeden Fall glaube ich, dass es für die, deren Instinkte noch stark sind, nichts Verlockenderes als Blut gibt.«

»Hm«, machte Lilli an dieser Stelle und rümpfte die Nase.

Ihr war anzusehen, dass sie nicht ganz überzeugt war. Ihr Gesicht entspannte sich aber ein wenig. Sie schien fürs Erste mit seiner Erklärung zufrieden zu sein. Sie wäre allerdings nicht seine Lilli, wenn sie nicht weiterbohren würde.

»Du sagst, wir stammen von den Ur-Amphibien ab. Ich habe in der Schule etwas anderes gelernt.«

»Bei dem, was sie euch in der Schule beigebracht haben, fehlt garantiert ein Teil. Aber zu Darwins Entschuldigung sei gesagt, dass er das wirklich nicht hatte wissen können. Die eigentliche Geschichte der Menschheit beginnt im Urmeer, wie alles Leben.«

»Nun, bisher stimmt deine Theorie mit unserer überein«, sagte Lilli mit erschöpfter Stimme.

Alex sah sie mit gespielter Verwunderung an. Als er weitersprach, bemühte er sich um Leichtigkeit in der Stimme. »Wirklich? Gut. In unserer Geschichte geht es aber so weiter:

Im Urmeer entstanden die ersten Formen von Leben. Im Laufe von Jahrtausenden entwickelten sich dort die Ur-Amphibien. Damals sahen wir natürlich noch nicht so aus wie heute.«

»Du meinst, ihr seid nicht so hübsch gewesen?«, warf Lilli ein.

Alex klimperte als Antwort mit den Wimpern und verspürte gleichzeitig Erleichterung, dass Lilli sich entspannte.

»Genau das meine ich«, sagte sie. »Du weißt, was du anrichtest, wenn du das mit diesen unglaublichen Wimpern machst?«

»Habe ich vergessen, du musst mich erinnern«, flüsterte er.

Doch Lilli ging nicht weiter auf sein Ablenkungsmanöver ein. Sie schaute in Gedanken versunken an ihm vorbei, ihr Gesicht war erneut traurig.

Ihre düsteren Erinnerungen zerstreuen, weitere Erklärungen aussprechen, Logik und Fakten. Alles, was sie vom Erlebten ablenkte, war willkommen, selbst wenn es wie ein Vortrag in der Schule klang. Alex räusperte sich und stellte fest, dass auch er sich gewaltig zusammenreißen musste. Immer wieder zuckte das schreckliche Bild von der Lichtung durch seinen Kopf.

»Jedenfalls waren unter den ersten Tieren, die die Erde bevölkerten, die Vorfahren der Delfine. Die Ichthyosaurier. Vor etwa zweihundert Millionen Jahren entwickelten sich daraus die Ur-Amphibien. Sie konnten im, aber auch über Wasser atmen. Als ein Asteroid an Land alles Leben zerstörte, haben sie unter Wasser trotzdem überlebt. Allerdings spaltete sich die Art danach. Ein Teil davon ging ganz an Land. Im Laufe etlicher Hunderttausender von Jahren zweigte sich eine Art von den Landamphibien ab und passte sich den Bedürfnissen des Landlebens an. Zum Beispiel verschwanden die Kiemen. Dieser Zweig der Landamphibien ging schließlich in eine ziemlich eigensinnige Richtung. Sie entdeckten den aufrechten Gang. Ab hier dürfte die Evolutionstheorie dann wieder mit eurer übereinstimmen. Die wissenschaftliche Variante jedenfalls. Dass unsere Überlieferung auch was von einem neuen Leben nach dem Tod sagt, ist die mythische Seite des Ganzen.«

»Du meinst, dass der Mensch die Brücke zu seinen Vorfahren, den Landamphibien, abbrach?«, fragte Lilli. »In der wissenschaftlichen Variante?«

»So war es. Aber auch die Landamphibien veränderten sich. Äußerlich jedenfalls. Sie sahen der dominierenden Art an Land immer ähnlicher. Heute kann man sie nicht mehr von den Menschen unterscheiden. Sie behielten aber ihre Amphibieneigenschaften in ihrem Erbgut. Weil die Evolution eine kluge und geschickte Meisterin der Anpassung und Tarnung ist, versteckte sie ihre wahre Natur hinter einem unauffälligen Äußeren. Dennoch enthält ihr Erbgut bis heute die Eigenschaften der Landamphibien. Dieses Erbe wird nur aktiviert, wenn das Überleben auf dem Spiel steht, und was verborgen war, tritt dann ans Licht.«

»Und der andere Zweig der Menschenamphibien?«, fragte Lilli.

Sie sahen einander an.

Alex fuhr fort: »Das sind wir. Wir blieben im Meer und entwickelten uns dort weiter. Allerdings ging es bei uns etwas schneller. Na ja, wenn man über Evolution redet, heißt in diesem Fall schnell natürlich ein paar hunderttausend Jahre. Wir sahen schon sehr bald wie heute aus, erschafften eine Kultur. Und als die Menschen an Land voranschritten, schauten wir uns das eine oder andere dort ab.«

»Aha«, kommentierte Lilli an dieser Stelle. »Geklaut habt ihr.«

Alex kniff sie in die Schulter, doch er musste unwillkürlich grinsen. »So würde ich es jetzt nicht nennen«, gab er mit gespielter Empörung zurück.

Lilli schnaubte, sagte aber wieder ernst geworden: »Die Landamphibien lebten also gut getarnt durch ihr Aussehen unter den Menschen. Ich nehme an, es existierten kaum Möglichkeiten, sich an Land zu verstecken?«

»Die gab es bald nicht mehr. Und so mischten sie sich unter die Menschen, gründeten Familien und bekamen deren Kinder.«

»Das finde ich okay. Warum habt ihr das nicht geklaut? Euch mit uns zu ... vermischen?«

Alex war einen Moment sprachlos, doch dann musste er auflachen. »Ich vermische mich doch oft genug mit einem Menschen, oder nicht? Einem sehr hübschen Menschenmädchen.«

Lilli lächelte schwach.

Endlich löste sich die Anspannung und Alex atmete tief durch. Wobei ihm klar war, dass der Schock für beide noch längst nicht überwunden und das Gespräch nur eine oberflächliche Beruhigung war.

»Darf ich weitersprechen?«, fragte er mit einem gespielt sarkastischen Unterton.

Als Lilli wieder ihr Gesicht ernst werden ließ, wobei sie ihm deutlich zeigte, dass sie das Zuhören etwas Anstrengung kostete, fuhr Alex fort: »Die Landamphibien können also ihr Leben lang menschlich bleiben. Wenn in einer Familie diese Gene existieren, können sie zwar erwachen, müssen es aber nicht. Wir dagegen sind von Geburt an Wasseramphibien. Und wir halten uns seit Ewigkeiten vom Leben an Land fern.«

Lilli hatte die Augen geschlossen, öffnete sie, als Alex nun verstummte. »Da fällt mir etwas ein«, murmelte sie. »Ich habe vor ein paar Monaten Eugenes Mutter im Internet kennengelernt. Es war so merkwürdig. Als Neunjährige hat sie ihre Eltern bei einem Bootsunglück verloren. Sie behauptet bis heute, dass eine Frau aus dem Meer sie gerettet hätte. Nicht alle Wasseramphibien scheinen der Welt an Land feindlich gesinnt zu sein.«

Alex schluckte. Die Erwähnung von Eugenes Namen machte ihn jedes Mal wütend. Doch er unterdrückte seinen Zorn, es wäre heute kein gutes Gesprächsthema. »Feindlich sicher nicht, nur distanziert. Was Menschen angeht. Was Landamphibien dagegen angeht, so stimmt feindlich tatsächlich.«

»Seltsam«, sagte Lilli nach einer Weile gedankenverloren, »gemeinsame Wurzeln und dennoch tief verfeindet. Andererseits ist es bei den Menschen noch schlimmer. Die gleiche Art und doch führen Menschen gegeneinander Kriege.« Sie runzelte die Stirn. »Hast du auch die Schmerzen vorhin gespürt?«, wechselte sie das Thema.

Alex seufzte und biss sich auf die Lippen. Plötzlich war ihm wieder schwer ums Herz. »Nicht wie du. Der Delfin war schon tot, vermutlich habe ich deinen Schmerz gespürt. Unser Seelenband lässt uns auch immer etwas von dem empfinden, was der andere erlebt.« Er machte eine Pause, dann stellte er die Frage, die ihn seit vielen Minuten beschäftigte: »Hast du in den Erinnerungen Blacks gesehen, wer ihm das angetan hat?«

Lilli blickte erschrocken zu ihm auf. Sie schien zunächst nicht zu begreifen, was Alex da fragte. Doch dann nickte sie langsam. »Black hat es nicht kommen sehen. Seine Mörderin hat es geschickt angestellt, als sie ihn eingefangen hat. Sie hat aber nicht damit gerechnet, dass er sich aufbäumen würde. Und für den Bruchteil einer Sekunde habe ich Danyas Gesicht sehen können.«

Alex sträubten sich die Nackenhaare.

Lange schwiegen sie.

Schließlich unterbrach Lilli die Stille. »Kann man überhaupt bei Tieren von Gefühlen reden?«

»Aber sicher!«, rief Alex, froh, von seinen finsteren Gedanken abgelenkt zu werden. Von seiner wiedererwachten Wut auf Danya, die in ihm heftiger kochte denn je. Er hatte Mühe, seine Stimme zu kontrollieren. »Natürlich sind sie nur bedingt mit menschlichen Regungen vergleichbar. Aber nimm zum Beispiel Hunde. Du hast sicher beobachtet, wie sie spielen. Da kannst du nicht ernsthaft abstreiten, dass sie Freude dabei empfinden.«

Ein kaum sichtbares Lächeln huschte über Lillis Antlitz. »Ich habe auch den Paarungsakt bei Black gesehen. Es war berauschend. Wie vollkommenes Glück. So unmittelbar.«

»Auch Delfine haben dabei Spaß, nehme ich an. Da hast du den Beweis, dass sie Gefühle haben. Anders als bei Menschen sind sie nicht gefiltert durch den Verstand oder durch die Regeln der Gesellschaft. Keine Gedanken, keine Moralvorstellungen, kein Gewissen. Nur nackte Emotion.«

Einen Moment lang herrschte Stille, dann sagte Lilli: »Es ist schön in deiner Welt. Die vielen bunten Fische. Und diese Unterwasserlandschaften! Ich hätte nicht gedacht, dass es so spannend da unten ist. Die Siedlung erst! War das Thalassa 3?«

»Wie sah sie aus?«

»Ein mehrstöckiges Gebäude aus einem riesigen Felsen gehauen. Darüber schwebten unglaublich lange Tangblätter. Die waren echt, oder? Und da waren … gewölbte Fenster. Licht schimmerte hindurch. Es sah wie ein leuchtendes Wesen von einem fremden Stern aus.«

Alex lachte leise. »Das ist Thalassa 3. Es ist seltsam, dass du es gesehen hast.«

»Seltsam, ja. Andererseits freue ich mich. Ich will deine Welt besuchen. Nimmst du mich mal mit?« Sie schaute ihn erwartungsvoll an.

Die Vorstellung beschäftigte Alex selbst seit geraumer Zeit. So gern hätte er Lilli sein Zuhause gezeigt! Doch es verstieß gegen ihre Regeln. »Eines Tages nehme ich dich mit«, sagte er dennoch.

»Das klingt so, als wäre dieser Tag noch weit weg.«

»Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Ich überlege mir einen Weg. Du musst wissen, dass es verboten ist.«

»Das dachte ich mir. Aber vielleicht ergibt sich eine Gelegenheit.«

Alex nickte. »Davor nimmst du mich in deine Welt mit.«

Sie schaute ihn mit Unverständnis an.

»New York. Deine Heimat«, sagte er mit Nachdruck.

»Ach so«, machte Lilli. »Ja, die.«

»Was heißt ja, die?«

»Es ist irgendwie nicht mehr so ganz meine Heimat. Die ist jetzt hier. Bei dir.«

Alex spürte, wie ihn Freude durchströmte. »Trotzdem werden wir eines Tages in New York Hand in Hand durch die Avenues und Streets schlendern«, sagte er.

»Schlendern kannst du in New York nie. Du wirst durch die Stadt rauschen. Denn sie nimmt dich sofort mit in ihre pulsierende Mitte. Es gibt kaum Orte dort, die still und ruhig sind. Vor Jahren existierte ein solcher Platz, nach dem Unglück. Am Ground Zero. Als es passiert war, war ich noch ein Kind. Eines Tages, etwa ein Jahr danach, bin ich mit meiner Klasse dorthin gegangen. Es war das Seltsamste, das ich je in New York erlebt habe. Und das will was bedeuten. Das umzäunte Gebiet war gespenstisch still. Leute liefen an den Zäunen entlang, hielten vor Zetteln inne, die immer noch überall hingen. Sie galten denen, die noch vermisst wurden, oder dort gestorben sind. Zwischen Polizisten am Zaun standen Menschen, weinten still oder schauten nur entsetzt auf den Platz hinunter. Ich hatte meine Fotokamera dabei, sollte Bilder für die Schülerzeitung machen. Doch ich war wie gelähmt. Ich habe die Kamera einer Klassenkameradin überlassen. Es war mir nicht möglich, zu fotografieren, so bedrückend wirkte dieser Platz. Nie werde ich die Stille dort vergessen. Wenige Blocks weiter hat mich das pulsierende Leben der Stadt wieder aufgenommen und doch war es in mir so leer und still gewesen wie nie zuvor und auch nie danach in dieser Stadt. Erst hier am Meer habe ich wieder ein bisschen davon wiedergefunden. Obwohl es natürlich eine ganz andere Art von Ruhe ist. Sie existiert nicht durch Trauer, Schmerz und Tod.«

Alex streichelte ihr über die Schulter. »Ja, das Meer ist stiller als die Welt darüber. Aber auch in seinem Herzen gibt es Schmerz und Tod. Überleben, Jagen und Fressen überall. Es gibt viele Ground Zeros in meiner Heimat. Orte, an denen gestorben wird. Doch haben diese Tode nichts Unnatürliches an sich. Die Kreaturen des Meeres töten nicht aus Hass.«

Lilli sagte lange nichts. Ihr Gesicht war angespannt, sie dachte offensichtlich über etwas Schmerzhaftes nach.

»Doch!«, platzte es plötzlich aus ihr heraus. »Auch im Meer gibt es Kreaturen, die aus Hass töten. Danya hat es getan.«

Wut floss in Lillis Gesichtszüge, verhärtete sie und vertrieb alles Liebliche daraus. Alex hatte sie nur einmal mit diesem Gesichtsausdruck gesehen. Als sie erfahren hatte, was Rex vorhatte. Ja, sie hatte recht. Es gab natürlich auch im Meer Wesen, die aus Hass bereit waren, zu töten. In Zeiten, in denen das Böse wiedererwachte, in denen sich gescheiterte Auserwählte herumtrieben. Er erzitterte, als hätte sich Lillis Wut mit seinem Herzen verbunden, wie noch vor Minuten ihr Schmerz sich auf ihn übertragen hatte. Er behielt seine Überlegungen für sich.

»Ich kümmere mich um Black«, sagte Alex abrupt und erhob sich.

Lilli setzte sich auf, fragte nicht weiter. Mit gequältem Blick sah sie ihm zu, wie er seine Kleidung abstreifte. Wieder traten Tränen in ihre Augen.

Bevor er nach draußen verschwand, gab Alex ihr einen Kuss auf die Stirn und wischte ihre Tränen weg. »Versuch, zu schlafen. Ich bin bald zurück«, sagte er mit erstickter Stimme.

Lilli nickte, doch sie sah nicht aus, als könne sie jetzt einschlafen. Kurz hatte es den Anschein, als wolle sie ihn zurückhalten. Sie drückte ihn aber nur einen Moment an sich.

Er lächelte, hinter diesem Lächeln verbarg er seinen brennenden Schmerz. Schnell wandte er sich ab.

Als Alex ins Freie trat, traf ihn erneut der Anblick seines getöteten Freundes bis ins Mark. Nur mühsam beherrschte er sich. Es hatte aufgehört zu schneien. Alex erkannte im harten Licht des Morgens die unterschiedlichen Fußspuren im Schnee. Lillis waren frischer als die, die zu Black und wieder von ihm weg führten. Eine Reihe von Spuren gingen aus dem Feld auf die Lichtung zu der Stelle, wo Lilli gelegen hatte. Die Fährte der Mörderin, dachte Alex grimmig und biss sich in die Hand, um nicht laut bei der Vorstellung aufzuschreien, dass Danya womöglich bei der bewusstlosen Lilli gewesen war. Er zitterte am ganzen Körper.

Endlich hatte er sich so weit im Griff, dass er es schaffte, zu Black zu wanken. Er schulterte den Delfin und machte sich auf den Weg Richtung Meer. Die Stängel der Zuckerrohrpflanzen peitschen ihm ins Gesicht, auf Schultern und Oberkörper und spitze Steine schnitten unter seiner Last in seine Fußsohlen. Doch das war nichts gegen den Schmerz in seinem Inneren.

Alex erreichte den Rand des Feldes, blickte sich um. In diesem Moment wehte der Wind das entfernte Geräusch eines Autos herüber. Es kam vom Anwesen auf dem Hügel, Lillis Zuhause. Schnell trat er mit seiner Last zurück ins Feld. Das Auto fuhr vorbei und er duckte sich, doch erhaschte er einen Blick auf zwei junge Männer, die sich angeregt unterhielten. Erst als das Motorengeräusch verstummt war, spähte er erneut auf die Straße. Nichts. Nur von weit hinten drang das leise Schluchzen Lillis aus dem Boot zu ihm. Sein Herz krampfte sich zusammen. Er schulterte Black wieder und lief zum nächsten Durchgang im Berg. Mit großen Schritten stapfte er durchs Wasser, zog den Körper mit sich hinab in die Tiefe.

Es wurde still um ihn herum. Die Kälte des Wassers beruhigte Alex etwas, obwohl er seine schreckliche Fracht immer noch festhielt. Eine Blutwolke löste sich von Black und hinterließ einen durchsichtigen rötlichen Vorhang. Je tiefer er kam, desto dunkler und ruhiger wurde es. In seiner Welt war es trotzdem nie vollkommen leise.

Hier und da vernahm Alex ein Knacken und Rascheln, ferne Geräusche von Schiffen. Und wenn er ganz genau hinhörte, konnte er Fischschwärme hören; Möwen, die über dem Wasser dahinzogen, sogar den Gesang weit entfernter Wale. Seltsam, dachte er, was man in Zeiten großen Schmerzes bewusst wahrnahm.

Ein Pfeifen unterbrach plötzlich die Stille. Aus der Finsternis des offenen Meeres tauchte geisterhaft der Umriss eines Delfins auf. White.

Alex hielt inne, drückte kurz Black an sich und stieß ihn dann mit steifen Bewegungen zu White hinab.

Einen Moment dachte er, die Delfindame würde wie gelähmt stillhalten. Doch schon schwamm sie unruhig um den sinkenden Körper, gab dabei nervöse Klicklaute von sich und drehte sich schwindelerregend um die eigene Achse.

Alex blickte White lange nach, rührte sich nicht. Das Meer schien mit ihm den Atem anzuhalten.

Als beide, der toten und der lebende Tümmler, in den dunklen Abgrund verschwunden waren, kehrte Alex zurück. Er erreichte bald seichtere Tiefen. An einem Felsen rollte er sich zusammen und schloss die Augen. Er wusste nicht, wie lange er so am Meeresgrund verharrte, betäubt vom Schmerz.

Sanfte Schallwellen streiften seine Haut, er öffnete die Augen. Alex blickte in das braune Auge von White. Er richtete sich auf und streckte ihr seine Hand entgegen. Nur zögerlich schwamm White heran und schmiegte ihren Schnabel an seine Hand. Hätte er es nicht besser gewusst, hätte er wetten können, die Delfindame weinte. Etwas irritierte Alex, ein Geräusch wie ein zweiter Herzschlag. Als halle Blacks Herzschlag in White nach. Doch er tat es als Einbildung ab. White drückte noch einmal ihren Schnabel an seine Hand, blickte ihn traurig an und zog dann mit leisen Flossenbewegungen davon.

Allein der Gedanke an Lilli trieb ihn schließlich zur Rückkehr an. Sie brauchte ihn jetzt, sie sollte nicht zu lange allein bleiben.

Wenig später erreichte er das Ufer. Eine Sache sollte er erledigen, bevor er zurück zu Lilli ging: den blutigen Schnee beseitigen.

Schnell machte sich Alex an die Arbeit. Er kratze die blutgetränkte Spur, die sich vom Rand des Zuckerrohrfeldes durch den Tunnel im Berg und bis zum Ufer zog, zu einem Haufen zusammen, formte daraus einen großen Schneeball und brachte ihn ans Meer. Dort warf er ihn ins Wasser, schaute zu, wie er langsam unter der Oberfläche verschwand und sich auflöste.

Sein Blick wanderte zum Horizont. Der Umriss eines fernen Schiffes, der wie ein verblasster Scherenschnitt anmutete, für ein menschliches Auge nicht mehr erkennbar, hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Seltsam, dass er die Schiffsturbinen unter Wasser nicht gehört hatte. Es war beinahe so, als triebe es ohne Motoren hinter die Horizontlinie.

Er hielt sich nicht weiter damit auf. Bei seinem letzten Gang zurück ins Zuckerrohrfeld verwischte Alex seine Fußspuren im Schnee. Schließlich erreichte er die Kajütentreppe. Ein kalter Luftzug begleitete ihn, als er hinabstieg und zu Lilli trat.

Sie richtete sich auf. Aus geröteten Augen blickte sie ihm entgegen. Noch immer sah sie fahl und aufgewühlt aus und hatte es eindeutig nicht geschafft, zu schlafen.

»Es tut mir so leid. Ich weiß, wie gern du den Delfin hattest«, sagte Lilli und wischte sich über das Gesicht.

Alex setzte sich auf den Boden neben die Koje. Wasser tropfte auf die Holzplanken. »Sie war so traurig.«

Eine Hand legte sich winterkalt auf seine nackte Schulter. »Wer?«, fragte Lilli leise.

»Ich habe Black zurück ins Meer gebracht. White muss sich in der Nähe der Küste aufgehalten und auf ihn gewartet haben. Sie hat den toten Körper ihres Partners umkreist, ist ihm bis zum Meeresgrund gefolgt.« Alex stockte, holte gepresst Atem, bevor er weitersprach. »Sie ist zurückgekommen und hat mich lange angesehen, als hätte sie gewartet, dass ich ihren Black rette. Ich habe noch nie einen Delfin so traurig gesehen. Selbst ihr immerwährendes Lächeln war weg. Ich weiß nicht, ob es Tiere gibt, die weinen, doch White tat es auf ihre Art.«

Lilli sagte eine Weile nichts. Mit zusammengekniffenen Augen und ausdruckslosem Gesicht lag sie nur da.

Seine Trauer verwandelte sich langsam in Wut. Sie begann in ihm zu brodeln wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Seine Kiefer schmerzten, so fest biss er die Zähne zusammen. In diesem Moment konzentrierte sich sein ganzer Hass auf Danya. Alex schwor sich, nicht eher zu ruhen, bis er sie gefunden hatte.

»Warum hat Danya das getan? Warum hat sie Black abgeschlachtet?«, hörte er Lilli mit belegter Stimme fragen.

Alex schluckte ein paar Mal. Erst dann konnte er antworten.

»Ihre Art, uns zu sagen, dass wir als Nächstes dran sind.«

 

4.
Freier Fall

 

Der Schatten sprang nicht. Er löste sich von der Klippenwand, als hätte der Fels ihn mit unsichtbaren Fingern angetippt. Mit wehenden Kleidern stürzte die Gestalt in die Tiefe. Etwas flatterte kurz auf, bevor es im Meer versank.

Der Aufschlag aufs Wasser drang zu ihnen, einem Händeklatschen gleich, unwirklich wie die Szenerie selbst. Einen Augenblick später war es, als sei es nie passiert. Die drei Freunde, die in ihrem stummen Schreck dicht beieinanderstanden, waren die einzigen Zeugen des Unglücks. Wie eine bestellte Kulisse tat sich darüber ein dramatischer Himmel auf. Dunkle Wolken trieben rasch dahin, als wollten sie den Schauplatz des Geschehens eiligst verlassen.

Eugene kam als Erster wieder in Bewegung. Er rannte los. Im Laufen riss er sich die Jacke, das Sweatshirt und T-Shirt vom Körper. Schon war er im Durchgang verschwunden, der zum Meer führte, nur noch mit Jeans und Schuhen bekleidet.

Toni und Chris erwachten aus ihrer Starre.

»He, bist du verrückt? Willst du echt ins eisige Wasser?« Tonis Stimme hallte am Berg wider. Er packte Chris am Arm und zerrte ihn in Richtung Ufer, Eugene hinterher.

Sie fanden Eugenes Socken, Schuhe und Jeans am Steg verstreut.

»Kommt schon!«, rief ihnen Eugene zu. »Das Wasser ist nicht so kalt.« Er erreichte das Ende des schmalen, von schäumenden Wellen überspülten Holzstegs. In seinem Gesicht stand Widerwille, sich ins Meer zu stürzen. Doch auch Entschlossenheit. Er setzte sich und tauchte erst seine Füße ein, dann glitt er ganz ins Wasser und begann hastig zu schwimmen.

Chris schüttelte ungläubig den Kopf. Toni hatte den Mund aufgeklappt, als wolle er etwas sagen. Atemwölkchen lösten sich von ihren Lippen, während sie sich sekundenlang anstarrten, unfähig zu entscheiden, was sie tun sollten. Wortlos begann Chris schließlich, sich auszuziehen und Toni tat es ihm gleich. Gemeinsam liefen sie, nur mit ihren Unterhosen bekleidet, über den eiskalten, nassen Steg bis zum Ende, setzten sich und ließen ihre Beine ins Wasser gleiten.

Toni umschlang seinen Oberkörper mit beiden Armen, als könne er sich so vor der Kälte schützen. »Mierda! Von wegen, das Wasser ist nicht so kalt! O-okay, Mann.« Seine Zähne klapperten. Als er langsam ins Meer tauchte, ging sein Atem stoßweise. Ausgiebig fluchte er auf Spanisch, bevor er sich wasserspuckend vom Steg löste.

Chris verzog sein Gesicht. »Shit! Ich kann nicht.« Er stand wieder auf und wich den Wellen aus, die seine Waden bespritzten.

»Bleib h-hier, ich schwimme zu Eugene. Es reicht, wenn einer von u-uns erfriert!«, rief Toni.

Chris nickte zerknirscht und zog sich zum Ufer zurück. Die Motorboote, die im kleinen Hafen zur Linken vertäut lagen, wogten auf und ab, laut schmatzend klatschten die Wellen gegen die Bootswände.

Toni schwamm, was das Zeug hielt.

»Hierher!«, schrie Eugene und fuchtelte wild mit den Armen, als er Toni entdeckte. Seine Zähne klapperten plötzlich und die Kälte brannte auf seiner Haut. Na gut, sommerlich ist die Wassertemperatur nicht gerade, aber auch nicht lebensbedrohlich kalt. Solange sein Körper noch Wärme gespeichert hatte, konnte er gut vorankommen. Im Wasser verlor man schneller an Körpertemperatur als bei Frost an Land. Eugene beeilte sich, die Stelle zu erreichen, wo die Person ins Meer gefallen war.

Er war gute dreißig Meter Richtung Felswand geschwommen, als sich schließlich doch die Kühle bis in sein Innerstes wühlte. In Bewegung bleiben, dachte Eugene. Schwimmen, rasch schwimmen! Kurz blickte er sich um, ob Toni ihm folgte. »Tauch du hier, ich schwimm weiter vor!«, rief er ihm zu, als er ihn knapp hinter sich entdeckte.

Toni nickte, öffnete ein paar Mal den Mund, um tief Luft holen und tauchte dann ab.

Nach mehreren kräftigen Schwimmzügen stieß auch Eugene mit dem Kopf voran in die Tiefe. Die Wellen schlugen über ihm zusammen. Salzwasser brannte in seinen Augen, doch er hielt sie offen. Mit steifen Gliedern bewegte er sich hinab.

An dieser Stelle war das Meer tief. Da es bewölkt war, wurde es bereits nach wenigen Metern dunkel um ihn. Eugene paddelte gegen die Auftriebskraft des Wassers an, aber bald spürte er den Druck auf seinem Trommelfell. Hektisch schaute er sich um. Die Kälte schnürte ihm allmählich die Brust zu und der Sauerstoff ging ihm aus. Eugene stieß sich zur Oberfläche zurück und füllte seine Lungen erneut mit Luft. Als er wieder in die Tiefe tauchte, stellte er verblüfft fest, dass er nicht mehr fror. Es war fast so, als hätte sich seine Körpertemperatur der des Wassers angepasst. Seine Glieder fühlten sich schwer an, kraftlos. Und sein Herz schien langsamer zu schlagen. Das wiederum, sagte er sich, musste er sich einbilden. Oder er starb gerade, dachte er im gleichen Moment. Wie die Opfer von Unterkühlung, die in einen traumartigen Zustand glitten. Dass er aber die Wasserwelt nun glasklar durchdringen konnte, als hätte er eine Taucherbrille an, sprach doch eher dagegen.

Ein Schwarm silbern schillernder Fische stob nach allen Seiten auseinander, als Eugene sich ihnen näherte. Kurz hatte er das Gefühl, mitten in einen Schneesturm geraten zu sein. Nur wenige Meter Richtung offenes Meer trieben die Fische wieder zusammen wie flüssiges Blei.

Aus dem Augenwinkel entdeckte Eugene jetzt etwas direkt unter ihm. Es driftete dem Meeresgrund entgegen. Was er Sekunden später zu fassen bekam, war aber nicht der Körper eines Menschen.

Er tauchte auf. Nachdem er das Salzwasser aus den Augen geblinzelt hatte, untersuchte er, was er aus der Tiefe heraufgebracht hatte. Bunt gestreifter Stoff, abgenutzt und schmutzig. Ein Seesack. Eugene schnürte ihn auf und griff hinein. Er bekam einen Geldbeutel zwischen die Finger, der mit Wasser vollgesaugt war, ertastete einen Schlüsselbund, einen fußballgroßen Steinbrocken und ein Knäuel Stoff. Er zog die Hand heraus und blickte in zwei schwarze Knopfaugen. Ein Plüschaffe? War das etwa der Seesack eines Kindes? Bevor Eugene einen viel grausameren Gedanken zu Ende denken konnte, drangen Schreie an seine Ohren.

Toni rief seinen Namen.

In diesem Augenblick blitzte Richtung offenes Meer etwas Helles auf, verschwand sofort wieder. Gerade als Eugene sich einreden wollte, dass es das Gesicht eines Menschen war, vernahm er die Stimmen seiner Freunde und er wendete sich ab.

»Eugene! Ich habe ihn!«

»Toni hat ihn, komm zurück!«, schrie Chris vom Ufer aus.

Toni erreichte in diesem Moment den Steg, schwamm um ihn herum und ging stolpernd und keuchend mit seiner Last an Land. Chris war ihm knietief ins Wasser entgegengelaufen und half nun, den leblosen Körper ans Ufer zu tragen.

Als Eugene am Ufer ankam, hatten die beiden den Mann auf den Kies gezogen und waren dabei, ihn wiederzubeleben.

Eugene schaute eine Weile gespannt Chris bei der Herzmassage zu. Dieser hatte übernommen, nachdem Toni versucht hatte, das Wasser aus den Lungen zu pumpen. Eugenes Instinkt sagte ihm, dass nichts mehr zu machen war, dennoch bückte er sich und griff ans Handgelenk. Kein Puls unter der kalten Haut. Er richtete sich auf und betrachtete die Gestalt.

Es war ein älterer Mann von kleiner Statur, hager und fast kahl. Die Kleider klebten ihm am Körper, seine Haut war so grau wie das Meer an diesem Tag. Seine ganze Erscheinung mutete an, als habe das Wasser ihn augenblicklich erstarren lassen, mit dem Todesgrauen in den Augen. Das Gesicht war immer noch fratzenhaft verzerrt, der Mund wie zu einem Schrei offen und seine schmalen Lippen blau angelaufen.

»Chris, er ist tot.« Eugene ging neben Chris in die Hocke und ließ seine Finger über die Augenlider gleiten. Der Anblick des Grauens darin war zu viel für ihn.

Chris schaute zu ihm hinüber, fuhr aber keuchend fort, die Brust des Mannes rhythmisch zu massieren, während er zählte. Er legte ab und zu sein Ohr an den offenen Mund, in der Hoffnung, er würde wieder anfangen zu atmen.

Toni kauerte hinter Chris und es schien, als hielt er die Luft an. Seine Lippen hatten sich dunkel vor Kälte verfärbt, in den geweiteten Augen stand pures Entsetzen.

»Ich habe mich zu Tode erschrocken«, flüsterte Toni Eugene zu. »Ich habe ihn nicht gesehen. Plötzlich hat mich was an der Wade berührt. Zuerst dachte ich, es sei ein Fisch. Doch als ich mich umschaute, war es der da.« Toni stieß einen zittrigen Seufzer aus und Eugene dachte einen Moment, er würde in Tränen ausbrechen.

»Madre de Dios, war das gruselig«, stammelte Toni. »Wie in einem Horrorfilm. Mir ist fast das Herz stehen geblieben. Ich dachte, der Typ packt mich gleich und zerrt mich hinab. Es hat etwas gedauert, bis ich kapiert habe, dass er nach oben driftet, wie in Zeitlupe.«

Eugene legte Toni eine Hand auf die Schulter. »Mir wäre es nicht anders ergangen. Ich glaube aber nicht, dass wir ihm noch helfen können.«

Toni schloss einen Moment die Augen, wie um sich zu beruhigen. Dann packte er Chris ihn an der Schulter. Stumm schüttelte er den Kopf, als sich ihre Blicke trafen.

Eugene erhob sich. »Wir müssen uns anziehen, sonst holen wir uns eine Lungenentzündung.«

Toni und Chris murmelten zustimmend. Sie sammelten ihre Kleider vom Ufer ein und zogen sich zügig an.

»Ich gehe ins Mesón und rufe die Polizei. Auch den Notarzt, obwohl es nichts bringt«, sagte Eugene schließlich. »Kommt ruhig mit und wärmt euch drinnen auf.«

Chris nickte dankbar. Er hatte wieder seine Mütze aufgesetzt. Toni band seine Schuhe zu, Wasser tropfte ihm aus den Haaren.

Bevor Eugene zum Tunnel lief, hob er den Seesack auf, den er an Land gebracht hatte, und griff noch einmal hinein. Er fischte den wasserdurchtränkten Geldbeutel heraus. Auf dem Ausweis, der in einem der Fächer steckte, fand er das Bild des Toten zu seinen Füßen. »Ich habe den Ausweis des Mannes«, murmelte er.

»Es ist Don Pedro, unser Hausmeister«, kam ihm Chris zuvor. »Keiner mochte ihn. War ein komischer Kauz, doch dass er sich das Leben nehmen würde …« Chris schüttelte ungläubig den Kopf, ohne den Satz zu beenden.

Eugene schob das Dokument zurück in den Geldbeutel. »Ich denke nicht, dass er sich umgebracht hat«, sagte er mit schwerer Stimme.

Toni und Chris schauten ihn fragend an.

»Er war tot, bevor er ins Wasser fiel«, brummte Eugene.

»Woher willst du das wissen?«, fragte Chris überrascht.

Eugene brauchte diesmal länger, um zu antworten. Als er sich zum Gehen abwandte, sagte er grimmig: »Seht euch seine Hände an.«

 

Eugene trat eine halbe Stunde später aus dem Mesón. Sein Onkel hatte von dem Ganzen nichts mitbekommen. Barry war seit einer Weile im Keller zugange und Eugene hatte sich nicht die Mühe gemacht, nach unten zu gehen und ihm Bescheid zu geben. Er mied Barry, wo es ging.

Aber mehr mied Eugene diesen Keller wie eine Kammer des Grauens. Schließlich war es der Ort, an dem sein persönlicher Albtraum begonnen hatte. Zwar hatte er damals die Idee gehabt, in die Kellerwand ein Loch zu schlagen und den Tunnel zu erkunden. Die Folgen jener Aktion allerdings hätte Eugene nie erahnen können. Die tödlichen Verletzungen hatten seine Amphibiengene erweckt. Und seine Freunde wären fast draufgegangen, so schwer waren sie verletzt gewesen. Sie wussten bis heute nicht, dass er sie letztes Jahr beinahe verloren hätte. Allein dank Seraphim und Marc hatten sie überlebt. Diese hatten Chris und Toni nach Thalassa 3 gebracht, dem Unterwasserinternat der Wasseramphibien. Dort hatte sich eine Heilerin um sie gekümmert.

Ausgerechnet in diesen Tunnel wollten Chris und Toni zurück. Einen Moment bereute es Eugene, dass er zugestimmt hatte. Nichts ließ ihn freiwillig in diesen verdammten Keller gehen. Barrys sarkastische Bemerkungen von heute Morgen, als Eugene verkündet hatte, die Arbeiten oben in der Bar zu übernehmen, hatte er gelassen hingenommen. Solange er dem Keller fernbleiben konnte, ertrug er sogar die Sticheleien seines Onkels. Alles, was ihn an seine schlimmsten Ängste erinnerte, musste er meiden. Denn, dass er sich eines Tages ganz verwandeln würde, das verdrängte Eugene noch. Meistens mit Erfolg.

Inzwischen hatte sich eine Handvoll Schaulustiger am Strand eingefunden. Eugene fragte sich, wie sie so schnell mitbekommen hatten, dass etwas passiert war. Die Einheimischen unterhielten sich leise, als fürchteten sie, einen Schlafenden zu wecken.

Eugene trat zu Chris und Toni, die dicht beim Kopf des Toten standen, sodass sie einen Sichtschutz bildeten. Doch die Leute waren sich einig, dass da eine Leiche lag.

Der Krankenwagen und die Policia local, die Eugene verständigt hatte, trafen wenig später gleichzeitig mit heulender Sirene und Blaulicht ein. Sie parkten an der Straße. Zwei Notärzte sprangen aus dem Krankenwagen und kamen mit ihren Erste-Hilfe-Koffern schnellen Schrittes zum Ufer gelaufen. Sie hielten sich nicht mit Formalitäten auf, schoben die Herumstehenden zur Seite und machten sich sofort routiniert am leblosen Körper zu schaffen. Nach wenigen Minuten ließen sie davon ab und packten ihre Instrumente ein.

»Eine merkwürdige Sache haben wir hier«, bemerkte der eine Notarzt. Es war ein stämmig gebauter, junger Mann mit Brille und einem kurzgeschnittenen Schnurrbart.

Sein Kollege nickte. »Bin jetzt schon lange dabei, aber so was habe ich noch nie gesehen.« Der Mann wischte sich über die Stirn, in seinem hageren Gesicht spiegelte sich Ratlosigkeit.

Beide traten zur Seite, als der Beamte der Policia local bei ihnen angekommen war.

»Was meinen Sie mit merkwürdig?«, fragte Eugene, der die Worte des Notarztes mitgehört hatte.

Der ältere der beiden räusperte sich. Er sah müde aus, wie nach einer langen, anstrengenden Schicht. Seine ergrauten Haare standen zerzaust am Scheitel ab. »Ich bin mir sicher, dass der Mann nicht ertrunken ist. Hab in meinem Leben schon einige Ertrunkene untersucht. Bei dem ist kein Wasser bei der Punktion der Lungenflügel herausgetreten, die ich vorhin gemacht habe. Was bedeutet, dass er bereits aufgehört hat zu atmen, bevor er ins Meer gefallen ist, sonst wäre irgendwann Wasser in die Lungen gelangt. Ist nun mal so. Wir können eine gewisse Zeit den Atemreflex unterdrücken, dann müssen wir einatmen, egal ob es Luft oder Wasser ist. Natürlich ist es besser, Luft einzuatmen«, schloss er sarkastisch.

»Außerdem«, nahm der andere den Faden auf, »sehen seine Hände aus, als hätte er vor seinem Tod mit einem Tier gekämpft. Da sind Bisswunden, möglicherweise von einem Hund.« Er zuckte mit den Schultern und kratzte sich unschlüssig am Kinn. »Oder etwas anderem, ein Hund hätte eher nach seinen Beinen geschnappt. Dort sind aber keine Bisswunden, nur zwei ordentliche Knochenbrüche links. Andererseits können die dunkelblau angelaufenen Lippen auch Anzeichen für eine Vergiftung sein. Vielleicht sollten wir eine Autopsie beantragen ...«

»Entschuldigen Sie, wer hat ihn gefunden?«, unterbrach die sonore Stimme des Polizeibeamten, der sich am Toten zu schaffen gemacht hatte, die Erläuterungen des Notarztes. Der Mann richtete sich auf und blickte in die Runde. Er hatte die Augen zusammengekniffen. Der misstrauische Zug um seinen Mund verstärkte den Eindruck, dass man gut daran tat, sofort zu antworten.

»Toni hat ihn an Land gebracht«, sagte Eugene. »Wir haben den Sturz beobachtet und sind gleich ins Wasser gesprungen.« Bei den letzten Worten deutete Eugene auf seinen Freund und sich.

»Den Sturz?«, echoten der Beamte und einer der Notärzte gleichzeitig.

Sie musterten die drei Freunde zum ersten Mal genauer. Die nassen Haare Eugenes und Tonis bezeugten, dass sie nicht scherzten. Niemand würde bei dem Wetter freiwillig ein Bad im Meer nehmen.

»Der Mann ist von der Klippe dort gefallen.« Eugene wies auf den Felssturz.

»Das erklärt die Brüche am linken Fuß und Oberschenkel«, kommentierte der ältere Notarzt. »Die Wasseroberfläche wirkt bei der Geschwindigkeit, die ein Körper bekommt, wenn er aus dieser Höhe stürzt, wie eine Betonwand. Erstaunlich, dass sonst nichts gebrochen ist. Was der da wohl gemacht hat?«

Der Polizeibeamte griff wortlos in seine Jackentasche, nahm ein Funkgerät heraus und entfernte sich, während er etwas ins Gerät sprach, das Eugene nicht verstand. Ein zweiter Uniformierter stieg aus dem Polizeiauto aus und trat zu seinem Kollegen. Nachdem dieser das Gespräch über Funk beendet hatte, packte er den anderen am Arm und redete leise auf ihn ein. Zusammen kamen sie ans Ufer zurück.

»Hab die Mordkommission verständigt, ist mir alles zu suspekt. Sieht mir nach mehr als nur einem natürlichen Todesfall aus. Jungs!« Er bestellte sie mit einem Schnappen des Zeigefingers zu sich. »Erzählt, wie das Ganze abgelaufen ist.« Aus seiner Jackentasche fischte er eine Lamelle Kaugummi, pulte sie aus dem Silberpapier und schob sie sich in den Mund. Als niemand etwas sagte, hob er ungeduldig den Blick. »Bin von Nikotinkaugummis umgestiegen. Sind mir zu teuer und schmecken scheußlich. Also.«

Eugene übernahm das Berichten. Der Beamte musterte ihn finster, schmatzte laut beim Kaugummikauen und kritzelte ab und zu etwas in ein Notizheft, dessen Ecken kaum mehr vorhanden waren. »Kein Spanier, was?«, sagte er, als Eugene schwieg. »Engländer?«

Eugene schüttelte den Kopf. »Ire.«

»Ähä«, machte der Polizeibeamte zwischen zwei Kaubewegungen.

»Ich lebe aber hier.« Eugene wusste nicht genau, warum er dem Mann diese Information gab.

Dieser brummte erneut »Ähä« und kritzelte etwas in seinen Notizblock. In dem Moment kamen zwei weitere Männer auf sie zu. Obwohl in Zivil gekleidet, verriet Eugene etwas an ihnen, dass es die Beamten der Mordkommission waren.

»Das ging ja schnell«, murrte der Polizist. »Sind wie die Aasgeier. Riechen eine Leiche schon von Weitem.«

»Señor Ramón, lange nicht gesehen!«, rief einer der Zivilisten, ein hagerer Mann in den Mittvierzigern mit einer abgewetzten dunkelblauen Baseballkappe, die er tief in die Stirn geschoben hatte. Der beigefarbene Trenchcoat sah neu aus, doch seine Schuhe hatten schon bessere Tage gesehen. Er trat zu ihnen und reichte dem Polizisten die Hand zum Gruß, während er mit der anderen seine Baseballkappe abstreifte.

»Mhm. Lange keinen Mord gehabt, Columbo«, gab der Polizist kauend zurück, griff nach der entgegengestreckten Hand und ließ sie sofort wieder los.

Warum Señor Ramón den Mann von der Mordkommission Columbo nannte, verstand Eugene sofort, als ihn der Blick des Mannes kurz streifte. Nicht nur der Trenchcoat erinnerte an den berühmten Fernsehkommissar, auch sein Silberblick.

»Richtig. Wann hat es die letzte ermordete Leiche in deinem Bezirk gleich gegeben? Vor drei Jahren? Ich schätze, dir fehlt die Übung. In drei Jahren rostet man ein.«

Señor Ramón spuckte den Kaugummi in weitem Bogen aus, schnalzte mit der Zunge und sah ihn kalt an. »Wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, Paco«, sagte er mit unterdrücktem Zorn in der Stimme, »hab ich den Mord damals aufgeklärt, obwohl es deiner war. Hab außerdem die ganze Küste zwischen La Perla und Almeria von Illegalen und Drogenpiraten gesäubert und so die eine oder andere Leiche verhindert. Zu schade für dich. Aber wann war das Leben je gerecht?«

Eugene erinnerte sich, dass im letzten halben Jahr auf der Küstenstraße häufig Polizeipatrouillen zu sehen gewesen waren. Es war kein Geheimnis, dass unter den Klippen Boote anlegten, in denen Schmuggler menschliche Ware und Drogen, vermutlich auch Waffen, ins Land brachten.

Columbo, der in Wirklichkeit Paco hieß, hob die Mundwinkel, aber es kam kein richtiges Lächeln zustande.

Sein Kollege, ein fadenscheiniger junger Mann mit Hornbrille und längerem hellbraunen Haar, packte ihn am Arm. »Können wir uns jetzt die Leiche anschauen?«

»Ja, Mann. Warum die Eile? Der läuft uns nicht mehr weg.«

Eugene hätte beinahe laut aufgelacht. Er hatte immer gedacht, diesen Witz gab es nur in schlechten Krimis. Aber offensichtlich war es ein beliebter Spruch unter Leuten, die mit Toten zu tun hatten.

Pacos Kollege stieß ein prustendes »Pah!« aus, ging in die Hocke und begann Don Pedros Beine zu untersuchen.

Paco gab den beiden Uniformierten Anweisung, die Stelle um die Leiche abzuriegeln, und streifte sich Gummihandschuhe über. Er scheuchte die Schaulustigen zurück, bevor er sich an den Händen des Toten zu schaffen machte.

Eugene schaute der Arbeit der Beamten eine Weile zu.

»Telefonnummern hier lassen und ihr könnt gehen«, bellte Señor Ramón plötzlich. Deutlicher konnte er ihnen nicht sagen, dass es Zeit war, abzuhauen. Er griff diesmal in die Innentasche seiner Jacke und zog ein zweites, kleineres Notizbuch hervor. Darin notierte er ihre Nummern. »Ihr werdet benachrichtigt, falls die euch als Zeugen brauchen«, sagte er, deutete mit dem Kopf auf die Beamten der Mordkommission und schob sein Notizblock zurück in seine Tasche.

Toni und Chris wandten sich zum Gehen. Eugene folgte, als ihm der Seesack wieder einfiel. Er lag noch am Ufer auf den angespülten Algen. »Den sollte ich den Bullen geben«, sagte er im Flüsterton zu Chris.

Dieser nickte und schaute ihm nach, wie er ans Ufer ging und den Sack an sich nahm. Etwas fiel heraus, ohne dass Eugene es merkte. Bevor Chris ihm nachrufen konnte, blieb sein Blick an dem schmutzig-nassen Gegenstand hängen.

Chris erstarrte. »Enrico …?«


Niemand sah das Augenpaar, das knapp über den Wellen das Geschehen am Ufer beobachtete. Niemand ahnte, dass in einem wasserdichten Beutel ein altes Buch war, das nicht nur das Schicksal eines Menschen verändern sollte.


5.
Enrico

 

»Was meinst du damit, du hättest Enrico bei Don Pedro gefunden?«, fragte Lilli verblüfft. »Und überhaupt! Was soll diese Geschichte mit dem toten Hausmeister, Chris?«

Es war Sonntagnachmittag. Nach einer unruhigen Nacht voller grauenerregender Träume und stetig steigendem Fieber hatte Lilli den halben Tag im Bett verbracht. Jetzt saß sie auf dem Balkon in sämtliche Decken gehüllt und schaute verdrießlich auf den nach abgestandenem Meerwasser müffelnden Stoffaffen auf dem Tisch.

Chris antwortete nicht. Er lehnte mit finsterem Gesicht gegen die Steinbrüstung.

Wenn das alles stimmte, was er ihr erzählt hatte –, und davon ging sie aus – dann hatte auch er Schlimmes erlebt. Die Schönheit dieses Ortes schien Chris heute nicht zu beeindrucken. Genauso wenig wie sie. Eine heftige Erkältung hatte Lilli fest im Griff. Schon gestern hatte das Fieber angefangen. Am Telefon hatte sie Alex das nächtliche Treffen im Boot absagen müssen. Nach dem Ereignis am gestrigen Morgen war es ihr recht gewesen, abends daheimzubleiben. Nachdem Lilli ihm wie einem Fünfjährigen erklären musste, was fiebersenkende Mittel waren, hatte Alex ihr mit Panik in der Stimme befohlen, dem Fieber seine Zeit zu geben und es nicht mit »diesem tödlichen Zeug« zu bekämpfen. Lilli hatte keine Lust gehabt, mit ihm darüber zu diskutieren, dass die Medikamente nicht tödlich waren. So hatte sie beschlossen, seinen Rat zu befolgen: viel Tee zu trinken und sich auszuruhen. Sie hatte sich gerade eine ganze Kanne mit Kräutertee gebraut und saß nun mit der dritten nach Minze und Honig duftenden Tasse an der frischen Luft. Eigentlich hatte Alex recht: Ob mit oder ohne Medikamente, die Erkältung nahm sich eh ihre Zeit.

»Dein Stoffaffe war in seinem Gepäck, als Don Pedro ins Meer stürzte«, sagte Chris schließlich und schwang sich auf die Brüstung.

Der Himmel hatte sich am Nachmittag aufgeklart, die Sonne brachte den Schnee zum Schmelzen und vertrieb allmählich das winterliche Gefühl des gestrigen Tages. Nur in den Schatten schimmerten noch vereinzelte Flecken von Weiß. Obwohl der Balkon windgeschützt war, ließ das Fieber Lilli plötzlich heftig frösteln. Sie stellte die Tasse ab und wickelte sich enger in die Decken.

Chris war erneut in nachdenkliches Schweigen verfallen.

»Ich verstehe das alles nicht«, murmelte Lilli nach längerem Warten.

»Wie ich es sehe«, sagte ihr Bruder, »hat er hier herumgeschnüffelt und dabei ab und zu etwas mitgehen lassen. Dass er noch auf Plüschtiere stand, ist natürlich bizarr. Der Typ war aber sowieso abgedreht.«

Lilli nickte. Plüschtiere und alte thalassische Bücher. Ja, ein ganz eigenwilliger Geschmack. Dass Don Pedro Eugenes wertvolles altes Buch mit den Geschichten der Menschenamphibien aus ihrem Zimmer gestohlen hatte, dessen war sich Lilli sicher. Doch warum ihr Stofftier? Sie hatte den Plüschaffen mit den schwarzen Knopfaugen und dem samtigen dunkelbraunen Fell in einer Kiste im kleinsten Raum des Apartments gefunden, das früher als Kinderzimmer benutzt worden war. Aus einem Impuls heraus hatte sie das Äffchen zu sich genommen. Sie hatte Enrico aber irgendwann in eine Schublade verstaut und so sein Verschwinden nicht bemerkt.

Das Verschwinden des Buches hatte Lilli allerdings sofort bemerkt. Seit jenem Abend, an dem sie Don Pedro vor ihrer Zimmertür erwischt hatte, beschäftige sie die Frage, wie sie es wiederbeschaffen sollte? Nach den Ereignissen des letzten Jahres war sie aber froh, dass das Buch verschwunden geblieben war. Nicht auszudenken, was gewesen wäre, wenn Rex es in die Finger bekommen hätte ... Es enthielt Geheimnisse, so viel wusste Lilli. Die bestgehüteten der gesamten Wasseramphibienwelt. In Geschichten und Legenden gepackt, blieben sie vor Unbefugten verborgen. Nur wenige Eingeweihte hatten eine Ahnung, wie man in diesem Buch lesen musste. Allein ihnen eröffneten sich die Geheimnisse der drei Verwandlungen, die die Auserwählten durchmachten. Es wäre eine Riesenkatastrophe gewesen, hätte Rex das Buch bekommen und dadurch die Verwandlung vollziehen können, die ihn unsterblich gemacht hätte. Im Vergleich dazu hatte ihre Beichte an den Besitzer des Buches ein Kinderspiel dargestellt.

Mit Unbehagen erinnerte Lilli sich, wie sie zum ersten Mal hatte erleben dürfen, dass Eugene wütend auf sie geworden war und sich tagelang geweigert hatte, mit ihr zu sprechen. Erst als sie ihm hoch und heilig versprochen hatte, das Buch irgendwie wieder aufzutreiben, hatte sich Eugene beruhigt. Obwohl er skeptisch geblieben war, wie sie das anstellen wollte. Da Don Pedro nun tot war, eine berechtigte Frage.

Wer ihn so wenig leiden konnte, dass er ihn umgebracht hatte?, fragte sich Lilli. An Selbstmord glaubte sie genauso wenig wie ihr Bruder.

Chris schaute sie mit zusammengezogenen Brauen an, ein Zeichen, dass er angestrengt nachdachte. »Wenn wir schon beim Herumschnüffeln sind. Nicht, dass ich spioniert hätte oder so, aber wo warst du vorgestern Abend?«

»Was?«, fragte Lilli. Sie griff haltsuchend nach ihrer Tasse. Das kam unerwartet.

»Ich war bei dir im Zimmer und du warst nicht da. Wenn du dich aus der Wohnung schleichst, solltest du vielleicht in Betracht ziehen, dass es einer bemerkt, auch zur späten Stunde. In dem Fall ich. Triffst du dich mit jemandem?«

»Geht dich nichts an.« Lilli brachte ihre Tasse an die Lippen, nahm einen Schluck.

Das Fieber erschwerte das Nachdenken, ihr fiel keine vernünftige Ausrede ein. Sie war zu überrumpelt, um es abzustreiten. Natürlich hatte sie es in Kauf genommen, dass ihre Eltern oder ihr Bruder es herausfinden könnten. Als sie angefangen hatte, sich abends aus dem Haus zu schleichen und ins Zuckerrohrfeld zu ihrer Lil Majestic zu gehen, war ihr das Risiko klar gewesen. Sie war trotzdem bereit, es auf sich zu nehmen, denn der Preis lohnte sich. Die Stunden mit Alex. Ein paar Mal war sie allerdings abends tatsächlich ausgegangen, sagte sie sich zu ihrer Verteidigung. Maria, die Freundin ihres Bruders, Nina, ein Mädchen aus ihrer Schule, mit dem sie häufiger in den Pausen zusammensaß, und sie selbst waren seit einer Weile ein super Team. In ihrer Dreiergruppe hatte sich der lustige Brauch eingespielt, Mädchenabende zu organisieren. Lilli mochte die beiden. Sie waren unkompliziert, herzensgut und ehrlich, was in Mädchencliquen nicht immer selbstverständlich war. Doch in ihrem Trio klappte das wunderbar. Und das wusste Lilli zu schätzen.

Chris hatte sie jetzt kalt erwischt.

»Was hast du so spät in meinem Zimmer zu suchen?«, fragte sie. Ablenkung. Vielleicht ging er darauf ein.

»Eugene ist es nicht, also mit wem triffst du dich?«

Die Ablenkung funktionierte heute nicht. »Geht dich nichts an«, wiederholte Lilli, während ihr Verstand auf Hochtouren arbeitete. Was dazu führte, dass das Fieber stieg. Erneut wurde ihr bewusst, dass sie nicht bereit war, ihre Liebe zu Alex preiszugeben. Etwas sagte ihr, dass die Zeit noch nicht reif war. Gut, Alex begriff es auch nicht, inzwischen war er aber davon abgekommen, sie zu drängen, ihre Familie kennenzulernen. Warum nur wollte sie es nicht wenigstens vor ihrem Bruder zugeben? Instinkt oder Angst?

Das bekannte schmerzhafte Ziehen meldete sich wieder, wie jedes Mal, wenn sie vor dieser Frage stand. Es war nicht die Tatsache, dass der Junge, den sie abgöttisch liebte, aus einer anderen Welt kam. Das sah man ihm schließlich nicht an. Eine eindringliche Stimme in ihrem Inneren warnte sie. Mit diesem Schritt hing viel zusammen. Und darüber hatte sie keine Lust, zu debattieren. Es bedeutete ein Eingeständnis, dass sie erwachsen wurde. Dann kam mit Sicherheit auch das Thema Sex. Darauf hatte sie am allerwenigsten Lust. Zumal es ein Punkt auch zwischen Alex und ihr war. Er weigerte sich mit einer Hartnäckigkeit, die fast schon Bewunderung verdiente, ganz mit ihr zusammen zu sein.

Da es Chris nun herausgefunden hatte, musste sie ihn entweder zum Schweigen bringen oder es ihm verraten. Unterkühlt schaute sie ihn an, was bei ihren vom Fieber brennenden Augen mit Sicherheit misslang. Spontan entschied sie sich für eine weniger damenhafte Variante.

»Du sagst es auf keinen Fall Mom und Dad.«

»Sonst …?«, setzte ihr Bruder grinsend an.

Ohne mit der Wimper zu zucken, unterbrach sie ihn: »Sonst verrate ich ihnen, dass ich damals fast ertrunken wäre, als du auf mich aufgepasst hast. Und du weißt, was das bedeutet.« Lilli ließ ihre Stimme betont sachlich klingen.

»Das ist Erpressung.« Chris funkelte sie wütend an.

»Sagen wir lieber: Motivation, den Mund zu halten.«

»Wenn ich dir schwöre, Mom und Dad nichts zu sagen, verrätst du mir dann, mit wem du dich triffst?«

Lilli schüttelte entschieden den Kopf. »Schwöre es trotzdem, Chris.«

Resigniert nickte er schließlich.

»Sag es.«

»Ja! Du Erpresserin. Ich schwöre es. Zufrieden?«

»Jetzt ja.«

»Motivation«, grummelte er. »Hätte nicht gedacht, dass du die Karte mal ausspielst. Du hast damals gedrängelt, runter zum Meer zu gehen. Obwohl es uns verboten war, wenn Oma nicht da war. Wobei ich bis heute nicht weiß, was da los gewesen ist. Und warum du plötzlich unter Wasser warst.«

Lilli schwieg. Rex war los gewesen! Obwohl er es nie direkt zugegeben hatte, wusste sie es einfach. Er hatte versucht, sie in die Tiefe zu ziehen, hatte sie damals töten wollen, so wie er ihre Tante Emily getötet hatte. Aber sie würde Chris die Wahrheit nie sagen können.

»Muss ja was Spezielles sein, dein geheimer Freund«, sagte Chris in ihre Gedanken hinein.

Lilli sah ihn abwesend an.

»Ich meine ja nur, wenn es ein solches Geheimnis ist. Ist er so hässlich, dass du ihn verstecken musst? Oder ist es ein Mädchen?«

Mit gefasster Stimme erwiderte sie: »Lass es, Chris. Zu gegebener Zeit werden ihn alle kennenlernen.«

»Vielleicht an deinem Geburtstag? Deshalb war ich übrigens bei dir im Zimmer. Ich wollte vorfühlen, wie du zu einer kleinen Geburtstagsparty stehst. Mit Betonung auf kleinen.«

Lilli war gedanklich ganz woanders. Sie reagierte auf die Worte ihres Bruders nicht.

»Und? Lust?«, fragte Chris geduldig.

»Was?«

»Hast du Bock auf eine Feier zu deinem Geburtstag? Maria liegt mir seit Tagen mit einer Überraschungsparty in den Ohren. Ich weiß aber, dass du garantiert keinen Spaß an solchen Überraschungen hättest ...«

»Auf keinen Fall!«

Lilli sah ihn dermaßen finster an, dass Chris abwehrend die Hände hob.

»Schon gut. Keine Party. Und dabei den neuen Freund vorstellen, auch nicht. Reg dich ab.«

»Und du glaubst wirklich, dass die Sache mit Don Pedro kein Selbstmord war?«

Die Frage lenkte Chris tatsächlich vom Thema »geheimnisvoller Freund« ab.

»Es ist zu merkwürdig. Die Notärzte sagen, er hatte kein Wasser in den Lungen. Was bedeutet, dass er nicht mehr geatmet hat, als er im Meer landete. Und diese Bisswunden an den Händen. Als hätte er mit einem Tier gekämpft. Noch seltsamer aber ist, dass er die typischen Zeichen einer Vergiftung aufweist.«

Lilli zuckte mit einer kleinen Verzögerung zusammen. Die Worte »Bisswunden« und »Vergiftung« hallten in ihren Ohren nach. Plötzlich war alles klar. Und diese Klarheit trieb ihr den Schweiß aus den Poren. Die restlichen Worte ihres Bruders verloren sich irgendwo im Hinterland ihres fiebrigen Bewusstseins. Sie warf einen Blick auf die Uhr an ihrem Handgelenk. Es war noch zu früh, um Alex zu treffen.

Doch mit einem Mal hielt Lilli nichts mehr in ihrem Stuhl.

 

»Don Pedro ist tot«, sagte Lilli ein paar Stunden später. Es war Sonntagabend und sie saß im Schneidersitz auf der Koje in der Lil Majestic. Sie hatte sich mehrere Decken um die Schultern gelegt. Ihr Fieber war zwar gesunken, aber der Husten zerrte an ihren Kräften.

Wie vermutet, brachten ihre Worte Alex sofort vom Thema »Geburtstag« ab, ein Thema, das zurzeit allgegenwärtig zu sein schien. Fragend hob er die Brauen.

»Unser Hausmeister«, erinnerte ihn Lilli. »Der schräge Typ, von dem ich dir erzählt habe, dass er gern herumschnüffelt.« Als sie bemerkte, wie sein Gesicht sich aufhellte, fuhr sie fort: »Chris hat es mir erzählt. Er ist von der Klippe in Calahonda gefallen, war zu dem Zeitpunkt aber bereits tot. Mein Bruder erwähnte Bisse an den Händen. Als hätte Don Pedro vor seinem Tod mit einem Tier gekämpft. Erinnert dich das an etwas?«

»Allerdings«, sagte Alex. Er kaute an seiner Unterlippe. Sein Blick verdunkelte sich.

Natürlich erinnerte es ihn an etwas, an etwas Böses.

»Wie denkst du darüber?«, fragte er nach einer längeren Schweigepause.

Lilli hatte nicht erwartet, dass er sie so früh in seine Überlegungen einbezog. Meistens brütete er lange allein über solche Dinge, bevor er ihr etwas anvertraute. In letzter Zeit schien er besorgter um sie als sonst. Vielleicht bildete Lilli es sich nur ein.

Alex reichte ihr eine Tasse mit einem Gebräu, das den Husten schnell bessern sollte. Das Mittel war eine Mischung aus verschiedenen Algen, hatte er ihr erklärt. Sie nahm die Tasse und trank schluckweise die braune, seltsam riechende Flüssigkeit. Es schmeckte widerlich.

Was sollte sie Alex antworten? Gar nicht so einfach, es in Worte zu fassen. Denn es gingen ihr andauernd neue Gedanken durch den Kopf. Als sie schließlich sprach, war ihre Stimme jedoch sicher.

»Mein erster Gedanke war Danya. Wenn sie Black getötet hat, hat sie auch Don Pedro auf dem Gewissen. Vielleicht hat sie Rex’ Mission zu ihrer eigenen gemacht. Schließlich ist sie selbst irgendwann mit dem Sterben dran. Deshalb wird sie versuchen, unsterblich zu werden. Und so die Krankheit bezwingen, die alle gescheiterten Auserwählten tötet. Das war der Plan von Rex, er konnte ihn nur nicht zu Ende führen. Also weiß Danya zwar nicht, ob das Ganze funktioniert, denn noch nie zuvor hat ein Abtrünniger diese Verwandlung erzwungen. Sie vertraut aber vermutlich auf die Intuition ihres ehemaligen Lovers. Zu verlieren hat sie ja nichts mehr. Für das Ritual der Verwandlung braucht auch sie das Buch. Und das hatte zuletzt Don Pedro. Denn dass er es Rex nicht gegeben hat, wie dieser es erwartet hat, das wissen wir längst. Immerhin hat Rex mich damals aus genau diesem Grund entführt. Er hat gehofft, das Buch entweder von mir direkt oder mit mir als Druckmittel zu bekommen. Aber da ich es nicht mehr hatte und ihr es nie zurückbekommen habt, kann es nur bei Don Pedro geblieben sein. Und der hat, weiß der Himmel was mit diesem Buch vorgehabt. Eugene wird mich umbringen, ich habe nämlich keine Ahnung, wie ich es auftreiben soll. Apropos umbringen«, schloss Lilli mit Bitterkeit, »vermutlich hat es Danya nicht gereicht, das Buch zu beschaffen, sie wollte auch einen Zeugen beseitigen.«

Lilli atmete einmal tief durch. Der Kopf raste ihr. Nach Alex’ beeindrucktem Gesichtsausdruck zu urteilen, hatte sie alle Details richtig wiedergegeben.

Alex hatte ihr aufmerksam zugehört, als wäre nicht er derjenige, der das alles wissen müsste. Danya war in jener Nacht verschwunden, in der Rex’ Yacht in Flammen aufgegangen war. Auch wenn Alex nie darüber sprach, wusste Lilli, dass er insgeheim hoffte, irgendwann Danya zu finden. Er hasste sie abgrundtief, obwohl sie die Schwester seines besten Freundes Marc war. Lilli war froh, dass Alex sie bislang noch nicht gefunden hatte. Sie konnte bei der Vorstellung kaum atmen, dass Alex Danya töten würde.

»Trotzdem solltest du jetzt nicht losziehen und sie suchen«, sagte Lilli, ihre Stimme klang weinerlicher als beabsichtigt.

»Und wieso nicht?« Alex schaute sie entgeistert an.

»Ich ... ich habe Angst um dich.« Was nur die halbe Wahrheit war.

»Angst um mich? Sei nicht albern.«

»Na gut. Ich habe Angst, dass du Danya tötest. Ich will nicht, dass du jemanden umbringst.«

»Sie hat dich erledigen wollen, Lilli!«, rief Alex. Das bekannte Feuer der Wut loderte wieder in seinen Augen. »Sie wird es erneut versuchen. Gestern erst hat sie Black und Don Pedro getötet. Wie lange sollte ich deiner Meinung nach warten? Denn Danya wird gewiss nicht mehr lange warten, bevor sie ihren nächsten Schritt unternimmt. Das kann ich nicht zulassen. Seraphim hat uns während unserer Ausbildung gesagt, dass ein Auserwählter der Mordgier verfallen kann. Und wenn er einmal im Blutrausch gemordet hat, tötet er immer wieder. Denn es gibt danach kein Mitgefühl mehr. Keine Moral, kein Gut und Böse, keinen Respekt vor dem Leben. Man tötet, ohne mit der Wimper zu zucken. Weil es Spaß macht. Wie Danya!«

Lilli stellten sich die Nackenhaare auf. »Seraphim hat gesagt, wenn ein Auserwählter einmal getötet hat, wird er es immer wieder tun müssen. Ob er nun gut oder böse ist. Das gilt also auch für dich. Deshalb will ich nicht, dass du Danya findest und sie umbringst.«

Alex biss sich auf die Unterlippe. Sein Gesicht hatte sich verfinstert. Lilli konnte ihm ansehen, dass ihr Einwand in ihm arbeitete.

»Es ist nicht dein Job, zu richten«, fuhr sie fort und hatte Mühe, ihr inneres Zittern zu beherrschen. »Finde Danya. Bringe sie zu eurem Rat, die sollen sie bestrafen. Und denk an Marc: Er würde dir das nie verzeihen. Außerdem will ich nicht in den Armen eines Jungen liegen, der jemanden auf dem Gewissen hat.« Der letzte Satz war ihr herausgerutscht, doch er stimmte. Sie würde Alex sicher nicht mehr so lieben, wenn er aus Rache tötete. Und diese Vorstellung war für Lilli die reinste Folter.

Er schaute sie mit einem schmerzerfüllten Blick an. Langsam nickte er. »Du könntest keinen Mörder lieben.«

Sie schüttelte den Kopf. Das war eine Grenze, die ihr erst jetzt bewusst wurde, sie auszusprechen, erleichterte sie. Natürlich mussten sie Danya kriegen. Aber sie sollte eingesperrt und nicht getötet werden. Sie sollte ihre gerechte Strafe bekommen. Danya musste spüren, wie es war, zu leiden. Sie sollte an ihrer Krankheit zugrunde gehen.

»Ich habe aber schon getötet«, sagte Alex mit belegter Stimme.

»Was?« Lilli sah ihn entgeistert an.

»Rex.«

Sie verstand. Er hatte geholfen, Rex auszulöschen. Dass Alex beteiligt gewesen war, ihn und mit ihm ein paar andere zu töten, die zum Zeitpunkt der Explosion auf der Yacht gewesen waren, hatte Lilli konsequent verdrängt. Sie wusste zwar, dass die Auserwählten damals so hatten handeln müssen. Plötzlich aber fragte sie sich, wo die Grenzen gezogen wurden. Warum es richtig gewesen sein soll, was sie mit Rex gemacht hatten. Die Vorstellung, dass Alex seinen Teil zum Plan beigetragen hatte, bereitete ihr mit einem Mal Magendrücken.

Lilli hatte es nie Alex gegenüber angesprochen, diese ganze Sache hatte sie seit vielen Wochen einfach aus ihrem Leben verbannt. Allerdings war es eine berechtigte Frage. Natürlich hatte ihr Leben auf dem Spiel gestanden. Und die Leben vieler anderer, hätte Rex seinen Plan durchgesetzt. Machte es aber das, was Alex getan hatte, dadurch besser? Es war nicht aus Rache geschehen, auch nicht im Blutrausch. Das war sicher der ausschlaggebende Grund. Die fiese Stimme, die Lilli daran erinnerte, dass es trotz allem ein gewalttätiger Akt gewesen war, meldete sich wieder. Gemeiner noch, dass diese Stimme sie jetzt fragte: Hätte es nicht doch einen anderen Weg gegeben? Rex war ja zum Schluss von seinem Plan abgekommen, Spanien wegzusprengen und viele hunderttausend Menschenleben auszulöschen. Natürlich hätte man ihm nie trauen können, doch diese Stimme gab es. Und Lilli kannte die Antwort nicht. Vielleicht hätte es einen anderen Weg gegeben. Vielleicht aber war es der einzige gewesen, dem Ganzen ein Ende zu bereiten und unzählige Menschenleben zu retten.

Wie auch immer, es war getan und niemand konnte es rückgängig machen, rief sich Lilli zur Besinnung. Da Alex seitdem keinen Drang verspürte, aus Spaß zu töten, ging sie davon aus, dass es nicht diese Art von Leben Auslöschen war, die Seraphim meinte. Wenn ein Auserwählter in Notwehr handelte, löste es keinen weiteren Tötungsdrang aus. Anders, als hätte er im Blutrausch getötet. Haarspalterei, dachte Lilli verzweifelt. Töten blieb Töten.

»Ich glaube, du hast recht«, sagte Alex in ihre Gedanken hinein. »Sieht ganz danach aus, dass Danya wieder aufgetaucht ist.« Er holte sie mit seinen nüchternen Worten zurück in die Gegenwart. »Ich schätze, die Krankheit ist auch bei ihr ausgebrochen. Verflixt!« Das letzte Wort zischte er.

Die Krankheit, die Alex meinte, war für abtrünnige Auserwählte tödlich. Er hatte Lilli einmal davon erzählt. Wie Rex erkrankten daran diejenigen, die nach einer Kristallverwandlung ihre böse Natur erwachen ließen. Wann sie ausbrach, wusste niemand so genau. Das Seltsame war, dass sie für jeden anders verlief. Manche bekamen eine Lungenkrankheit und konnten irgendwann weder an Land noch im Wasser atmen. Andere verhungerten. Anderen wiederum blieb einfach das Herz stehen. Davor aber litten alle unter grausamen Schmerzen. Bei manchen brach die Krankheit erst nach Jahren aus, bei anderen aber schon nach wenigen Monaten, je nachdem, wie viel Böses derjenige anrichtete. Alex hatte sie Nemesis genannt, die ausgleichende Gerechtigkeit der Natur. Wo sie Übeltaten erlaubte, musste sie diese auch wieder aufwiegen.

Plötzlich erinnerte sich Lilli an den Stoffaffen, den ihr Chris aus dem Gepäck des toten Hausmeisters gebracht hatte. »Don Pedro hatte Enrico dabei, als sie ihn aus dem Meer gefischt haben.« Sie sagte es zu einem nachdenklichen Alex.

»Enrico?« Er schien aus weiter Ferne zurückzukehren. Ein leicht entsetzter Ausdruck trat auf sein Gesicht.

»Mein Plüschaffe.«

»Ah!« Erleichtert atmete Alex auf. »Enrico ist ein Stofftier. Du hast ihn nie erwähnt.« Mehr zu sich sagte er: »Vielleicht hat ihn Don Pedro für Rex gestohlen. Dein Geruch war in dem Stofftier. So hat Rex letztes Jahr deine Fährte zur Lil Majestic aufnehmen können.«

Ein kalter Schauer der Erinnerung streifte Lillis Herz: die Begegnung mit Rex. Er hatte ihr hier aufgelauert und sie anschließend entführt. Nun erklärte sich, wie er sie so leicht hatte finden können. Wie eine Beute, durchzuckte es Lilli. Sie schüttelte sich. Manchmal vergaß sie, wie gefährlich diese Wesen sein konnten.

Als ahne er ihre Gedanken, stand Alex auf. Er trat zu ihr, kniete nieder und nahm ihre Hände in die seinen. »Es tut mir so leid, dass du das durchmachen musstest. Ich werde es mir nie verzeihen, dich allein gelassen zu haben. Nur mit Eugene als Bewacher.« Im letzten Satz lag unterdrückte Wut.

»Eugene hätte es nicht verhindern können, das weißt du. Du bist unfair.«

»Oh, das sehe ich anders!« Alex ließ ihre Hände los und stand abrupt auf.

»Vermutlich hätte Rex ihn getötet«, sagte Lilli leise. Sie mochte es nicht, wenn Alex distanziert wurde. Und sie mochte es nicht, dass er immer noch Eugene die Schuld für ihre Entführung gab.

»Rex hätte dich töten können, Lilli!«

»Das glaube ich nicht. Er wollte mich lebend«, widersprach sie. »Können wir über etwas anderes reden? Ich finde, du hast lange genug Eugene beschuldigt. Er hat sein Bestes getan, das weiß ich. Abgesehen davon hätte er gar nichts tun müssen. Ihr habt da wirklich viel von ihm verlangt. Ich jedenfalls bin ihm dankbar.«

Da! Endlich hatte sie es ausgesprochen. So dachte sie nun mal, Alex würde sie nicht vom Gegenteil überzeugen. Außerdem hatte es wenig Sinn, über Vergangenes zu streiten.

Gerade als sie dies ebenfalls laut aussprechen wollte, sagte Alex: »Ach ja? Bist du auch dafür dankbar, dass dein Freund etwas Wichtiges vor dir verheimlicht?« Er sah sie zornig an. Bevor sie begriff, war er auch schon oben an der Kajütentür, riss sie auf und verschwand in der Dunkelheit dahinter.

Hör endlich auf, immer wegzulaufen, wenn dir was nicht passt, rief Lilli ihm in Gedanken nach. Sie ließ sich seufzend in die Kissen fallen. Ihr Fieber war zwar gesunken, doch der Streit mit Alex trieb ihr den Schweiß auf die Stirn.

Nun, da sie allein war, strömten wieder Bilder des gestrigen Morgens auf sie ein. Die Erinnerung drang wie ein Bohrer durch ihre Brust. Doch auch Alex’ Bemerkung über Eugenes Geheimnis hallte in ihren Ohren nach. Was sollte das nun wieder heißen?

Alex war nicht der Einzige, der seltsame Dinge über Eugene sagte. Auch während jener Begegnung damals im Chat mit Amanda de la Varga war angedeutet worden, dass Eugene etwas verbarg. Amanda, die sich als Eugenes Mutter entpuppt hatte, glaubte an die Existenz der Menschenamphibien. Was aber wusste Alex über Eugene?

Verärgert schnaubte sie. Mitten in einer Unterhaltung abzuhauen! Dass es seine Art war, den unangenehmen Gesprächen aus dem Weg zu gehen, war ihre Auffassung. Seine besagte, dass er so dem Risiko aus dem Weg ging, ihr in seiner Wut womöglich etwas anzutun. Wie auch immer, es war langsam gut damit. Außerdem wurde es höchste Zeit, nach Hause zu gehen. Der Trank hatte tatsächlich gewirkt. Ihr Kopf fühlte sich klarer an, sie konnte wieder durchatmen, ohne gleich zu husten.

Lilli rappelte sich auf, warf die Decken von sich und krabbelte von der Koje. Ein Geräusch draußen am Boot! Sie erstarrte.

Die Kajütentür schob sich beiseite.

Erleichtert atmete Lilli auf. Alex erschien in der Öffnung. Das war etwas Neues: Er kam zurück, nachdem er abgehauen war.

»Tut mir leid«, sagte er. Mit einem federleichten Satz übersprang Alex die Leiter und stand vor ihr, noch bevor sie geblinzelt hatte. Er nahm sie in seine Arme und drückte sie fest an sich. »Ich hasse es, wenn wir uns streiten«, flüsterte er in ihr Haar.

Lilli löste sich von ihm. »Und ich hasse es, wenn du mir Dinge verschweigst. Du wolltest mir doch alles sagen. Keine Geheimnisse, schon vergessen?«

Alex sah sie wachsam an. Dann sagte er mit belegter Stimme: »Ich sage dir immer alles, was mich betrifft. Die Dinge, die andere angehen, solltest du von denen erfahren. Falls sie dir diese anvertrauen wollen. Es ist kein Geheimnis, das ich weitergeben kann.«

Lilli seufzte. Erst Andeutungen machen und dann nichts verraten wollen. »Wir sprechen immer noch über Eugene?«, fragte sie, wartete aber nicht ab, bis Alex antwortete. »Du weißt etwas. Seine Mutter weiß etwas. Ist das nur deine Paranoia oder weiß er es auch selbst?« Lilli hatte keine Ahnung, weshalb sie diese Frage stellte, und kam sich plötzlich albern vor.

Alex’ Gesichtsausdruck wurde kalt. »Und ob er es weiß.«


6.
Shakespeare in La Perla

 

»Ein Licht fällt durch die Fenster. Es ist der Sonnenaufgang und Julia meine Sonne, in deren Leuchten die Mondin immer bleicher wird. Mein Mädchen ist es, meine Liebe. Der Glanz in ihren Augen lässt den Morgenstern erblassen. Und doch! Ihre Augen – sie sehen mich noch nicht. Aber ihre reine Seele spürt die Dunkelheit in mir. Ein Unsterblicher bin ich, für immer in der Nacht. Und sie mein Licht, das mich bewacht, der Bestie Blendung und des Blutdursts Macht. Ach, Liebste! Wie du jetzt die Hand an deine Wange legst! Wäre ich der Handschuh an dieser Hand, dürfte ich deine Haut zart berühren!«

Im Schein der Bühnenstrahler funkelten sie seine Gewitterwolkenaugen dramatisch an. Lilli stemmte sich gegen seinen Zauber, trotzdem wollte die Antwort partout nicht über ihre Lippen kommen.

Alex blinzelte. Mit einem Anflug von Ungeduld – es war das zweite Mal, dass sie ihren Text vergaß – flüsterte er ihr zu: »Oh, Romeo! Wer bist du …« Das sollte wirklich nicht schwierig sein!, sagten dabei seine Augen.

Er nahm das Theaterspielen viel zu ernst. Deshalb war er ja so gut! Die Hingabe, mit der Alex es tat, verlieh ihm diese verwirrende Glaubwürdigkeit. Er ging in seiner Rolle auf und jedes Wort, das er nach Drehbuch sprach, klang wie sein eigenes. Als sagte er es zum ersten Mal und nur für sie. Doch sie ahnte, wie real seine Zerrissenheit jenseits dieser Rolle war.

Lilli kehrte zurück auf die kleine Bühne im Gemeindehaus von Calahonda. Die anderen waren gegangen, nachdem sie ihre Szenen geprobt hatten. Sie waren nun die Einzigen im Proberaum. Das Stück, das ihre Schule aufführen wollte, steckte in der Phase, in der zunächst einzelne Szenen geprobt wurden. Bisher mussten nicht alle Darsteller gleichzeitig anwesend sein. Und vieles improvisierten sie immer noch.

Verlegen räusperte sich Lilli und sprach laut: »Oh, Romeo! Wer bist du jenseits deines schönen Namens. Wehre dich nicht länger. Ich kenne keine Furcht. Allein dein Name ist mein Feind. Und deiner. Du aber bleibst du selbst, auch ohne Montague. Was sagt ein Name schon?« Lilli war bei den letzten Worten auf Alex zugegangen und sprach nun leiser: »Was wir eine Lilie nennen, duftet gleich betörend auch unter einem anderen Namen. So bleibt Romeo, wenn er anders hieße, der Gleiche ohne Makel. Anstelle dieses Namens, der dich nicht besitzt, besitze mich!«

Alex ergriff Lillis Hand, wie es die Regieanweisung an dieser Stelle verlangte. Mit tiefer Stimme sprach er nun: »Ich weiß nicht, mit welchen Worten ich dir verraten kann, wer ich bin, meine Göttin. Auch jenseits des verhassten Namens bin ich kein liebreizend Wesen. Doch mein Name ist mir verhasst, weil er dir Feind ist. Ich wünschte, ihn zu zerreißen, wie ich es in meiner Seele bin, seit ich dir begegnet!« Er führte ihre Hand an seine Lippen.

Obwohl Alex ihren Handrücken nicht berührte, spürte Lilli dort den Kuss. Er war so nah, sein Duft stieg ihr in Nase: Bernstein und Meeresbrise, Salz und sonnenwarmer Stein. Als er mit seinen weichen Lippen schließlich ihren Handrücken streifte, sah er sie unter schweren Lidern an. Himmel, wie konnte ein Junge nur so lange Wimpern haben! Das Licht der Strahler glitzerte darauf wie Feenstaub. Sie klappte den Mund auf, brachte jedoch kein Wort heraus.

»Señorita LeBon, so wird das nichts, wenn Sie dauernd Ihren Text vergessen! Sie sind unbestritten begabt, deshalb sind Sie noch hier. Nehmen Sie sich ein Beispiel an Romeo. Zum Schauspielern gehört mehr. Disziplin, Señorita LeBon. Und Fokussierung.«

Die verärgerte Stimme holte sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Vaska, der Regisseur, lehnte an die Wand und kraulte seinen Bart.

Eigentlich hieß Vaska mit vollständigem Namen Vasili Nedelovski, kam ursprünglich aus Moldau und unterrichtete seit Jahren Literatur am Colegio Virgen del Mar. Seine Begeisterung für das Theater übertrug Vaska auf seine Schüler, indem er mit ihnen ein Stück einstudierte und es am Ende jedes Schuljahres aufführte. Das Highlight im sonst ereignislosen Leben der Dorfgemeinschaft. Meistens nahm er sich die Klassiker vor, die Vaska zusammen mit den Schülern umschrieb. Sie »modernisierte«, wie er sich ausdrückte. Inzwischen musste es mindestens zehn Fassungen allein von Romeo und Julia geben. Diese letzte kam moderner als alle anderen daher, denn sie spielte mit Fantasyelementen. Die Ironie war Lilli schmerzhaft bewusst geworden, als sie das Drehbuch zum ersten Mal gelesen hatte.

Anfangs hatte sie sich über Alex und seinen Entschluss Theater zu spielen lustig gemacht. Doch es gab einen Grund, warum Lilli sich schließlich überreden hatte lassen, mitzuspielen. Sie wollte jede Gelegenheit nutzen, um in seiner Nähe zu sein.

Erstaunt hatte sie festgestellt, dass die Schauspielerei etwas war, was sie nicht nur gut konnte, sondern dass es ihr obendrein Riesenspaß machte. Aber das lag sicher an Alex. Wenn sie mit ihm spielte, war es ihr manchmal, als würde jedes seiner Worte ihre nackte Haut berühren, sie liebkosen und berauschen. Selbst banale Szenen weckten eine Leidenschaft in ihr, die sie am Schluss völlig erschöpft zurückließ. Kein Wunder, dass es ihr so schwerfiel, sich zu konzentrieren. Und etwas sagte ihr, dass Alex das genau wusste.

Nachdem Lilli vorgesprochen hatte und Vaska – entgegen ihren Erwartungen – hellauf begeistert gewesen war (»Die Chemie zwischen euch stimmt eindeutig!«), hatte sie ein wenig Schadenfreude empfunden. Es war ihr kleiner Sieg über Helena. Ihre ehemalige Banknachbarin wurde langsam, aber sicher ihre Erzfeindin an der Schule. Die blendend aussehende, unumstrittene Queen einer Mädchenclique, die Lilli so gut leiden konnte wie ein verschmiertes Make-up, hatte die Rolle nicht bekommen. Vaska hatte Helena kurzerhand heimgeschickt, als sie völlig talentfrei, doch mit wachsenden Starallüren, geprobt hatte. Der zweite Sieg über Helena bestand darin, dass Alex nichts von ihr wissen wollte. Obwohl diese sich schwer bemüht hatte, ihm klarzumachen, dass sie etwas von ihm wollte. Allerdings wurmte Helena das mit der Rolle mehr als ihre Niederlage bei Alex.

Seit Lilli die Julia spielte, kam jedes Mal, wenn sie sich über den Weg liefen, eine blöde Bemerkung von Helena. Anfangs war Lilli noch darauf eingegangen und hatte versucht, ihr Paroli zu bieten. Inzwischen ignorierte sie Helena einfach.

Dafür machte Lilli das Theaterspielen umso mehr Spaß. In ihrer adaptierten Version von »Romeo und Julia« reist Romeo, von einem Magier zur Unsterblichkeit verdammt, aus einer anderen Zeit ins heutige Italien und trifft dort auf eine moderne Julia. Die Idee stammte von Vaska, wobei Alex kräftig mitgemischt hatte. Dass Alex in Wirklichkeit auch bald unsterblich sein würde und aus einer anderen Welt kam, führte dazu, dass er diese Gefühle Romeos so glaubwürdig darstellen konnte. Einmal hatte Vaska Lilli zugeflüstert, dass Alex der beste Romeo war, den er jemals gehabt hatte.

Fokussierung, Lilli!, mahnte sie sich. Wenigstens diese Szene musste sie gut hinkriegen, den Text hatte sie schließlich gelernt. Sie trat einen Schritt zurück, weg von Alex’ betörender Duftaura, und versuchte, sich wieder auf ihre Rolle zu konzentrieren. Lilli wollte nicht die schlechteste Julia abgeben, die Vaska je gehabt hatte.

Doch Alex sah sie mit einem Blick voller Sehnsucht an, der eindeutig nicht zur Regieanweisung gehörte. Er machte es mit Absicht, das wusste sie und ärgerte sich darüber. Sie reagierte jedes Mal in seiner Nähe ähnlich: Herzklopfen, schneller Atem, benebelte Sinne. Anders ausgedrückt, der vollständige Verlust der Selbstbeherrschung. Und das Schlimmste daran war zu wissen, dass Alex alles mit seinem feinen Gespür merkte. Meistens führte dieser Blick dazu, dass sie sich küssend in die Arme fielen. Nicht immer war dies aber angebracht.

»Verzeihung«, murmelte sie und wurde rot. Sie bemerkte Alex’ Belustigung. Halb entrüstet, halb bedauernd löste sie sich aus seinem Blick. Echt unerwachsen, Señorita LeBon, äffte sie gedanklich ihren Regisseur nach.

Lilli hüstelte entschlossen. »Mein Ohr hörte erst wenige Worte aus deinem süßen Mund und doch kenne ich den Klang dieser Stimme. So bezaubernd sie auch ist, du musst hier weg. Der Ort bringt Tod, wenn dich meine Leute sehen. So unvermeidbar ich dir verfalle, so sehr ich im Klang deiner Stimme zerfließe: Geh! Doch sag, bevor du gehst, sanfter Romeo, sag: Liebst du mich?«

Alex zog sie als Antwort an sich und drückte ihr einen sehr authentischen Kuss auf die Lippen. Ihre Knie gaben nach und Alex musste sie stützen, während sie nach Luft japste.

»Ich bin mir sicher, dass hier kein Kuss folgt«, nuschelte sie, doch so sicher war sie sich nicht mehr.

Leise lachte Alex auf und sie spürte seinen warmen Atem auf ihrem Haar. »Ich improvisiere«, flüsterte er dicht an ihrem Ohr.

Gänsehaut huschte ihren Hals herab, die Arme entlang und bis in die Fingerspitzen.

In diesem Augenblick erloschen die Strahler, der Saal tauchte in Dämmerlicht.

»Wir machen Schluss für heute«, hörte sie Vaska rufen. Die Stimme hallte im leeren Saal gespenstisch nach.

Alex’ Hand glitt an ihrem Rücken hinab, machte knapp über dem Bund der Jeans halt. Dort fuhren seine Finger einen Moment auf und ab, bevor er Lilli sanft Richtung Ausgang schob.

»Kommt schon, meine Turteltäubchen!«, rief ihnen Vaska zu, der bereits in der Tür stand. Sein Vollbart verzog sich, ließ ein Grinsen erkennen. »Wie schön, dass ihr in der wirklichen Welt nicht verfeindeten Clans angehört.« Er lachte schallend, während er wartete, dass sie den Saal verließen.

Als sie auf der Straße traten, schob Vaska sich eine Zigarette in den Mundwinkel. Seine vollen dunklen Haare standen ihm wirr vom Kopf ab und gaben ihm das Aussehen eines verzweifelten Menschen. Was durch das orangefarbene Licht der Straßenbeleuchtung unterstrichen wurde. Doch er war der witzigste und ausgeglichenste Mensch, den Lilli an der Schule kannte. Immer noch grinsend verabschiedete er sich mit einem Winken. Seine große, hagere Gestalt löste sich bald in der Nacht auf. Nur ein winziger glimmender Punkt verriet seine Anwesenheit.

Lilli grinste. Als sie Alex anschaute, verging ihr schlagartig die gute Laune. »Was ist?«

Nie würde sie sich an diesen düsteren Ausdruck gewöhnen. Jedes Mal jagte er ihr eine Welle der Angst durch den Körper. Sie ängstigte sich nicht davor, dass Alex sich plötzlich auf sie stürzen und ihr etwas antun könnte, obwohl diese Furcht in seiner Nähe durchaus gerechtfertigt wäre.

Lilli fürchtete sich davor, dass er verschwinden könnte. Wie eine Traumgestalt, die sich beim ersten wachen Blinzeln auflöst. Es schien ihr auch nach den letzten Monaten so unwirklich, ihn an ihrer Seite zu haben. Als würde sie einen langen, wundervollen Traum träumen. Er war aber der greifbare Beweis, dass es mehr gab als nur ihre Menschenwelt. Und dieses Wissen machte ihn sogar noch unwirklicher. Nicht nur einmal war sie aus dem Schlaf geschreckt und hatte an seine Existenz gezweifelt, ein schmerzhaftes Ziehen in ihrem Inneren.

Spätestens in der Schule tauchte Alex doch auf, sie berührte ihn, atmete seinen Duft ein, spürte ihn mit all ihren Sinnen. Und so hatte sie sich immer wieder erlaubt, ihren Traum in der Wirklichkeit weiterzuträumen.

Wenn er allerdings so schaute wie jetzt, überfiel sie Panik und ihr Herz drohte zu zerspringen.

Alex blieb stehen. »Es ist nichts. Vaskas Worte haben mich nur an etwas erinnert. Komm, lass uns noch zu unserem Boot gehen, bevor ich dich nach Hause bringe.«

Lilli nickte stumm. Wenigstens ein kleiner Lichtblick. Ein Stündchen in seinen Armen. Sie wusste, es wäre sinnlos, in ihn zu dringen. Sobald er bereit war, würde er ihr seine Gedanken mitteilen. So war es immer gewesen. Inzwischen kannte sie diese Stimmungen. Doch sie wusste nie, was sie zu bedeuten hatten. Alex war dann so weit weg, dass er ihr entglitt und in eine ferne Welt tauchte. Er war vor einigen Monaten aus seiner Welt im wahrsten Sinn des Wortes aufgetaucht. Als Retter, als wunderschöner Geliebter und als Rätsel. Lilli kannte zwar sein größtes Geheimnis. Es gab aber so vieles, was ihr noch verborgen blieb.

Etwas riss sie aus ihrem Schwermut. Eine plötzliche und heftige Übelkeit wühlte in ihren Gedärmen. Der Geruch nach Fisch, der in der Gasse lag. Lilli mochte Fisch, zumindest bis gerade eben. Wieso war ihr auf einmal so schlecht, dass sie sich übergeben musste? Sie hätte es vermutlich auch getan, hätte ein Luftzug den Fischgeruch nicht weggetragen. Lag es daran, dass der Geruch sie an den toten Delfin erinnerte? Schweigend blieb Lilli neben ihrem Fahrrad stehen, beruhigte ihren schnellen Atem. Sie zog ihren Haargummi vom Handgelenk ab und war im Begriff, ihre Haare zusammenzubinden.

»Nicht.« Alex hielt sie am Arm zurück. »Lass sie offen. Ich liebe es, wenn sie im Wind wehen und ihr Duft mich einhüllt. Du weißt, wie sehr ich Nougat liebe.«

Lilli erinnerte sich, ja. Er hatte ihr einmal gesagt, dass ihr Haar im Kerzenlicht wie Nougat schimmerte und dass es für ihn auch so roch. Nougat – nach Marmelade seine zweite kulinarische Entdeckung in der Menschenwelt.

Alex beugte sich zu ihr, als er ihr Zögern bemerkte. »Bitte.« Ein leises Lächeln huschte über seine Lippen.

Sie streifte den Haargummi wieder über das Handgelenk. Wenigstens schaute er nicht mehr so bekümmert, dachte sie und stieg auf ihr Rad.

Ihr Magen beruhigte sich endlich, als sie die Gasse verließen und auf die offene Küstenstraße fuhren, die sie nach La Perla brachte. In einem Winkel ihres Bewusstseins blieb die Frage hängen, was Alex an Vaskas letztem Witz über die verfeindeten Clans so verstimmt hatte. Und hatte er mitbekommen, dass ihr schlecht geworden war?

Die sieben Kilometer lange Küstenstraße, die die Ortschaften Calahonda und La Perla verband, war gut beleuchtet, der kühle Wind klärte Lillis Gedanken. Sie erreichten nach einer schweigsamen Fahrt das Zuckerrohrfeld.

Alex stieg vom Rad und verschwand im Feld.

Lilli tat es ihm nach. Die Dunkelheit verschluckte Alex unter den hohen Pflanzen. Längst aber kannte sie den Weg zum Boot. Selbst mit geschlossenen Augen würde sie ihn finden. Sie musste lächeln, beinahe wie jedes Mal, wenn sie hier entlang ging.

Nie würde sie die Nacht vergessen, in der sie zum ersten Mal an seiner Hand durch dieses Feld gelaufen war. Nie würde Lilli vergessen, wie es sich angefühlt hatte, als er ihr gesagt hatte, dass er ihr das Boot schenkte. Alex hatte sehr bald nicht nur ihren Glauben an die Gesetze ihrer Welt erschüttert, sondern es auch geschafft, sie tief zu berühren. Durch ihn hatte sich ihr unfreiwilliger Aufenthalt in Spanien zu einer Mischung aus Traum und Wirklichkeit verwandelt, in der die Grenzen immer mehr verschwammen. Oft ertappte sie sich bei dem Gedanken, dass sie selbst Teil einer Legende geworden war. So wie Alex damals, als er erfahren hatte, dass er kein gewöhnliches Wasseramphibion war und die Legenden über die Auserwählten mehr Wahrheit enthielten als ein Bericht in der Lokalzeitung. Nachdem sie ihre Heimatstadt New York verlassen hatte, war sie überzeugt gewesen, dass diese anderthalb Jahre in Spanien eintönig werden würden. Sie hatte nichts sehnlicher gewollt, als von hier wieder abzuhauen. Inzwischen aber war ihr der Gedanke an eine Abreise verhasst. Sie hatte tunlichst vermieden, mit Alex über dieses Thema zu reden. Seine Aufgabe an Land war erledigt, das Böse in Person von Rex beseitigt. Lilli hatte sich nicht getraut zu fragen, wann er in seine Heimat zurückkehren müsste. Oder wollte. Davor graute es ihr mehr als vor ihrer eigenen Abreise in einem Jahr. Vielleicht war doch nicht alles für ihn hier getan, sagte sie sich zum Trost. Danya befand sich auf der Flucht, das heilige Buch blieb verschwunden. Aufgaben, die ihn noch eine Weile in ihrer Welt halten könnten.

Vielleicht, vielleicht, vielleicht … Lilli folgte dem Geräusch seiner Schritte und versuchte, ihre düsteren Gedanken zu verbannen. Jedenfalls hatte sie Alex jetzt eine Weile für sich. Das allein zählte: jeder Tag, jede Stunde, die sie mit ihm zusammen sein konnte.

Sie erreichten die Gabelung. Hier ließen sie ihre Fahrräder zurück, denn ihr Weg führte sie nun ins Dickicht des Zuckerrohrs. Lilli kannte auch diese Abzweigung inzwischen gut. Obwohl hier kein Pfad war, fand sie selbst bei völliger Dunkelheit die kleine Lichtung ohne Hilfe. An Alex’ Hand, der ihre stumm ergriff, machte es aber mehr Spaß, und behände lief sie hinter ihm her.

Bei der Lil Majestic angekommen, übersprang Alex mit einem geschmeidigen Satz die übereinandergestapelten Steine. Diese befanden sich einzig für Lilli dort, dienten ihr als Stufen. Am Anfang hatte Alex noch den Anschein gewahrt, sie ebenfalls zu benötigen, um ins Boot zu gelangen, doch mittlerweile existierten sie für ihn nicht mehr.

Während Lilli Stufe für Stufe hochkletterte, dann über die Holzreling krabbelte, hatte Alex auch schon die Kajütentür beiseitegeschoben und war im Inneren verschwunden. Lilli seufzte und folgte ihm. Manchmal vergaß er, dass sie nur mit den üblichen menschlichen Fähigkeiten ausgestattet war. Und selbst die waren bei ihr in beschränktem Maße vorhanden. Klettern zum Beispiel war so gar nicht ihr Ding. Er dagegen war nicht nur körperlich stärker als ein Mensch, er hatte noch eine Reihe anderer Fähigkeiten, die jene eines normalen Menschen bei weitem übertrumpften.

Als sie unten ankam, brannten bereits Kerzen in bunten Windlichtern und tauchten den Raum in warmes Licht.

»Für einen Unsterblichen bist du ganz schön ungeduldig«, maulte Lilli.

Alex sah sie erst verständnislos an. Dann huschte ein Lächeln über sein Gesicht.

»Bin noch nicht unsterblich«, sagte er nüchtern. »Ich habe mich beeilt, für dich Licht zu machen. Mit Strom wäre das alles kein Thema. Du kannst schließlich im Dunkeln nichts sehen. Was bedeutet, dass du womöglich die Leitersprosse verfehlst, und stürzen ...«

»Bah! Stopp! Reib mir nicht wieder unter die Nase, dass ich nur ein armes Menschlein bin und du bald unsterblich. Wie wird es erst dann sein, wenn du jetzt schon so angeberisch flott unterwegs bist?«

»Dann werde ich vermutlich die Dinge erledigt haben, noch bevor du sie gedacht hast. Ein armes Menschlein … klingt süß. Mein armes Menschlein. Übrigens überlege ich ernsthaft, eine kleine Solaranlage auf der Kajüte aufzubauen. So hättest du elektrisches Licht auch hier.«

Solaranlage? Woher wusste er darüber nun schon wieder Bescheid?

Er lachte in sich hinein, als er ihr Gesicht erblickte. Sein Lächeln verschwand. »Zuerst kommt für mich die Rubinverwandlung, erst danach die Unsterblichkeit«, wechselte er das Thema.

»Richtig«, brummte Lilli. Strom hin oder her, das war im Augenblick nicht seine größte Sorge. Sie war sich nicht sicher, wie sie darüber denken sollte. Lilli wusste, dass die Rubinverwandlung als zweite nach der Kristallmetamorphose folgte. Doch wie genau diese ablaufen würde und wie lange Alex dafür ins Meer musste, wusste sie bis heute nicht. Noch so ein Thema, dem beide aus dem Weg gingen.

Er schien ihre Gedanken zu erraten. »Keine Sorge, die Rubinverwandlung erledige ich nebenbei. Ist weder schmerzhaft, noch müssen wir uns darauf vorbereiten.«

»Habt ihr euch für eure erste Verwandlung vorbereitet?«, fragte Lilli. Alex hatte nicht viel über diese gesprochen. Nur als er ihr letztes Jahr seine Geschichte zum ersten Mal in Form einer Legende über einen Jungen namens »Marian« erzählt hatte, ein Name, der sich als sein zweiter Vorname entpuppt hatte, war er bei dem Kapitel sehr aufgewühlt gewesen. Weil er während der Verwandlung schreckliche Schmerzen gehabt hatte. Aber auch, weil er zwei seiner Teamkollegen dabei verloren hatte. Danya an das Böse. Und einen Jungen namens Jimo, den Rex während der Verwandlung getötet hatte. Wahrlich keine Erinnerungen, auf die man freudig zurückblickt.

Lilli warf ihm einen vorsichtigen Blick zu. Hätte sie das Thema nicht ansprechen sollen?

Alex schien diesmal nicht weiter beeindruckt. »Wir sind vor der Kristallverwandlung ein halbes Jahr in die Ausbildung gegangen. Dabei haben wir auch alles über die nächsten beiden Metamorphosen gelernt. Deshalb müssen wir uns jetzt nicht besonders vorbereiten. Wir werden uns lediglich einen Tag vorher mit Seraphim treffen.«

Gut, dachte Lilli erleichtert. Kein halbes Jahr also, in dem sie auf Alex verzichten musste.

Seit ihrem ersten Besuch auf der Lil Majestic waren viele Wochen vergangen, doch wenig hatte sich in der Zeit verändert. Immer noch stand der knorrige Tisch da, inzwischen gesellte sich ein zweiter Stuhl zum ersten. Alex hatte ihn auf dem Flohmarkt in Calahonda ergattert, obwohl er nicht zum Verkauf gestanden hatte. Er war als Unterlage für verschiedene Porzellangegenstände benutzt worden, Alex hatte allerdings so lange verhandelt, bis ihn der Besitzer schließlich abgegeben hatte. Die Etagenkoje zur Linken war mit Kissen und Decken gemütlich hergerichtet, das schiefe Regal hinten trug ein paar Bücher mehr. Das einzige Stück, das nicht ganz hierher passen wollte, war ein tragbarer Fernseher mit DVD-Player. Er war akkubetrieben, Alex lud ihn bei sich zu Hause und brachte ihn manchmal mit. Er war ein begeisterter Filmeschauer. Die DVDs lieh er sich in der einzigen Videothek in Calahonda aus. Meistens waren die neuesten Filme dran, doch auch den einen oder anderen älteren hatte er schon dabeigehabt. Einmal hatte sich Alex vergriffen und einen Splatterfilm mitgebracht. Aber selbst den hatte er sich bis zum Schluss angeschaut, während Lilli mit Kopfhörern auf der Koje gelegen und sich ihre Musik angehört hatte.

Sie ließ sich in die Kissen fallen. Stumm betrachtete sie Alex, der mit dem Rücken zu ihr dastand und zu überlegen schien. Sie setzte sich auf und nahm seine Hand. Sanft zog sie ihn zu sich, er ließ es geschehen. Sobald die Nacht hereinbrach, entfalteten sich die Raubtierinstinkte am stärksten. In diesen Minuten vermied Alex ihre Nähe. Nach jenem schrecklichen Erlebnis blieb er vorsichtig. Damals auf dem Meer hatte er sie bei Sonnenuntergang geküsst. Doch es war für ihn kein romantischer Moment wie für sie gewesen. Er hatte fast die Kontrolle über sich verloren. Seither achtete Alex immer genau darauf, ihr in der Stunde der Dämmerung, wenn sich seine Sinne schärften, nicht ganz so nahe zu kommen. Wobei sie das Gefühl hatte, dass er sich inzwischen besser im Griff hatte.

Alex schaute über seine Schulter, lächelte sie an. Lilli lächelte zurück. Langsam beugte er sich zu ihr und küsste sie auf ihren rechten Mundwinkel. »Ich liebe dieses Grübchen«, flüsterten seine Lippen und wanderten zum anderen Mundwinkel. Sie streiften dabei ihren Mund. »Und dieses.« Sie spürte seine Berührung an ihrer Wange und schloss die Augen, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.

Als er sich behutsam, aber bestimmt aus ihrem immer leidenschaftlicheren Kuss löste, seufzte sie enttäuscht. Sein Atem ging schneller, doch Alex machte keine Anstalten, sie wieder zu küssen.

»Wir waren uns doch einig«, erinnerte er sie zum hundertsten Mal, als sie ihn erwartungsvoll ansah.

Und schon war der Zauber des Augenblicks verpufft.

»Na ja, nicht ganz«, flüsterte sie und versuchte, ihn zurück in die Kissen zu ziehen. Doch er blieb unverrückbar sitzen. Genauso gut hätte sie an den Pfosten der Koje zerren können.

»Aaah! Dir ist klar, dass du den Moment ruinierst? Du bist manchmal echt herzlos.« Und der einzige Junge, der ein solches Angebot abschlagen kann, dachte sie enttäuscht.

»Lil, ich bin herzlos, weil ich dir vor langer Zeit mein Herz geschenkt habe.«

»Du polemisierst.«

»Ein wenig. Aber ich meine es wirklich so. Ich habe dir mein Herz geschenkt und glaubte, es würde dir genügen. Dass du mir deins geschenkt hast, ist für mich mehr als genug.«

Aus seinem Mund klang alles so, als würde sie ihn bedrängen. »Dein Herz reicht mir doch«, murmelte sie. »Bisweilen habe ich aber das Gefühl, dass etwas fehlt. Du hast mir erklärt, dass unser Band unsere Seelen und Gedanken verbindet. Unser erstes Mal würde es zu einem dreifachen Band machen. Auch körperlich wären wir eng verbunden, dass wir nie wieder jemand anderen wollen. Ist es so unverständlich für dich, dass ich dich ganz will?«

Sie warf ihm einen mürrischen Blick zu und sah noch, wie er ein Grinsen unterdrückte, bevor er aufstand und sich an den Tisch setzte. Mit einer einladenden Geste deutete Alex auf den zweiten Stuhl. Er griff in seinen Rucksack und holte eine große Flasche Limo hervor.

Lilli packte ein Kissen und warf es nach ihm. Ihre Frage blieb unbeantwortet. Ja, er ruinierte eindeutig den Moment. Alex hatte ihr erzählt, dass das erste Mal bei den Wasseramphibien wohl überlegt sein musste, denn es besiegelte für immer die Bindung. Die Liebenden werden vollkommen, sie werden eins. Alles, was einer empfindet oder durchlebt, würde der andere ebenfalls spüren. Sämtliche Gedanken des einen, denkt der andere genauso. Und der Schmerz des einen würde zu dem des anderen werden. Im Guten, aber auch im Schlechten wie ein einziges Wesen sein. Deshalb trennten sich Paare in seiner Welt nie. So etwas wie Scheidungen gab es bei den Thalassiern nicht. Da war es wirklich so: bis dass der Tod uns scheidet. So hatte Alex bestimmt, dass sie warten mussten.

Wenn Lilli ehrlich war, wusste sie nicht, wie sie das Ganze fand. Denn so schön es auch klang, die Vorstellung in allem mit dem Partner eins zu werden, bereitete ihr leichtes Unbehagen. Es war schwer vorstellbar. Doch andererseits gefiel Lilli der Gedanke, mit Alex so zusammenzuwachsen. Dieser hatte da größere Bedenken, wie sich herausstellte. Er behauptete zwar, nicht seinetwegen. Ihm sei klar, dass er für immer mit ihr vereint sein wollte. Er wartete ihr zuliebe. Sie sollte die Chance bekommen, sich das gut zu überlegen. Und wenn sie ihn später noch wollte, dann …

»Du hast mich nicht einmal deiner Familie vorgestellt. Außerdem sind wir noch so jung«, hatte er dann gesagt.

Woraufhin Lilli nicht ohne Neid erwidert hatte: »Du wirst nach deiner Diamantverwandlung für immer jung bleiben, während ich älter werde.«

Lilli schüttelte das Bild ab, in dem sie sich als verhutzelte alte Frau sah, die neben dem jungen Alex wie ein Geist wirkte. »Ich komme ja schon«, sagte sie gereizt, stand umständlich auf und setzte sich zu ihm an den Tisch. Solche albtraumhaften Vorstellungen konnte er mit Sicherheit nicht nachvollziehen.

Ohne ein Wort reichte Alex ihr die Limonadenflasche. Sein Gesicht wurde ernst.

Ja, in diesem Punkt war er echt zu vernünftig. Und so läuft es unter dem Stichwort »Probezeit«, dachte Lilli verärgert und griff nach der Flasche. Zerknirscht schaute sie ihn an. »Manchmal denke ich, du findest mich nicht hübsch. Ich meine, klar, wenn ich mich neben dich stelle, dann sieht die Sache für mich nicht gerade gut aus. Aber komm! So furchtbar hässlich oder abstoßend bin ich doch gar nicht, oder?«

Alex betrachtete sie amüsiert. »Wenn du so ein Gesicht machst, bist du furchtbar hässlich.« Er wurde wieder ernst. Mit einem verliebten Blick schaute er ihr in die Augen. »Wie kommst du auf solche Gedanken? Du bist für mich …«

»Schon gut. Lassen wir das Thema.« Ihr Frust war auf dem Höhepunkt.

»... perfekt«, beendete er leise und ergriff ihre Hand. »Ich habe Angst, okay?« Er sah sie bei diesen Worten nicht an. Stattdessen knetete er ihre Finger.

Lilli war zu überrascht, um gleich zu antworten. Wieso Angst? Sie hatte gedacht, er sei einfach zu vernünftig und nahm die Gesetze seiner Welt ernst. Wenn er aber nur Angst vor seinem ersten Mal hatte … willkommen im Klub!

»Du bist nicht allein. Ich will mit dir zusammen sein, mehr als alles auf der Welt. Eins werden mit dir. Das bedeutet nicht, dass ich vor meinem ersten Mal nicht genauso große Angst habe.«

Alex hob seinen Blick. »Wie meinst du das?«

»Was?«

»Dass du vor dem ersten Mal Angst hast?«

»Ähm, ich dachte, du hättest verstanden, dass du mein erster …«

»Ja, schon«, fiel er ihr ins Wort. »Aber ich wusste nicht, dass du Angst hast.«

Jetzt war Lilli verwirrt. »Du doch auch, du hast es gerade gesagt. Ich dachte, wir sind wegen der Gesetze der Wasseramphibien nicht zusammen, du sagtest allerdings, du hättest Angst.«

»Ich meinte damit etwas anderes.« Ein schüchternes Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus.

»Und was?«

»Dass ich in deiner Nähe am wenigsten die Kontrolle über mich habe. Ich konzentriere mich die ganze Zeit darauf, mich nicht zu vergessen, wenn wir uns nahe sind. Ich könnte dich verletzen oder schlimmer ... Weil ich in deiner Nähe nicht klar denken kann. Deshalb habe ich Angst.«

»Oh«, machte Lilli. So hatte sie es noch nicht gesehen. Die Beherrschtheit, die er inzwischen an den Tag legte, war also nicht hundertprozentig. »Auch nach Sonnenuntergang?«, fragte sie.

Alex nickte. »Kommt darauf an, wie nahe wir uns sind.«

»Stimmt es denn überhaupt, dass das erste Mal bei den Wasseramphibien fürs ganze Leben bindet? Oder hast du das nur erfunden, um den wahren Grund zu verschweigen?«, fragte sie.

»Das stimmt wirklich. Doch davor habe ich keine Angst. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als mit dir ganz und für immer verbunden zu sein.«

»Oh«, sagte sie noch einmal. »Okay, dann müssen wir einen Weg finden, um uns dem Ganzen langsam zu nähern. Wir könnten …«

»… unsere Hände fürs Erste bei uns behalten?«

»Das. Oder uns einfach eine Weile nur küssen, immer ein wenig länger. Und dann, wenn das Küssen ohne Problem geht, dann … streicheln. Du weißt schon, so Stellen wie deine Brust oder meine …« Sie wurde rot unter seinen glühenden Blicken. »Homöopathische Dosen sozusagen«, nuschelte sie.

Alex lachte leise. »Ja, vielleicht funktioniert dein Plan.«

»Fein. Dann küss mich!« Sie schaute ihn so verführerisch wie möglich an.

»Die Dosis von gerade eben genügt für die nächste Stunde.« Er löste sich aus ihrem Blick und guckte demonstrativ überall hin, nur nicht zu ihr.

»Bah!«

Alex gluckste.

Lilli nahm einen Schluck aus der Limoflasche und reichte sie wieder Alex. Es war plötzlich heiß im Boot geworden.

»Chris verhält sich seltsam«, wechselte Lilli rasch das Thema. »Er war gestern Nacht in meinem Zimmer, als ich schon im Bett lag. Ich habe so getan, als würde ich schlafen.«

Alex räusperte sich. »Du denkst, er weiß, dass du dich nachts aus dem Haus schleichst?«

Lilli nickte. »Mein Bruder weiß es garantiert. Er hat mich danach gefragt.«

»Und? Hast du es ihm gesagt?« Auf Alex’ Gesicht erschien ein freudig erwartungsvoller Ausdruck.

Lilli senkte den Blick und schüttelte den Kopf.

»Aber ich bin herzlos?!«, hörte sie ihn sagen. In seiner Stimme lag ein kühler Hauch.

Sie schaute auf und traf auf zwei Gewitterwolkenaugen, in denen ein kleiner Sturm tobte.

»T-tut mir leid«, stammelte sie. »Ich habe nur zugegeben, dass ich mich mit jemandem treffe.«

Das reichte Alex offensichtlich nicht. »Was ist es nur, Lilli, dass du dich meiner so sehr schämst? Gerade wolltest du noch … na ja, mit mir so zusammen sein. Aber du sagst es nicht einmal deinem Bruder.« Er blinzelte. Plötzlich wich der Sturm aus seinen Augen und eine tiefe Traurigkeit blickte ihr entgegen.

Sie griff nach seiner Hand. Er ließ es zwar geschehen, doch sie lag leblos in der ihren. »Ich schäme mich deiner nicht, Alex. Ich verspreche dir, ich stelle dich Chris und meinen Leuten vor. An meinem Geburtstag.« In die letzten Worte legte Lilli ihre ganze Überzeugung.

Zweifelnd und hoffnungsvoll zugleich hob Alex die Brauen. »Wirklich?«

»Ehrenwort. Ich weiß, ich wollte erst keine Party, inzwischen habe ich aber nachgedacht. Warum nicht? Es ist mein 18. Geburtstag und der sollte gefeiert werden. Ich würde gern ein paar Freunde zum Abendessen einladen. Und dich.«

Alex grinste. Plötzlich erwachte seine Hand zum Leben. Er verschränkte seine Finger mit ihren und drückte ihr einen Kuss auf den Handrücken. »Schön. An deinem Geburtstag also. Dann frage ich auch nicht mehr, warum du es Chris nicht gesagt hast, wenn er dir schon auf die Schliche gekommen ist.«

Lilli lächelte erleichtert zurück. Gut, ich hätte nämlich keine logische Erklärung dafür. Laut sagte sie: »Der 12. März ist ein Samstag, das passt ganz prima. Dann plane ich für Freitagabend das Essen und wir können in den Samstag hineinfeiern.«

»An wen hast du als Gäste gedacht?«

»An Toni und Maria. Und an meinen Bruder natürlich. Nina, Eugene …«

»Eugene?« Alex’ Stimme war um einen Tick zu forsch. Er räusperte sich und sagte schnell: »Okay, also Eugene. Noch wer?«

Lilli sah ihn eine Weile nachdenklich an, schüttelte dann den Kopf. Eugene. Nicht gerade jemand, den Alex gut leiden konnte. Doch es war ihr Geburtstag. Wenn sie schon den Schritt ging und ihren Freund vorstellte – den Teil aus dem Meer ausgenommen –, dann konnte ihr Freund auch damit leben, dass ihre Freunde da sein würden. Einschließlich Eugene.

Um das Thema zu wechseln, sagte sie: »Ich habe eine Überraschung für dich.«

Alex strahlte sie an. »Her damit!« Offensichtlich eine prima Ablenkung, er liebte Überraschungen.

»Ist nichts, was ich dir geben kann. Es ist eine … Einladung. Übermorgen um Mitternacht am Strand unten.«

Alex’ Gedanken spiegelten sich auf seinem Gesicht.

»Du fragst dich jetzt, was da so Besonderes ist?« Lilli grinste breit.

»Kannst du inzwischen Gedanken lesen?« Er war sichtlich verwundert.

»In deinem Gesicht lesen konnte ich schon immer ganz gut.«

»Okay, ertappt. Was ist nun übermorgen?«

»Ein halbes Jahr, dass wir uns das erste Mal begegnet sind.«

Alex stöhnte auf. Sein Gesicht verdunkelte sich.

»Was?«, fragte Lilli unsicher. Sie hatte eine andere Reaktion erwartet. »Ist es so schlimm, dass wir uns begegnet sind?«

Überrascht schob Alex die Brauen hoch. »Daran hätte ich auch denken können. Ich schätze, ich muss mich noch an den einen oder anderen menschlichen Brauch gewöhnen«, sagte er nachdenklich.

»Ach so. Du bedauerst es nicht, dass ...«

»Blödsinn«, unterbrach sie Alex. »Natürlich nicht. Übermorgen ist der Tag, an dem du mich am Strand gefunden und gerettet hast.«

Lilli nickte. »Über den Weg gelaufen bist du mir zwar schon einmal drei Tage zuvor, nach dem Beben, als du mich gerettet hast. Ich war aber bewusstlos. Erst später haben wir uns das erste Mal unterhalten. Deshalb gilt für mich dieser Tag.«

»Und was ist übermorgen am Strand?«

»Eine Überraschung eben.«

Während Lilli später an Alex gekuschelt auf der Koje lag, lauschte sie seinem Herzschlag. Sie konnte sich nicht erklären, weshalb sie heute dieses Geräusch so aufwühlte und berührte.

Der fremde Herzschlag im Zuckerrohrfeld blieb unbemerkt.


7.
Ein Besuch zu Hause

 

Mit einem langen, zärtlichen Kuss unter dem Eukalyptusbaum am Schulhofzaun verabschiedete sich Alex am darauffolgenden Spätnachmittag von Lilli. Heute fiel es ihm besonders schwer, auf ihre gemeinsamen Stunden zu verzichten, die sie für gewöhnlich nach dem Unterricht oder der Theaterprobe in der Lil Majestic verbrachten. Denn auch den morgigen Tag mussten sie getrennt verbringen.

Alex wollte sofort nach Thalassa 3 aufbrechen und das schien Lilli ausnahmsweise recht zu sein: Sie hatte sich zum Familientag gemeldet. Als er ihr gesagt hatte, dass er erst morgen Abend zurück sein würde, hatte sie etwas gebrummt, das wie »das Mitternachtsdings vorbereiten« geklungen hatte. Über die Überraschung hatte Alex ihr nichts entlocken können, obwohl er es in der Schule mehrmals versucht hatte. Schmollen, mit den Wimpern klimpern, leidenschaftlich küssen – nichts hatte Lilli auch nur den kleinsten Hinweis entwinden können. Er hatte ihr ebenfalls kein Wort zu seinem Geschenk verraten. Zur Feier des Tages sollte es ein ganz besonderes Mitbringsel aus dem Meer geben. Was, wusste er zwar noch nicht, doch er war zuversichtlich, dass er etwas finden würde, selbst wenn er dafür meilenweit schwimmen müsste. Außerdem hatte er nach seiner morgigen Rückkehr vor, über den Markt in Calahonda zu laufen. An den Ständen gab es oft besondere Geschenkideen.

Hoffentlich fand er einen Platz für ihr Geschenk in seinem Zimmer. Es war inzwischen so vollgestopft, dass man sich darin kaum mehr bewegen konnte. Begeistert hatte er in den ersten Wochen an Land alles gesammelt, was ihm in die Finger gekommen war. Von Flohmarktartikeln über Bücher bis zu sinnlosen Gegenständen, die einfach nur witzig aussahen. Selbst die Wände waren von oben bis unten mit Fotos bedeckt, die Alex mit seinem Smartphone geknipst hatte. Hauptsächlich Porträts von Lilli. Obwohl sie selbst so gern fotografierte, hatte er erstaunt festgestellt, dass Lilli es nicht mochte, fotografiert zu werden.

»Gönn mir doch die Freude. Ich will dich immer um mich haben, auch wenn du nicht bei mir bist«, hatte er gebettelt und sie schließlich doch noch überreden können.

»Ich dich auch«, hatte sie daraufhin verlangt. Obwohl sie wusste, dass es unmöglich war, Bilder von ihm in ihrem Zimmer aufzuhängen, solange er ihr Geheimnis blieb.

Alex erinnerte sich an seine Antwort: »Ich schenke dir das ganze Meer. Und erzähle dir zu allem eine Geschichte.«

Das hatte Lilli gefallen.

Die Sonne stand schon tief, der alte Eukalyptusbaum warf Schattenspiele auf Lillis Gesicht.

»Ich wünsch dir einen tollen Tag morgen mit deiner Familie. Du weißt, dass ich dich darum ein wenig beneide«, flüsterte Alex ihr zu, atmete noch einmal tief ihren Duft ein und ließ sie aus der Umarmung los.

»Mhm. Weiß ich. Ich hoffe, das Wiedersehen mit Seraphim und deinen Freunden macht es ein wenig wieder gut, auch wenn der Anlass nicht so toll ist.«

»Nun guck nicht so«, schimpfte er, als er Lillis besorgten Gesichtsausdruck sah. »Ich will, dass du für einen Tag den ganzen Mist vergisst und mit deinen Leuten Spaß hast.«

Prompt lächelte sie. »Nicht ernst gemeint. Ich tue mein Bestes. Außerdem werde ich sehr beschäftigt sein und gar keine Zeit finden, dich zu vermissen.«

Alex äffte sie nach, verzog seinerseits schmollend den Mund. »Das höre ich gern«, sagte er grummelig.

Lilli lachte auf. »Komm schon, du wirst sicher viel zu erledigen haben.«

»Ich werde aber noch Zeit finden, an dich zu denken.«

»Das höre ich gern«, gab sie zurück und schaute ihn unter schweren Lidern an.

Alex kannte diesen Ausdruck längst. Sie spielte mit ihm und es gefiel ihm. Widerwillig riss er sich von ihr los, scheuchte sie weg. »Geh endlich!«, befahl er ihr.

Folgsam packte Lilli ihr Rad, stieg auf und mit einer Kusshand radelte sie davon.

Alex blieb am Wegesrand stehen, sah Lilli nach, wie sie mit schwingenden Hüften hinter der nächsten Häuserecke verschwand.

Nur schwerfällig rappelte er sich auf und schlug den Weg zum Meer ein. Der Abend brach herein, die ersten Sterne funkelten im nachtblau des Himmels und ein scharfer Wind pfiff durch die Gassen von Calahonda. Keine Menschenseele trieb sich am Strand herum. Eine bleiche Mondsichel hing über dem Bergkamm, das Meer dahinter hallte stürmisch zu ihm herüber. Durch die Tunnels und Durchgänge schwappte von Zeit zu Zeit Schaum auf den Kies, wenn eine gewaltigere Welle sich am Berg brach.

Alex streifte seine Schuhe ab und lief zum Meer hinunter. Am Ende eines Tunnels angekommen, zog er seine Kleider aus, stopfte alles in den wasserdichten Beutel und hängte ihn sich quer um. Noch einmal sog er die Nacht in sich ein. Ohne zu zögern, sprang er dann ins Wasser und ließ sich von den Wellen mitreißen.

Das Meer in Ufernähe zeigte sich schmutzig und aufgewühlt. Steine schossen hart gegen seinen Körper. Schnell verließ Alex das seichte Wasser. Seine Körpertemperatur hatte sich an die des Wassers angepasst, der Herzschlag verlangsamte sich und er tauchte ab.

Er schlug den bekannten Weg nach Thalassa 3 ein. Unterwegs versuchte er, das Chaos in seinem Kopf zu ordnen. Das Gespräch mit seinem Mentor stand auf seiner Liste ganz oben. Der Tod des Hausmeisters, der abgeschlachtete Delfin ... Seraphim musste davon in Kenntnis gesetzt werden. Dass Danya wieder aktiv geworden war, durfte er nicht für sich behalten. Das Beste wäre, wenn Seraphim das Team zusammentrommeln würde, um sie gemeinsam zu jagen. Falls sie ans Buch herankommen wollte, wäre sie zu allem bereit. Schließlich war es ihr einziger Weg, die tödliche Krankheit zu überlisten. Kurz kamen ihm Zweifel daran, ob Danya all das nur deswegen machte. Er hatte keine vernünftige Erklärung dafür, warum er das Gefühl nicht loswurde, dass etwas viel Schlimmeres im Gange war. Es war ihm, als würde ihm Danya höhnisch zurufen: »Das Spiel geht los!« Und was auch immer dieses Spiel war, es brachte Tod.

Während Alex tiefer in die Dämmerzone eintauchte, fiel die Anspannung langsam von ihm. Wie eine tröstende Umarmung empfand er das Wasser auf seiner Haut. Denn seit er Black zurück ins Meer gebracht hatte, war er erfüllt von einer Unruhe, die an jeder Faser seines Körpers zerrte. Vor Lilli hatte er zwar vorgegeben, gelassen zu sein, ja, sogar unbesorgt. Doch in ihm brodelte es gewaltig.

Einen Moment ließ sich Alex treiben, nahm die Unterwasserlandschaft in sich auf und leerte seinen Kopf von diesen Gedanken. Obwohl es stockdunkel war, erkannte er jedes Detail der Umgebung. Die wogende Seegraswiese, über die er jetzt trieb, und zwischen den langen Halmen die orangefarbenen Seenadeln, die perfekt getarnten Fetzenfische oder kleine Schwärme kobaltblauer Mönchsfische. Als die Unterwasserwiese dem zerklüfteten Meeresgrund wich, hatte er das Ende der Dämmerzone erreicht.

In zweihundert Metern Tiefe zog er über mannshohe Felsen dahin, umschwamm Unterwasserberge und ließ sich herabsinken in Täler, wo das Revier der Seeaale war. Hunderte glitzernder Körper ragten halb aus dem Sand heraus. Wie Silberpfeile schossen sie davon, als Alex dicht über sie hinwegschwamm. Hinter dem nächsten Felsen, auf dem seelenruhig ein Tintenfisch klebte, fanden sie sich in einer Traube zusammen, ein Karussell, das wie flüssiges Quecksilber hin und her kreiste.

Als Alex um eine weite Felsformation schwamm, tat sich unter ihm die Schlucht auf. Sie war nach dem Beben entlang der Kontinentalplatte entstanden. Hier kam er nur ungern vorbei. Er hatte es bis heute nicht übers Herz gebracht, diese zu erkunden. Aus einem unbegreiflichen Grund jagte ihm dieser Ort einen Schauer durch den Körper. Und der hatte nichts mit der kalten Strömung zu tun, die er durchqueren musste.

War er bis jetzt langsam geschwommen, hatte er die Unterwasserlandschaft auf sich wirken lassen, beschleunigte Alex nun seine auf und ab wogenden Schwimmbewegungen. Zügig setzte er seinen Weg fort, schnell hier weg, als plötzlich etwas in der Schlucht aufblitzte. Zunächst dachte er, es wäre ein Anglerfisch, der mit seinem bläulich lumineszierenden Leuchtorgan auf Beutejagd ging. Doch bei näherem Hinsehen erkannte er, dass das Licht viel zu regelmäßig aufleuchtete. Außerdem bewegte es sich nicht.

Alex beobachtete eine Weile dieses Licht, wie es tief unten im Abgrund aufflammte und wieder erlosch. Nein, das konnte nicht natürlich sein. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Langsam setzte er sich in Bewegung, wurde gleichzeitig unsichtbar. Eine Gabe, die er endlich nutzen konnte. Vermutlich trieben sich hier andere Thalassier herum und die mussten ihn nicht sehen.

Seine Sinne waren hundertprozentig wach. Alex vermied es, schnelle Schwimmbewegungen zu machen, während er sich dem Licht näherte. Sein Herzschlag konnte ihn dennoch verraten, durchzuckte es ihn einen Moment.

Er fixierte das pulsierende Licht. Versuchte, die Quelle auszumachen. Doch sie war selbst für sein scharfes Auge noch zu weit weg. Erneut schwamm er durch die Schlucht, ließ sich langsam herabsinken und spürte im Bruchteil der Sekunde, bevor seine Körpertemperatur sich angepasst hatte, die eisige Strömung an ihm lecken. Der einzige Vorteil war, dass die Kälte seinen Herzschlag verlangsamte. Dadurch wurden die elektrischen Impulse schwächer, die von ihm ausgingen.

Das Licht schien aus der Felswand zu kommen. Wenn er nicht gewusst hätte, dass kein menschlicher Taucher bis in diese Tiefe gelangen konnte, hätte er gedacht, es wäre die Sicherheitslampe einer Taucherausrüstung.

Alex hatte sich so weit genähert, dass er nun deutlich erkannte, woher das pulsierende Licht kam. Aus einer Unterwasserhöhle, deren Eingang in die Schlucht zeigte. Er hielt am Höhleneingang und schaute sich um, immer noch unsichtbar. Als er nichts in der geräumigen Höhle entdeckte, schwamm er hinein.

Nach wenigen Schwimmzügen verschwand er hinter einer Felsnase. Überrascht hielt Alex inne. Eine U-Boot-Kapsel! Das blinkende Licht war am Boden befestigt. Als er mit Marc und Stella letztes Jahr zum geheimen Treffpunkt des Rates gefahren war, hatte Seraphim sie in einem solchen Tauchboot hingebracht. Mit seinen über achthundert Stundenkilometern das Schnellste, was Alex zur Fortbewegung unter Wasser kannte. Damals hatte ihnen Seraphim verraten, dass jede Thalassa-Schule nur eines besaß; sie waren verpflichtet, es gut zu hüten, denn diese Maschinen waren wertvoll. Wenn Alex recht hatte, blickte er gerade auf die Abyss 3, das Tauchboot von Thalassa 3.

Unschlüssig suchte er die Umgebung ab, umrundete einmal das Boot und spähte dann ins Innere. Als er dort nichts entdeckte, entschied er sich, die Höhle näher in Augenschein zu nehmen.

Der Raum verengte sich nach hinten, ging nach wenigen Metern in einen Gang über.

An der nächsten Windung blieb Alex abrupt stehen. Er spürte es auf seiner Haut: Jemand war vor Kurzem hier gewesen. Es fühlte sich bedrohlich an.

Ganz ruhig, Alex, es gibt bestimmt eine Erklärung.

Das Gefühl blieb, wurde stärker und verdichtete sich schließlich zu Bildern.

Ein erstes Bild blitzte vor seinen Augen auf, so real, dass Alex entsetzt zurückzuckte. Es verflüchtigte sich schnell wieder, doch was er gesehen hatte, hinterließ ein heftiges Ziehen in seiner Magengrube: Danya, wie sie aus dem U-Boot stieg. Und dann Seraphim, wie er ihr zuwinkte.

Seraphim? Alex erzitterte. Was machte Seraphim bei Danya? Es konnte einfach nicht sein! Es mussten noch Bilder vom letzten Jahr sein. Vielleicht hatte ihr Mentor Danya aufgespürt ... Andererseits wusste Alex mit untrüglicher Sicherheit, dass diese erst neulich entstanden waren. Keine Erinnerung hielt sich im Gedächtnis des Wassers über Monate. Auch nicht in einer Unterwasserhöhle. Seine Gabe half ihm zwar, solche Bilder zu sehen, das Gespeicherte zu deuten, doch zugleich beunruhigte es ihn.

Verunsichert schwamm Alex weiter, darauf gefasst, neue Erinnerungen des Wassers aufzuspüren. Und da! Nach der nächsten Windung, wo sich die Höhle zu einem gerade mal schulterbreiten Spalt verengte, sah er Danya wieder. Reflexartig zuckte er zurück. Erst im nächsten Moment wurde ihm klar, dass sie sich weiter ins Innere bewegte. Ohne zu überlegen, folgte Alex dem Weg, den Danya eingeschlagen hatte. Das Gefühl der Bedrohung überwältigte ihn, heiß wie ein plötzlich erwachter Schwarzer Raucher, über den er geraten war.

Alex musste an sich halten, um nicht sofort umzukehren. Er konzentrierte sich auf das, was er nun sah. Danya war allein, sie trug etwas bei sich. Einen Augenaufschlag lang war ihm, als erkenne er in einem durchsichtigen wasserdichten Beutel ein Buch. Doch als er genauer hinschaute, machte er nur eine unförmige dunkle Masse aus. Als würde er hinter Danya herschwimmen, dachte Alex verstört. Aber auch dieses Bild verflüchtigte sich nach wenigen Schwimmzügen. Lange genug, um Alex in höchste Alarmbereitschaft zu versetzen. Wie alt auch immer diese Erinnerung sein mochte, älter als ein paar Stunden bestimmt nicht.

Ohne es zu merken, war er in einen Seitenarm der Höhle gelangt. Nach wenigen Metern endete der Tunnel. Eine Sackgasse. Deshalb sah er hier auch Danya nicht mehr. Alex drehte um und schwamm den Weg zurück. Als er in den Hauptarm geriet, schaute er sich um. Dieser Tunnel schlängelte sich weiter in den Bauch der Erde. Unregelmäßige Felswände mit scharfkantigen Vorsprüngen auf beiden Seiten. Er beschloss, dem Höhlengang zu folgen, Danya zu folgen, die hier ihre Spur vor nicht allzu langer Zeit hinterlassen hatte. Je tiefer er eindrang, desto schwerer fiel ihm das Atmen, das Wasser enthielt kaum noch Sauerstoff. Unweit musste eine Methanquelle sein, denn es schmeckte bitter.

Alex erreichte bald das Ende des Ganges. Erstaunt blickte er auf eine Wand, an einer Stelle bearbeitet. Das Sediment, das den Stein verfärbte, war dort abgekratzt, nackter heller Stein kam hervor. Er suchte nach einer weiteren Erinnerung im Gedächtnis des Wassers und fand sie. Danya, wie sie sich bückte. Hatte sie den Öffnungsmechanismus betätigt? Das Bild verschwand, bevor er sehen konnte, was Danya an dieser Wand gemacht hatte. Er klopfte mit den Fingern die Vertiefung im Stein ab. Hier befand sich ein Tor im Felsen. War er an einer Schleuse angelangt? Alex bückte sich, wie Danya im Bild, tastete erneut in die Vertiefung und suchte dort nach einem verborgenen Öffnungsmechanismus. Im Boden vor der Felswand fand er ihn unter einer Steinplatte. Er rückte die Platte zur Seite, schob seine Hand ins Loch und ertastete einen Metallring. Vorsichtig zog er daran. Als sich nichts rührte, verstärkte er den Zug. Nach kurzem Widerstand gab der Ring nach, zischend traten Luftblasen aus der Einkerbung. Der Fels glitt mit einem schabenden Geräusch in den Boden.

Alex fand sich vor einem Schleusentor wieder. Jenseits der Saphirglastür herrschte Finsternis, zu beiden Seiten nichts als nackte Wand. Nur einen Moment zögerte er, dann drehte er am radförmigen Griff des Schleusentors. Ein Spalt öffnete sich, durch den er ins Innere schlüpfte. Mit einem Schwall Wasser schwappte er über die Schwelle, wurde gleichzeitig wieder sichtbar. Doch das hielt ihn nicht zurück.

Flink huschte Alex durch gewundene schmale Gänge tiefer in den Bauch des Unterwasserberges. Obwohl er die Spur Danyas verlor, sagte ihm sein Gefühl, dass sie hier gewesen war.

Lange veränderte sich das Aussehen des Ganges nicht. Dann wurde er breiter und weiter tiefer im Inneren ging er in einen Tunnel über. Als Alex das Ende des Tunnels erreichte, fand er sich am Eingang einer Tropfsteinhöhle wieder. Verblüfft lief er bis zur Mitte des Raums. Dort drehte er sich einmal um die eigene Achse. Hier hätte ganz Thalassa 3 locker hineingepasst. Obwohl er bis in die entfernteste Ecke die Finsternis durchdrang, schaltete er das Licht seiner Taucheruhr ein. So erkannte er auch die Rot- und Brauntöne.

Da, wo er nun stand, waren Steinplatten gelegt worden. Alex machte verblasste Malereien aus, die in Teilen unter einer Schicht Ablagerungen begraben lagen. In der Mitte des gigantischen Saals entdeckte er kreisrund zusammengefügte Platten. In diese war eine spiralförmig gewundene Schrift geritzt worden, in deren Mitte ein einziges großes Symbol prangte. Obwohl Alex sie nicht entziffern konnte, erkannte er in ihr die Schrift, in der seine geheime Formel auf seinem Amulett eingraviert war. Unwillkürlich griff er sich an die Brust. Den Anhänger in seinen Fingern zu spüren beruhigte ihn.

Noch einmal schaute er sich um. An der Decke der Höhle hingen lange Tropfsteine, viele davon waren abgebrochen. Die Teile, die zu Boden gefallen waren, hatte jemand an die Ränder des Saales geschafft. Aber warum? Wieso machte man sich die Mühe, den Boden der Tropfsteinhöhle freizulegen? Wegen der Inschrift? Wieder musste Alex an Danya denken. War sie hierher gekommen, um diese Steinplatten zu finden? Missmutig schüttelte er den Kopf. Leider beschränkte sich seine Fähigkeit, Spuren zu lesen, nur aufs Wasser. An Land war er in dieser Hinsicht genauso hilflos wie ein Mensch.

Während Alex seinen Blick im Raum umherschweifen ließ, entdeckte er eine Falltür zu seiner Rechten und den Eingang zu einem weiteren Tunnel wenige Meter daneben. Dieser war von Felsen zugeschüttet. Alex erinnerte sich, dass Eugene erwähnt hatte, wie er und seine Freunde letztes Jahr auf eine Höhle gestoßen waren, als sie vom Beben überrascht und lebensgefährlich verletzt worden waren. Marc und Seraphim mussten von dieser Höhle wissen. Waren sie es gewesen, die hier aufgeräumt hatten?

Immer mehr Fragen, auf die er keine Antwort fand, dachte Alex zerknirscht. Er ging zum freien Durchgang. Einen Moment zögerte er. Sollte er ein anderes Mal herkommen und diesen Teil erforschen? Doch seine Neugier trieb ihn weiter.

Im Gegensatz zu den anderen war dies ein künstlich angelegter Gang, Wände wie Boden glatt und gleichmäßig. Alex lief eine ganze Weile, bis ihm klar wurde, dass er sich Richtung Calahonda bewegte. Der Tunnel führte aus der saalförmigen Tropfsteinhöhle zum Festland. Mit wachen Sinnen ging er weiter. Es konnte sich nur noch um wenige Kilometer handeln, bis er auf das Ende dieses Tunnels stoßen würde.

Tatsächlich. Nur Minuten später erreichte er eine gewölbte Wand. Hier musste er auf die Knie gehen, denn der Durchgang war niedrig. Nach einer längeren Strecke auf allen vieren gelangte Alex schließlich in einen Schacht und konnte sich wieder aufrichten. Die Steinplatte unter seinen Füßen fühlte sich schlammig an. Der Schacht war kaum breiter als zwei Armlängen, das Mauerwerk glänzte feucht. An einer Wand führte eine schmale, rostige Leiter nach oben zu einem Gusseisendeckel.

Wenn er schon hier war, wollte er auch sehen, wohin dieser führte, dachte Alex. Er kletterte hinauf und drückte den Deckel nach außen. Als sich die Gusseisenplatte löste, rieselte Dreck auf ihn. Vorsichtig schob er seinen Kopf durch die Öffnung. Sofort drang ein ekelerregender Gestank zu ihm. Er kam von der dicken Müllschicht, die den Boden im Inneren der Ruine bedeckte. Alex war im Leuchtturm von Calahonda herausgekommen. Das Wahrzeichen des Ortes hatte einen Geheimgang! Eine spannende Erkenntnis, aber im Moment brachte sie ihn nicht weiter, auch wenn Danya mit ziemlicher Sicherheit diesen Weg zum Festland gegangen war.

Alex zog den Kopf ein, schob den Deckel an seinen Platz zurück und machte sich wieder auf den Rückweg. Diesmal lief er zügig durch den Tunnel, nachdem er die schmale Passage hinter sich gelassen hatte, und kam nach wenigen Minuten in die Tropfsteinhöhle. Er durchquerte sie und war im Begriff, in den Tunnel zu treten, der ihn zurück ins Meer bringen würde. Nur noch eines wollte er hier näher in Augenschein nehmen. Das rechteckige Loch im Boden unweit der Falltür.

Als Alex an den Rand trat, hielt er unverzüglich den Atem an. Doch im tiefen Loch lagen nur Steinbrocken, außerdem etwas, das wie ein Stoffrest aussah. Wie ein leeres Grab, dachte er, zuckte mit der Schulter und setzte seinen Weg fort.

Er sollte sich auf andere Dinge konzentrieren. Der Entdeckung des Verbindungswegs zwischen Calahonda und Thalassa 3 würde er später nachgehen. Anstatt Antworten musste er weitere Unbekannte seiner Sammlung von Fragen hinzufügen. Dass Alex in den Erinnerungen des Wassers Seraphim und Danya gesehen hatte, dass er das Tauchboot gefunden hatte – diese Erkenntnisse gaben dem Ganzen eine neue Wendung. Oder er befand sich ...

Es war Rex gewesen!, durchzuckte es ihn urplötzlich. Natürlich! Danya und Rex, nicht Seraphim. Da sich die beiden Brüder stark ähnelten, hatte Alex die Bilder missdeutet. Doch auch diese Interpretation war absurd, sagte er sich gleich darauf. Rex war tot. Oder musste er sich mit dem Gedanken anfreunden, dass er überlebt hat? Obwohl ihm die Vernunft sagte, dass das unmöglich war, erzählte ihm das Gedächtnis des Wassers etwas anderes.

Die restlichen Kilometer bis Thalassa 3 nutzte Alex, um sich für das Gespräch mit seinem Mentor zu sortieren, einen ersten Plan zu überlegen und sich zu beruhigen. Er würde ihn direkt ansprechen, nahm er sich vor. Er würde Seraphim ohne Umschweife fragen, ob es diese Begegnung zwischen ihm und Danya gegeben hatte.

Eine Stunde später traf er an der Nordschleuse ein bekanntes Gesicht.

Greg begrüßte ihn mit einem breiten Grinsen, nachdem er sich von der Überraschung erholt hatte, dass Alex plötzlich in der Schleuse stand. Alex war unsichtbar gewesen, als er sich Thalassa 3 genähert hatte.

Der drahtige Junge mit den großen hellbraunen Augen, dessen Name eigentlich Gregorius lautete, ging nun in die Abschlussklasse. Er war immer noch die rechte Hand Seraphims. In der Nacht der Kristallverwandlung letztes Jahr hatte Greg ihnen die Schwimmanzüge gebracht. Inzwischen war Alex überzeugt, dass er schon damals die Existenz der Auserwählten entdeckt hatte. Obwohl Greg so getan hatte, als wäre es ganz normal, mit den seltsamen Päckchen mitten in der Nacht durch Thalassa 3 zu laufen und fünf Schüler unter allen Umständen zu wecken. Greg war bekannt für seine Neugier. Vielleicht ein Teil seines Erfolges. Denn er war Klassenbester und Vertrauensperson. Mit Sicherheit kannte er mehr Geheimnisse als jeder andere Schüler. Vielleicht sogar als der eine oder andere Lehrer. Nicht umsonst hatte ihn Seraphim zum Gehilfen ernannt. Alex war sich sicher, selbst wenn Greg etwas über die Auserwählten erfahren hatte, würde er das Geheimnis bestens hüten. Niemand aus den Reihen der Schüler wusste über ihre Existenz Bescheid. Über Alex redete man lediglich als Boten, der länger an Land lebte. Was ja auch nur halb erfunden war.

»Auch wieder abgetaucht?«, fragte Greg vergnügt, nachdem Alex durch das zweite Schleusentor getreten war. Er begann, sonor über seinen eigenen Wortwitz zu wiehern. In einer Hand hielt er einen Riegel, von dem er die Hälfte abgeknabbert hatte.

Alex lachte mit. »Wurde Zeit. Die Luft da oben ist zu dick geworden.«

Das Wiehern Gregs schlug in ein Lachen um, an dem er beinahe erstickte. »Die Luft da oben ist zu dick geworden«, wiederholte er keuchend.

Alex betrachtete ihn belustigt, während er die Kleider aus seinem wasserdichten Beutel nahm und sie überstreifte. Die Bemerkung begriff Greg nicht in ihrer gesamten Tragweite. Doch der Junge lachte wegen der Anspielung auf die Zusammensetzung der Luft an Land. Für die Wasseramphibien war die Luft oberhalb der Wasseroberfläche ein Gemisch, das keiner vor ihrer Metamorphose einatmen konnte. Sie würden an Land so qualvoll ersticken, wie ein Mensch im Wasser ertrank.

»Um beim Thema zu bleiben: schon verwandelt?« Alex warf Greg einen forschenden Blick zu.

Dessen Gesicht verfinsterte sich. »Noch nicht, Mann. Lass mich bloß in Ruhe damit. Ich hab echt keinen Bock darauf. Nicht in diesem Leben jedenfalls! Da verzichte ich lieber auf die Reisen an Land.«

»Und aufs Amphipolo. Und das Schwimmen über den Wellen. Oder auf einem Boot ...«

»Ja, ja, ist gut jetzt! Ich weiß, was du mir sagen willst. Blödmann!« Greg pulte den restlichen Riegel aus dem Papier und schob ihn sich ganz in den Mund.

Alex tätschelte ihm mitfühlend die Schulter. Er verstand nur zu gut, warum Greg am liebsten auf alles verzichten würde. Die normale Verwandlung bei den Wasseramphibien war eine schmerzhafte Sache, doch da mussten alle durch.

»Weißt du, wo Seraphim jetzt ist?«, fragte Alex, um das Thema zu wechseln.

Greg schüttelte immer noch kauend den Kopf. Dann hellte sich seine Miene auf. Mit einem verschwörerischen Gesichtsausdruck trat er näher zu Alex. Er setzte an, doch dann klappte er den Mund wieder zu, als könne der Hammerhai, der gerade mit seinem breiten Maul an die Schleusenwand stieß, sie belauschen. Der Anblick dieses Tieres war für sie nichts Ungewöhnliches, doch erst als der Hai nach einem gelangweilten Blick zu ihnen in der Finsternis verschwunden war, begann Greg.

»Neuerdings ist Seraphim öfter in der Großen Grotte. Besonders zu dieser späten Stunde. Es wird tüchtig gemunkelt, dass es jemanden gibt, dem er sein Herz geschenkt hat. Ich habe es zwar nicht persönlich und mit meinen eigenen Augen beobachtet, was ich allerdings gesehen habe, ist, dass Seraphim öfters gute Laune hat.«

Als Alex ihn halb verständnislos, halb belustigt ob seiner geschwollenen Rede ansah, flüsterte Greg augenzwinkernd: »Eine Dame.« Dabei zeichnete er mit den Händen eine weibliche Kontur in die Luft.

Alex hob die Brauen. »Nein«, stöhnte er in gespieltem Entsetzen, was ihm einen Rippenstoß einbrachte. »Dann werde ich ihn mal in den Armen einer Dame suchen gehen. Danke, mein Lieber. Wir sehen uns.« Er klopfte Greg freundschaftlich auf die Schulter, betrat den Schleusentunnel, der ins Innere von Thalassa 3 führte, und steuerte auf Seraphims Arbeitszimmer zu.

Doch dann hielt er inne. Nein, bevor er seinen Mentor aufsuchte, sollte er zu Marc. Sein Freund war in sein Zimmer eingezogen, solange Alex sich an Land aufhielt. Entschlossen machte Alex kehrt und lief auf sein altes Zimmer zu. Er klopfte kurz. Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete er schwungvoll die Tür.

Da war sein Bett, da war Marc und da war … »Stella?«

»Alex?!«, rief Marc.

»Marc! Alex?«, kreischte Stella.

Sie prusteten gleichzeitig los.

Alex schloss die Tür, blieb einen Augenblick am Türrahmen gelehnt stehen, um die Überraschung zu verdauen. Und um Stella und Marc Zeit zu geben, sich eine Decke überzuwerfen. Breit grinsend drehte er sich schließlich um, nachdem das Kichern und Rascheln in seinem Rücken verstummt war.

Marc hob die Hand, bevor Alex etwas sagen konnte. Er hielt Stella ganz brav im Arm. »Nun gut, dann erübrigt sich meine Beichte«, sagte er und zupfte mit der freien Hand die Decke zurecht.

Stella richtete sich empört auf, dabei rutschte ihr die Decke wieder weg und ließ eine nackte Schulter erkennen. »Wieso Beichte? Du hast doch kein schlechtes Gewissen oder sowas?« Sie funkelte Marc an. Dann warf sie Alex einen verschmitzten Blick zu und rief: »Wäre sowieso zu spät, wir sind seit zwei Wochen für immer eins geworden.«

Alex spürte einen Funken Neid beim Anblick seiner Freunde. Und plötzliche Sehnsucht nach Lilli. Stella und Marc waren richtig zusammen, nicht wie er und Lilli, dachte Alex zerknirscht. Die beiden kamen ja auch aus der gleichen Welt, ganz im Gegensatz zu Lilli und ihm, war sein nächster Gedanke. Wäre sie kein Menschenmädchen, hätte er ... Energisch verbot er sich die Vorstellung dessen, was er getan hätte.

Dafür betrachtete er seine Freunde. Stella hatte sich in der Zeit kaum verändert, zumindest nicht das, was er jetzt von ihr zu sehen bekam. Die sandbraunen Haare fielen ihr zerzaust auf die Schultern, ihre Wangen waren leicht gerötet und sie sah immer noch schüchtern aus, trotz ihrer ganz und gar nicht schüchternen Situation.

Marc dagegen hatte eine radikale Veränderung durchgemacht. Er trug die Haare ganz kurz geschnitten, die Wangenknochen zeichneten sich deutlicher ab und seine dunklen Augen hatten eine ernste Note bekommen. Das Jungengesicht war gereift und Alex blickte auf einen jungen Mann, der ihn schmerzhaft an Danya erinnerte.

»Bevor ich einen Ehekrieg auslöse, haue ich lieber ab. Ich warte im Gemeinschaftssaal auf euch«, sagte Alex.

Stella lächelte dankbar und kuschelte sich wieder in Marcs Arm. Dieser zog sie an sich und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Er zwinkerte Alex zu, der sich in der Tür noch einmal umgedreht hatte.

»Könnte noch ein paar Minuten dauern«, flüsterte Marc.

Alex zog rasch die Tür hinter sich zu. »Bah! Wenn das keine prickelnde Neuigkeit ist«, brummte er, während er sich entfernte.

»Wette, du hast nichts dagegenzuhalten«, hörte er Marc im Zimmer sagen.

Alex schnaubte vergnügt, doch dann wurde er schlagartig ernst, als er sich an Black und den Hausmeister erinnerte. Nein, deren Tod war nichts, was er dem Liebesglück seiner Freunde entgegenzuhalten hatte. Diese Art von Neuigkeit konnte man auch nicht durch eine Wand hindurch mitteilen, wie fein auch immer ihr Gehör war.

 

Hand in Hand schlenderten Marc und Stella eine halbe Stunde später an Alex’ Tisch im Gemeinschaftsraum von Thalassa 3.

Alex musste sich eingestehen, dass er es nicht hatte kommen sehen. Und dass er ein klein wenig neidisch war. Okay, total neidisch. Sie waren zwar alle durch ihr gemeinsames Training vor der Kristallverwandlung eng zusammengewachsen, doch dass sein Freund und Stella ein Paar werden würden, hatte er nicht erwartet.

Sie sahen glücklich aus, stellte Alex zufrieden fest. Eindeutig vereinigte das lebenslange Band zwei Partner, die perfekt zusammenpassten. Eigentlich erstaunlich, dass er diese Harmonie nicht schon früher bemerkt hatte.

Marc zog für Stella einen Stuhl hervor und setzte sich dann selbst.

»So, so. Du und Stella also«, sagte Alex. Er räusperte sich vielsagend, als er bemerkte, wie ihn sein Freund anfunkelte. »Seit wann …?«

»Nicht lange«, fiel Stella ihm ins Wort. »Nach dem Besuch des Amphipolo-Turniers.«

Alex hob verwundert die Augenbrauen. »Das ist eine ganze Weile her!« Fünf Monate, um genauer zu sein. Wieso erfuhr er so spät davon?

Seine unausgesprochene Frage beantwortete Marc. »Wir sind erst seit zwei Wochen richtig zusammen. Außerdem war bei dir dauernd was los, wir hatten nie die Gelegenheit gefunden, mit dir zu reden.«

Das ist wahr, dachte Alex. Es war viel passiert. Lillis Entführung, die Sprengung der Yacht, Lillis Beinahetod … Abgesehen davon lag sein letzter Besuch auf Thalassa 3 nun schon Wochen zurück.

»Verstehe«, sagte er nachdenklich. Doch dann musste er grinsen. »Find’ ich echt stark!«

Marc stieß hörbar die Luft aus. »Ehrlich gesagt, hatte ich Muffensausen vor deiner Reaktion. Nicht, dass sie mich wirklich interessieren würde«, fügte er rasch hinzu, als er Stellas gerümpfte Nase erblickte.

»Wenn wir schon beim Thema sind«, begann Alex und setzte eine geheimnisvolle Miene auf.

Stella missdeutete sie. »Hast du endlich den nächsten Schritt mit deiner Lilli gewagt?« Sie schaute Alex provokativ, aber auch erwartungsvoll an. Weg war ihre Schüchternheit. Für solche Themen zeigte sie sichtliches Interesse.

Alex wurde dagegen zu seiner Verärgerung verlegen. Was sich deutlich auf seinem Gesicht spiegeln musste, Stella lachte auf. »Schon gut. Du musst nicht darüber sprechen. Erzähl doch lieber, was uns die Ehre deines Besuchs verschafft.«

Marc mischte sich ein: »Oh, doch. Du musst darüber sprechen! Seid ihr ...?«

»Nein!«, rief Alex ungeduldig. Wieso musste Marc ihn jetzt damit löchern?

»Warum denn nicht?«, bohrte Marc weiter. »Lass mich raten. Sie findet deine Kusskünste nicht sehr ... aua!«

Stella hatte ihm den Ellenbogen in die Rippen gerammt. »Lass ihn. Was geht dich das eigentlich an? Er wird seine Gründe haben.«

»Welche Gründe denn?«, sagte Marc, als gebe es nichts Wichtigeres zu besprechen als das Liebesleben seines Freundes.

»Marc!«, rief Stella genervt. »Manchmal zeigst du das Feingefühl eines Pottwals beim Niesen.«

»Wir haben früher immer über alles geredet. Warum darf ich jetzt keine Fragen stellen?«, sagte Marc schmollend.

»Es ist kompliziert«, gab Alex leise zu. »Wir wollen es beide, doch ich kann nicht. Es wäre nicht fair, sie an mich zu binden. In ihrer Welt gibt es noch vieles, das auf sie wartet. Die Schule, ihre Familie. Außerdem ...«, an dieser Stelle zögerte Alex. Als er den Blick hob, schaute er in zwei ernste Gesichter. »Ich habe Angst. Es ist manchmal sehr schwer, die Instinkte zu unterdrücken, wenn wir uns nahe sind. Und ich würde mich nicht gerade an unsere Gesetze halten. Es spricht also einiges dagegen, vernünftig betrachtet.«

Stella nickte, während Marc ihn anstarrte, die Stirn in Falten gelegt. »Diese Gesetze werden überbewertet.«

»Sie hat Glück, dass du so rücksichtsvoll bist. Ich bin mir sicher, es wird der richtige Augenblick kommen. Gesetze hin oder her.« Stella lächelte Alex aufmunternd zu.

»Ja, Mann. Keine Sorge, du wirst es wissen, sobald der richtige Moment da ist. Sieh mich an!«, rief Marc und warf sich die Faust auf die Brust.

Stella schaute mit einem spöttischen Blick zu ihm, der zu sagen schien: das perfekte Vorbild, wenn es um das erste Mal eines Auserwählten geht.

Alex musste grinsen. »Danke, mein Lieber. Das tröstet mich ungemein. Ich komme bei Gelegenheit darauf zurück.«

»Ja, schon klar«, sagte Marc ernst. »Ich weiß, dass man es nicht vergleichen kann, bin ja nicht blöd. Lilli ist ein Mensch und du ... eben nicht. Was ich sagen will, ist, dass du dir zu viele Gedanken machst. Vernunft oder Gesetze schön und gut, aber wenn sie es will, dann wird sich der richtige Zeitpunkt auch finden. Vielleicht nicht in diesem Leben, aber ...«

»Marc! Lass endlich die faden Witze!«, rief Stella.

»Ich finde diese Gesetze eh albern.« Marc schien Stella nicht gehört zu haben. Unbeeindruckt fuhr er fort: »Wieso sollen sie verbieten, einen Menschen zu lieben? Oder, dass ein Mensch einen von uns liebt?«

Stella schaute von Marc zu Alex. »Du wolltest vorhin etwas fragen. Zu Seraphim und so weiter.«

Alex nickte beflissen, froh, dass sie das Thema wechselte. »Greg hat Andeutungen über ihn gemacht. Stimmt es, dass unser Mentor eine Freundin hat?«

Marc wackelte verschwörerisch mit den Augenbrauen. »Man munkelt, sie sei eine Unsterbliche. Na ja, du weißt schon, wie man in den Reihen der Normalsterblichen über diese Dinge eben redet. Keiner glaubt an die Auserwählten, doch alle schwatzen darüber.«

Marcs Worte erinnerten Alex an die Geschichte des Weihnachtsmannes, die Lilli ihm letztes Jahr am zweiten Weihnachtsabend erzählt hatte. Sie hatte darauf bestanden, dass sie sich in der Lil Majestic trafen, obwohl sie mit ihrer Familie feiern sollte. Lilli hatte das Boot mit Zweigen von Pinienbüschen geschmückt, deren Duft die Kajüte ausgefüllt hatte. Es hatte für ihn selbstgebackene Plätzchen und zwei Bücher gegeben, von Lilli schön verpackt. Er hatte ihr ein grün-weiß gestreiftes Tuch geschenkt, das sie sich um die Schultern gelegt hatte. Und bei Kerzenlicht und selbstgemachtem Glühwein aus der Thermoskanne hatte sie ihm die Geschichte des Weihnachtsfestes erzählt. Die kleinen Kinder glaubten an einen Mann mit weißem Bart und rotem Mantel, der ihnen Geschenke brachte. Dann kommt das Alter, in dem sie zwar wissen, dass die Geschenke von den Eltern stammen, aber sie können noch nicht ganz den Glauben an den Weihnachtsmann loslassen und reden sich gegenseitig ein, es gibt ihn doch. Und dann kommt das Alter, in dem sie ihren Glauben an den weißbärtigen Mann ganz verlieren. Doch viele bewahren die Tradition, Geschenke unter einen geschmückten Baum zu legen.

»Wie die Sache mit dem Weihnachtsmann«, murmelte Alex gedankenverloren.

»Was?«, fragten Stella und Marc wie aus einem Mund.

Alex schaute auf und traf auf die verwunderten Blicke seiner Freunde. »Ach, schon gut.«

»Unsterblich oder nicht, sexy ist sie auf alle Fälle«, sagte Marc. Er war offensichtlich beim Thema »Seraphims Freundin« hängen geblieben. Der Spruch brachte ihm den nächsten Rippenstoß von Stella ein. Er schaute sie schuldbewusst an. »Nicht so sehr wie du«, fügte er hinzu und grinste schief, was das Ganze noch schlimmer machte.

Stella verdrehte die Augen missbilligend. Sie kaufte ihm diese Schmeichelei eindeutig nicht ab. »Klar, ich bin seit zwei Wochen die einzige Frau, die du jemals sexy finden wirst. Für den Rest deines ewigen Lebens. Deshalb rede du nur, solange du willst.«

Marc rümpfte die Nase. »Stimmt, ich kann Seraphims Freundin gar nicht sexy finden. Ja, also.« Er räusperte sich. »Wie dem auch sei, Greg hat dich richtig informiert: Seraphim hat eine Freundin.«

Alex hatte Stella und Marc während ihres kurzen Wortgefechts amüsiert beobachtet.

»Warum bist du denn nun hier aufgetaucht?«, fragte Marc. »Dass du dein geliebtes Land mal verlässt, muss einen guten Grund haben. Du bist sicher nicht gekommen, nur um deinen Freunden einen Besuch abzustatten.«

Wie immer nahm Marc kein Blatt vor den Mund, doch er hatte wieder einmal recht. Auch wenn es vorwurfsvoll geklungen hatte und Alex einen Stich versetzte.

»Ich muss mit Seraphim sprechen. Es ist etwas passiert.« Alex schaute unentschlossen von Marc zu Stella, dann gab er sich einen Ruck. »Ihr werdet es später sowieso von Seraphim erfahren, dann kann ich es euch genauso gut selbst sagen.«

»Klar doch! Alles, was gefährlich ist, will ich wissen«, brach es aus Marc heraus. »Haben wir einen neuen Bösewicht?«

Als Alex ihn weiter ernst anschaute, verstummte er.

»Etwas in der Art. allerdings keinen neuen. Ihr erinnert euch an die beiden Delfine, mit denen ich öfter um die Wette geschwommen bin?« Als die beiden nickten, fuhr Alex fort: »Ich habe sie Lilli letztes Jahr gezeigt, noch bevor ich ihr anvertraut habe, was ich bin. Sie mochten sich gut leiden. Sie hat sie Black und White getauft. Vor ein paar Tagen hat Lilli Black mit aufgeschlitztem Bauch an unserem Boot im Zuckerrohrfeld gefunden.«

Stella packte erschrocken Marcs Arm. Er sog die Luft scharf ein. Sein Gesicht wurde finster. »Wer macht so etwas?«, sagte er entsetzt.

»Danya«, brummte Alex und wagte nicht, Marc anzusehen.

»Du sagst es, als wäre meine Schwester die einzige Verdächtige«, schnappte Marc.

Alex zuckte mit der Schulter. Er beschloss, Marc noch nicht zu gestehen, dass Lilli es über Black gesehen hatte, dass sie durch seine Erinnerungen wusste, wer ihn getötet hatte. »Ich kann die Hand nicht ins Feuer legen«, sagte er stattdessen, bemüht, seiner Stimme einen neutralen Ton zu geben. »Wenn sie es war, verstehe ich allerdings nicht, weshalb sie es getan hat. Ich verstehe diese Botschaft nicht.«

Marc atmete schneller. »Dann kann sie es auch nicht gewesen sein. Ich schätze, ihre Botschaft würdest du verstehen, wenn sie dir eine schicken wollte. Davor hätte sie vermutlich erst mir eine geschickt. Privileg der Familie und so weiter.«

»Andererseits hasst sie dich nicht so, wie sie Lilli oder mich hasst«, gab Alex zurück.

Marcs Gesicht war nun finster. Er saß gekrümmt da, als hätte er Magenschmerzen.

»Es sei denn, sie hat es gemacht, weil es ihr einfach Spaß macht.«

Der Einwand kam von Stella. Sie schaute Marc besorgt an. Das Thema stellte offensichtlich immer noch eine Belastung für die beiden dar.

Alex konnte sich kaum vorstellen, mit welchen Gefühlen sein Freund zu kämpfen hatte. Neben Schuld, bestimmt auch Frust, Wut und nicht zuletzt Angst. Angst, dass seine eigene Schwester großes Unheil bringen wird. Angst, dass sie bald an den Folgen der Krankheit sterben könnte. Die Sache mit Danya lag wie ein Schatten über ihrem neuen Glück. Das erkannte Alex deutlich. Die Stimmung der beiden hatte sich bemerkbar verdüstert.

Mit der nächsten Bemerkung bestätigte Marc es ihm: »Meine Eltern werden durchdrehen. Sie sind ohnehin nicht mehr wie früher. Ihre Tochter so zu verlieren hat sie fast umgebracht. Wenn sie erfahren werden, dass Danya angefangen hat ...«

Stella streichelte ihm liebevoll über den Arm. »Du musst ihnen ja noch nichts sagen. Zumindest nicht, bis wir Gewissheit haben.«

Marc nickte nur.

»Was ist deine zweite Theorie?«, fragte Stella an Alex gewandt.

»Die andere Theorie wird euch noch weniger gefallen.«

»Schieß los, ich will sie trotzdem hören«, verlangte Marc.

»Rex.«

Marc und Stella schauten ihn an, als wäre der Name noch nicht in ihren Ohren angekommen. Stella blinzelte schneller, als sie begriff. Marc schien es gar nicht zu begreifen.

»Du glaubst, Rex lebt noch?« Stella bemühte sich offensichtlich, nicht hysterisch zu klingen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739418681
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Mai)
Schlagworte
First love Bedrohung Drama Ozean enemy to lover neue übernatürliche Kreatur Liebe Meerjungfrau Wasserwesen Romantasy Urban Fantasy Fantasy Episch High Fantasy düster dark

Autor

  • Karla Fabry (Autor:in)

Karla Fabry wurde Ende des 20. Jahrhunderts in einem von Veilchenduft durchströmten März geboren und lebt seit Beginn des 21. Jahrhunderts in der Nähe von Stuttgart. Nach dem Studium widmete sie sich der Fotografie, bevor sie zur Arbeit mit dem Wort zurückkehrte, bei der sie seit vielen Jahren geblieben ist. Ihre Hobbys sind digitale Fotokunst, Basteln und, wenn noch Zeit bleibt, das Erfinden von Kochrezepten. Besuche sie in ihrer digitalen Internet-Dachkammer!
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Titel: Schattenblau 2: Das Raunen des Meeres