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Schattenblau 1: Das Herz der Tiefe

(Urban Fantasy)

von Karla Fabry (Autor:in)
484 Seiten
Reihe: Schattenblau, Band 1

Zusammenfassung

Wasser und Erde. Feuer und Frost. Mensch und Bestie.
„Ich schlafe ein und denke an Dich, ich wache auf und denke an Dich. Ich denke in jedem Augenblick, bei allem, was ich tue, nur an Dich, Lilli. Ich erfinde eine neue Welt mit Dir in meinen Gedanken, in meinem Herzen. Und doch ist es mir manchmal, als wärst Du seit Ewigkeiten mein Mädchen. Wir retteten uns gegenseitig und so verbindet uns ein Band. Stärker als alles. Mächtiger als mein Wille. Doch schreckliche Dinge werden geschehen, wenn ich nicht wachsam bleibe. Hab keine Angst. Nie werde ich zulassen, dass Dir etwas zustößt, Liebste. Vertraue mir und lass mich Dich beschützen. Das ist mir das Wichtigste. Für immer Dein Alex“
Die 17-jährige Lilli LeBon reist gegen ihren Willen mit ihrer Familie aus New York in ein spanisches Kaff aus. Ihr Frust verfliegt aber, als sie Alex begegnet – dem mysteriösen Jungen mit einem Geheimnis, dunkler als die Tiefsee. Er kann nicht Fahrrad fahren, aber ohne Taucherausrüstung lange tauchen – viel zu lange! Er findet Kirschmarmelade göttlich, spielt gerne Theater und schreibt wunderschöne Liebesbriefe. Doch Lilli erkennt bald, dass das Böse nicht nur in den Tiefen des Meeres lauert. Es schlummert auch jenseits von Alex’ wundervollen Gewitterwolkenaugen und wartet hungrig, geweckt zu werden.
So erwacht eine uralte Legende im Schatten des Leuchtturms und ein Menschenmädchen berührt für immer das Herz der Tiefe.
Die Geschichte erzählt von Gegensätzen, die in einer epischen Liebe verschmelzen. Von einem magischen Schicksalsband, von tödlicher Gefahr, einer bedrohlichen Verwandlung und einem geheimnisvollen alten Buch über Wasserwesen mit übernatürlichen Gaben. Und sie erzählt von zwei Herzen, die gegen alle Vernunft füreinander schlagen.
Dieses Fantasy Epos entführt den Leser auf den schmalen Grat zwischen zwei Welten, zwischen Leben und Tod, zwischen Sterblichkeit und Immer ...
„Eine Liebesgeschichte mit vielen Ecken und Kanten und doch unheimlich zart.“ (Leserin) „Karla Farby versteht es durch eine durchweg flüssige Erzählweise und lebendige Hauptprotagonisten, die Geschichte spannend und berührend zu erzählen (...) Das Buch ist einfach mehr als ein Fantasyroman. Es ist eine Geschichte, die tief unter die Haut geht, fesselt und berührt. Diese Geschichte wird noch lange in mir nachhallen!“ (Seite101.de)
Liebe, Romantik, Spannung und Meer ... auch in der digitalen Dachkammer der Autorin.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Karla Fabry

 

Schattenblau
Das Herz der Tiefe

 

– Band 1 der Fantasy-Saga »Schattenblau« –

 

 


Prolog

 

Die Zeit steht still.

Aus dem Abgrund des Meeres tauchst du hoch, siehst den Kiel der Yacht über dir und schwimmst hin.

Unruhig lecken die Wellen am Rumpf, die Ankerkette klirrt leise. Du gleitest in den zitternden Schein der Lichter, hältst inne und wirst eins mit dem Meer. Deine Hand, die nach der Ankerkette greift, ist nur noch Erinnerung. Du schwingst mit den Wellen, Wasser wogt im Wasser. Es ist, als gäbe es dich nicht.

Er verlangt aber, dass du auftauchst und dich ihm zeigst, weil du allein dort oben wie die Dinge dieser Welt bist: sichtbar. Der Mörder aus der Tiefe fürchtet sich vor deiner Gabe, denkst du mit einem Anflug von Genugtuung. Er will dich sehen, um dich zu töten.

Gut, er soll es bekommen. Du wurdest in die Welt die Menschen geschickt und bist heute Nacht bereit, für eins ihrer Mädchen zu sterben. Dein Mädchen. Mit einem Mal ist die Erinnerung da: ihr wunderschönes Lächeln, das dir jedes Mal den Atem raubt, ihr warmer Duft, der dich an den Spätsommer erinnert, und ihre Augen, deren Sog dich wie eine klare Tiefenströmung zu sich zieht.

Plötzliche Wut. Heiß und tödlich sickert sie durch deine Adern und füllt jeden Zentimeter von dir aus. Die Vernunft schwindet und du wirst zum Kampf getrieben. Du könntest dabei sterben, doch das ist unwichtig. Um deine Liebe kämpfst du, nicht um dein Leben. Denn du hast dem nur eins entgegenzuhalten: die Entschlossenheit, alles aufs Spiel zu setzen, um sie zu retten.

Du erzitterst, die Anspannung erfasst deinen ganzen Körper und einen Herzschlag lang zögerst du doch. Dann gibst du dir einen Ruck. Geräuschlos und flink ziehst du dich an der Ankerkette hoch, schnellst durchs Wasser und durchdringst die Oberfläche.

Du riechst den Wind und siehst deine Hand, wie sie die Reling packt.


1.
Glut und kalte Asche

 

»Wohin bitte?«

In der allgemeinen Aufregung ihrer Familie ging Lillis Frage unter. Sie setzte sich in ihrem Stuhl auf.

»Mom! Wohin?« Alle verstummten. Sie hatte geschrieen. Drei Paar Augen sahen sie mit einer Mischung aus Verwunderung und Entsetzen an.

»La Perla«, sagte ihre Mutter mit Missmut in der Stimme, der jedoch gleich wieder verschwunden war. »Das liegt in Südspanien. Es soll dort sehr schön sein.« Als wäre das noch kein Grund zum Jubeln, fügte sie wie eine Künstlerin, die ihrem Werk einen letzten genialen Pinselstrich verpasst, hinzu: »Wir werden direkt am Meer wohnen. Besser als Urlaub, du wirst sehen, Lil!« Ende des Pinselstrichs. Ihre grünen Augen leuchteten noch grüner und die roten Locken wippten, als könnten sie sich vor Freude kaum fassen.

Lilli war die Einzige am Tisch, die nicht strahlte.

»Und euer Vater kann wieder auf seinem Gebiet forschen«, sagte ihre Mutter, beim Reinigen der Pinsel sozusagen. Sie plapperte weiter, doch Lilli blendete sie aus. Nur ein Gedanke biss sich an ihr fest wie ein hungriger Piranha – sie musste für lange anderthalb Jahre New York verlassen und nach Spanien gehen.

Grimmig starrte sie ihre ineinander verschränkten Finger an und bemühte sich, nicht dem Impuls nachzugeben, die Decke mitsamt dem Geschirr vom Tisch zu zerren.

Es war ein lauer Frühsommerabend, sie saß beim Abendessen in der gemütlichen Küche ihres New Yorker Apartments. Mit Blick über den Central Park, mit gebackenem Fisch und Kartoffeln und mit einem gemütlichen Plausch über ihre Schulprojekte für den Sommer. Der Auftakt eines normalen, unaufgeregten Wochenendes eben.

Aber der Fisch wurde kalt, passend zur Wir müssen mit euch etwas Wichtiges besprechen-Rede von eben. Der Abend war zu einem Albtraum geworden und Lilli eine stumme Hysterikerin. Im Gegensatz zu ihrem Bruder. Chris hatte sich so sehr in diese Idee verliebt, dass die Worte aus ihm herausströmten wie Wasser bei einem Dammbruch. Der Blumenstrauß, der in einer bauchigen Kristallvase auf dem Esstisch stand, höhnte mit seiner Farbenpracht und machte das Ganze nur noch schlimmer.

Nein, es war kein normaler Abend, Lilli saß sprachlos da, während ihr Leben wortgewaltig ruiniert wurde. Abwechselnd schaute sie ihre Eltern an und konnte es nicht fassen. Auch nicht in Worte.

»Sprachschule … schon eingeschrieben … beginnt Mitte September … Flüge gebucht … Lil, du kommst nach, wenn du dein Sommerprogramm durch hast …«

Alle anderen würden schon bald abreisen. Und das ließ ihren Bruder um einige Grad mehr erglühen. Sie bekam also eine Gnadenfrist, weil sie bereits bei zwei Sommerprojekten angemeldet war? Darüber wollte sie doch gerade reden! Sie ließ es sein.

Von wegen »Vertiefen der Spanischkenntnisse«! Mexiko wäre näher gewesen! Das Forschungsministerium aber hatte ihren Vater mit diesem Projekt in Spanien geködert, weshalb nun alle die Koffer packen mussten.

Ihr Vater Louis war Biomediziner und Ozeanograf. Er war schon weltweit im Einsatz gewesen, hatte aber vor drei Jahren einen festen Posten in New York angenommen, um mehr bei der Familie sein zu können. Seitdem arbeitete er in einem Labor am Biomedizinischen Institut für Ozeanforschung. In letzter Zeit war deutlich geworden, dass ihm die Arbeit am Meer fehlte, obwohl der Atlantik nicht weit weg war. Die Sendungen über Ozeane und Meerestiere, die er sich im Fernsehen anschaute, häuften sich. Die Gespräche, in denen er in Erinnerungen ans Meer schwelgte, auch.

Und jetzt war diese Gelegenheit ins Haus geflattert. Die Familie durfte mitgehen – alles bezahlt natürlich –, warum also lange überlegen? Eine Chance wie diese käme so schnell nicht wieder. Ihre Mutter konnte als freie Fotografin überall arbeiten.

Nur warum hatten sich dann ihre Eltern in letzter Zeit dauernd gestritten, wenn alles so prächtig war? Auch das Wort »Scheidung« war einmal gefallen. Lilli fand die Eintracht ihrer Eltern bei dieser Geschichte sehr seltsam.

Gerade als sie dies ansprechen wollte, bemerkte Lilli den Gesichtsausdruck ihres Vaters, der seinen Kopf in die Hand gestützt hatte und seine Gabel betrachtete. Eine Haarsträhne fiel ihm in die Stirn.

»Ist doch nur für ein Jahr«, war sein Beitrag zum Thema Spanien. Er stocherte auf seinem Teller herum und wich Lillis empörten Blicken aus.

»Anderthalb, meiner Rechnung nach, Dad. Aber ein Jahr klingt weniger bedrohlich, nicht wahr?«

»So oder so viel zu kurz, wenn ihr mich fragt.« Chris schaute in die Runde, doch keiner fragte. »Komm schon, Schwesterchen, du hast doch sonst nichts gegen Abenteuer«, setzte er noch augenzwinkernd hinzu, sie ging aber nicht darauf ein. Sie hatte noch nie was übrig für Abenteuer.

Das Essen lag Lilli schwer im Magen, als sie vom Tisch aufstand. Sie hatte das Gefühl, sie würde es nie mehr verdauen. Jedenfalls nicht an diesem Wochenende.

»Mom, wohin noch mal?«, fragte sie im Türrahmen.

»Spanien, Schatz. Das liegt in Südeuro …«

»Herrgott! Ich weiß, wo Spanien liegt.«

 

Sechs Wochen nach der Abreise ihrer Familie saß Lilli auf dem Teppich in ihrem Zimmer. Ihr Ärger war in dieser Zeit kein bisschen kleiner geworden. Diese Wut, die sie von sich nicht kannte, hatte vor wenigen Minuten dazu geführt, dass sie ihr Spanischwörterbuch an die Wand geschleudert hatte.

Noch bevor ihre Eltern hier alles geregelt hatten – die Wohnung würden sie behalten, wobei das Blumengießen und die Post Mr Bondi, der Portier, übernehmen würde –, hatten sie ihr neues Leben in Spanien organisiert: Wochen vor ihrer Abreise war eine Wohnung dort gemietet, die Anmeldung an der Sprachschule für Chris und sie erledigt, ja, sogar Fahrräder standen bereit.

Nach der Abreise ihrer Familie war sie an ihren Wandschrank gegangen und hatte ihn nach der Weltkarte durchstöbert. Sie fand La Perla nicht, La Perla gab es da gar nicht. Sie sollte für anderthalb Jahre in ein spanisches Kaff, das auf einer ordentlichen Landkarte noch nicht mal verzeichnet war! Die Internetsuche sparte sie sich.

Der Blick, den sie jetzt in ihrem Zimmer umherschweifen ließ, war ein Abschiedsblick. Erst vor Kurzem hatte sie es umgeräumt, weil sie das Gefühl gehabt hatte, dass mit dem Ende ihrer Beziehung zu Mo auch ihre Mädchenzeit zu Ende sei. Wobei die Bezeichnung »Beziehung« nicht ganz passte: Mo war eher ein Reinfall gewesen, der sich über vier Monate hingezogen und sie fast ihre Unschuld gekostet hatte.

Schnell schüttelte sie den Gedanken wieder ab. Zumindest äußerlich hatte sie es geschafft, die Mo-Geschichte aus ihrem Leben und ihrem Zimmer zu verbannen. Und überhaupt fand sie ihr Zimmer mittlerweile sehr erwachsen. Kein Schnickschnack, der darauf hindeutete, dass hier ein romantisch veranlagtes, zum Kitsch neigendes Mädchen wohnte, das dumm genug gewesen war, jemandem zu vertrauen, der einem mit dem treuesten Augenaufschlag die dicksten Lügen auftischen konnte. Nein, seit Mo war Schluss mit Abenteuer.

Dezent war das Motto dieses Sommers, von der Bettwäsche bis zur Unterwäsche. Ihre heißgeliebten Kuscheltiere waren in einer Kiste in der Abstellkammer verschwunden, dafür standen jetzt ein Schmuckkästchen und ein Blumentopf mit einem Kaktus auf ihrer weißen Spiegelkommode.

Zwei Fotos in schlichten Holzrahmen lehnten an der Wand. Eins zeigte sie zusammen mit ihrem Bruder und ihrer Großmutter vor deren Haus in Long Island. Das andere war eine Porträtaufnahme von ihr mit ihren beiden besten Freundinnen Phoebe und Marge an ihrem siebzehnten Geburtstag.

Es war aber auch wie verhext, dass beide gerade jetzt verreist waren! Sich am Telefon oder per Mail auszuheulen war nicht das Gleiche, wie persönlich darüber jammern zu können. Zu ihrer größten Verärgerung waren beide entzückt, dass Lilli »endlich etwas Neues« erleben konnte.

Phoebe, die in die gleiche Schule ging wie sie, war – welche Ironie! – mit ihrer Familie in den Ferien in Europa und schwärmte auf Facebook bildgewaltig von den Orten – auch von Spanien natürlich –, die sie dort besuchte. Phoebe war noch nie kulturbegeistert gewesen und ihr Plan war lächerlich durchschaubar: Sie wollte Lilli für Spanien gewinnen.

Und Marge war auf einem internationalen Künstlerkongress an der Westküste Amerikas zu Gast, der über vier Wochen ging. Lilli kannte die zwölf Jahre ältere Marge, die in Brooklyn eine kleine Kunstgalerie betrieb, über ihre Mutter, die in Marges Galerie ihre erste Fotoausstellung gehabt hatte. Zum Thema Spanienreise schrieb sie nur: »Bringt dich auf andere Gedanken – ich weiß, dass du noch an Mo denkst. Ist er nicht wert, vertrau mir. Liebes, du hast keine Ahnung, wie sehr ich dich beneide!« Nein, hatte sie nicht. Wieso verstand eigentlich niemand ihren Kummer?

Jedenfalls waren die vergangenen Wochen allein nicht gut gewesen. Das behielt sie für sich. Ihre Eltern durften nicht erfahren, dass es ihr nicht leichtgefallen war und dass sie irgendwann bereut hatte, nicht doch mit ihnen geflogen zu sein. Nur keine Blöße geben. Sollten sie weiter glauben, sie sei die selbstständige, pflichtbewusste Person, für die sie sie hielten.

Ihr Vater behauptete nämlich gerne, dass sie schon früh erwachsen und vernünftig geworden war und verglich sie in dieser Hinsicht mit ihrer älteren Freundin Marge, aber auch mit ihrem Bruder. Allein schon der Vergleich mit Chris trieb sie zur Weißglut. Und dann noch dieses ewige »meine Große«, das noch nicht einmal der Wahrheit entsprach.

Chris war der Ältere, über ein Jahr älter als Lilli. Aber nur auf dem Papier, denn er war noch »pubertär«, wie ihr Vater naserümpfend in regelmäßigen Abständen darüber lästerte. »Du hingegen, Lilli, warst schon eine alte Seele, als du zur Welt kamst«, pflegte er dann zu sagen. Dabei vergaß er zwei Dinge: Sie war nicht freiwillig zur Welt »gekommen«, sondern hatte seelenruhig den Geburtstermin im Bauch ihrer Mutter ignoriert und musste per Kaiserschnitt geholt werden. Und sie mochte das Wort »alt« nicht. Nicht auf sich bezogen.

Von wegen erwachsen, maulte sie in Gedanken. Und wieso, bitte schön, durfte sie dann nicht selbst entscheiden, wo sie leben möchte? Mit ihrer Meinung zu der ganzen Spaniengeschichte, die knapp zusammengefasst »Nein« hieß, war sie auf taube Ohren gestoßen. Und auf Starrsinn. Und schließlich auf Verärgerung, als sie vorgeschlagen hatte, einfach in New York zu bleiben. In wichtige Fragen bezog man Kinder nicht ein, wie selbstständig sie sonst auch sein mochten. Basta.

Lilli hob das Wörterbuch auf, das sie gerade gegen die Wand geschleudert hatte, und legte es auf ihre Kommode.

Wenn sie jetzt an die Wochen zurückdachte, wunderte sie sich, wie schnell sie doch vergangen waren. Sie war bis dahin nie länger als ein paar Tage ohne Familie gewesen und immer gut zurechtgekommen. Diesmal hatte ihr die längere Einsamkeit nicht gutgetan. Sie hatte zwar kein einziges Mal geheult, aber natürlich hatte Marge richtig gelegen: Sie hatte auch wieder öfter an Mo gedacht. Mit einem Seufzer ließ sie sich aufs Bett fallen und starrte an die Decke.

Wieso konnte sie sich nicht – wie ihr Bruder – einfach auf das neue Leben freuen? Für ihn war der Umzug wie gerufen gekommen. Er hatte gerade die Highschool beendet und noch keinen Plan, wie es weitergehen sollte. Sein zukünftiges Leben durfte jetzt mal warten.

Chris hatte es kaum erwarten können, sich ins Abenteuer zu stürzen. In seinem Kopf bedeutete Spanien Toreros, Stierkämpfe und tapfere hombres an der Seite schöner Mädchen. Vielleicht auch Zorro. Ja, ganz sicher Zorro.

Lilli schmunzelte. Auch für ihn endete die Reise in einem andalusischen Kaff, wo sich seine Vorstellungen vom großen Abenteuer schnell als Hirngespinste herausstellen würden.

Ein Gefühl des Abschieds und Alleinseins überwältigte sie und weinend vergrub sie ihr Gesicht in ein Kissen. Der Tag neigte sich dem Ende zu. In den Straßen der Upper East Side verebbten die Geräusche gleichzeitig mit ihrem Schluchzen, und außer dem regelmäßigen Heulen der Sirenen wurde es still in Lillis Zimmer im 12. Stockwerk.

Sie wischte sich die letzten Tränen von den Wangen und richtete sich auf. Ihr Blick fiel auf die beiden Reisetaschen, die vor ihrem Schrank standen. Kurz kam ihr der Gedanke, noch einmal umzupacken. Doch sie verwarf ihn wieder. Sie war seit Tagen nicht in der Lage, das Thema Packen praktisch anzugehen, jetzt hatte es auch keinen Sinn mehr, damit anzufangen.

Die Müdigkeit trieb sie schließlich ins Bad und als sie das allabendliche Ritual des Zähneputzens, Gesichtwaschens und Haarbürstens beendet hatte, kroch sie ins Bett.

Sie wartete lange auf den Schlaf.

 

Das Flugzeug rollte träge zur Startbahn. Die beiden seitlichen Gangways, über die noch vor wenigen Minuten 200 Paar Füße gelaufen waren, blieben nutzlos zurück und führten ins Nichts.

Lilli saß an einem Fenster im vorderen Teil der Maschine und starrte in die Dunkelheit. Es war kurz vor sechs Uhr morgens und ihr dritter Start, da sie mehrfach hatte umsteigen müssen. Besorgniserregend war, dass die Flughäfen mit jedem Mal kleiner wurden.

Der Flughafen, den sie in wenigen Minuten verlassen würde, war winzig und lag auf einer Insel. Er hieß La Palma. Reizend, dachte sie grimmig und verzog das Gesicht. Gut möglich, dass alle Orte in Spanien, die weniger als tausend Einwohner hatten, ein »La« im Namen trugen.

Während die Maschine warm lief, begann ihr Sitznachbar zu schnarchen. Es war ein älterer Herr mit Mundgeruch, der zuvor erfolglos versucht hatte, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Lilli fiel erst jetzt auf, mit welcher Selbstverständlichkeit er sie auf Spanisch angesprochen hatte. Woher wollte er wissen, ob sie ihn verstand? Dass sie dunkle Haare hatte und auf einem spanischen Flughafen an Bord gegangen war, musste nicht bedeuten, dass sie Spanisch sprach, oder? Sie tat es zwar, und das sogar ziemlich gut, aber sie hatte keine Lust, sich zu unterhalten. In keiner Sprache.

Ihre Einsilbigkeit hatte den Mann verstimmt. Beleidigt hatte er die wulstigen kleinen Finger über seinem Bauch verschränkt und versucht, von Lilli wegzurücken. Die Masse seines Leibes hatte ihn daran gehindert.

Ein Anflug von Bedauern überkam sie. Sie hätte nicht so unfreundlich sein müssen, schalt sie sich und warf ihm einen kurzen Blick zu. Doch insgeheim war sie froh, dass er aufgegeben hatte.

Seit ihre Eltern sie allein in New York zurückgelassen hatten, war ihre schlechte Laune zu einer katastrophal schlechten Laune geworden, die jetzt mit ihrem dritten Start einen neuen Höhepunkt erreichte. Zusammen mit Flugangst und Müdigkeit ein gefährlicher Mix. In den letzten zwölf Stunden hatte sie kein Auge zugetan.

Die Maschine beschleunigte und Lilli wurde in den Sitz gedrückt. Ihre Finger krallten sich um die Lehnen, ihr Atem ging schneller und kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn. Alles Symptome von Panik – wie bei jedem Start. Das Beben des Flugzeugs erfasste sie ganz.

Sie rasten an Hunderten grünen, blauen und gelben Bodenlichtern vorbei und hoben ab. Als sich die Maschine schwindelerregend neigte, einen Bogen flog, verschwanden die Lichter und Lilli hielt die Luft an. Sie dachte einen Moment, sie würden dem schwarzen Himmel entgegenstürzen, bis die Maschine zurückschwenkte und sie Autos wie Schlangen aus flüssigem Feuer kleiner werden sah. Dann erneut Dunkelheit, als hätte jemand das Licht auf der Erde ausgeknipst.

Auf dem Bordmonitor lief der Film über die Sicherheitsmaßnahmen, die Lilli auch jetzt noch mehr Angst machten, als sie zu beruhigen.

So viel zum Thema Erwachsensein, dachte sie und kam sich in der vibrierenden Maschine, die sie vom sicheren Boden davontrug, ziemlich verloren vor. Der Lärm der Turbinen, die Sicherheitsinstruktionen, draußen nichts als Dunkelheit – einen Augenblick lang war sich Lilli nicht mehr sicher, ob das tatsächlich ihr dritter Flug war, oder ob sie immer noch den ersten erlebte. Oder wieder erlebte, so wie Bill Murray in Und täglich grüßt das Murmeltier. Sie schüttelte den Kopf, um den absurden Gedanken zu verscheuchen. Das hier war kein komischer Film. Es war gar kein Film, es war ihr verkorkstes Leben. In echt!

Die Stewardess kam und brachte Frühstück. Lilli bestellte einen Kaffee dazu. Als sie den Becher mit der duftenden warmen Flüssigkeit in Händen hielt und daran nippte, entspannte sie sich etwas. Gleichzeitig überkam sie – trotz des Kaffees – eine bleierne Müdigkeit. Sie kaute in Zeitlupe ihr Käsebaguette, das nach nichts schmecke, und schaute mit brennenden Augen in die Finsternis, durch die sie flog.

Nach dem Start in New York, als die Lichter der Rollbahnen unter ihr verschwunden waren, hatte Lilli außer einem Wetterleuchten stundenlang kein einziges Licht gesehen. Ein unwirkliches Gefühl über dem Atlantik, als wären Raum und Zeit abhandengekommen. Und Licht, wie jetzt.

Die Bordmonitore zeigten zwischen Videoclips und Cartoons die Flughöhe an, die zwischen 11.324 und 11.326 Metern hin und her pendelte. Ihr fiel unwillkürlich ein, dass sie irgendwo gelesen hatte, wie ein bekannter Regisseur mit seinem eigenen U-Boot in den Marianengraben im Pazifik hinabgetaucht sei, zum tiefsten Punkt der Erde in über elf Kilometern Tiefe. Sie verzog das Gesicht und dachte, dass es dort genauso dunkel und lebensfeindlich war wie hier draußen, und dass er – außer ein paar Bildern vom kahlen Meeresgrund – nicht viel gesehen haben dürfte. Seltsam, welche Gedankensprünge ein übermüdeter Verstand machte.

Lilli rückte weiter weg vom Fenster und schaute unter schweren Lidern in die Finsternis hinter der Scheibe. Sie sah ihr schmales blasses Gesicht darin gespiegelt wie ein Trugbild, das die Wirklichkeit überlagert. Grüne, mandelförmige Augen starrten ihr entgegen, die jetzt von tiefen Schatten umrandet waren. Selbst die Lippen sahen farblos aus, als gäbe es sie in der allgemeinen Blässe ihres Gesichts gar nicht. Sie hatte sie von ihrem Vater geerbt, dessen französische Abstammung sich deutlich in seinem markanten, olivefarbenen Gesicht abzeichnete. Dort fielen die vollen Lippen allerdings nicht so auf wie bei ihr, fand sie, und fuhr unwillkürlich mit der Zunge über die spröde Haut.

Mit einem winzigen Teil ihres Verstands, der noch nicht gänzlich betäubt war, registrierte sie, dass ihre Haare, die im Leselicht wie dunkles Nugat glänzten, unordentlich nach allen Seiten abstanden. Resigniert löste sie den Haarknoten und warf sich einen letzten Blick zu. Wie merkwürdig, dachte sie, die Müdigkeit ließ sie fremd aussehen. Dann schloss sie die Augen.

Vielleicht war sie kurz eingeschlafen, vielleicht hatte sie aber auch nur mit gedankenleerem Kopf dagesessen. Verpasst hatte sie nicht viel. Als sie mit Mühe ihre Augen öffnete, zogen in der Finsternis immer noch Lichtinseln vorbei.

Egal, dachte sie, Hauptsache, sie kam endlich an. Nach der Landung lag noch eine 150-Kilometer-Autofahrt vor ihr. Lästig, doch wenigstens war ihre Mutter, die sie abholen sollte, eine gute Fahrerin.

Plötzlich und ohne Vorwarnung färbte sich der Horizont glühend rot. Die aufgehende Sonne übergoss die gegenüberliegende Sitzreihe mit Kupferlicht. Der Anblick erinnerte sie an Sonnenaufgänge, die sie in ihrem New Yorker Zimmer erlebt hatte. In diesem Licht wirkten die einzelnen Wolken unter ihr wie grau-schwarze Schleier. Als hätte die Sonne nach der Glut und dem Feuer des Aufgangs kalte Asche hinterlassen.

Jemand hatte mal gesagt, New York sei ein Gedicht, in Fels gehauen. Fernab von der vertrauten Betriebsamkeit der Stadt verstand Lilli plötzlich, was damit gemeint war. Aus dem Elternhaus ihrer Mutter Suzú, das an der Küste einer idyllischen Kleinstadt auf Long Island lag, waren sie in das gewaltige New York gezogen, als Lilli ein Baby war. Sie kannte nichts anderes, New York war ihre Welt und jetzt, da sie sie verlassen hatte, merkte sie, wie sehr sie daran hing.

Das Wort »Heimat« hatte bisher nie etwas Großartiges für sie bedeutet, doch hier bekam es Gewicht und Lilli spürte zum ersten Mal in ihrem Leben Heimweh. Es war wie ein Ziehen im ganzen Körper, wie Sehnsucht, nur viel umfassender. Na toll, und sie war erst ein paar Stunden von zu Hause weg.

Sie räusperte sich und unterdrückte eine Schimpftirade. Ihr Sitznachbar räusperte sich ebenfalls, drehte den Kopf zur anderen Seite und schnarchte weiter.

Vielleicht hatte ihre Mutter deshalb nicht gegen den Umzug in ein spanisches Kaff protestiert, weil sie sich dort an ihre Jugend in ihrem Elternhaus am Atlantik erinnert fühlte, überlegte Lilli. Zugegeben, die Ferien bei ihrer Granily, der quirligen Großmutter, die mit ihren bald 80 Jahren allein in dem alten Haus in Southampton am Nordatlantik lebte, waren immer toll gewesen. Doch sofort erinnerte sich Lilli auch daran, dass sie irgendwann die Einöde unerträglich gefunden hatte. Der Gedanke verflüchtigte sich im Karussell anderer Erinnerungen aus ihrem müden Kopf.

Vorige Woche hatte ihre Großmutter vor der Tür ihrer New Yorker Wohnung gestanden.

»Sag nichts, Schatz. Ich tue es nicht gern, das weißt du«, hatte sie mit einem Seufzen gesagt und sich zur Tür hineingeschoben, einen kleinen Koffer auf Rädern im Schlepptau. Ein großes Opfer für ihre Granily, die New York mit Leib und Seele verabscheute.

»Suzú hat mich herbeordert«, berichtete sie, während sie sich ihrer Schuhe und ihres Gepäcks entledigte.

»Deine Mutter macht sich Sorgen, dass dir die Einsamkeit nicht bekommt«, sagte sie später. Sie musterte Lilli forschend aus den Tiefen der Wohnzimmercouch, in denen sie mit ihren knapp ein Meter sechzig beinahe ganz verschwand. In der Hand hielt sie eine Tasse frisch gebrauten Tees und die fruchtig duftenden Dampfwölkchen, die aus der Tasse stiegen, verfingen sich in ihrem grauen Wuschelhaar. Lilli musste lächeln. Seit Wochen das erste Lächeln.

»Gran, ich bin okay.«

»Hm«, war alles, was ihre Großmutter dazu sagte, bevor sie zum Alltag überging.

Doch sie blieb nicht lange bei Lilli. New York machte sie wahnsinnig, wie sie es ausdrückte. Allein die Sirenen im Minutentakt.

»Wie kann man nur hier leben?«

»Ganz okay, man gewöhnt sich daran.«

»Oh, ich bin zu alt, um mich an so etwas zu gewöhnen. Da ist mir meine Ruhe draußen in den Hamptons lieber. Gelegentlich ein Sturm – das war es dann aber auch.« Sie verzog ihr Gesicht und Lilli schien es, als würden ihre Falten in alle Richtungen davonfließen.

»Gran, wie hältst du nur die Einöde aus?«, fragte Lilli am letzten Abend. Ihre Großmutter sah sie eine Weile ernst an, bevor sie mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck antwortete:

»Lil, es gibt nichts Schöneres als die Stille. Wenn die Welt aufs Wesentliche schrumpft, bist du selbst viel größer. Du bist dir dann am nächsten. Und irgendwann im Leben ist das das Wichtigste, ganz gleich wie aufregend die Welt sonst ist. Die Stille am Meer ist etwas ganz Besonderes. Es gibt keinen Ort, der fantastischer ist.« Sie blickte ins Leere, als würde sie über das unendliche Meer vor ihrem Haus schauen. Es war der Blick, den alte Leute manchmal haben, wenn sie weit zurück in ihr Leben schauen. Ein Lächeln spiegelte sich in ihren gütigen Augen und sie strahlte eine Zufriedenheit aus, um die sie Lilli plötzlich beneidete. Jäh sah ihre Großmutter sie an und zwinkerte ihr verschmitzt zu.

»Ich wurde so geliebt, dass es mir bis zum Schluss reichen wird. Das Glück hat nicht jeder.« Und ernster: »Schatz, mach dir keine Sorgen, Spanien wird toll. Öffne dein Herz dem Meer und der Stille. Dort findest du die größten Wunder. Und lass dir eins sagen: Das Meer schweigt nie ganz, es hat immer etwas zu erzählen. Mal ist es laut, dann wieder leise, aber nie ganz still.«

»Danke, Granily.«

Es war Zeit, endlich anzukommen.

Das Glutrot des Sonnenaufgangs verblasste, als die Maschine an Höhe verlor und in eine Wolkenschicht wie aus goldener Gaze tauchte. Als sie aus der Wolkendecke brachen, sah Lilli im Morgenlicht, so weit das Auge reichte, trostlos-hellbraune Erde. Eine Wüstenlandschaft, nur unterbrochen von kleinen Tälern und Flussläufen, die mit Nebelbäuschen gepolstert waren.

Sie schloss die Augen und öffnete sie erst wieder, als das Flugzeug mit einem Ruck aufsetzte und vereinzelte Klatscher zu hören waren. Der Kapitän der Maschine hieß sie in grausigem Englisch auf dem Malaga Airport willkommen.

Lilli löste den Sicherheitsgurt und wischte sich verstohlen die schweißnassen Hände an ihrer Jeans ab. Ihr Sitznachbar stand ächzend auf und schob seinen dicken Bauch zu den anderen Wartenden im Gang. Von dort warf er ihr einen mürrisch verschlafenen Blick zu, dann kräuselte er vielsagend die Lippen und drehte den Kopf zur Seite.

Schwindel überfiel Lilli beim Aufstehen und sie musste sich schnell wieder setzen. Mit Widerwillen registrierte sie die Schlange, die sich im Gang bildete. Immer das Gleiche, dachte sie und blieb sitzen. Gelangweilt schaute sie dem Geschehen draußen auf der Rollbahn zu.

Endlich ging es im Gang vorwärts. Lilli stand auf. Im Gänsemarsch verließ sie hinter den anderen das Flugzeug und lief zur Gepäckausgabe. Nachdem sie ihre beiden Taschen vom Fließband gezerrt hatte, trottete sie Richtung Ausgang.

 

Der Junge, der Lilli mit kaltem Blick hinter einer dunklen Sonnenbrille beobachtete, ging im Getümmel des Flughafens unter. Er saß in einer Reihe von Drahtstühlen am Rand der Flughafenhalle und hielt eine Zeitschrift in den Händen. Unter seiner Baseballmütze sickerte hellblondes, fast weißes Haar hervor, das sich seidig auf seine Schultern ergoss.

Er klappte die Zeitschrift zu, rollte sie zusammen, als wolle er daraus ein Fernrohr bauen, und stand auf. Für die Dauer eines Herzschlags schaute er sich in der Halle um. Dann klopfte er sich mit der Zeitschrift zufrieden auf den Oberschenkel und lief zum Ausgang.


2.
Thalassa 3

 

»Schau zu, Alex Valden, dass du es überlebst.«

Er begriff erst jetzt, Stunden später: Das waren Abschiedsworte gewesen. Sein Mentor hatte sich tatsächlich von ihm verabschiedet. Glaubte Seraphim etwa, er würde es nicht schaffen?

Alex schluckte, seine Kehle war trocken und fühlte sich sandig an. Seit über einer Stunde wälzte er sich nun in seinem Bett hin und her und war inzwischen vor lauter Grübeln so aufgewühlt wie sein Bettlaken.

Missmutig warf er einen Blick auf die Uhr. Es war sieben Minuten nach zwei Uhr morgens. Nur noch wenige Stunden …

Es war ihm, als würden Bruchteile des Gesprächs mit Seraphim Gestalt annehmen und sich in seinem Zimmer wie ungebetene Gäste einnisten.

Du bist heute Nacht auf dich gestellt, dir wird niemand helfen … Du hast alles gelernt, wende dein Wissen an, deine Intuition.

Gewöhnliche Worte, doch sie waren wie Säure, die langsam ein Loch in sein Herz fraß. Mit einer fahrigen Geste strich sich Alex die zerzausten Haare aus der Stirn und starrte durch die Saphirglaskuppel ins dunkle Meer.

Gleich einem riesigen Bullauge, in die vordere Wand seines Zimmers eingelassen, war die Kuppel sein Fenster zum Meer. Dahinter schien alles ruhig, nur ab und zu glitt ein Schatten vorbei, ein einsamer Raubfisch auf Beutesuche. Es war ein alltäglicher Anblick, der plötzlich bedrohlich und fremd wirkte. Verflixt! Klar sah er zu, dass er die Nacht überlebte, er war schließlich nicht scharf darauf, zu sterben.

Das meiste von dem, was Seraphim ihm über die bevorstehende Nacht gesagt hatte, war aber auch wirklich gegen jegliche Vernunft. Eigentlich undenkbar. Vielleicht waren es nur Bilder, Metaphern, die er benutzt hatte. Oder er hatte ganz einfach übertrieben.

Alex seufzte. Er kannte die Antwort: Seraphim übertrieb nie, sonderlich poetisch war er auch nicht und unvernünftig schon gar nicht.

Ein Bild verdrängte die Worte seines Mentors. Er sah sich selbst an dem Tag, an dem alles begonnen hatte. Aus heutiger Sicht war es geradezu lächerlich, doch was war nicht lächerlich, wenn man kurz vor seiner ganz persönlichen Hölle stand? Vielleicht sogar vor dem Tod?

Erst sechs Monate war es her, dass sich sein ruhiges Leben mit einem Schlag verändert hatte und seine Heimat auf Thalassa 3, dem Unterwasserinternat 15 Kilometer vor der Küste der andalusischen Ortschaft La Perla, zum aufregendsten Ort der Welt geworden war.

Eben noch einer unter knapp hundert gewöhnlichen Menschenamphibien, war er von einer Minute zur nächsten … wie hatte es Seraphim damals ausgedrückt? »Auserwählt.« Alex verzog das Gesicht, als er sich erinnerte.

Seine überschaubare Welt 200 Meter tief im Meer war aus den Fugen geraten. Er sah den Moment noch vor sich, als wäre jener Spätnachmittag erst gestern gewesen.

Alex hatte sich mit seinem Freund Marc verabredet und wollte wie jeden Tag nach der letzten Stunde den Unterrichtsraum verlassen und auf sein Zimmer gehen, um den Schwimmanzug anzuziehen.

Seraphim nahm ihn zur Seite und wartete, bis der Korridor leer war. Dann sagte er leise, aber klar und deutlich: »Du bist auserwählt.«

Erst dachte Alex, es ginge um eine Aufgabe für den Unterricht. Wie merkwürdig, warum tat sein Mentor so geheimnisvoll, war sein nächster Gedanke und für einen Moment fühlte er sich unbehaglich.

»Die Metamorphose.« Seraphims Stimme wurde noch leiser und Alex hatte diesmal Mühe, ihn zu verstehen. »Deine Verwandlung.«

Ach, darum ging es. Er atmete auf. Seraphim machte sich Sorgen um seine bevorstehende Verwandlung. Doch warum? Und wieso drückte er sich so … geschwollen aus? Auserwählt. Quatsch. Es war nichts Ungewöhnliches daran, also völlig unnötig, sich darüber aufzuregen. Alle machten diese Verwandlung durch. Manche früher, manche später. So war es nun einmal bei den Menschenamphibien, die unter Wasser lebten. Klar, bei den Landamphibien lief das anders, aber was kümmerte es ihn? Er, Alex, war ein Wasseramphibion und somit keine Ausnahme oder gar … auserwählt. Reiner Unsinn! Was war nur los mit Seraphim?

Zugegeben, er war verhältnismäßig spät dran mit seinen achtzehneinhalb Jahren. Bei den meisten passierte es um die 16. Aber er hatte es nicht besonders eilig, denn die Sache war unangenehm. Wenn es nach ihm ginge, hätte er darauf verzichten können. Kurzum …

»Ja, ich weiß, danke. Die Verwandlung kommt bald.« Was irgendwie gelogen war, denn noch spürte er keine Anzeichen. Alex hatte das verrückte Gefühl, Seraphim trösten zu müssen, und fügte hinzu: »Andere sind auch später dran.«

Sein Freund Marc zum Beispiel. Der wurde bald 18, Marcs Schwester Danya war auch schon 17. Ob Seraphim auch sie verrückt machte? Es nutze nichts, sie konnten es eh nicht beeinflussen. Die Geschichte passierte, wann sie passierte. Er wandte sich zum Gehen.

»Das meine ich nicht. Ich spreche nicht von der normalen Verwandlung.« Seraphim packte ihn am Arm und hielt ihn zurück. Sein Verhalten hatte etwas Beunruhigendes.

Einen Moment standen beide stumm da und warteten. Alex wartete, dass Seraphim sagte, was er nun meinte, und warum er so geheimnisvoll tat.

Und Seraphim wartete offensichtlich auch. Dann gab er auf.

»Kristallkörper.«

Alex verstand nicht. Verlegen schaute er auf seine Füße, peinlicherweise stand er gerade auf der Leitung. Und dann traf ihn die Erkenntnis. Alles, was er jetzt noch über seine Lippen brachte, war ein erbärmliches »Was?«, das er am liebsten wieder hinuntergeschluckt hätte.

Natürlich kannte er die Geschichten über die Auserwählten. Alle Amphibienkinder wuchsen mit ihren Legenden auf. Diese Auserwählten verwandelten sich nicht nur einmal wie alle anderen Amphibien. Sie machten mehrere Verwandlungen durch und bekamen mit jeder neuen weitere unglaubliche Kräfte, bis sie schließlich durch die Diamantverwandlung, die letzte, unsterblich wurden. In den Legenden wohlgemerkt!

Und die erste Verwandlung, durchzuckte es Alex, war zum Kristallkörper. Er schüttelte den Kopf und schaute Seraphim an, als zweifele er plötzlich an dessen Verstand. Wollte er ihn auf den Arm nehmen?

Als Kind, ja, da hatte Alex die Legenden über diese unverwundbaren und mächtigen Auserwählten verschlungen. Er war von ihren Kräften fasziniert gewesen und hatte die Abenteuer, die er gelesen hatte, weiter und weiter gesponnen. In seiner vor Übermut strotzenden Fantasie war er immer der Held gewesen, unbesiegbar, unsterblich, so wie sie. Die Erinnerung ließ ihn schmunzeln. Aber das war doch etwas anderes. Er war längst kein Kind mehr! Sollte er allen Ernstes glauben, Seraphim hielt ihn für einen solchen Auserwählten? Verflixt, was stimmte hier nicht und wie war das noch mal? Finde den Fehler … Er kramte fieberhaft in seinen Erinnerungen. Irgendwie war alles sehr kompliziert und verworren. Wie seine Gedanken, die jetzt durcheinanderpurzelten.

Deutlich erinnerte er sich aber: Die jahrtausendealte Geschichte der Menschenamphibien war eng mit den Legenden über die Auserwählten verwoben. Es sollte ein Buch geben, das von Anbeginn der Zeit existierte: das Amphiblion. Darin sollten alle Heldentaten und geheimen Lehren der Unsterblichen niedergeschrieben sein. Dieses sagenumwobene Buch war in der alten Sprache der Amphibien verfasst. Da diese Sprache aber längst ausgestorben war, gab es nur Übersetzungen. Die wiederum waren auch schon sehr alt.

Puh! So ungefähr musste es sein. Noch etwas …? Alex überlegte angestrengt. Genau, die Übersetzungen enthielten auch die geheimen Lehren der Unsterblichen, doch weil diese Lehren in falsche Hände geraten waren und Schreckliches über ihre Art gekommen war, sprach man bis heute nur hinter vorgehaltener Hand darüber. Alex erschauderte, als er sich an jenes dunkle Kapitel ihrer Geschichte erinnerte.

All dies ging ihm in der kurzen Zeit durch den Kopf, während Seraphim ihn aufmerksam beobachtete. Schweigend legte dieser jetzt eine Hand auf seinen Arm. Im selben Moment ging Alex ein Licht auf und alles schien mit einem Mal klar.

Die Menschen hatten ihre Bibel, den Talmud, den Koran oder die Veden, wie er erst vor Kurzem gelernt hatte. Im Lauf der Jahrhunderte hatten sie daraus immer wieder Geschichten weitergedichtet. So wie die Amphibien aus dem Amphiblion, ihr heiliges Buch. Der Unterschied zu den Menschenbüchern war, dass ihre eigenen Legenden frei von Aberglauben und Religion waren. Es gab keine Götter, die verehrt wurden, dafür aber wimmelte es von Unsterblichen.

Trotzdem, Legenden blieben Legenden und es war lange her, dass er sie gelesen hatte. Alex schüttelte ungläubig den Kopf. Er hatte plötzlich das Gefühl, dass die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verschwunden waren. Was hatte Seraphim gerade gesagt: Du bist auserwählt? Das konnte nur ein Witz sein. Auserwählt? Für was eigentlich?

Alex prustete. »Das sind doch nur Geschichten!« Seine Belustigung verschwand schlagartig, als er Seraphims ernstes Gesicht bemerkte. Geduldig ertrug Seraphim seinen Heiterkeitsausbruch.

»Ja, es sind Geschichten. Hinter jeder Geschichte steckt jedoch ein Funken Wahrheit.«

Alex musterte seinen Mentor misstrauisch. Nichts deutete darauf hin, dass er es nicht ernst meinte.

»Wie viel Wahrheit?«, fragte Alex nach einer langen, stillen Minute und seine Stimme zitterte plötzlich.

Seraphims Blick bohrte sich in seine Augen.

Ein Schauer der Erkenntnis durchzuckte ihn unter diesem hellen, klaren Blick. Alex begriff endlich. Verflixt …

Und mit einem Augenaufschlag war alles anders.

»Bist du auch …?« Bestürzt hielt er inne und überlegte fieberhaft, wie er das Unmögliche in Worte fassen sollte.

Doch Seraphim nickte bereits kaum merklich. Seine Frage war beantwortet. Es gab sie also wirklich und er stand gerade einem von ihnen gegenüber. Einem Unsterblichen. Alex ertappte sich dabei, wie er Seraphim ohne jedes Taktgefühl anstarrte. Er wollte etwas finden, den Beweis, dass er all das hier nicht träumte. Ein Zeichen, einen Hinweis, was auch immer.

Er fand nichts. Keine Auffälligkeiten, nichts Ungewöhnliches, einfach nichts. Was hatte er erwartet? Dass sich Seraphim plötzlich verwandelte, oder dass die Lachfältchen um seine Augen verschwanden?

Was er sah, war wie immer. Es war … eben Seraphim. Der Seraphim, der ihn, seit dem Tag, als Alex vor elf Jahren nach Thalassa 3 gekommen war, begleitete. Ein großer, drahtiger junger Mann, an dem alles irgendwie hell war: die schiefergrauen Augen, die Haut, sein kurz geschnittenes Haar, das in hellem Blond schimmerte. Und auch sein Gemüt.

Er war weder muskelbepackt noch überragend attraktiv. Erst sein Charakter machte ihn außergewöhnlich, die ihm eigene Güte und Bescheidenheit. Sobald er einen Raum betrat, füllte er ihn sofort mit seiner Gegenwart aus. Er forderte auf eine stille, aber zwingende Art den Respekt der anderen, und warum das so war, wusste Alex jetzt.

Während er Seraphim stumm musterte, hatte er das Gefühl, in seinen Augen spiegele sich die Weisheit seines ganzen Volks. Er sah in ihm eine uralte Anmut durchscheinen, und zu seiner eigenen Überraschung empfand er Ehrfurcht.

Außergewöhnliche Wesen spürt man eben, schlussfolgerte er, nachdem er ihn ausgiebig betrachtet hatte, und senkte den Blick. Und er, Alex Valden, durchschnittlich und unspektakulär, sollte auch zu diesen außergewöhnlichen Wesen gehören? Völlig unmöglich, dachte er immer noch wie hypnotisiert.

Warum gerade ich?, war der nächste Gedanke. »Und warum …?« Er hörte sich die Worte krächzen, als hätten sie sich in seinem Hals verkeilt.

Seraphim legte einen Arm um seine Schulter und mit einem Mal wurde er ruhig. Es war ein intensiver, ja, magischer Augenblick. Doch der Augenblick verstrich und Alex räusperte sich.

»Diese Auserwählten, ähm …« Er hielt erneut inne, verlegen diesmal, denn die Worte kamen ihm nicht leicht über die Lippen. Über Legenden zu sprechen, die keine Legenden waren, schien ihm irgendwie lächerlich.

Seraphim wartete geduldig, als könne er gut nachvollziehen, was in jemandem vorging, der gerade erfahren hatte, dass er Teil einer Legende werden sollte. Also versuchte Alex es erneut:

»Warum ich, und bin nur ich allein ein Auserwählter? Ich meine, gibt es noch andere? Und warum jetzt? Wer …?« Es waren zu viele Fragen. Zu viel auf einmal. Seraphim sollte ruhig lachen, er würde es sogar verstehen.

Doch sein Mentor lachte nicht.

»Alex, ich weiß, du hast eine Menge Fragen. Geh jetzt, triff dich mit Marc und lass uns morgen darüber sprechen. Ich möchte, dass du gleich nach dem Frühstück zu mir kommst.« Er gab Alex frei. »Schlaf eine Nacht drüber.« Seraphim wandte sich zum Gehen, hielt noch einmal inne und sagte über seine Schulter: »Behalte unser Gespräch für dich.«

Dann war er verschwunden und Alex blieb im leeren Korridor zurück. Woher wusste Seraphim eigentlich, dass er sich mit Marc treffen wollte?

Die Nacht, die damals folgte, war genau wie diese gewesen. Er hatte nicht schlafen können. Wie auch? Etwas Wesentliches aber unterschied die heutige Nacht von der schlaflosen damals. Vor einem halben Jahr waren es nur Fragen gewesen, die ihn wach gehalten hatten. Jetzt aber stand er vor seiner ersten großen Herausforderung.

Und plötzlich waren sie wieder da, die Worte, die ihn nicht schlafen ließen: Kristallmetamorphose bedeutet sterben und wiedergeboren werden.

Sterben und wiedergeboren werden. Pah! Wie sich das anhörte. Alex drehte sich zur anderen Seite und zog die Decke bis unters Kinn. Ein Schauer des Grauens lief ihm über den Rücken und machte den Gedanken an Schlaf völlig zunichte. Er wischte sich über die brennenden Augen. In dieser Nacht würde er sterben – und wiedergeboren werden. Stunden würde es dauern, Schmerzen würde es geben. Große Schmerzen. Es war auch schon vorgekommen, dass nicht alle überlebt hatten.

Verflixt, was für eine Nacht!

Vor einem halben Jahr – jene Nacht war irgendwie vergangen. Alex war zwar müde und angespannt gewesen, aber der Morgen war gekommen, ohne dass er hatte sterben müssen. Er war in Seraphims Arbeitszimmer gewesen und sie hatten Stunden geredet.

Jetzt, da sich Alex daran erinnerte, schien es ihm, als wäre es in einem anderen Leben passiert. Satzfetzen von damals zogen durch seinen Geist: Bald geht es auch für dich los … Du bist nicht allein, es gibt noch vier andere … dein Freund Marc und seine Schwester Danya … Hier ein paar Bücher, auch über die Menschenwelt … Und über die Metamorphosen … Nach der Kristallverwandlung folgt … In einer Woche fangen wir an.

Und dann war er gekommen, der erste Tag der Ausbildung. Es war der aufregendste Tag in seinem bisherigen Leben gewesen.

Als er an die Tür von Seraphims Arbeitszimmer klopfte, war seine Aufregung auf dem Höhepunkt. Sein Mentor öffnete und bat ihn herein.

»Einen Augenblick.« Er ging zu dem großen Schreibtisch im hinteren Teil des Zimmers, wo er den Stapel Papiere ablegte, den er in der Hand hielt.

Mit weichen Knien wartete Alex. Seraphim trat wortlos vom Schreibtisch zurück und wandte sich der hinteren Wand seines Arbeitszimmers zu. Dort berührte er etwas neben einem Bild und ein Teil der Wand, so groß wie eine Tür, schob sich mit leisem Surren beiseite.

Stimmen wurden laut. Danya und Marc, die sich angeregt unterhielten. Seraphim machte eine einladende Handbewegung und Alex betrat zögernd das Zimmer.

Marc und Danya saßen neben dem Eingang. Als sie ihn sahen, verstummten sie wie auf Knopfdruck. Alex setzte sich auf einen der freien Stühle und nickte den beiden zu.

Bis auf die Stühle und eine hüfthohe Skulptur aus roter Koralle, die den Regenbogenmann darstellte, war der lang gezogene Raum leer. Die Wände schimmerten in einem zarten Türkis und eine flauschige, dicke Matte bedeckte den Steinboden. Insgesamt machte der Raum den Eindruck, als würde er nur selten benutzt.

Alex blieb mit seinen Freunden allein. Bevor sie etwas sagen konnten, trat Seraphim erneut ein, gefolgt von einem Mädchen und einem Jungen, die Alex nur vom Sehen her kannte.

»Wir sind jetzt vollzählig«, sagte Seraphim und lächelte in die Runde. »Kennt ihr euch alle?« Als er zögerndes Kopfschütteln erntete, schlug er vor: »Dann wollen wir uns kurz vorstellen. Sagt euren Vornamen, die Klasse und euer Alter. Marc, fang du bitte an.«

Marc räusperte sich und begann: »Ich bin Marcello, gehe in die 12B und bin 18 Jahre.« Marc wurde rot, senkte den Blick und fügte rasch hinzu: »Bald.«

Seraphim nickte lächelnd und schaute Danya mit einer auffordernden Geste an. Danya war weniger verlegen als ihr Bruder. Sie blickte mit ihren funkelnden dunklen Augen in die Runde und sagte mit fester Stimme: »Ich heiße Danya, bin in der 11A und 17 Jahre.«

»Alexander«, sagte Alex und rutschte auf seinem Stuhl hin und her, »ich gehe auch in die 12B und bin achtzehneinhalb.«

Das Mädchen wartete erst gar nicht, dass Seraphim sie aufforderte. Sie sprach leise und hastig, als könne sie nicht schnell genug alles loswerden. »Stella ist mein Name. Ich gehe in die 10B und bin gerade 17 geworden.« Sie ließ rasch den Kopf sinken und schaute auf ihre Hände, die sich kneteten. Ihr Haar fiel wie ein Vorhang aus sandfarbener Seide vor ihr Gesicht.

»Danke«, sagte Seraphim und berührte sie leicht an der Schulter. Stella hob den Kopf. Etwas in seinem Blick musste sie beruhigt haben, denn sie lächelte erleichtert zu ihm hoch und ihre Finger entspannten sich.

Seraphim trat zurück und schaute als Letztes den Jungen an.

»Eigentlich heiße ich Juanito, aber Jimo ist mir lieber. Ich bin auch 17 und gehe in die 11C.« Seine grauen Augen huschten von einem zum anderen.

»Gut«, sagte Seraphim und rieb sich die Hände. »Ich danke euch.« Er schaute alle kurz an, dann fuhr er fort: »Wer ich bin, wisst ihr. Damit wir auch die Frage klären, die euch sicher brennend interessiert, ich bekam den Diamantkörper mit 25.« Er machte eine Pause und alle im Raum hielten den Atem an. »Obwohl man es mir nicht ansieht, bin ich tatsächlich schon 35 Jahre. Nicht gerade uralt, aber das wird noch, ich arbeite daran. Das Tolle ist, mit hundertvier oder zweihundert sehe ich immer noch so wie jetzt aus.«

Sie lachten und die Anspannung der ersten Minuten löste sich.

Seraphim versprach, ihnen gelegentlich mehr über sich zu erzählen, und ging dazu über, erste Einblicke in ihren Unterricht zu geben. Er sprach über die Regeln der Auserwählten, über die Geheimhaltungspflicht, auch innerhalb ihrer Schule – was die wichtigste Regel war. Er erzählte, wie die Ausbildung im nächsten halben Jahr ablaufen würde, beschrieb ihr Training und eine Menge Dinge mehr. In diesen ersten Stunden erfuhren sie so viele fantastische Sachen, dass ihnen der Kopf schwirrte.

Von da an war jeder Tag der Ausbildung, die regelmäßig zweimal in der Woche nach dem normalen Unterricht meistens in jenem Raum, aber gelegentlich auch im offenen Meer stattfand, reich an Unerwartetem. Die Wochen vergingen wie im Flug. In jeder einzelnen Stunde aber war immer die Gewissheit da, Teil eines geheimnisvollen Größeren zu sein, Verbündete zu sein in einer Zeit voller Magie, die die ungewöhnlichste und aufregendste ihres Lebens wurde.

Was Alex am besten an der Ausbildung gefiel und das Fehlen eines Tisches im Raum erklärte: Sie mussten nichts aufschreiben. Es gab keine Unterrichtsblätter, keine Hausaufgaben, kein Mitschreiben. Es war sogar verboten, etwas aufzuschreiben. Sie legten alle den Schwur ab, dass sie die geheimen Lehren mit ihrem Leben verteidigen würden.

Seraphim zwinkerte ihnen zu und ordnete an, Hefte und Stifte wieder einzupacken.

»Dieses Wissen gibt man seit jeher mündlich weiter, es ist das geheime Wissen aus dem Amphiblion, um das sich, wie ihr wisst, zahlreiche Geschichten spinnen«, verriet er ihnen gleich zu Beginn. »Und so wie ich es von meinem Mentor überliefert bekommen habe, so gebe ich es an euch weiter. Vielleicht werdet ihr es eines Tages an andere Auserwählte weitergeben, wer weiß …«

Alex’ Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Ja, es war eine intensive Zeit gewesen und er hatte viel gelernt. Inständiger denn je hoffte er, dass ihm das heute Nacht nützlich sein würde.

Die Uhr tickte und seine Nacht wurde immer kürzer. Bald wird man ihn holen. Man wird ihm den Schwimmanzug überreichen, der mit seiner Haut verschmelzen wird. Er wird zusammen mit den anderen zu den Einrichtungen schwimmen. In tausend Metern Tiefe wird er sich verwandeln.

Unter schweren Lidern starrte Alex ins pechschwarze Meer, als könne er dort erkennen, was ihm bevorstand. Er hatte mit einem Mal das Gefühl, dass alles, was er gelernt hatte, weg war. Ausgelöscht aus seinem Gedächtnis, das plötzlich schwarz und leer war wie das Meer. Jedes noch so kleine Geräusch, jedes flimmernde Schattenfragment ließ ihn zusammenzucken.

So ging das nicht! Er war ein Nervenbündel. Kurz vor dem Kollaps. Er legte sich hin und schloss die Augen. Dann setzte er sich wieder auf, weil er das Liegen nicht ertrug. Und schließlich fielen ihm andere Worte ein, die die dunkle Wasserwelt noch dunkler erscheinen ließen: Nicht alle überlebten.

Pepe, schoss es ihm durch den Sinn.

Für Pepe, einen Jungen aus seiner Klasse, war vor ein paar Tagen die übliche Verwandlung gekommen. Gestern war er dann wieder im Unterricht erschienen. In den Pausen hatten sich alle um ihn geschart und Pepe hatte berichten müssen, wie es gewesen war. Eine Verwandlung war immer ein Ereignis. Pepe hatte das Ganze zwar heruntergespielt, aber die Erschöpfung war ihm deutlich anzusehen gewesen.

Alex beneidete Pepe trotzdem. Es war ja auch noch nie passiert, dass jemand die normale Verwandlung nicht überlebt hat. Sein Klassenkamerad konnte einfach so sein, wie hundert andere auch, und sich auf zusätzliche Fähigkeiten freuen. Pepe konnte an Land gehen, durchzuckte es Alex. Darauf hätte er sich selbst garantiert gefreut. Als Einziger, vermutlich, denn dass einer an Land wollte, war so gut wie unbekannt. Allein der Gedanke an die Zusammensetzung der Luft oben reichte, um einen Hustenanfall zu bekommen.

Nur eine Sache brachte sie dazu, aufzutauchen und die Schmerzen der ersten Minuten oben zu ertragen: Amphipolo, das Lieblingsspiel der Wasseramphibien.

Alex schloss die Augen und träumte einen Augenblick davon, so wie Pepe zu sein, der jetzt sicher zum nächsten Amphipolo-Turnier gehen würde und ein normales Leben hätte.

Wie lächerlich noch vor einem halben Jahr die Angst vor der normalen Metamorphose gewesen war! Nie hätte Alex gedacht, dass es noch viel schlimmere Verwandlungen gab. Wie die Kristallverwandlung, die ihm in dieser Nacht bevorstand. Er schüttelte sich.

Wie für Pepe würde auch für ihn ein neuer Lebensabschnitt beginnen, grübelte Alex. Und das hieß, erwachsen werden. Die Schule bald verlassen, Abschied nehmen vom Gewohnten, von Freunden.

Die meisten, die auf Thalassa 3 fertig wurden, kehrten zunächst zu ihren Familien zurück. Einige gingen auf höhere Schulen. Die beliebtesten waren die Sportschulen. Doch für Alex war es die Schule, in der man zum Boten ausgebildet wurde und danach ein Leben zwischen hier und oben führte.

Oben. Ja, das war etwas, worauf er sich freute, im Gegensatz zu den anderen. An Land gehen zu können, in die Welt der Menschen – schlechte Luft hin oder her. Für die, die noch vor der Verwandlung standen, wäre die Luft oben tödlich, sie würden qualvoll ersticken, gingen sie an Land.

Sein Blick fiel unwillkürlich auf die gerahmte Fotografie seiner Mutter, die auf dem kleinen Schreibtisch stand. Sie hätte es nicht gut gefunden, dass Alex mit dem Gedanken spielte, nach oben zu gehen. Menschen waren ihr nie geheuer gewesen.

Auf dem Bild lächelte sie. Um ihre blaugrauen Augen mit den langen dunklen Wimpern, die sie an Alex vererbt hatte, zeigten sich feine Lachfältchen. Das braune Haar sah genau wie seines aus, nur war es doppelt so lang. Es umspielte ihr Gesicht in sanften Wellen.

Vom Bett aus konnte Alex aufs Bild blicken. Er hatte immer das Gefühl, seine Mutter schaue von dort direkt in seine Seele – ein tröstlicher Blick, verständnisvoll und warm, wie nur sie ihn gehabt hatte. Das Einzige von ihr, an das er sich so lebhaft erinnerte, als hätte er sie erst vor Kurzem gesehen und nicht zuletzt vor zehn Jahren. Marc behauptete, dass er ihr immer ähnlicher sehe, mit dem Unterschied, dass sie hübscher gewesen sei.

Alex war froh, dass nicht viel an seinem Äußeren an den toten Vater erinnerte. Er war auch froh, dass er sich in letzter Zeit seltener an ihn erinnerte und sein Hass nicht mehr so brannte.

Vielleicht wird dieses Gefühl eines Tages ganz verschwinden, dachte er, vielleicht wird er ihm sogar verzeihen, dass er sie getötet hatte. Er rutschte zur Bettkante und schaute seiner Mutter auf dem Bild in die Augen. Nein, es war unmöglich!

»Drück mir die Daumen«, sagte er leise und ein zaghaftes Lächeln umspielte seine Lippen. Doch es währte nicht lange.

Die vollkommene Stille dieser Nacht ließ ihn unwillkürlich erzittern. Er warf einen Blick zur Saphirglaskuppel. Alles war ruhig dort draußen. Selbst die nächtlichen Jäger waren verschwunden. Nur eine farbig phosphoreszierende Qualle trieb sacht dahin. Sie sah wie eine riesige pulsierende Glühbirne aus und erst nach Ewigkeiten wurde sie von der Dunkelheit verschluckt.

Die Minuten schienen so zäh, als hätte sich die Zeit wie eine Decke über die Dinge gelegt. Alex ließ sich auf den Rücken fallen und schloss die Augen. Allmählich beruhigte er sich, konzentrierte sich aufs Atmen, auf seine Lungen und Kiemen, die feinen Membranen in den Nasenhöhlen.

Die Wasseramphibien hatten in jedem Nasenloch zwei Kanäle. Durch den einen atmeten sie Luft, durch den anderen Wasser ein und aus. Sie gingen ganz automatisch von einer Atmung zur anderen über und mussten nicht nachdenken, um durch die Kiemen zu atmen, wenn sie ins Wasser gingen. Doch während der Kristallverwandlung war es wichtig, dass er sich der Atmung bewusst wurde, wollte er nicht riskieren, unter den Schmerzen plötzlich durch den falschen Kanal zu atmen und zu ertrinken.

Die Kristallmetamorphose war aber nicht nur körperlich eine Herausforderung. Alex erinnerte sich, dass sie darüber nur sehr kurz gesprochen hatten, viel zu kurz, wie er jetzt plötzlich fand.

Seraphim hatte erwähnt, dass die Verwandlung den wahren Charakter einer Person an die Oberfläche brachte. All das, was tief in einem schlummerte, wurde verstärkt und sichtbar. Das Gute wie das Böse. Das war immer das Risiko der ersten Verwandlung. Es war eine Prüfung für alle. Auch für Seraphim einst, als sich sein Bruder durch die Kristallverwandlung für immer dem Bösen verschrieben hatte.

Vielleicht würde mit ihm das Gleiche passieren, durchzuckte es Alex. Dann lieber sterben, war gleich der nächste Gedanke. Seraphims Bruder war nach seiner Kristallverwandlung zum Mörder, zum Gejagten geworden. Sie hatten ihn gefasst, einsperrt. Irgendwann war es ihm gelungen, zu fliehen und unterzutauchen. Jahre später jedoch weitere Morde. Die Besten der Besten waren seither auf ihn angesetzt. Bestimmt bald auch sie, die neuen Auserwählten.

Ein Klopfen an der Tür riss Alex aus seinen Gedanken. War es schon so weit? Sein Herz hämmerte wild gegen den Brustkorb. Als er die Tür einen Spalt weit öffnete, leuchtete ihm das Weiß zweier aufgerissener Augen aus dem dunklen Flur entgegen. Alex atmete auf. Es war Marc.

»Ich kann nicht schlafen«, flüsterte er und schob sich ins Zimmer.

Alex schloss leise die Tür. Noch hatte er eine kleine Gnadenfrist.

Marc stand eine Weile stumm da, ließ sich dann aufs Bett fallen. »Ich habe in vier Wochen Geburtstag und noch keinen eingeladen«, sagte er und atmete geräuschvoll aus.

»Du hättest es tun sollen. Immerhin wirst du 18. Die Menschen geben viel auf den 18. Geburtstag.«

Marcs Mutter war von oben, nur sein Vater war ein Amphibion. Doch er überhörte die Anspielung auf seine Mischeltern und seufzte.

»Und wenn ich nicht wiederkomme? Ich meine, lebendig?«

Alex setzte sich neben seinen Freund aufs Bett und klopfte ihm auf die Schulter.

»Wir alle werden in vier Wochen eine Riesenparty feiern.« Alex lachte leise in sich hinein. »Ein Geschenk habe ich schon für dich.«

Marc schwieg und schaute finster drein, als hätte er erneut Alex’ Worte überhört. Sein rundes, gutmütiges Gesicht wirkte schmal und in seinen großen braunen Augen fehlte der übliche Jungenschalk.

»Ich mach mir Sorgen um Danya«, sagte Marc nach einer Weile.

»Das Ganze ist ihr in letzter Zeit nicht so leichtgefallen, wie sie den Anschein erwecken wollte.«

»Ja, meine Schwester markiert die Starke, aber ich habe sie auch schon mal heulend erwischt.«

»Sie wird es schaffen, Marc.«

»Das weiß ich doch. Deswegen mache ich mir keine Sorgen.«

Als Marc nicht weitersprach, fragte Alex: »Was ist es dann?« Er ahnte die Antwort.

»Tja, wie soll ich es sagen? Es ist nur so ein Gefühl, aber ich habe Angst, dass ihr Charakter … ähm … Seraphim erwähnte mal …« Marc verstummte und zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich habe Angst, dass sie wie Seraphims Bruder wird.« Marcs Worte hallten im Zimmer nach.

Erstaunlich, dachte Alex. Obwohl ihr Mentor diese Geschichte nur ganz kurz erwähnt hatte, war sie ihnen doch sehr lebhaft in Erinnerung geblieben. Und hatte offensichtlich nicht nur ihn beschäftigt.

»Ich kenne Danya nicht so gut wie du, aber ich bin mir sicher, du siehst Gespenster.«

»Ich weiß nicht, ich habe viel darüber nachgedacht.« Marc fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. Dann sagte er gedankenverloren: »Sie ist jähzornig. Wenn sie nicht ihren Willen bekommt, kann sie gemein werden.« Er stand auf und begann, durchs Zimmer zu laufen. »Erinnerst du dich noch, dass sie dich haben wollte? Als du ihr klargemacht hattest, dass sie für dich lediglich eine gute Freundin ist, weil du damals nur Augen für dieses andere Mädchen hattest, hat sie versucht, dich zu verletzen. Sie war wie verrückt.«

»Ja, ich weiß, sie war schon immer … temperamentvoll. Aber die Geschichte ist ein Jahr alt.« Alex richtete sich auf. »In den letzten sechs gemeinsamen Monaten ist sie eine gute Freundin gewesen. Für uns alle. Sie gehört zum Team.«

Marc sah ihn dankbar an. »Vielleicht hast du recht und ich sehe wirklich Gespenster.«

»Versuch, nicht mehr an böse Dinge zu denken.« Vor wenigen Minuten hatte er selbst noch daran gedacht.

Alex legte sich bäuchlings aufs Bett und umschlang sein Kissen. Einladend klopfte er mit der flachen Hand auf die freie Seite.

Marc nickte und legte sich neben Alex. Sie gähnten fast gleichzeitig.

Alex lag noch eine Weile wach. Er lauschte Marcs Atemgeräuschen. Bald wurden diese gleichmäßig und tief. Vielleicht war es die Anwesenheit des Freundes, dass schließlich auch er in den Schlaf glitt.

 

Die Gestalt zog träge an der beleuchteten Südschleuse von Thalassa 3 vorbei. Das helle, seidene Haar blitzte kurz auf, bevor es sich wie ein Trugbild in der Schwärze des Meeres verlor.


3.
Der Geschmack von Salz

 

Es war fast Mitternacht in Calahonda. Eine Gestalt bog von der Straße ab, die sie mit langen, federnden Schritten entlanggelaufen war. Man hätte sie für einen Jogger halten können, die Kapuze des dunklen Sweatshirts tief in die Stirn gezogen. Wäre da nicht der große ausgebeulte Rucksack gewesen, der kaum zu einem Jogger passen wollte.

Die Ruhe nach der Hauptsaison und die späte Stunde lagen über den Häusern und hüllten die kleine andalusische Küstenortschaft in Stille. Nur ein Radio dudelte eine spanische Ballade irgendwo durch ein offenes Fenster in die Nacht, die schwer vom süßen Duft des Jasmins war. Über allem spannte sich ein mondloser Indigohimmel.

Die Gestalt lief auf die Ruine des Leuchtturms zu und verschwand dahinter. Das schiefe steinerne Gebäude stand einsam auf dem Kiesstrand, der hier gute 100 Meter breit war. Aus den steilen Stufen des alten Leuchtturms, die einen Meter über dem Boden im Gemäuer verschwanden, schälten sich zwei weitere Gestalten. Stumm nickten sie der ersten zu.

»Habt ihr alles?«, flüsterte der Neuankömmling.

»Ja«, kam es wie aus einem Mund zurück.

»Ich auch.« Die Kapuzengestalt schüttelte etwas und es hörte sich wie das Klimpern eines Schlüsselbundes an.

»Pfff«, zischte einer der anderen. »Wohl nicht ganz, Eugene.« Die Stimme klang verärgert.

»Lasst uns gehen«, drängelte Eugene, steckte den Schlüsselbund ein und setzte sich in Bewegung. »Auf zur Schatzsuche.« Eine Böe zog ihm die Kapuze vom Kopf und für einen Augenblick wehte sein lockiges Haar wild im Wind. Die anderen folgten ihm.

Sie ließen die schiefe Leuchtturmruine – das Wahrzeichen von Calahonda – hinter sich und bogen in eine schmale Gasse ein. Der Geruch der Nacht veränderte sich mit einem Mal. Der kühle Wind trug die salzigen Ausdünstungen angespülter Algen und Muscheln vom Meer heran.

Niemand begegnete ihnen. Die Sommerferien waren vorbei und das Städtchen an der Costa Granada lag wie ausgestorben da. Die Rollläden der Ferienhäuser und vieler Blockwohnungen waren heruntergelassen, die Touristen hatten den Ort sich selbst überlassen.

Auf dem Meer zuckte ein Blitz und sein gleißendes Licht erfasste die drei wie bei einem Schnappschuss. Einen Augenaufschlag später herrschte wieder tiefes Nachtblau. Dumpf rollte der Donner vom Meer heran, legte sich bebend über die Landschaft und zog sich wieder hinter dem Horizont zurück.

Die drei erreichten das Ende der Gasse und ihre Schritte auf dem Kies des Strands wurden laut, als knirsche die Nacht mit den Zähnen. Im selben Augenblick setzte die Kirchturmuhr zum ersten Schlag an. Als der zwölfte Schlag in der Nacht verhallt war, hatten sie ihr Ziel erreicht.

Es war ein Chiringuito, eine für diese Bucht typische Tapasbar. Das Gebäude lag am Fuß des hohen kegelförmigen Felsblocks, der wie der Spielstein eines Riesen aussah, vergessen mitten in der Landschaft. Auf der Straße schwang eine Laterne rhythmisch im Wind, quietschend pendelte ihr Licht hin und her, die einzige Wächterin der Nacht weit und breit. Die Risse und Löcher im Asphalt wirkten lebendig, Schatten krochen daraus empor und verschwanden wieder wie seltsame Tiere.

Die drei verließen die Straße und betraten den Steg aus Holzplatten, der wie ein Kranz um das Gebäude lag. Palmen und hohe Sträucher säumten das Anwesen zur Straße hin – ein beruhigender Schutz, obwohl sich keine Menschenseele weit und breit blicken ließ. Sie liefen um die Tapasbar herum und erreichten den Eingang, der zum Meer hin lag. Über die gesamte Länge der Mauer schimmerte dort der Name der Bar in verschnörkelten, goldenen Lettern: Mesón del Mar.

Am Rollgitter an der Eingangstür hielten sie inne und sahen sich um. Sie lauschten in die Nacht. Das entfernte Gekläff eines Hundes drang herüber, sonst hörten sie nichts. So bückte sich Eugene und schloss das schwere Hängeschloss auf. Es landete klirrend auf dem Boden. Er packte das Gitter, bewegte es aber nur wenige Zentimeter, dann blieb es knirschend stecken.

»Hilf mir, Chris.« Eugene stöhnte und ließ vom Gitter ab.

Chris nickte, brummte etwas wie »müsste man mal ölen« und bückte sich. Zusammen schoben sie mit Kraftaufwand, Eugene von rechts, Chris von links, das Gitter bis zum Türschloss hoch.

»Toni, du bist dran.«

Der Dritte, der unruhig von einem Fuß auf den anderen trat, griff hastig in seine Jackentasche und schob die beiden anderen zur Seite, um ans Türschloss zu kommen. Er fummelte daran herum und Sekunden später klickte es.

»Irgendwann musst du mir verraten, wie du das machst.«

»Hättest du auch den Schlüssel von der Eingangstür besorgt, müsste ich es nicht machen«, zischte Toni und ließ vom Schloss ab. Er drehte am Türknauf und stieß die Tür auf.

»Schon gut, ich sag ja nichts. Mir wäre es auch wohler, ich hätte alle Schlüssel gefunden.« Eugenes Stimme klang besänftigend.

Sie schlüpften gebückt der Reihe nach unter dem Gitter hindurch. Chris schloss als Letzter die Tür hinter sich.

»Kommt, hier entlang. Macht noch kein Licht. Ich weiß nicht, wie dicht die Jalousien sind«, flüsterte Eugene.

Drinnen war es stockdunkel. Dunkler als auf den Straßen, wo die Nacht ihr eigenes schwaches Leuchten hatte. Wie Blinde, mit vor sich ausgestreckten, die Luft abtastenden Händen, durchquerten sie den Raum. Eine Diele knarrte. Dem Scharren von Füßen folgte ein dumpfer Stoß, gleich darauf knurrte die Finsternis ein »Autsch«.

»Alles klar?« Eugenes Stimme kam von weiter hinten.

»Hab mir bloß das Schienbein gebrochen«, die feixende Antwort. Chris kicherte.

»Wir müssen diesen Tisch beiseiteschieben«, flüsterte Eugene und trommelte leise auf Holz. »Packt an, der ist ziemlich schwer. Und aufpassen, da steht eine Menge Geschirr drauf. Aus Porzellan.«

»Natürlich aus Porzellan«, sagte Chris trocken.

Stille entstand, dann flüsterte Eugene ungeduldig: »Auf drei, ja? Eins, zwei, drei.« Zwei Sekunden später erklang ein lautes Poltern.

»Was macht ihr da, Herrgott noch mal, seid vorsichtig!«, fauchte Eugene.

Toni hüstelte und es hörte sich wie ein unterdrücktes Lachen an. »Vielleicht sollten wir uns einigen, in welche Richtung wir den Tisch schieben. Wenn ihn jeder woanders hinzieht, wird das nichts, oder?« Tonis Stimme troff vor Sarkasmus.

»Nach links«, entschied Eugene.

»Von dir oder von mir aus gesehen?«, fragte Chris seelenruhig.

Eugene sagte frostig: »Richtung Tür, wenn’s recht ist.«

»Okay, los, noch mal. Verdammt schwer das Ding.«

»Warte ab, das Regal ist noch schwerer!«

»Na toll.«

»Eins, zwei, drei«, befahl Eugene kurzerhand. Ein Rücken und Scharren, gefolgt von einem dreistimmigen Stöhnen, war zu hören.

»Gut, das dürfte reichen. Jetzt das Regal.« Eugenes Stimme klang gedämpft, als hätte er sich von den anderen abgewandt.

»Versuchen wir’s, vielleicht klappt’s, ohne alles auszuräumen. Zu dumm, dass die Falltür so zugestellt ist.«

Schlurfende Schritte folgten der Stimme.

»Was ist im Regal?«, fragte Toni in einem Tonfall, als kenne er bereits die Antwort.

»Eine Menge Geschirr?«, versuchte es Chris gedehnt.

»Aus Porzellan?« Tonis Stimme klang erwartungsvoll.

Stille. »Wieder auf drei«, sagte Eugene schließlich, den kleinen Wortwechsel übergehend.

Das Rücken und Schieben ging von vorn los und brach dann abrupt ab. Eugene knipste brummend seine Taschenlampe an, bückte sich und suchte etwas auf dem Boden. Dann nickte er zufrieden.

»Ich brauche das Stemmeisen.«

»Hier.« Chris reichte ihm eine verrostete Stange, die er mit einem Griff nach hinten aus seinem Rucksack zog.

Eugene schob sie mit dem flachen Ende in eine Ritze im Dielenboden. Anschließend legte er sein ganzes Gewicht darauf. Mit einem nervenzerreißenden Quietschen hob sich eine zwei Meter große Falltür aus dem Boden.

»Mierda. Das Ding ist das reinste Mammut!«, flüsterte Toni, der mit angepackt hatte und atmete geräuschvoll aus.

»Koloss«, verbesserte Chris.

»Was?«

»Koloss. Mammut ist ein Urzeittier.«

»Und Koloss?«

»Ähm …«

»Bitte nicht jetzt. Gehen wir hinunter«, drängelte Eugene. »Streitet euch später über kolossale Mammuts.«

Der kühle Luftzug, der aus dem Boden stieg, trug den abgestandenen Geruch von Staub und alten Sachen herauf. Eugene war mit seiner Taschenlampe bereits im Loch verschwunden, Chris und Toni folgten. Gemeinsam zogen sie die schwere Falltür über die Öffnung zurück. Dann sahen sie sich im Schein der Taschenlampe um.

Die schmale Holztreppe, auf der sie standen, führte in einen geräumigen Keller hinunter. Eugene, der zuerst unten war, fand den Schalter fürs Kellerlicht, schaltete es ein und knipste gleichzeitig seine Taschenlampe aus.

Die verstaubte nackte Glühbirne warf ein fleckiges Licht an die Decke und verwandelte den Keller in eine düstere Kammer. Unter der Treppe und im hinteren Teil des Raums, dort, wo der Schein nicht hinreichte, ballten sich dichte Schatten.

Eugene stieß einen Pfiff aus und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Er streifte seine Kapuze ab und die anderen taten es ihm nach. Sie trugen alle ähnliche Kleidung – Jogginghosen, Turnschuhe, dunkle Kapuzensweatshirts – und doch hätten sie kaum unterschiedlicher sein können.

Der Älteste unter den dreien war Eugene. Er ging auf die einundzwanzig zu. Seine gelockten Haare verliehen ihm etwas von einem kleinen Jungen, denn sie sahen aus, als könne man sie nie in Ordnung bringen. Dichte Wimpern säumten die mandelförmigen, hellbraunen Augen, darin leuchteten Sprenkel von Grün wie Smaragdsplitter. Seine Blicke wanderten im Raum umher, während er sich eine Locke aus der Stirn strich. Um seine Lippen lag ein melancholischer Zug.

Chris überragte die beiden anderen um eine gute Handbreite. Die Stoppeln seines Dreitagebarts betonten vorteilhaft seine Kinnpartie. Die Sonnenbräune gab seinen Zügen etwas Markantes. Seine Augen, ja, alles an ihm erschien im Schein der Kellerlampe wie dunkles Kupfer. Er fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe und einen Augenblick später hüpfte sein Adamsapfel auf und ab, als hätte er gerade eine Bemerkung heruntergeschluckt, die ihm auf den Lippen lag.

Der Junge mit den stoppeligen Haaren, die in öligem Schwarz schimmerten, war mit siebzehn der Jüngste. Toni war kräftig und gut durchtrainiert. Das Auffälligste an ihm waren seine großen dunklen Augen, die misstrauisch den Raum musterten. Er glättete die Stirn und rümpfte zum Ausgleich schnaubend die Nase.

Die drei schauten sich an und nickten. Die Verheißung, einem Geheimnis auf der Spur zu sein, elektrisierte sie und ließ ihre Augen funkeln.

»Bis hierher hätten wir es geschafft«, sagte Chris und schob sich an Eugene vorbei in die Mitte des Kellers. Er sah sich um.

Gegenstände lagen verstreut auf dem Boden oder waren in Holzregale entlang der Steinmauern ohne jegliche Ordnung eingeräumt. Kistenstapel unterschiedlicher Höhe füllten die Lücken zwischen den Regalen, und an einem dicken Metallhaken, der wie Ahabs Klaue aus der Kellerwand ragte, hingen alte Seemannssäcke und dicke, schmutzige Seile. Der Staub der Jahrzehnte machte den Keller stickig.

»Mein Onkel war seit Jahren nicht mehr hier unten. Seid vorsichtig, weiß der Teufel, was alles herumliegt!« Eugene drehte sich um die eigene Achse und ging auf einen Stapel Kisten zu.

»Fallen zum Beispiel.« Mit spitzen Fingern hob Chris eine verstaubte Mausefalle hoch. Sein Gesicht glühte in fiebriger Spannung, als könnte in jeder Kiste ein Schatz warten oder eine Gefahr lauern.

Toni pfiff durch die Zähne, streifte seinen Rucksack ab und mit einem Knall landete er auf dem Boden. Alle zuckten zusammen. »Wer hat hier Angst?«, flüsterte er belustigt, konnte seine eigene Anspannung aber nicht ganz überspielen.

»Also los, fangen wir an, bevor die Geister wach werden«, sagte Eugene und deutete auf mehrere Holzkisten in einer Ecke, die mannshoch übereinandergestapelt standen.

Die drei machten sich daran, die oberste Kiste vom Stapel zu wuchten. Als sie den Deckel anhoben, schlug ihnen ein dumpfer Geruch nach altem Stoff und Moder entgegen. Eugene hielt mit geblähten Backen die Luft an. Er beugte sich über die Kiste, angewidert griff er hinein und hob die alten Kleider hoch. Eilig ließ er den Deckel wieder zufallen und atmete geräuschvoll aus.

»Nichts«, presste er hervor. »Nur mottenzerfressene, schimmlige Klamotten.«

Die anderen Kisten vom Stapel gaben genauso wenig her.

Schwatzend suchten sie noch eine Weile den Raum ab, schauten in Kisten und unter den lose verstreuten Sachen.

Allmählich klang ihre Ausgelassenheit ab, bis sie schließlich nur noch schweigend und lustlos in allem herumstocherten. Enttäuscht gaben sie es schließlich auf und ließen sich auf herumstehende Kisten fallen. Mürrisches Schweigen breitete sich aus.

Chris hatte ein vergilbtes Buch aus einem der Regale gezogen und blätterte mit finsterem Gesicht darin.

»Ganz ehrlich, amigos«, sagte Toni nach einer Weile und klopfte sich den Staub von der Hose, »habt ihr ernsthaft geglaubt, etwas zu finden?«

»Du etwa nicht?« Chris stand auf und stellte das Buch zurück ins Regal, an die Stelle, wo es einen dunklen, staublosen Streifen zurückgelassen hatte.

»Doch, ja«, gab Toni widerwillig zu, »aber hier gibt’s nichts, was nur annähernd wertvoll ist. Nada! Noch nicht mal der Wein. Die älteste Flasche ist fünf Jahre alt.« Nach einer Pause brummte er verlegen: »Ich komme mir gerade echt albern vor. Wir sind doch keine Kinder mehr, die an Märchen mit versteckten Schätzen glauben.«

»Wissen wir überhaupt, wonach wir suchen? Dein Onkel hätte sonst was meinen können.« Chris wandte sich an Eugene, der die ganze Zeit still vor sich hingestarrt hatte. »Wie hat er es noch gleich ausgedrückt? Manche Sachen müssen bis in alle Ewigkeit verborgen bleiben. Denn manches Geheimnis ist machtvoll, und einmal gelüftet, würde es unser Leben für immer verändern oder schlimmer« Er lallte mit rauer Stimme, als mache er jemanden nach, der einen über den Durst getrunken hat.

»Ich weiß, Boccaroni Barry hat schon immer einen Hang zum Theatralischen gehabt«, sagte Eugene und überspielte seine Verlegenheit mit einem schiefen Grinsen. »Warte, nein, er sagte: Manches Wissen ist machtvoll.«

»Tja, genau. Wir haben uns doch nur eingebildet, dass er einen Schatz meinte.«

»Als du ihn gefragt hast, was hier unten sei, hat er doch gesagt, dass manche Sachen verborgen bleiben sollten. Also meinte er schon etwas Bestimmtes oder nicht?«, protestierte Toni.

»Ich bin mir nicht sicher«, erwiderte Eugene, stand auf und zuckte unschlüssig mit den Schultern. Beiläufig fügte er hinzu: »Außerdem war er betrunken.«

Sie schwiegen.

»Vielleicht sollten wir deinen Onkel noch mal fragen, wenn er nüchtern ist«, schlug schließlich Chris vor.

»Die Sache ist die«, nahm Eugene nach einer Weile das Thema wieder auf, »erstens ist mein Onkel nie nüchtern, und zweitens wird er uns nichts verraten. Er macht ein Riesengeheimnis um sich. Das einzig Handfeste, was ich über ihn weiß, ist, dass er Unmengen Alkohol und Boccaronis verdrücken kann. Von seiner Vorliebe für die kleinen Fische hat er seinen Spitznamen. Abgesehen davon würde er uns die Köpfe abreißen, wenn er wüsste, dass wir hier unten herumstöbern. Also, vergiss es.«

Es wurde wieder still im Keller und die drei gaben sich mit finsteren Gesichtern ihrer Enttäuschung hin.

»Wie lange haben wir hier unten Luft? Ich krieg jetzt schon keine mehr«, jammerte Chris irgendwann.

»Ich hatte nicht vor, die Nacht hier zu verbringen!«

»Warum eigentlich nicht? Ein paar Konserven finden wir sicher irgendwo. Und zu trinken wäre oben genug.«

»Nicht nur oben. Seht mal, welch edler Tropfen«, sagte Toni und hielt eine verstaubte Weinflasche hoch. »Vielleicht ist in einer dieser Flaschen eine Flaschenpost verborgen, eine Karte, die zu einem Schatz führt. Oder der Schatz selbst. Ein Diamant oder …«

»Ach, halt doch die Klappe!«, zischte Eugene.

»Wir könnten alle Flaschen öffnen und nachsehen. Natürlich müssten wir die vollen erst leeren«, fuhr Toni unbeeindruckt fort, als hätte er Eugene nicht gehört.

»Und wenn wir den Schatz schon nicht finden«, nahm Chris den Faden auf, »dann könnten wir den Wein und die Thunfischkonserven alle machen. Oder etwas für unsere Bildung tun.« Er schaute sich um, griff in die Kiste neben sich und zog wahllos ein Buch heraus. Mit dem Ärmel wischte er den Staub vom verblassten braunen Ledereinband. Er drehte es suchend hin und her, doch weder auf dem Einband noch auf dem dicken Buchrücken stand ein Titel. Nur eine handtellergroße Figur zierte das Leder des Einbands.

Er fuhr mit den Fingerspitzen über die Einprägung und brummte: »Sieht wie ein Indalo aus, das Symbol des Regenbogengottes, das es hier an einigen Häusern gibt.« Er schlug das Buch auf, las die Titelseite: »Las historias y metamorfosis de los an …« und räusperte sich. »Ähm, was?« Er runzelte die Stirn, als könne er dadurch die verwitterte Schrift auf dem harten, rissigen Papier besser lesen. »Anthro-phi-bios«, las er stockend das letzte Wort. Er starrte noch eine Weile geistesabwesend die Schrift an und blätterte dann ein paar Seiten um. Das Papier sah aus, als würde es gleich zu Staub zerfallen. Vorsichtig schloss er das Buch und legte es weg, in Gedanken schon woanders. »Und wir nennen uns selbstverständlich Der Club der toten Dichter«, sagte er und kratzte sich am Kinn.

»Ihr Amerikaner mit euren Filmen«, spottete Toni. »Der Club der dämlichen Spinner wäre passender«, zischte er gleich darauf, zog die Kapuze seines Sweatshirts über und fletschte die Zähne. »Der in dieser denkwürdigen Nacht ein jahrhundertealtes Geheimnis lüftet, verborgen unter dem Chiringuito eines irischen Trunkenbolds. Der nach Spanien auswanderte, um sein Glück zu finden, und stattdessen nur Boccaronis und Schnaps fand.«

Sie prusteten los.

»Alles, was ihn von seiner hysterischen Frau fernhielt, war wohl recht. Selbst dieses Nest«, brachte Eugene gerade noch hervor, bevor er sich verschluckte und hustete.

»Apropos Frau, wir müssten auch ein paar Mädchen dazuholen.«

»Nee, lieber nicht. Im Film ging das auch schief. Außerdem hast du doch eh kein Mädchen.« Eugene sah Toni provozierend an.

»Ich schon«, schaltete sich Chris ein und erntete einen Rippenstoß von Toni.

»Lass meine Schwester aus dem Spiel, du Weiberheld. Ich schwöre dir, wenn du Maria auch nur einmal böse ansiehst …« Toni beendete den Satz mit einem deutlichen Zeichen.

Chris fasste sich unwillkürlich an die Kehle und krächzte: »Okay, also keine Mädchen. Ihr kennt sowieso keine.«

»Wo du recht hast, hast du recht«, sagte Eugene und seufzte theatralisch. »Meinem Onkel ist es auch nicht gut mit den Frauen ergangen.«

»Und jetzt hat er dich am Hals. Das nenne ich eine unglaubliche Verbesserung seiner trostlosen Situation.«

»Wohin er wohl diesmal flüchtet? Oder stürzt er sich am Ende ins Meer?«

»Bestimmt nicht«, sagte Eugene in gespieltem Ernst. »Ist nicht hochprozentig genug.«

Die drei brachen in Lachen aus.

»Seid leiser«, raunte Eugene und unterdrückte nur mit Mühe einen erneuten Lachanfall. »Wollt ihr, dass uns jemand hört?« Er wischte sich die Tränen aus den Augen.

Toni fiel gerade wieder etwas ein und er wandte sich an Chris: »Wie war das? De los – was?«

»Was? Ach so. Keine Ahnung, lies selbst. Du bist hier das spanische Original.« Chris reichte Toni das ledergebundene Buch. Er nahm es und fuhr mit den Fingern über die eingeprägte Figur auf dem Ledereinband.

»Stimmt, das Symbol sieht wirklich wie ein Indalo aus. Allerdings hat der hier eher einen Fischkopf.« Er schlug es auf. »Merkwürdig. Wie alt das Buch wohl ist?«, sagte er mehr zu sich. »Las historias y metamorfosis de los … anthrophibios. Keine Ahnung.« Mit den Fingerkuppen strich er über das Papier, als wolle er eine Blindenschrift entziffern, und murmelte: »Die Geschichten und Verwandlungen der … wie auch immer.« Toni klappte das Buch zu, legte es neben sich auf die Kiste und stand auf.

»Vielleicht ein Buch über Amphibien. Wer sich dafür interessiert«, sinnierte Chris gelangweilt, gähnte und machte Anstalten, aufzustehen.

Eugene griff nach dem Buch und betrachtete die Figur. Sie sah aus wie ein von einem Kind gemaltes Strichmännchen mit ausgebreiteten Armen und gespreizten Beinen. Ein Bogen spannte sich im Halbkreis von einem Arm zum anderen und der Kopf der Figur sah einem Fischkopf sehr ähnlich. Er öffnete das Buch und blätterte vorsichtig einige Seiten um. Erstaunt pfiff er durch die Zähne.

»Das ist doch tatsächlich Altspanisch.«

Toni verdrehte die Augen und schnalzte mit der Zunge. »Du und dein Sprachfimmel.«

Eugene zuckte mit den Schultern, als hätte er den Spott öfters schon abbekommen. Fasziniert betrachtete er die Seiten des Buchs. »Wenn das Jahreszahlen sind, dann halte ich gerade einen Schatz in Händen.«

Chris und Toni lachten trocken auf.

»Einen Schatz, na klar«, höhnte Toni und beugte sich über das Buch. »2139 A.C.«, las er an der Stelle, wo Eugenes Finger lag. »Das ist keine Jahreszahl. Was soll denn A.C. bedeuten?«

»Vielleicht eine alternative Abkürzung für Ante Christus, vor Christus«, erwiderte Eugene.

»Das ist aber weit hergeholt«, protestierte Toni amüsiert und wandte sich wieder ab.

»Stimmt schon. Das erste Papier ist eher so 2.000 Jahre alt. Außerdem kam das Altspanische erst im 11. Jahrhundert nach Christus auf«, bemerkte Eugene in lehrerhaftem Ton und klappte das Buch wieder zu. »Und genau genommen sollte es Menschenamphibien heißen.« Die anderen sahen ihn verständnislos an. »Na ja, das letzte Wort im Titel. Anthro- kommt bestimmt von ànthropos, was auf Griechisch so viel wie Mensch heißt. Und anthro-phibios sind dann die Menschen …«

»Scht! Still«, unterbrach ihn Chris. »Ich habe etwas gehört.«

Sie erstarrten und lauschten angespannt.

Nach einer Weile, in der sich nichts tat, fragte Eugene ungeduldig: »Was? Außer einem Tropfen dort hinten höre ich nichts.« Er reckte sich und stand auf.

»Genau, das Tropfen.« Chris nickte, als wolle er seine Worte unterstreichen.

»Ja, und?« Eugene schaute ihn belustigt an. Platsch. Das Geräusch war kaum wahrnehmbar. Platsch. Er legte das Buch beiseite, stand langsam auf und lauschte mit hochgezogenen Augenbrauen.

Wie auf Kommando fingen alle drei an zu suchen.

»He, hierher, ich hab was.« Chris stand im hinteren Teil des Kellers und tastete über die Wand dort. »Kann mal jemand hierher leuchten?«

Der Schein der aufflammenden Taschenlampen blendete Chris und er kniff die Augen zu. Auf Kniehöhe erkannten sie eine feucht-schmutzige Spur, die sich von einem abstehenden Mauerstein bis zum Boden zog. Auf der Kante des Steins schwoll in regelmäßigen Abständen ein Wassertropfen an. Zuerst kaum sichtbar, dann immer dicker, bis er schließlich vom eigenen Gewicht überwältigt mit einem schmatzenden Geräusch zu Boden fiel.

Im tanzenden Schein ihrer Taschenlampen sahen sie auch noch etwas anderes: Die hintere Kellerwand war deutlich heller als die anderen Wände, so als wäre sie erst später gebaut worden. Einen halben Meter über dem Boden sah die Mauer über ihre gesamte Länge wie mit Flüssigkeit vollgesaugt aus.

Chris kniete sich vor die Wand. Mit beiden Händen rüttelte er am abstehenden Stein und tastete bis zum Boden die grobe Wand ab. »Das Wasser kommt eindeutig von hier.« Er richtete sich auf und drehte sich zu den anderen.

»Ist doch unwichtig, es ist ein alter Keller, der Feuchtigkeit angesammelt hat«, sagte Eugene. »Was regen wir uns darüber auf? Ich schlage vor, wir gehen.« Er war im Begriff hochzulaufen, als ihn Chris’ Worte zurückhielten:

»Der Keller ist nicht feucht. Er ist trocken und staubig.«

»Na und? Dann ist er eben nur an der Mauer dort feucht.«

»Und wieso ist es Salzwasser?«

Eugene starrte Toni an, der das gerade gesagt hatte.

»Ich bin mit meiner Hand an den Mund gekommen und sie schmeckt salzig …« Tonis Worte klangen beinahe entschuldigend.

Eugene und Chris fuhren mit den Fingern über den Stein und führten sie an ihre Lippen. »Salzig«, sagten sie wie aus einem Mund.

Und danach unterbrach nur das monotone Geräusch der Wassertropfen die Stille.

Schließlich stammelte Toni: »Ist jenseits dieser Mauer etwa …« Er hielt inne und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. Hilfe suchend schaute er die beiden an, als fürchtete er, sich lächerlich zu machen, wenn er den Satz zu Ende sprach. Ihre flammenden Blicke zeigten ihm jedoch, dass sie das Gleiche dachten wie er.

Und dann nickten sie. Ein dreiköpfiges Nicken wie ein Schwur.

»Das Meer.«


4.
Faro de Sacratif

 

Lilli erkannte ihre Mutter fast nicht wieder, als sie ihr hinter der Absperrung in der Flughafenhalle winkend entgegenstrahlte.

Mit ihren 44 Jahren gehörte sie zu den gesegneten Frauen, die nichts tun mussten, um jugendlich zu bleiben. Sie trug ein modisches, ärmelloses Kleid, das ihre Figur betonte, und um die Schultern ein buntes Tuch. Ihr natürlich rotes Haar umspielte in Locken ihr schmales Gesicht. Früher wollte Lilli auch diese Haarfarbe haben – das kräftige Rot des wilden Weins im Herbst, ein Überbleibsel ihrer irischen Abstammung.

Insgeheim gab Lilli zu, dass die Anwesenheit ihrer Mom hinter der Absperrung etwas Beruhigendes nach den Strapazen der letzten zwölf Stunden hatte. Immerhin war sie der erste Mensch seit Langem, der sie anlächelte.

Lilli stapfte ihr auf wackeligen Beinen entgegen. Dabei sah sie sich in der Halle um und stellte erstaunt fest, dass der Flughafen modern und hell war. Überall flackerten digitale Anzeigen und Reklamebords. Die unterschiedlichsten Essensgerüche hingen in der Luft und vor vielen Schaltern warteten lange Schlangen von Menschen.

Die Schaufenster der kleinen Läden und Boutiquen waren hübsch dekoriert, was sie zuversichtlicher stimmte. Vielleicht war Spanien doch nicht so schlimm. Lilli gestand sich ein, dass sie nach dieser letzten Landung nicht viel mehr als eine düstere Holzhütte als Flughafen erwartet hatte. Jedenfalls nichts, was dem hier glich. Fast wie der JFK Airport in New York, nur eben kleiner.

Vier Jungs in ihrem Alter standen unweit ihrer Mutter und schauten sie grinsend an. Ein kräftig gebauter Junge pfiff und rief Lilli etwas auf Spanisch zu. Die anderen stimmten mit ein.

Sie schaute missmutig hinüber, woraufhin die Jungs plötzlich verstummten, als hätte jemand die »Ton aus«-Taste gedrückt. Na toll, dachte sie und erreichte die Absperrung mit hochrotem Kopf. Sie ließ es zu, dass ihre Mutter sie umarmte. Aber nur weil sie zu müde war, um sich dagegen zu wehren. Sie rümpfte die Nase.

»Lass dich nicht von denen ärgern«, sagte ihre Mutter lachend und ließ sie aus der Umarmung los. Anscheinend hatte sie die Szene beobachtet. »Das ist ihr spanisches Temperament. Die sind alle so, wenn sie ein hübsches Mädchen sehen.«

Eine Eigenschaft ihrer »alten Seele« war, dass sie im Großen und Ganzen den Tatsachen ins Auge sah. Sie war nicht gerade hässlich, aber für eine Schönheit, der man hinterherpfiff, hielt sie sich nicht. Sie hatte vielleicht keine gewöhnlichen, langweiligen Augen, vielleicht war sogar ihr schlanker Hals hübsch oder ihr langes Haar, doch insgesamt fand sie sich farblos und unscheinbar. Eigentlich nicht der Rede wert.

Lilli starrte ihre Mutter an, als hätte die ihr gerade eröffnet, zu »Miss Malaga Airport« gewählt worden zu sein. »Was?« Sie zog die Brauen hoch, erwartete allerdings keine Antwort. Sie war viel zu erschöpft, um einem Satz vom Anfang bis zum Ende zu folgen.

Und so verlor sich das Geplapper ihrer Mutter über das spanische Wetter, die bevorstehende Fahrt und wie schlimm auch sie das Fliegen fand in einer Wolke aus Staub und Lärm, die sie durch den Flughafen und hinaus ins Freie trug. Lilli schaltete auf Autopilot und trottete ihrer Mutter zum Parkhaus hinterher.

Während der Fahrt schaute sie stumm auf die Landschaft und musste sich eingestehen, dass die Aussicht spektakulär war. Fast die ganze Zeit fuhren sie eine steile Küste entlang und Lilli verlor sich bald im Funkeln und Glitzern des Meeres.

Die Autobahn schlängelte sich zwischen Klippen, führte über lange und schwindelerregend hohe Viadukte und durch Tunnel, die den Berg von Zeit zu Zeit durchbrachen. Die imposante Aussicht, über die sich ein tiefblauer, makelloser Himmel spannte, verbesserte ihre Laune nur unwesentlich. Eigentlich kam das hier fast einer Beleidigung gleich, echt! Kurzerhand schloss sie ihre müden Augen.

Sie war eingedöst und schreckte hoch, als sie durchgerüttelt wurde. Sie fuhren eine unebene Straße entlang, die die Welt vergessen zu haben schien. Andere Autos begegneten ihnen nicht, geschätzte zwanzig Minuten lang.

Wie lange fuhren sie jetzt überhaupt?, fragte sich Lilli und lehnte den Kopf an die Scheibe. Sie spürte den Blick ihrer Mutter.

»War deine Großmutter bei dir?«

»Ein paar Tage, ja.« Lilli löste sich von der Landschaft, die an ihnen vorbeizog, und schaute ihre Mutter vorwurfsvoll an. »Du hättest sie nicht zu mir schicken sollen. Es fällt ihr immer schwerer, Reisen zu unternehmen. Und nach New York sowieso.«

»Geht es ihr gut?«

»Sie war von New York so wenig begeistert wie sonst auch. Diesmal war sie kein einziges Mal draußen. Das Bein macht ihr immer mehr zu schaffen.«

»Was sagt der Arzt?«

Lilli schnaubte.

Ihre Mutter gab selbst die Antwort: »Sie geht nicht zum Arzt.«

Lilli nickte resigniert. »Echt dickköpfig. Sonst habt ihr nicht so viel gemeinsam, aber du bist genauso stur, wenn es um Ärzte geht.«

»Deine Großmutter kann gut auf sich aufpassen. Mach dir keine Sorgen. Sie war nur zwei Mal in ihrem Leben wirklich krank und ist damals endlich zum Arzt gegangen, obwohl sie sich zuerst geweigert hat. Wir sollten ihr vertrauen. Wenn sie es für angebracht hält, wird sie einen Arzt aufsuchen.«

Lilli hatte das deutliche Gefühl, dass ihre Mutter vor allem sich selbst überzeugen wollte. Für sie war das Thema damit beendet.

»Schau«, sagte ihre Mutter plötzlich und deutete nach vorn. Lilli dachte für einen Augenblick, sie meinte das Auto, das an ihnen vorbeigesaust war. Als eindeutiges Zeichen von Zivilisation, sozusagen.

»Da ist der Leuchtturm von La Perla.«

Widerwillig schaute sie in die Richtung, in die ihre Mutter deutete. Der kleine Leuchtturm am Rand der Klippe zog zu ihrer Rechten vorbei und schien genauso nutzlos wie alles andere. Aus dem Augenwinkel las sie noch das Schild Faro de Sacratif, dann war der Leuchtturm auch schon verschwunden.

»Sobald wir am Leuchtturm sind, haben wir es geschafft.«

Welch ein grandioser Anhaltspunkt. Wurde in Spanien die Entfernung etwa so gemessen: noch einen Leuchtturm weiter, dann rechts? Oder die Zeit vielleicht nach dem Stand der Sonne? Wenn die Sonne dort am Himmel steht, haben Sie Ihr Ziel erreicht?

Immerhin eine gute Nachricht, dass sie endlich ankommen würden. Sie wollte nichts sehnlicher als ankommen und schlafen. Egal wo, egal wie.

Die Aussicht, die sich Lilli bot, als sie bald darauf die Straße verließen, war bizarr. Sie fuhren zwischen Reihen von … ja, was eigentlich?

»Das sind Gewächshäuser«, sagte ihre Mutter, als hätte sie ihre Gedanken erraten. Sie lachte schallend, als sie Lillis Gesichtsausdruck bemerkte. Ihre Mutter war schräg drauf, eindeutig. Kein Wunder, bei der Aussicht. Die Planen schienen nie mehr zu enden. Reihenweise standen sie da und sahen im Vorbeifahren wie aneinandergeklebte, dreckige, bescheuerte Iglus aus.

»Der Weg ist eine Abkürzung. Keine Sorge, bei uns sieht man nichts mehr davon.«

Bei uns … na klar. Lilli verzog den Mund und schwieg. »Bei uns« war Tausende Meilen weit weg von hier, auch wenn es »bei uns« vermutlich regnete. »Unseren« New Yorker Regen. Und sich dort mindestens acht Millionen Menschen mehr tummelten als hier. Gab es hier überhaupt welche?

»Die Einheimischen nennen die Gewächshäuser plastico fantastico. Passt super, nicht?«

Sollte das ironisch klingen? In Lillis Ohren klang es nur idiotisch.

»Ganz super.«

Endlich bogen sie auch von dieser Straße ab und kamen auf eine schmale, asphaltierte Gasse, die nach einer scharfen Rechtskurve schließlich in einen unbefestigten Weg mündete. Das Meer tauchte gleißend vor ihnen auf und Lilli kniff die Augen zusammen.

Der Weg zog sich leicht erhöht entlang des Strands, der verlassen zu ihrer Linken lag und bis zu einer hohen Klippe in der Ferne reichte. Der Strand bestand aus Kieselsteinen, einige kleine Sandinseln durchbrachen das schmutzige Grau der Steine. Richtung Klippe verdichteten sich Felshaufen, die nach hinten immer größer wurden, bis sie in die Klippenwand als scharfe Randfelsen übergingen.

Das Meer war stürmisch, hohe Wellen brachen sich am Ufer und über der Wasserlinie hingen dunstige Streifen wie Nebelschwaden. Die Müdigkeit gaukelte Lilli vor, die salzgetränkte Luft riechen zu können, obwohl die Fenster des Wagens geschlossen waren.

Der Weg schien nicht befahren. Eine Wolke aus Staub erhob sich hinter ihnen. Wird immer besser!, dachte Lilli. Obwohl ihre Mutter im Schritttempo fuhr, wurden sie heftig durchgerüttelt und die Reifen protestierten knirschend. Anscheinend bestand der Weg nicht nur aus staubiger Erde.

Rechts fuhren sie an einzelnen, in hellen Farben getünchten Häusern vorbei. Plötzlich hörte die Reihe der Häuser auf und eine Fläche mit hohem Schilf kam in Sicht, die bis zu den Hügeln in der Ferne reichte.

»Das ist ein Zuckerrohrfeld. Gibt es öfter hier in der Gegend. Die machen in der Fabrik drüben in Motril ihren berühmten Rum daraus.«

Ach so, also kein Schilf. Ihre Mutter schien heute besonders »telepathisch« zu sein. Und was sie nicht schon alles wusste … Ob sie auch weiß, dass sie die Sauerei im Auto haben wird, wenn das Rütteln nicht bald aufhörte? Lilli versuchte die Übelkeit zu unterdrücken. Sie war im Begriff, ihre Mutter zu warnen, als nach der nächsten Wegbiegung ein Gebäude auftauchte.

Es thronte einsam auf einer niedrigen Kuppel vor der Klippe, auf deren Plateau derselbe Leuchtturm stand, an dem sie vorhin vorbeigekommen waren. Sie waren also einen Bogen gefahren, fasste Lilli zusammen, oben um die Gewächshäuser herum, hinunter zum Meer und dann entlang der Küste ein Stück wieder zurück in die Richtung, aus der sie ursprünglich gekommen waren. Für ihren miserablen Orientierungssinn, gut beobachtet!

Der Weg führte über den sanften Hang hinauf und sie hielten im Schatten der Mauer, die das Grundstück einsäumte. Die Mauer mit ihren üppigen bunten Blumenranken ließ das Anwesen wie aus einer anderen Welt erscheinen, eine farbenprächtige Insel in der staubigen Einöde.

Lilli öffnete die Wagentür und schob vorsichtig ihre steifen Beine ins Freie. Sie traute sich nicht, gleich aufzustehen. Alles drehte sich, einschließlich ihres Magens.

Gierig sog sie die Luft ein und allmählich kam die Welt um sie zum Stehen. Der Duft der Blumen, der sich mit dem Salzgeruch des Meeres mischte, war überwältigend. Sie wuchtete sich aus dem Sitz und streckte sich ausgiebig. Die Morgensonne streifte ihre Haut und entspannte ihr Gesicht mit milder Wärme.

Ihre Mutter hob bereits die Reisetaschen mit der Bemerkung »Wieso hast du eigentlich nur so wenig Gepäck dabei?« aus dem Kofferraum und lief mit einer Tasche in jeder Hand zum niedrigen Holztor, das die Mauer durchbrach. »Chris hatte mehr dabei und er ist ein Junge«, sagte sie noch, bevor sie das Tor schwungvoll mit der Hüfte aufstieß.

Lilli schnappte sich den Rest des Gepäcks, einen großen Rucksack aus hellbraunem Leder, schloss den Kofferraum mit einem Knall und folgte ihrer Mutter. Sie kam an einem Schild vorbei, auf dem mit roter Farbe APTOS SAN JAIME gepinselt war.

Warum sie nicht mehr Gepäck hatte? Weil sie es einfach nicht geschafft hatte, die Packerei systematisch anzugehen. Ratlos hatte sie stundenlang ein- und wieder ausgepackt und schließlich am vorletzten Tag einfach beliebig Sachen in die beiden Taschen gestopft. Ein paar Dinge, an denen sie hing, waren aber dabei: ihre Lieblingsmusik auf ihrem MP3-Player, ihre Digitalkamera, einige Lieblingsklamotten und Schuhe. Und das Strickzeug mit dem angefangenen Pullover. Und sonst? Was nahm man schon in einen eineinhalbjährigen »Urlaub« mit …?

Lilli trat schweigend durchs Tor. Sie fand sich in einem großen, gefliesten Hof wieder. Wäre sie nicht so müde gewesen, hätte sie ihrer Verblüffung laut Luft gemacht. Es war sehr schön hier! Ein ovaler kleiner Pool leuchtete türkis aus der Mitte des Hofs, der von sattgrünen Büschen und Palmen gesäumt war.

Eine Gestalt erschien auf einem der Balkone im obersten Stockwerk.

Ihre Mutter, die im Schatten vor der Eingangstür zum Haus wartete, grüßte laut auf Spanisch hinauf, im Flüsterton sagte sie zu Lilli, die jetzt zu ihr stieß:

»Das ist der Hausmeister. Don Pedro. Er ist etwas eigenartig. Ich glaube, er ist schwerhörig. Jedenfalls wohnt er da.«

Lilli schaute zu der rauchenden hageren Gestalt hoch und gab sich alle Mühe, ein freundliches Nicken hinzubekommen. Der Mann sah aus der Entfernung greisenhaft aus. Ein dunkles Augenpaar starrte aus dem eingefallenen Gesicht zu Lilli herab. Als sei er mit den Jahren immer mehr in sich selbst versunken, dachte sie und bekam beim finsteren Blick des Alten unwillkürlich eine Gänsehaut.

Ihre Mutter verschwand kichernd im Haus, als sie Lillis Miene bemerkte.

Hoffentlich sind nicht alle hier so seltsam!? Lilli stolperte ihrer Mutter nach und war erleichtert, als sie das Treppenhaus betrat. Es war langgezogen und ging in einen Flur über. Hier roch es nach staubigem Stein und frischer Tünche. Von der Decke bis zu den Bodenfliesen war alles in Weiß gehalten. Allein die dunklen Holztüren, an denen sie vorbeikam, sahen im Weiß der Wände wie riesige Schokoladentafeln aus. An den Türen hingen weiß-blaue Namensschilder aus Keramik.

Der Flur machte einen Knick und ihr Blick fiel auf die Ecke im Schatten einer Treppe. Zwei mannshohe Regale standen dort, unordentlich mit Büchern gefüllt. Im Vorbeigehen entdeckte Lilli einige englischsprachige Bücher, was sie irgendwie beruhigte.

Am Ende des Flurs stellte ihre Mutter die Taschen vor einer Tür ab. Auch an dieser hing ein Keramikschild. Darauf stand in handgemalten Lettern ihr Familienname: »LeBon, Aptos 5/6«.

Ihre Mutter schloss auf und sie folgte ihr in einen geräumigen Korridor, wo sie vor einer rostfarben gebeizten Holztür mit Messingklinke innehielt.

»Das ist dein Zimmer.«

Lilli trat ein.

»Das Bett ist ja riesig«, waren die ersten Worte, die sie nach langer Zeit sagte. Mit einem Seufzer der Erleichterung warf sie ihren Rucksack aufs Bett. »Sind die Männer da?«, fragte sie und setzte sich auf die Bettkante.

»Ich habe sie einkaufen geschickt. Heute ist Markt in Motril. Und Flohmarkt.« Ihre Mutter zwinkerte Lilli zu. Flohmarkt hieß, ihr Dad würde stundenlang fortbleiben. Er liebte Flohmärkte.

Lilli nickte. Das Lächeln, das sie versuchte, musste jämmerlich aussehen, denn ihre Mutter sagte verständnisvoll:

»Ich lass dich jetzt allein. Schau dir die Wohnung später an. Wenn du etwas essen willst, ich bin drüben.« Ihre Mutter zog mit dem gleichen strahlenden Lächeln wie am Flughafen die Tür hinter sich zu.

 

Als Lilli erwachte, war es dunkel. Einige Atemzüge lang wusste sie nicht, wo sie war. Ihr Kopf fühlte sich schwer an und nur mit Mühe schaffte sie es, ihre Augen offen zu halten. Reglos lag sie auf dem Rücken und blinzelte in die Dunkelheit.

Die Worte ihrer Mutter fielen ihr ein, »Hab’ dich lieb, Lil.« Hatte sie es nur geträumt, oder hatte ihre Mutter es tatsächlich zu ihr gesagt, bevor sie sie allein gelassen hatte? Dann dämmerte ihr, wo sie war und sie machte die Augen wieder zu. Sie nahm sich vor, noch eine Weile zu schlafen. Eine lange Weile, am besten die nächsten anderthalb Jahre …

Ein vollkommen unwirkliches Gefühl überkam sie. Kein Wunder, nach den einsamen Wochen in New York ... Wenn da nicht das Bedürfnis gewesen wäre, auf die Toilette gehen zu müssen, hätte sie an einen Traum geglaubt. Widerwillig stand sie auf und schlurfte ins Bad.

Zurück im Zimmer schaute Lilli auf die glimmenden Ziffern einer Digitaluhr, die im Dunkeln rot leuchteten. Es war kurz vor elf Uhr. Sie hatte den ganzen Tag geschlafen. Warum fühlte sie sich dann wie durch den Fleischwolf gedreht?

Auf dem Weg zur Balkontür stolperte sie über ihre Taschen. Sie zog die Vorhänge beiseite und öffnete die Tür. Die angenehm milde Nachtluft lockte sie nach draußen und sie trat barfuß auf die noch warmen Fliesen hinaus.

Überrascht erkannte sie, dass es einen zweiten Hof gab, der sich direkt unter dem Balkon erstreckte. Er war kleiner und durch hohe Büsche vom anderen abgetrennt. Jetzt lag er unbeleuchtet und leer da, schwarze Schatten auf den Steinplatten. Dieser war nicht wie der große Hof von einer Mauer umgeben. Nur einige Palmen standen am Rand des Hangs, der zum Meer hin zeigte.

Es war windstill und süßer Blumenduft lag in der Luft. Als sich ihre Augen an das fahle Licht aus dem vorderen Hof gewöhnt hatten, machte sie durch die Palmen hindurch den Saum des Meeres aus. Der Sturm hatte sich gelegt und das Rauschen der Brandung war nur ein leises Hintergrundgeräusch in der sonst stillen Nacht. Die sanften Wellen brachen sich gelangweilt und streiften ihren Schaum am Ufer ab.

Und über allem rotierte in monoton regelmäßigen Intervallen der schmale Strahl des Leuchtturms.

Lilli starrte in die Ferne. Bilder ihrer langen Reise und Eindrücke der Fahrt mit dem Auto vermischten sich vor ihrem inneren Auge zu einem wirren Kaleidoskop. Ihre Müdigkeit überwältigte sie wieder.

Gerade, als sie sich abwenden und zurück ins Zimmer gehen wollte, sah sie in der Schwärze, dort wo das Meer auf den Horizont zuging, zwei grüne Lichter gleichzeitig aufleuchten. Sie waren ein gutes Stück vom Ufer entfernt und schimmerten eigentümlich phosphoreszierend. Flackerten wie riesige Leuchtkäfer auf einer schwarzen Decke und erloschen Sekunden später.

Sie hielt inne. Wieder leuchteten die Punkte auf, diesmal Richtung Leuchtturmklippe. Sie bewegten sich schnell aufs Ufer zu.

Gebannt verfolgte Lilli die Lichter, konnte jedoch nicht erkennen, woher sie kamen. Es schien, als glitten sie einfach über das Meer. Oder waren sie unter Wasser?

Plötzlich standen sie still und Lilli hatte das beunruhigende Gefühl, beobachtet zu werden. Als ob Augen hinter den Lichtern lauerten. Dann erloschen sie schlagartig. Angestrengt versuchte sie, etwas in der Dunkelheit zu erkennen. Ein Boot oder Schiff. Vergeblich. Minuten vergingen. Das Gefühl, beobachtet zu werden, hielt sich auch jetzt, wo die Lichter nicht wieder aufflammten. Nichts rührte sich. Dennoch spürte sie deutlich, dass sie etwas vom nächtlichen Meer her, aus der Finsternis dort ansah. Unwillkürlich huschte eine Gänsehaut über ihren Körper.

Schließlich schüttelte sie den Kopf und trottete zurück ins Zimmer, wo sie ausgiebig gähnte. Unfug, schimpfte sie sich. Wer sollte sie beobachten? Auf diese Entfernung und bei Dunkelheit völlig unmöglich, beschloss sie.

Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie immer noch ihre Jeans anhatte. Sie zog sie umständlich aus und kuschelte sich wieder in die Kissen. Ihr Fuß stieß gegen etwas. Es war ihr Rucksack, der noch auf dem Bett lag. Mit einem Tritt beförderte sie ihn zu Boden, wo er geräuschvoll landete.

Sie drehte sich zur Seite und zog die Steppdecke bis unters Kinn. Sicher Fischer oder Taucher, überlegte sie, die hatten solche phosphoreszierenden Lichter. Sie verscheuchte das unangenehme Gefühl, das sie von draußen mitgebracht hatte, und lauschte eine Weile dem Zirpen der Zikaden unten im Hof. Ein neues Geräusch, an das sie sich gewöhnen musste, wie auch an das Wellenrauschen.

Während sie noch darüber nachdachte, dass es sich eigenartig ohne die vertraute Geräuschkulisse New Yorks anfühlte, war sie auch schon eingeschlafen.


5.
Unter Druck

 

Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus dem Schlaf. Mit einem Schlag war Alex hellwach. Er schmiss sich herum und stieß Marc beinahe aus dem Bett.

Der saß kerzengerade am Fußende, in der Dunkelheit nur ein Umriss. Seine vor Schreck geweiteten Augen leuchteten.

Wieder klopfte es, leise Poch-Poch-Pochs, deren Widerhall bedrohlich anschwoll und den ganzen Raum füllte. Das Klopfen wurde zum Hämmern und sein schneller Herzschlag wie dessen Echo.

Alex löste sich als Erster aus der Erstarrung. Benommen schaltete er das Licht an und öffnete die Tür. Im Türrahmen lehnte ein Junge und blinzelte verschlafen ins Licht. Es war Greg. Alex blinzelte zurück.

Sein voller Name war Gregorius, aber der Junge hatte aus Gründen, über die er sich ausschwieg, darauf bestanden, dass man ihn Greg nannte. Er ging in die Stufe unter der von Alex und war in seiner Klasse der Vertrauensschüler. Greg musterte Alex schlaftrunken.

»Ich soll dich wecken.« Er zuckte mit den Schultern, als er Marc bemerkte, der hinter Alex getreten war. »Euch«, stellte er richtig, »auch gut, spart mir eine Weckaktion. Anordnung von Seraphim. Weiß zwar nicht, was das soll, klang aber schrecklich wichtig.« Greg brummte noch etwas, was wie »als ob es keine Wecker gäbe« klang, bückte sich und zog ein fest verschnürtes Bündel von der Größe zweier Fäuste aus einem Rucksack.

»Das soll ich dir geben.« Er hielt Alex das Bündel hin, bückte sich erneut und kramte ein zweites aus dem Rucksack: »… und das.«

»Danke«, flüsterte Alex und nahm ihm die Päckchen ab.

»Gut. Ich geh dann mal.« Greg schaute abwechselnd von Alex zu Marc, zuckte erneut die Achseln und schlurfte schließlich mit einem Gähnen davon. Nach ein paar Schritten drehte er sich um und mahnte Alex, der immer noch im Türrahmen stand und die beiden Päckchen betrachtete:

»Nicht wieder einschlafen, sonst bringt mich Seraphim um. Er schien es mächtig wichtig mit der Sache hier zu haben.« Und dann maulte er bereits im Gehen: »Jungs, eure Begeisterung ist echt ansteckend.«

Alex schloss die Tür.

»Begeisterung?« Marc nahm Alex eines der Bündel ab. »Der wäre auch wenig begeistert, wenn er mitten in der Nacht in die Folterkammer müsste.«

Die Freunde sahen sich wortlos an. Schließlich sagte Alex:

»Dann wollen wir mal …«

Er wusste natürlich, was das Päckchen enthielt. Dennoch rollte er es so behutsam auseinander, als fürchtete er, etwas Zerbrechliches könnte unter seinen steifen Fingern kaputtgehen. Marc tat es ihm gleich und seufzte, als er den Inhalt erblickte.

Beide streckten die Arme von sich und betrachteten eine Weile stumm ihre Schwimmanzüge. Als könnten sie dem dünnen, samtigen Stoff ansehen, was auf sie zukam, wenn sie den Anzug überzogen.

Alex drehte ihn hin und her. Er war nicht sonderlich verwundert, dass er anders als ihre üblichen Schwimmhosen und Schwimmanzüge aussah, die sie auf Thalassa 3 hatten. Statt türkis schimmerte dieser silbrig-hell, sonst war nichts Besonderes daran. Außer vielleicht …

»Ulkig«, kommentierte Alex, denn das, was er in der Hand hielt, war so klein wie ein Miniaturanzug oder ein Kinderschwimmanzug. Er packte ein Bein und zog daran. Der Stoff gab sofort nach. »Interessant«, murmelte er.

»Ich hab mir etwas Beeindruckenderes vorgestellt. Der sieht so harmlos aus«, bemerkte Marc und zupfte ebenfalls an seinem Anzug herum.

»Hm«, brummte Alex und begann, sich auszuziehen. Als er kurz aufblickte und Marcs Gesicht sah, seufzte er. »Jetzt beruhige dich.« Seine Stimme zitterte vor Nervosität. Fast hätte er über die Situation gelacht.

Doch Marc schien es nicht zu bemerken, etwas anderes beschäftigte ihn offensichtlich. »Ist der nicht viel zu klein?«

Statt einer Antwort schlüpfte Alex in seinen Anzug. Der Stoff gab wie erwartet nach und passte sich seinem Körper an, dehnte sich problemlos und hüllte ihn vom Hals bis zu den Zehenspitzen ein. Er war zwar fast einen Kopf größer als Marc, aber selbst wenn er noch größer wäre, würde der Schwimmanzug passen.

»Ich bin nicht ruhig«, grummelte Marc, bei dem erst jetzt Alex’ Worte angekommen waren. Er schlüpfte mit eckigen Bewegungen aus seinem Schlafanzug, faltete ihn übertrieben sorgsam zusammen und stand dann nackt und verloren da, als könnte er sich nicht entscheiden, welche Klamotten er für die nächste Schulfeier anziehen sollte.

»Du weißt doch, dass jetzt noch nichts passiert. Erst da unten.« Alex deutete zur Kuppel, hinter der dunkel das Meer lag.

Marc schüttelte sich und schlüpfte endlich mit einem »Ist der kalt!« in seinen Schwimmanzug. »Ich bin nicht ruhig«, knurrte er nochmal und schaute an sich herab, offensichtlich fasziniert, dass der Anzug passte. Seine Stimme klang weinerlich, als er einen Augenblick später sagte: »Ich friere. Und meine Haut fühlt sich an, als wäre sie aufgeschürft.«

Alex verdrehte die Augen. »Marc, du kannst gar nichts spüren. Erst da unten. Jetzt spürst du nur den Stoff, mehr nicht.« Er war inzwischen fertig angezogen. »Und frieren kannst du unmöglich länger als zwei Sekunden, das weißt du. Wir passen uns allen Temperaturen an und wir können unsere Körperwärme kontrollieren, daran wird sich nichts ändern. Außerdem fühlt sich der Anzug an wie jeder andere auch. Ich jedenfalls friere nicht.«

Marc sah ihn mit leerem Blick an. Dann bückte er sich und hob ein Paar Miniaturhandschuhe auf. Er schlüpfte hinein und betrachtete, immer noch fasziniert von der Beschaffenheit des silbrigen Stoffs, seine Hände.

»Bin trotzdem nicht ruhig«, sagte Marc.

»Ich auch nicht«, gab Alex zu. Verflixt, er war auch nicht ruhig. Marc sprach nur laut aus, was in ihnen allen vorging.

Er straffte die Schultern und ging entschlossenen Schritts zur Tür. Sein Herz raste, als er gemeinsam mit Marc den dunklen Korridor betrat. Am liebsten hätte er sich an seinem Freund festgehalten. Er hatte eine solche wahnsinnige Angst, wie er sie noch nie in seinem Leben gehabt hatte und einen Moment glaubte er, seine Knie würden nachgeben. Doch dann atmete er tief durch und fing sich wieder.

Ihre Schritte waren lautlos, als sie in Richtung Schleuse gingen, vorbei an Türen, hinter denen die anderen noch schliefen.

Marc packte ihn plötzlich am Arm. Alex blieb stehen und schaute sich erschrocken zu seinem Freund um.

»Falls ich nicht zurückkomme, kannst du meine Büchersammlung haben«, sagte er pathetisch.

Alex wollte protestieren, doch dann schnaubte er amüsiert. Marcs »Büchersammlung« bestand aus ein paar zerfledderten Comics und einer Handvoll Taschenbuchkrimis. Kein allzu wertvolles Erbe, und obendrein hatte er schon alles gelesen.

Marc fuhr mit ernster Miene fort, als wäre er auf die Lösung eines Problems gekommen, das ihn jahrelang beschäftigt hatte:

»Und falls du draufgehst, bekomme ich dein Zimmer.« Er grinste Alex an und für einen Augenblick war er wieder ganz der Alte, ohne Sorgen und Ängste.

Alex wusste, wie versessen Marc auf ein neues Zimmer war. Sein jetziges war viel zu klein und hatte zu allem Übel keine Saphirglaskuppel wie das seine. Marc würde alles tun, um an ein neues Zimmer zu kommen.

»Kein guter Deal, findest du nicht?«, zog ihn Alex auf. »Lass uns gehen. Wir werden alle heil zurückkommen. Kein Deal, mein Lieber, vergiss es.«

Vor dem schweren Metalltor der Südschleuse warteten Danya und Stella. In ihren silbrig schimmernden Schwimmanzügen sahen die Mädchen zerbrechlich wie Korallen aus.

»Hallo«, sagten sie leise zu den beiden Neuankömmlingen.

Alex und Marc nickten stumm.

»Jimo kommt auch gerade.« Danya deutete mit einer knappen Kopfbewegung in den Korridor zu ihrer Linken. Ein silbriger Schatten bewegte sich geräuschlos und flink auf die Wartenden zu. Jimo sah in seinem Schwimmanzug ebenso verändert aus wie die Mädchen.

»Hallo«, flüsterte er, seine Augen huschten voller Furcht von einem zum anderen. Sie antworteten mit einem Murmeln. Alle hatten sie Angst und keiner machte jetzt noch einen Hehl daraus.

»Ich schlage vor, wir ziehen das nicht in die Länge«, sagte Danya und räusperte sich. Sie öffnete die Faust. Auf ihrer Handfläche, die einen Atemzug lang zu zittern schien, lag ein großer Messingschlüssel. »Wenn ihr bereit seid, öffne ich jetzt das Tor.«

Sie nickten der Reihe nach.

»Gut.« Danya steckte den Schlüssel in das massive Schloss, drehte ihn herum und zog mit beiden Händen am Torgriff, bis das schwere Tor geräuschlos nach innen schwenkte. Sie trat beiseite und ließ die anderen vorbei, dann folgte sie. Mit einem metallischen Klicken, das alle zusammenzucken ließ, schnappte das Tor zu.

Am Ende des kleinen tunnelartigen Korridors war das eigentliche Schleusentor, ein letztes Hindernis zwischen ihnen und dem Meer. Darüber flackerte jetzt eine Lampe auf und verbreitete grünlich-blaues Licht. Auf deren Verkleidung prangte ein schwarzes S für »Südschleuse«. Das Tor bestand aus gewölbtem Saphirglas wie auch die Wände des Tunnels. Sie befanden sich in einer der vier Schleusen, die Thalassa 3 mit dem Meer verbanden, jede stand für eine Himmelsrichtung. Die Südschleuse führte Richtung offenes Meer.

Tagsüber und bis weit nach Mitternacht waren vor den Schleusen Wächter postiert, die aus den Reihen der älteren Schüler gewählt und in unregelmäßigen Abständen ausgewechselt wurden.

In den Morgenstunden, in denen alle schliefen und keiner mehr die Schleusen passierte, blieben die Tore unbewacht. Die unterschiedlichen Druckverhältnisse innen und außen verhinderten, dass jemand von draußen diese Tore öffnete. So waren alle auf Thalassa 3 in Sicherheit.

Die fünf standen eng beisammen und schauten stumm in die Finsternis des Meeres um sich, als könnten sie dort ein Zeichen des bevorstehenden Ereignisses sehen. Alex fand als Erster die Sprache wieder:

»Es wird alles gut gehen. Ich wünsche euch viel Kraft, wir sehen uns morgen wieder.« Mit diesen Worten umarmte er Marc. Die anderen murmelten sich ebenfalls aufmunternde Worte zu und umarmten sich der Reihe nach.

Dann packte Alex das schwere Drehrad, drückte den Entsicherungsknopf und begann, langsam am Rad zu drehen. Der Schleusenmechanismus sprang mit einem Zischen an und das Tor glitt Zentimeter für Zentimeter beiseite. Der Innendruck veränderte sich, glich sich dem Druck draußen im Meer an und kaltes Wasser strömte hinein.

 

Die fünf Gestalten, die mit wellenartigen Schwimmbewegungen hinabtauchten, hielten sich in der Kälte der Tiefe dicht beieinander.

Alex warf einen letzten Blick auf Thalassa 3 zurück, das jetzt wie ein dunkles, unförmiges Wesen hinter ihm lag und mehr und mehr verschwamm, je weiter er sich davon entfernte.

Das Unterwasserinternat war in einen Felsen gehauen, der einen Quadratkilometer inselartig aus dem sandigen Meeresgrund ragte. Sein höchster Punkt lag 200 Meter unter der Wasseroberfläche.

Der Thalassafelsen befand sich inmitten einer weiten Landschaft mit Unterwasserwäldern, die sich rund um den Felsen und am Hang weiter oben erstreckten. Braunalgen wuchsen hier üppig und wurden bis zu neunzig Meter lang. Ihre breiten Blätter schwebten dicht wie ein riesiges Tuch über Thalassa 3 und verbargen darunter die Schule der Amphibien vor unerwünschten Blicken.

Wo die Architektur des Felsens es zuließ, war in den Zimmern eine gewölbte Kuppel aus Saphirglas eingelassen, die auch in diesen Tiefen dem Druck des Wassers trotzte. Alex stand gern vor der Kuppel in seinem Zimmer und schaute in seine Welt aus dunklem Leben, die sich selbst in dieser immerwährenden Finsternis täglich veränderte. Die erstaunlichsten Tiere und Pflanzen, die es geschafft hatten, sich dem Fehlen von Licht über Jahrmillionen anzupassen, waren hier zu Hause.

Thalassa 3 schlief noch. In wenigen Stunden erst gingen die Lichter hinter den Kuppeln an, wenn die Schüler geweckt wurden und die ersten Meeresbewohner, davon angezogen, würden ihre Bahnen davor ziehen.

Die Zimmer der knapp hundert Schüler verteilten sich auf vier Stockwerke und waren so gebaut, dass jedes Zimmer die natürlichen Gegebenheiten des Felsens beibehalten hatte: seine hohlen Windungen, die gewölbten Decken und die verschiedensten Säulen und natürlichen Stufen. Kein Raum glich dem anderen. Hie und da gingen zwei Etagen ineinander über und bildeten meterhohe Säle.

Alex musste unwillkürlich an seine Lieblingsecke im mittleren Teil des Thalassafelsens denken und sein Herz zog sich zusammen. Wann würde er wieder dort sein können? Unter der großen, algenbedeckten Kuppel mit ihren knapp 30 Metern Durchmesser, die das Herz von Thalassa 3 war.

Dort traf man sich mit seinen Freunden oder bei Schulversammlungen. Alles war gemütlich eingerichtet: kleine Leseecken, die durch hohe Paravents abgeschottet waren, eine Theke, wo man etwas zu essen und zu trinken bekam. Und dann waren da noch die Regale voller Bücher, die an zwei Wänden des Raums standen.

Er hatte nach dem Unterricht oft dort gesessen, vor einem der mächtigen Bücherregale. Von Zeit zu Zeit, wenn er die Augen von seinem Buch gehoben hatte, hatte er zur gewaltigen Kuppel hochgeblickt, in die Unterwasserwelt, deren Schatten darüber hinweggeglitten waren wie Sinnestäuschungen.

Alex riss seinen Blick von Thalassa 3 los, das jetzt völlig in der Dunkelheit verschwand. Er widerstand nur mit Mühe dem Drang, einfach umzukehren und hielt sich nahe bei den anderen.

Mit jedem weiteren Meter, den sie hinabtauchten, wuchs der Wasserdruck. Nach der Metamorphose würde ihnen dieser Druck nichts mehr ausmachen. Jetzt waren sie ihm gnadenlos ausgesetzt, und selbst die Anzüge, die es ihnen überhaupt ermöglichten, so weit zu tauchen, schützten sie kaum noch. Ohne sie würden sie nicht tiefer als 500 Meter kommen. Doch jetzt mussten sie tiefer.

Sein Körper fühlte sich steif an und gehorchte kaum mehr. Alex warf einen Blick auf sein Handgelenk. Sie hatten die Tiefsee erreicht. Die phosphoreszierende Anzeige seiner Taucheruhr stand bei minus 800 Meter. Wassertemperatur 3 Grad. Es fühlte sich an, als würde er durch einen Eisblock schwimmen. Noch gut 200 Meter.

Er fiel einen Moment zurück und sah die anderen vor sich. Vier kaum merklich helle Silhouetten, deren Schwimmbewegungen jetzt eckig und steif wirkten. Wenn er sich mehr als drei Meter von ihnen entfernte, verschluckte sie der dunkle Schlund des Meeres.

Sein Tiefenmesser stand bei minus 903 Meter. Bald würden sie in tausend Metern Tiefe ankommen. Hier erst war die Kristallverwandlung möglich. Der riesige Druck bewirkte, dass der Schwimmanzug, dessen Inneres mit einer Schicht mikrofeinen Kristallpulvers überzogen war, mit ihrer Haut verschmolz und die winzigen Kristalle in jede Pore ihrer Haut drückte.

Es wird wehtun, dachte er. Es wird die Hölle sein, das wusste er seit Monaten. In der Theorie. In der Praxis aber, jetzt … Werden sie alle wieder aus der Finsternis zurückkehren?

Da war Marc, sein bester Freund, der ihm so nahestand wie ein Bruder. Ihm war es zunehmend schwerer gefallen, die Ausbildung zu packen. Er wollte das Handtuch werfen, einmal, zweimal. Die Auserwählten konnten sich aber nicht einfach weigern. Sie mussten die Kristallverwandlung durchziehen. Es sei denn, sie wollten sterben.

Wenn sie die Kristallhaut nicht rechtzeitig bekamen, würden sie elend zu Grunde gehen, ein schmerzhafter, schrecklicher Tod. Also war klar, dass sie lieber die Schmerzen ertrugen, um weiterzuleben. Nicht um zu sterben.

Marc hatte sich wieder aufgerappelt, doch das Training hatte ihm das Letzte abverlangt. Jetzt, da Alex ihn vor sich schwimmen sah, nur ein Silberreflex im unendlichen Schwarz, kamen ihm erneut Zweifel. Marc war der Einzige außer Seraphim, dem er bedingungslos sein eigenes Leben anvertrauen würde. Er war zwar manchmal wie »einer von oben«, tollpatschig wie ein Mensch, aber wenn es darauf ankam, gab er alles. Und er, Alex, würde auch alles geben, wenn er ihm das hier ersparen könnte. Aber Marc musste da selbst durch. Bei dem Gedanken und dem Anblick seines Freundes, dessen Schwimmbewegungen immer steifer wurden, krampfte sich sein Magen zusammen und er wünschte ihm in Gedanken alle Kraft der Welt.

Sein Blick blieb an Danya hängen, dem energischen schwarzhaarigen Mädchen mit Augen so dunkel wie die Tiefsee. Sie sah ihrem Bruder kaum ähnlich. Danya hatte sich tapfer gehalten, tapferer als Marc, und keine Unterrichtsstunde verpasst. Ihre Fortschritte waren erstaunlich gewesen und Alex hatte mehr als einmal ihren eisernen Willen bewundert.

Ihr filigranes Gesicht, das zu Beginn des gemeinsamen halben Jahres noch kindlich gewirkt hatte, hatte irgendwann diesen reifen Zug bekommen, kaum merkbar, wie bei einem Kind, das sich während einer Wachstumsphase verändert. Alles an ihr strahlte eine Stärke und Entschlossenheit aus, die er ihr auch jetzt an ihren Schwimmbewegungen anmerkte.

Sie hatte Marc immer Mut zugesprochen. Hatte ihren Bruder getröstet, als er verzweifelt aufgeben wollte. Und sie war für Alex eine gute Freundin gewesen, die ihm gezeigt hatte, dass die alte Verletzung längst vergessen war. Ein wunderschönes, mutiges Mädchen. Bei dem Gedanken an ihre männlichen Verehrer auf Thalassa 3 lächelte er in sich hinein.

Sein Lächeln schloss Stella mit ein. Obwohl sie zu jenen gehörte, die man erst auf den zweiten Blick wahrnahm, fand Alex sie auf eine spezielle Art hübsch. Anders als Danya war sie die Unscheinbare. Sie war großzügig und sah in allem erst das Gute. Stella hatte ein außergewöhnliches Gespür für die Bedürfnisse der anderen. Wenn jemand Hilfe oder Trost brauchte, war sie da. Und sie hatte diese angeborene Ruhe an sich, die Alex so noch bei niemand anderem beobachtet hatte. Sie wog zuerst ab. Dann handelte sie. Sie war diejenige, die mit dem geringsten Energieverbrauch am effektivsten war. Alex hatte es noch nie erlebt, dass sie sich aufgeregt oder über etwas geschimpft hätte. Sie war die Leise, die Besonnene. Eine wunderbare Kameradin und ein sensibles Wesen mit einem riesigen Herzen.

Eine Woge des Mitgefühls erfasste Alex bei der Vorstellung, dass auch sie bald den Schmerzen der Verwandlung ausgesetzt sein würde. Ohne sie wäre seine Welt ärmer, sie musste es schaffen. Alle mussten es schaffen.

Auch Jimo! Doch wenn es einen im Team gab, um den er sich am wenigsten sorgte, dann ihn. Jimo, der Unkomplizierte und vor allem: der Flinke. Mit seinem sehnigen Körper war er wie geschaffen, um mit schnellen Bewegungen einen Gegner abzulenken. Er war zwar einen Kopf kleiner als Alex, dafür aber rasend schnell.

Die Mädchen redeten einmal darüber, dass Jimo Waise sei und Alex spürte seitdem eine stille Verbundenheit mit ihm. Mit Sicherheit hatte Jimo seine Eltern nicht so verloren wie er. Alex würde ihm niemals sagen können, dass sein Vater ein Mörder war. Marc und Seraphim waren die Einzigen, die es wussten. Und das musste auch so bleiben. Wenn jemand die wahre Geschichte erfuhr, würde er ihn mit anderen Augen sehen, dessen war er sich sicher. Würde ihn verachten, vielleicht sogar hassen. Wie er seinen Vater hasste, obwohl er längst tot war. Trotz allem war es ein Verlust, den er und Jimo erlitten hatten. Er nahm sich vor, so bald wie möglich mit ihm darüber zu reden. Er musste ihm ja nicht die ganze Wahrheit sagen. Jimo sprach zwar nicht viel über sich, aber wenn er erfahren würde, dass Alex sein Schicksal teilte, würde er sich vielleicht öffnen.

Jemand wie Jimo konnte immer wieder verblüffen und nicht nur einmal hatten sie im Training innegehalten und zugesehen, wenn er mit Seraphim im Zweikampf gewesen war. Der Junge bewegte sich so schnell, dass sie Mühe hatten, ihm mit den Augen zu folgen. Selbst Seraphim hatte lobend zugegeben, dass er sich in höchstem Maße konzentrieren musste, um mit ihm zu kämpfen.

Jimo würde sich auch in diesem Kampf so beherrschen, dass er unversehrt zurückkehrte, dachte Alex und der Gedanke war mehr eine Aufforderung ans Schicksal.

Dann wurde er abgelenkt.

Es tauchte unvermittelt aus der Dunkelheit auf, unheimlich, bedrohlich. Ein Glühen zu seiner Rechten, das direkt aus der Hölle zu kommen schien und immer heller wurde, je näher er heranschwamm. Es sah aus, als würde es im Schwarz des Abgrunds schweben.

In wenigen Metern Entfernung jedoch, als sich aus der diffusen Lichtmasse einzelne klare Linien schälten, erkannte Alex, dass auf dem massiven Vorsprung einer Schlucht Käfige aufgestellt waren. Ihre Stäbe leuchteten, als würden sie verglühen.

Wie aneinandergereihte brennende Würfel auf einem überdimensionalen Wandregal, dachte Alex.

Sie hielten ein paar Schwimmzüge davor inne und warfen sich einen letzten Blick zu. Dann trieben sie wortlos auseinander und verteilten sich. Jeder schwamm zu einem Käfig, Alex zum hintersten.

Er zögerte, bevor er das Tor öffnete und schaute sich den Käfig genauer an. Die Gitterstäbe waren nur so weit auseinander, dass gerade eine Faust hindurchpasste. Der Würfel selbst bot nicht viel Raum, eine Armlänge nach allen Richtungen. Da war er also in den nächsten Stunden eingesperrt.

Alex packte das Tor, beinahe darauf gefasst, dass die Stäbe glühend heiß waren. Er öffnete es und schwamm hinein. Eine Kolonie Flohkrebse hatte sich im dünnen Schlick am Boden häuslich niedergelassen. Die Tiere blinkten silbrig, aufgebracht über die Störung, und stoben in alle Richtungen auseinander.

Die Käfige standen noch nicht lange hier, sonst hätten sich viel mehr Meeresbewohner darin niedergelassen, dachte er und sah sich um. Rechts, nur einen knappen halben Meter entfernt, endete der Felsvorsprung und die unheimliche Finsternis der untermeerischen Schlucht tat sich auf, nur ab und zu von einem farbigen Aufblitzen durchbrochen.

Es kam von Tieren, die in der Dunkelzone lebten. Sie leuchteten in den unterschiedlichsten Farben, manche grünlich, andere wieder feuerrot oder andere in allen Farben des Regenbogens. Dieses vielfarbige Leuchten war entweder Tarnung oder eine clevere Strategie, Beute anzulocken.

Einen Augenblick lang durchzuckte Alex der Gedanke, dass auch sie jetzt wie Lebewesen der Tiefsee waren und in ihren leuchtenden Käfigen Teil dieser Landschaft, vielleicht die Jäger, aber vielleicht auch die Beute.

Im Käfig zu seiner Linken war Marc. Er sah im Schein der Stäbe, die auf seinen Schwimmanzug orangefarbene Reflexe warfen, wie ein brennendes Tiefseeungeheuer aus. Alex umklammerte mit steifen Fingern die Gitterstäbe und spähte in die Finsternis.

Er musste auf Seraphim warten, der zu ihnen kommen und die beiden fehlenden Teile, die für die Verwandlung nötig waren, bringen sollte. Es waren die Kopfbedeckung, eine Art Kappe, die aus Sicherheitsgründen nicht im Bündel dabei war, und das Amulett. Alex hatte es einmal sehen dürfen. Es war aus einem metallähnlichen Material. Auf einer Seite war ein Teil der Formel für ihre Kristallverwandlung und auf der anderen das Symbol des Regenbogenmannes eingraviert.

Hoffentlich kam Seraphim bald. Ein Dutzend Anglerfische zog an Alex’ Käfig vorbei, angelockt vom Licht der Stäbe. Er schaute ihnen nach, bis sich ihre kalt leuchtenden Angeln in der Finsternis verloren.

In diesen Tiefen war jedes Licht wie ein kleines Wunder und so überraschte es ihn nicht, dass das Wasser um ihn lebendig war. Die unterschiedlichsten Tiere wurden vom Leuchten der Gitterstäbe magisch angezogen. Der eine oder andere Fisch knabberte versuchsweise an den Stäben, in der Hoffnung auf Beute, doch hungrig zogen alle weiter.

Alex gab sich Mühe, nicht an den tonnenschweren Druck zu denken, der auf jedem Quadratzentimeter seines Körpers lastete. Er hatte gehofft, Seraphim würde während ihrer Verwandlung hier bleiben, doch ihr Mentor hatte es strikt mit den Worten abgelehnt: »Ich habe auch meine Grenzen. Ich ertrage es nicht, stundenlang eure Schmerzensschreie zu hören.«

Seraphims Anwesenheit wäre ihm sicher eine Hilfe gewesen. Doch er verstand den Einwand. Noch ein Grund, weshalb Alex ihn im letzten halben Jahr ins Herz geschlossen hatte. Er kannte keine herzlichere, großzügigere und gerechtere Person. Auch keinen geduldigeren Lehrer.

Er erinnerte sich an die Faszination, mit der er Seraphim zugehört hatte, als dieser über die Geheimlehren gesprochen hatte, die ihnen jetzt einzige Hilfe sein würden. Diese Lehren, die er ihnen Satz für Satz während ihrer Ausbildung überliefert hatte, kamen tatsächlich einst, zusammen mit den Geschichten der Unsterblichen, aus dem Buch der Bücher: dem Amphiblion.

Die alte Sprache war im Laufe der Zeit ausgestorben und wenn er wie jetzt seine geheime Formel in Gedanken wiederholte, bedauerte er es, denn er fand sie schön.

Er bedauerte auch, dass die altspanische Übersetzung des Amphiblion, die Seraphim besessen hatte, verschwunden war. Er hätte gern noch einmal diese Geschichten gelesen, diesmal mit anderen Augen. Mit den Augen eines Auserwählten, der Teil einer solchen Geschichte sein würde.

Jede Thalassa-Schule besaß eine Übersetzung. Das altspanische Amphiblion hatte Seraphim gehört, bis es jemandem gelungen war, es zu stehlen. Alex erinnerte sich noch gut an Seraphims düstere Miene, als er ihn einmal gebeten hatte, ihm das Buch mit dem langen Titel Las historias y metamorfosis de los anthrophibios zu zeigen. Diesen Gesichtsausdruck, eine Mischung aus Wut, Frust und Verzweiflung, hatte Alex bei Seraphim bis dahin noch nie gesehen. Sein Mentor hatte nur gemurmelt, dass es schon wieder auftauchen würde, und das Thema damit beendet.

Die Bücher über die Unsterblichen, die Alex als Kind so gern gelesen hatte, waren allerdings nur Auszüge aus dem altspanischen Amphiblion, denn die geheimen Lehren fehlten darin. Das ursprüngliche Buch der Bücher hatte keiner je gesehen. Auch nicht Seraphim. Gemeinhin zählte es zu den Legenden.

Die Übersetzungen allerdings waren real wie auch Seraphims Verzweiflung um das Verschwinden seiner altspanischen Übersetzung. Real oder nicht, dachte Alex, die Lehren waren für sie jetzt lebenswichtig. Für jeden Einzelnen hier unten. Denn das hier, das war real. Verflixt! Er umklammerte die Gitterstäbe noch fester.

Eine Bewegung riss ihn aus seinen Grübeleien. Die Schwärze der Schlucht zu seiner Rechten regte sich und ein Schatten tauchte im Schein der Gitterstäbe auf. Alex erkannte Seraphim. Er lächelte und nickte ihm aufmunternd zu. Kaum dass er den Käfig erreicht hatte, reichte er ihm das Amulett durch die Stäbe hindurch. Alex hängte es sich um den Hals und nahm die Kappe entgegen.

Seraphim nickte ihm ein letztes Mal zu, verriegelte das Tor und sicherte es mit einem großen Vorhängeschloss. Er hatte sie darauf vorbereitet, dass er sie würde einsperren müssen. Wie Tiere würden sie im Sog der Qualen jede sich bietende Möglichkeit ergreifen, vor dem Schmerz der Verwandlung zu fliehen. Sie könnten sich selbst umbringen, ohne zu überlegen. Aufzutauchen und dem hohen Druck dieser Tiefe zu entfliehen, wenn die Verwandlung noch im Gange war, würde sie in wenigen Minuten töten.

Seraphim ließ das Vorhängeschloss einschnappen und prüfte, ob es gut verschlossen war. Als er sich Alex zuwandte, las dieser von seinen Lippen, dass er ihm alles Gute wünschte. Er umschloss Alex’ Fäuste, die sich um die Gitterstäbe klammerten und drückte sie. Für einen Augenblick trafen sich ihre Blicke und im Schein der Gitter funkelte Besorgnis in Seraphims Augen auf. Schnell schaute er weg, ließ ihn los und verschwand so geisterhaft und unwirklich, wie er gekommen war.

Alex starrte in die Dunkelheit, als wollte er Seraphim durch seine flehenden Blicke zurückholen.

Irgendwann schloss er die Augen. Für die Dauer einiger Atemzüge verweilte er so und beruhigte sein rasendes Herz. Dann gab er sich einen Ruck.

Er packte die Kappe mit beiden Händen, warf ihr, wie um sie zu beschwichtigen, einen letzten Blick zu und zog sie sich über.

Der Schmerz, der ihn augenblicklich durchfuhr, schmiss ihn zu Boden. Sein ganzer Körper fühlte sich schlagartig wie eine einzige Wunde an, die sich von außen durch die Haut fraß, tiefer und tiefer in seinen Körper hinein.

Alex vergaß zu atmen. Doch der Atemhunger drohte, ihn zu zerreißen und er sog gierig Wasser ein. Durch seine Kiemen strömte das überlebenswichtige Nass, linderte die Krämpfe und er begann, die Formel zu wiederholen. Immer und immer wieder bewegten sich seine Lippen wie in einem stummen Gebet.

Doch der Schmerz kam mit voller Wucht zurück. Wellen, die brannten, fuhren durch seinen Körper und er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Es fühlte sich an, als würde ihm jemand die Haut abziehen und das ungeschützte Fleisch dem Salzwasser aussetzen.

Seine Körperumrisse schienen zu verschwinden. Er verlor sich brennend in der Unendlichkeit des Meeres, bäumte sich einmal auf, zweimal, dann sank er in sich zusammen. Er kauerte am Boden und umschlang seinen Oberkörper, wie um sich selbst vor der Auflösung zu schützen.

Neben ihm schrie jemand. Dann noch jemand. Alex schloss die Augen und krallte seine Hände in den Schlick, bis er Steine zu fassen bekam.

Vereinzelte Laute seiner Formel kehrten in sein Bewusstsein zurück und er hielt sich daran fest wie an den Steinen unter seinen Fingern. Doch die Formel entglitt ihm, verlor sich in den Wellen der Qualen wie in einem reißenden Sog. Immer wieder übermannte ihn der Schmerz. Immer wieder riss er sich daraus empor. Die Linderung währte nur Sekunden. Kürzer werdende Sekunden.

Er starb. Es schien ihm, als würde sich jede einzelne Zelle in einer Explosion auflösen. Aus allen Teilen seines Körpers schwand das Leben. Mit letzter Kraft, mit der Kraft des bevorstehenden Todes, warf er sich im Käfig herum, rüttelte am Gittertor, wollte hinaus, auftauchen, fliehen. Lieber den anderen Tod sterben als noch eine einzige Sekunde diesen Schmerz ertragen.

Er öffnete den Mund zu einem Schrei. Panik durchfuhr ihn, als das Gittertor nicht nachgab. Er musste das Ganze bis zum Schluss aushalten, musste sterben, um wiedergeboren zu werden. Das war der einzige Gedanke in diesen Sekunden.

Alex brüllte seine Verzweiflung heraus, dann versank die Welt in Dunkelheit und Schmerz.


6.
Familiengeheimnisse

 

Lilli umschloss sein Gesicht mit ihren Handflächen und näherte sich ihm zum tröstenden Kuss. Ihre Lippen berührten seine Haut. In einem Wirbel silbrigen Lichtes löste sich das Gesicht auf und zerrann zwischen ihren Fingern. Dann verflüchtigte es sich und verschwand ganz.

Sie kehrte langsam in die Wirklichkeit zurück. Mit jener seltsamen Gewissheit, die zwischen Traum und Erwachen am stärksten ist, wusste sie, dass der Fremde in seinem Schmerz wunderschön gewesen war. Lilli öffnete die Augen.

Sie hatte vergessen, den Vorhang zuzuziehen, als sie in der Nacht auf dem Balkon gewesen war, und jetzt warf die Sonne ein Rechteck aus gleißendem Licht auf ihr Bett. Sie war schweißgebadet. Benommen setzte sie sich auf. Ein Blick zur Uhr sagte ihr, dass es kurz vor zehn war. Energisch streifte sie die Decke ab.

Seit Ewigkeiten hatte sie nicht mehr geträumt und das Gefühl, das sie jetzt ausfüllte, war viel zu wunderbar, als dass sie sich geärgert hätte, nicht in ihrem eigenen Bett in New York aufgewacht zu sein. Und immerhin: Sie hatte nicht von Mo geträumt.

Lilli schälte sich aus den zerwühlten Laken, ging zum Balkon und öffnete die Tür. Der kühle Luftzug vertrieb den Rest Müdigkeit. Aber auch das Traumgefühl der zärtlichen Geborgenheit.

Blinzelnd schaute sie aufs Meer, das silbrig im Sonnenschein funkelte. Ein Licht fast wie in ihrem Traum.

Die Zikaden waren verstummt und Vogelstimmen drangen an ihre Ohren. Gebannt lauschte sie dem vielstimmigen Gezwitscher, das aus den Sträuchern und Palmen im Hof kam und atmete tief den Duft der würzigen Morgenluft ein. Wie schnell der Anblick des Meeres sie milde stimmte!

Lilli lehnte sich gegen die breite Steinbrüstung des Balkons und warf einen Blick in die beiden Höfe.

Der kleine Pool drüben leuchtete in sattem Türkisblau und ein Lufthauch kräuselte die Oberfläche des Wassers. Blumenranken wucherten an der Innenseite der Mauer empor. Mit ihren satten Farben Rot, Gelb, Rosa, Orange und Blau strahlten sie selbstzufrieden spätsommerliche Wollust aus. Die Blumenranken wuchsen so dicht, dass die Mauerkrone nur an wenigen Stellen hindurchschaute. Es war herrlich, dass die Vegetation dieser kleinen Oase nicht so säuberlich manikürt war wie die Vorgärten New Yorks. Es gab dem Ganzen ein beruhigendes Gefühl von Natürlichkeit.

Der Hof, der sich leer unter ihrem Balkon erstreckte, endete zur Rechten an einer Wiese aus sprödem gelblich-braunem Gras. Wie an der Seite, die zum Meer hin lag, fehlte auch hier eine richtige Umzäunung, allein ein paar Büsche trennten Hof und Wiese. Dahinter erhob sich die steile Felswand der weitläufigen Klippe.

Super. Aber sie musste sich bald ihrer Familie zeigen und der Gedanke vertrieb schnell den Anflug guter Laune.

Vielleicht half eine Dusche? Eine Bewegung lenkte sie ab. Sie zog sich etwas zurück, verharrte reglos. Bergziegen waren auf der kleinen Wiese hinter dem Hof erschienen und grasten dort seelenruhig. Sie hatte sie nicht kommen sehen. Lilli betrachtete fasziniert die Tiere aus dem Schatten des Balkons.

Ein massiger Ziegenbock machte sich über einen Busch her, der am Rand des Hofs stand. Sein imposantes Gehörn bewegte sich in den Blättern des Buschs und der kurze, struppige Schwanz zuckte, als wolle er das genüssliche Vergnügen zur Schau stellen, mit dem der Bock die saftigen Blätter fraß. Weiter hinten, unter der Felswand, standen Rücken an Rücken zwei weitere Tiere. Sie waren kleiner, hatten nur halb so lange Hörner und helleres Fell. Vermutlich die Weibchen oder die Jungen, überlegte Lilli. Und weiter oben, in den Felsen, entdeckte sie noch mehr Ziegen, die an Büscheln knabberten.

Sie ging ins Zimmer, holte ihren Fotoapparat aus dem Rucksack und pirschte sich zurück an die Balkonbrüstung. Die Ziegen waren nur wenige Meter entfernt und es gelang ihr, ein paar Bilder zu machen. Als sie sich weiter vorschob, um die Ziegen ganz hinten aufs Bild zu bekommen, bemerkten sie sie und stoben flink auseinander. Mit unglaublichem Geschick kletterten sie die steile Felswand hinauf und verschwanden hinter der Kuppel.

Das Ganze hatte nur wenige Minuten gedauert. Lilli wartete noch eine Weile auf dem Balkon, doch die Ziegen kamen nicht wieder.

Zurück im Zimmer holte sie ihren Kosmetikbeutel und saubere Klamotten aus der Tasche. Dann verschwand sie im Bad, entschlossener denn je, etwas Normalität herbeizuzaubern.

Frisch geduscht und mit einem T-Shirt und leichten, knielangen Leggings bekleidet, trat sie eine halbe Stunde später aus dem Bad. Ihr langes Haar floss in kühlen Strähnen über ihren Rücken und durchnässte ihr T-Shirt. Ein angenehmes Gefühl bei der Wärme in ihrem Zimmer.

Sie stopfte die getragenen Kleider, die noch den Staub und Schweiß der Reise in sich trugen, in einen Wäschekorb neben der Kommode, atmete einmal tief durch und schickte sich an, ihrer Familie entgegenzutreten. Im Herausgehen warf sie einen Blick in den Spiegel und stellte fest, dass etwas Farbe in ihre Wangen zurückgekehrt war und die dunklen Ringe unter den Augen fast ganz verschwunden waren.

Die Wohnung lag still da. Vielleicht waren alle weg, dachte Lilli mit einem Funken Hoffnung. Obwohl ihre Wut auf ihre Eltern sich tatsächlich verflüchtigt hatte.

Sie lief barfuß den gefliesten Flur entlang und kam in eine geräumige Wohnküche. Hier war niemand, doch der Duft frischen Kaffees lag in der Luft. Unschlüssig lehnte sie sich an einen der Stühle, die um den großen, ovalen Esstisch standen, und ließ ihre Blicke im Raum umherschweifen.

Der Teil des Raums, in dem gekocht wurde, war vom restlichen Wohnzimmer durch eine Wand getrennt, die parallel zur Spüle verlief. Sie endete gut zwei Meter vor der gegenüberliegenden Wand, so dass ein breiter Durchgang zwischen Flur und Wohnküche blieb. Schränke waren im unteren Teil eingelassen und eine torbogenförmige Öffnung ermöglichte es, die Sachen aus der Küche in den Wohnraum durchzureichen, wo der Esstisch stand.

Die Wohnküche sah gemütlich aus, auf den Stühlen aus geflochtenem Korb waren bunte Kissen verteilt. Eine große Vase mit Blumen, ähnlich derer im Hof unten, zierte den Tisch. Ihr intensiver Duft stieg Lilli in die Nase. Beinahe schon vertraut, dachte sie und beugte sich zu den Blumen, um daran zu riechen.

War sie tatsächlich allein? Sie durchquerte den Raum und warf einen Blick in das angrenzende Zimmer, ein kleines Wohnzimmer mit Fernseher, einem Kamin und zwei Sofas.

Auf dem Balkon entdeckte sie ihre Mutter. Sie saß mit einer Tasse an einem Tisch und schien Lilli nicht zu bemerken. Mit jenem Blick, den Menschen oft haben, wenn sie sich unbeobachtet wähnen und ihren Gefühlen keine Maske geben, schaute sie in die Ferne.

Lilli stutzte. Sie schien melancholisch, ja, fast traurig. Ganz anders als gestern, wo sie ihr strahlendstes Lächeln gezeigt hatte. Insgeheim hatte Lilli gehofft, dass ihre Eltern im neuen Leben ihre Unstimmigkeiten klären könnten. Hat dann wohl nicht geklappt, dachte sie, drehte sich um und ging auf die Suche nach Kaffee.

Ihre Mutter hatte sich offensichtlich viel Mühe gemacht, dachte Lilli gerührt, denn die Küche strahlte vor Sauberkeit. Anders als ihre Küche in New York, in der es nie sauber gewesen war. Ihre Mutter hasste Putzen. Überhaupt hasste sie alles, was mit Küche zu tun hatte, einschließlich Kochen. Küchenarbeit kam auf ihrer Liste der schrecklichsten Dinge gleich nach Tauchen.

Aber so blitzblank es hier auch sein mochte, dass die Einrichtung nicht mehr die jüngste war, sah man überall. An der Stelle, wo der Wasserhahn aus der Mauer trat, hatte sich eine grünliche Kalkkruste gebildet, die kleinen, blassblauen Fliesen, die die Arbeitsplatte zierten, waren an vielen Stellen von Rissen durchzogen und das Muster der Teller, die sauber zum Trocknen dastanden, war verblasst. Rustikal, dachte Lilli. Zu ihrer eigenen Überraschung gefiel es ihr.

Es passte zu diesen sonnendurchfluteten Räumen aus Stein und Fayencekacheln, zu den farbenfrohen Figuren, handbemalten Wandtellern und Vasen. Ihr New Yorker Wohnzimmer war vollkommen anders. Eingerichtet mit dunklen Möbeln und viel Chrom und Glas war es das Sinnbild modernen Wohnens in der Metropole. Schick, aber vollkommen unpraktisch. Allein der Staub … Hier dagegen schien alles nicht nur gemütlich, sondern auch mit wenigen Handgriffen sauber zu bekommen. Ja, das gefiel ihr.

Der Kaffee war auf der Arbeitsplatte neben dem Gasherd und an einem Haken über der Spüle fand Lilli eine Tasse. Sie füllte sie halb. Aus dem mannshohen Kühlschrank, der das einzige moderne Gerät zu sein schien, holte sie sich eine Packung offener Milch und goss die Tasse voll. Auf der Durchreiche stand ein Korb mit Schokocroissants. Lilli hatte plötzlich Hunger.

Mit dem Kaffee und einem Croissant in den Händen trat sie auf den Balkon, wo ihre Mutter immer noch in Gedanken versunken aufs Meer schaute.

»Guten Morgen!«

»Da bist du ja!«, rief ihre Mutter und lächelte sie an. Lilli machte es sich auf einem der Plastikstühle bequem und biss genüsslich ins Croissant.

»Hab lange geschlafen.« Sie probierte ein Lächeln und stellte fest, dass es ihr besser gelang als gedacht.

»Die Reise hat dich fertiggemacht, stimmt’s?«

»Hmhm.«

»Mich auch. Zum Glück war dein Dad dabei.« Ihre Mutter sah sie mitfühlend an. »Aber du hast es geschafft«, fügte sie hinzu und Stolz lag in ihrer Stimme.

»Wo ist Dad?«

»Arbeiten«, antwortete ihre Mutter in verändertem Ton und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Knoten gelöst hatte. Ihre Haare leuchteten in der Morgensonne wie rubinrote Wellen. Wann waren die ersten grauen Fäden aufgetaucht?, fragte sich Lilli.

Sie schluckte den letzten Bissen ihres Frühstücks hinunter. »Auch am Samstag?«

»Er hat heute eine Gruppe von Touristen aus England, mit denen er hinausfährt.« Sie rümpfte die Nase und Lilli wusste sofort, was das zu bedeuten hatte. Ihre Mutter hasste Tauchen und wenn sie sagte »Er fährt hinaus«, meinte sie »Er geht tauchen«.

»Und Chris?«

Ihre Mutter ließ sich gern ablenken, denn prompt wendete sie sich Lilli zu und antwortete lächelnd: »Dein Bruder trifft sich mit seinen neuen Freunden Toni und Eugene. Sind echt nette Jungs, die beiden. Toni ist von hier, geht aber auf eine andere Schule außerhalb. Eine Berufsschule, er will Computerfachmann werden. Und Eugene ist ein irischer Junge. Er lebt bei seinem Onkel in Calahonda und hilft in dessen Lokal am Strand. Tolle Tapasbar übrigens. Das Essen ist fantastisch. Ich mag Eugene sehr, ein kluger und belesener Junge. Schade, dass er sein Studium noch verschieben muss. Der Arme ist auf seinen Onkel angewiesen. Na ja und dann ist da noch Maria.« Lillis Mutter machte eine bedeutungsschwangere Pause.

»Maria?«, echote Lilli, um ihre Mutter zum Weiterreden zu ermuntern. Sie musste lachen und die Befangenheit der ersten Minuten war verflogen. Ihre Mutter konnte manchmal ulkig sein, wenn sie etwas spannend machen wollte.

»Jaaa.« Sie dehnte das Wort, als wollte sie die Spannung ins Unendliche steigern. Lilli ging auf die Alberei ein und sah sie fragend an, verkniff sich aber ein »Jetzt sag schon«.

Schließlich räusperte sich ihre Mutter und erklärte in feierlichem Ton: »Maria ist die Freundin deines Bruders.« Die Bombe war geplatzt.

Trotzdem vergewisserte sich Lilli: »Freundin wie … Freundin?«

»Jep.«

»Ah«, stöhnte Lilli, als hätte sie endlich eine schwierige Matheaufgabe kapiert. »Ging ja schnell. Am Telefon hat er sie nicht erwähnt.«

»Maria ist sehr nett. Sie ist Tonis Zwillingsschwester und geht auf die gleiche Schule, auf die du gehen wirst, im Departement für Einheimische dort. Ich denke, sie wird dir gefallen.«

»Wenn du meinst.« Typisch Mom, sie schaffte es immer, in den ersten zehn Minuten eines Gesprächs alles Wesentliche auszuplaudern.

Nicht, dass Lilli das nicht gefiel. Sie mochte es, wie ihre Mutter die Dinge schnell auf den Punkt brachte. Für den üblichen Tratsch und Smalltalk hatte sie nie was übrig gehabt. Auch der Humor ihrer Mutter war unkonventionell. Die Stunden, in denen sie mit ihrem Bruder und ihr allen möglichen Quatsch gemacht hatte, bis sich alle mit Tränen in den Augen die Bäuche vor Lachen hielten, waren ihr lebhaft in Erinnerung geblieben. Sie hatten viel Spaß gehabt, denn ihr fiel immer wieder etwas Verrücktes ein. Das Verrückteste jedes Jahr waren die Mottogeburtstagspartys und Halloweenvorbereitungen, wo das ganze Apartment kopf stand. Für Wochen. Doch es waren die lustigsten Wochen des Jahres.

Diese Zeiten gingen vorbei. Sie wurden abgelöst von ernsten Gesprächen oder Abwesenheit. Ab und zu gab es sie noch, diese Momente, in denen sie rumalberten. Lilli merkte plötzlich, wie sehr ihr das alles fehlte und warf ihrer Mutter einen warmen Blick zu. Doch diese bemerkte ihn nicht, weil sie wieder hinaus aufs Meer sah.

Schweigend saßen sie in der warmen Morgensonne. Der Himmel war tiefblau, nur am dunstigen Horizont türmten sich weiße Wolken, wie Luftspiegelungen von Bergen.

Lilli wurde das Gefühl nicht los, dass etwas auf ihrer Mutter lastete. Schließlich sagte sie: »Ich pack jetzt meine Sachen aus.«

Ihre Mutter nickte. »Hast du dir die Wohnung schon angesehen?«

»Nein, mach ich jetzt.« Lilli stand auf, nahm ihre leere Kaffeetasse und ging hinein.

Sie schaute sich in der Wohnung um.

Der erste Raum, der vom langen, S-förmigen Flur abging, war sehr klein. An der Wand zur Linken stand ein schmales Etagenbett. Das Zimmer war offensichtlich früher ein Kinderzimmer gewesen. Die Tagesdecke auf dem unteren Bett war mit Plüschtieren geschmückt und hinter der Tür stand eine Holzkiste mit Spielsachen. Jetzt war das Zimmer zum Arbeitszimmer umfunktioniert worden. Ein Computer stand auf einem winzigen Schreibtisch vor dem Fenster, das wie ein Miniaturtor mit Torbogen aussah. Eindeutig ein Raum für kleine Leute.

Lilli unterdrückte den Impuls, sich an den Computer zu setzen. Stattdessen griff sie in die Kiste mit Plüschtieren und nahm einen samtig-braunen Affen daraus, der sie aus schwarzen Knopfaugen anschaute. Sie lächelte und flüsterte: »Hi, Enrico.«

Das Zimmer ihrer Eltern war sehr ähnlich geschnitten wie ihres, hatte auch ein eigenes Bad und ein großes Bett. Zwischen ihrem Zimmer, das das letzte vor dem Ausgang war, und dem ihrer Eltern lag das Zimmer von Chris. Als sie auch hier einen Blick hineinwarf, stellte sie verblüfft fest, dass es ordentlich aufgeräumt war.

Sie schüttelte den Kopf, denn dass Chris in seinem Zimmer in New York mal aufgeräumt hätte, hatte Seltenheitswert. Er behauptete jedes Mal, wenn ihre Mutter ihn drängte, endlich auszumisten, dass er sich perfekt zurechtfand und ein Aufräumen kontraproduktiv wäre, weil er dann nichts mehr finden würde.

Was Lilli aber mindestens so verblüffte wie das saubere Zimmer ihres Bruders, war, dass hier jedes Zimmer seinen eigenen Balkon hatte. Sie ging in ihr Zimmer und legte Enrico aufs Bett.

Ein unangenehmer Geruch stieg ihr plötzlich in die Nase, den sie vorher nicht wahrgenommen hatte. Die Luft im Zimmer roch abgestanden. Im Rest der Wohnung hatte sich der bekannte Geruch ihrer Familie ausgebreitet.

Sie eilte zur Balkontür und öffnete sie, um frische Luft hineinzulassen. Einen Moment blieb sie in der Tür stehen und ließ die ersten Eindrücke aus der Fremde auf sich wirken.

Okay, sie hatte ihr eigenes Bad. Sie hatte ihren eigenen Balkon, sie hatte ein großes Bett, in dem bequem noch zwei weitere Lillis Platz hätten. Und sie hatte das Meer vor der Haustür. Ziemlich viel Luxus, so betrachtet. Ganz zu schweigen von dem unglaublichen Wetter. Sie konnte sich nicht beklagen.

Lillis Frust schmolz. Sie verstand, weshalb hier alle recht zufrieden waren. Mit einem Seufzer hievte sie eine der Taschen aufs Bett und begann, ihre Sachen in den Wandschrank und die Kommode einzuräumen.

Das Essen war angerichtet und duftete appetitlich. Ihre Mutter hatte sich richtig viel Mühe gemacht. Sie hatte bereits am frühen Nachmittag Vorbereitungen getroffen, jetzt war ein Drei-Gänge-Menü fertig und ihre Mutter sah geschafft aus. Doch sie strahlte so viel Zufriedenheit aus, dass sich Lilli anstecken ließ und gut gelaunt Teller und Besteck richtete.

Ihr Vater war gegen sechs Uhr eingetroffen, sonnengebräunt, mit noch feuchten Haaren, etwas erschöpft, aber so heiter, wie ihn Lilli schon lange nicht mehr gesehen hatte.

Er begrüßte sie stürmisch. Eine Weile hielt er sie an seine Brust gedrückt und Lilli spürte, dass er gerührt war, weil die Umarmung einen Tick zu fest war. Erst als sie röchelnde Geräusche von sich gab, ließ er sie lachend los.

Sie setzten sich an den Tisch. Chris und ihr Vater gaben durch verschiedene »Hmms« und »Aahs« zu verstehen, dass sie sich auf das lecker duftende Essen freuten. Das gemeinsame Abendessen war schon immer ein festes Ritual gewesen und Lilli merkte erst jetzt, dass sie es vermisst hatte.

Ihr Vater begann, ausgelassen über die Gruppe, mit der er tauchen war, zu berichten. Lilli betrachtete ihre Eltern und ihren Bruder und konnte sich des Gedankens nicht erwehren, irgendwas verpasst zu haben. Es waren die gleichen Menschen und doch hatte sich jeder verändert.

Chris war kaum wiederzuerkennen: Seine Haare waren gewachsen, die Bräune betonte sein hübsches Gesicht, alles Pubertäre war von ihm gewichen und er strahlte eine Männlichkeit aus, die sie an ihren Vater erinnerte. Chris sah ihm plötzlich sehr ähnlich.

Und ihr Vater erst. Er sah stark aus. Hatte sich einen gepflegten Dreitagebart zugelegt und die Haare fielen ihm in Wellen in die Stirn. Er sah ein wenig wild und geheimnisvoll aus. Seine Haare waren zwar graumeliert und die Lachfältchen von der Sonne noch tiefer, doch sie konnte verstehen, warum ihre Mutter manchmal in neckischem Ton sagte, dass er Frauen anziehe.

Ihre Mutter war nicht so braungebrannt wie Chris und ihr Vater, doch auch sie sah klasse aus. Der erste Eindruck vom Flughafen bestätigte sich erneut. Fast ein wenig jünger, dachte Lilli und schöpfte Hoffnung, dass es ihr und ihrem Vater doch etwas besser als in den Monaten vor der Reise ging.

Konnten ein paar Wochen Menschen so verändern? Lilli war umgeben von lauter Fremden. Mit ihrem käseweißen Gesicht fühlte sie sich plötzlich wie eine Genesende aus einem Sanatorium. Sie nahm sich vor, schleunigst etwas Bräune zuzulegen.

»Wir machen einen Abendspaziergang«, sagte ihr Vater, als sie fertig gegessen hatten, und folgte ihrer Mutter, die bereits im Flur war.

Lilli und Chris blieben allein und als das Geschirr gespült und die Küche aufgeräumt war, setzten sie sich mit einer Flasche Limo auf den Balkon. Die Nacht war mild und die Landschaft strahlte den letzten Rest Hitze vom Tag aus. Die Klippe leuchtete glutrot, als wäre sie ein riesiges Holzscheit im erlöschenden Feuer der Sonne.

»Die beiden machen fast jeden Abend einen Spaziergang«, sagte Chris. »Es ist toll nachts da draußen. Wenn du willst, können wir auch spazieren gehen. Ich könnte dir den Leuchtturm zeigen.«

»Hab ihn schon gesehen.« Lilli räusperte sich, als sie merkte, wie trocken ihre Antwort war. Chris schaute sie erstaunt an und sie erklärte: »Als wir gestern hergefahren sind. Mom hat ihn mir aus dem Auto gezeigt.«

Chris nickte nur und schaute hinaus aufs Meer, wie ihre Mutter am Morgen. Früher hätte er eine blöde Bemerkung schnell auf den Lippen gehabt, dachte Lilli und fragte sich erneut, was ihn in der kurzen Zeit so verändert hatte oder ob das bei Jungs normal sei, so plötzlich erwachsen zu werden.

»Du hast Maria gar nicht erwähnt.« Lilli schaute ebenfalls aufs Meer, das im letzten Licht des Tages rosa wie der Himmel schimmerte.

»Nicht? Ich dachte, ich hätte.«

Sie funkelte ihn an.

»Nein, ich hab sie nicht erwähnt.« Er räusperte sich verlegen, während er im Stuhl Haltung annahm, als müsste er ein äußerst wichtiges Thema erläutern. Dabei sagte er nur: »Es ist alles noch so frisch.«

Lilli schnaubte. »Schon gut«, sagte sie, als Chris keine Anstalten machte, zu erzählen. »Mein Bruder ist verknallt.«

Chris überhörte ihren Kommentar. »Außerdem wirst du sie eh bald kennenlernen.« Damit war das Thema für ihn erledigt. Er entspannte sich, wie nach einer anstrengenden Arbeit und rutschte wieder tiefer in den Sitz.

Lilli griff ein anderes Thema auf.

»Dad wirkt total aufgeblüht! Er sieht gut aus. Wie geht’s Mom so, ist sie glücklich hier?« Sie ließ ihre Frage so beiläufig wie möglich klingen.

»Ich denke schon.« Chris sah sie verwundert an. »Wieso fragst du?«

»Kein besonderer Grund, nur so.«

»Sie genießt die Ruhe und, du hast recht, Dad ist wie ausgewechselt. Es macht ihm wahnsinnig Spaß, wieder am Meer zu sein. Die Spanier mit ihrem südländischen Temperament liegen ihm. Schätze, es erinnert ihn an Frankreich.«

Lilli zuckte mit den Schultern und Chris zwinkerte ihr plötzlich zu, als wäre ihm etwas eingefallen. In verschwörerischem Ton flüsterte er:

»Er taucht öfter, als er es Mom gesteht.«

Lilli begriff sofort und nickte. Ihre Mutter war, was Tauchen anging, unmöglich. Sie hatte wahnsinnige Angst davor und übertrug ihre Angst auf alle anderen. Schnorcheln okay. Aber musste es immer Tauchen sein, mit all der Technik? Lilli hatte lange Kämpfe mit ihr ausgestanden, bevor sie es lernen durfte. Sie hatte aber ihren Vater als Verbündeten, denn er war leidenschaftlicher Taucher.

Man sagte es ihr besser nicht, wenn man tauchen ging, damit konnte man sie ohne Weiteres an den Rand des Nervenzusammenbruchs bringen. Der Deal war: Haltet mich da raus, ich will es nicht wissen, wenn ihr es schon nicht lassen könnt.

Lilli gab Chris ein Zeichen, dass sie wie ein Grab schweigen würde, und sagte in unverbindlichem Ton:

»Er hat nicht viel über seine Arbeit erzählt, nur über diese alberne Tauchergruppe.«

»Du kennst ihn, er hat noch nie viel von der Arbeit erzählt.«

»Ich dachte nur, weil wir doch deswegen hier sind. Und was bedeutet bitte schön anthropogene Veränderungen an den Pflanzen und Tieren der Dämmerzone? Da erwähnt er schon mal was und dann versteht es keiner.«

Chris zuckte mit den Schultern. »Es ist das Thema seiner Forschungen, irgendwas mit dem Einfluss der Zivilisation auf das Meer. Aber frag ihn doch selbst.« Nach einer kleinen Pause setzte er hinzu: »Mom freut sich, dass wir wieder vollzählig sind. Sie war die letzten zwei Tage richtig aufgeregt, dass du endlich kommst.«

Er blickte aufs Meer, das jetzt wie altes Silber schimmerte. Die Nacht, die sich inzwischen fast gänzlich über die Landschaft gesenkt hatte, wurde allmählich kühler. Sie verfielen in Schweigen und später, bevor jeder in sein Zimmer ging, nahm Chris Lilli in den Arm und drückte sie lange. Sie ließ es geschehen. Es war gut. Beinahe so gut wie die Umarmung ihres Vaters.

 

Nachdem sie das Licht gelöscht hatte, lag Lilli noch eine Weile wach und dachte über den Abend nach. Sie lauschte träge den neuen Geräuschen: das Rauschen des Meeres und die Zikaden im Hof unten, das Knarren des Betts, wenn sie sich bewegte, und das gelangweilte Gekläffe eines Hundes, der so gemächlich bellte, als würde er jedes Bellen zählen.

Sie war gerade dabei, in den Schlaf zu gleiten, als sie ihre Eltern heimkommen hörte. Schritte näherten sich ihrer Tür und Worte ihrer angeregten Unterhaltung drangen zu ihr. Sie hatten Mühe, ihre Stimmen zu einem Flüstern zu dämpfen. Lilli hatte jedes Wort verstanden.

Was war das denn? Verdutzt setzte sie sich auf und runzelte die Stirn. Sie starrte in die dunkle Ecke, hinter der sich die Zimmertür befand, als müsste dort die Antwort aufleuchten.

Von wem hatte ihre Mutter da geredet? Was hatte Granily damit zu tun und wieso hatte ihre Mutter Angst? Sie erinnerte sich an den heutigen Morgen, als sie ihre Mutter mit jenem seltsamen Gesichtsausdruck auf dem Balkon vorgefunden hatte. War es das gewesen: Angst?

Kurz überlegte sie, hinüberzugehen und ihre Eltern einfach zu fragen, beschloss dann aber, dass es besser wäre, wenn sie so tat, als hätte sie nichts gehört.

Lilli war wieder hellwach. Was ging hier vor? Ob Chris das auch mitbekommen hatte? Wenigstens mit ihm wollte sie reden. Sie warf die Decke von sich und schlüpfte in ihre Flip-Flops, streifte sie aber gleich wieder ab. Barfuß würde sie leiser sein. Behutsam öffnete sie die Tür.

Der Flur lag dunkel und still da und für einen Moment dachte Lilli, sie hätte das eben nur geträumt.

Sie schlich zu Chris’ Zimmer. Ein Lichtschimmer drang unter seiner Tür hindurch. Leise klopfte sie an und wartete. Nichts rührte sich. Sie wollte erneut klopfen, doch im selben Moment ging die Tür auf. Chris stand in Shorts und T-Shirt da und blinzelte verwundert in den dunklen Flur.

»Kann ich mit dir reden?«, flüsterte Lilli.

Chris trat wortlos einen Schritt zurück und sie schlüpfte zur Tür hinein.

»Kannst du nicht schlafen?«, fragte Chris, warf sich auf sein Bett und streckte sich der Länge nach aus.

Lilli bemerkte das Buch, das wie ein kleines Zelt aufgeklappt auf dem Bett lag, eine Gewohnheit, die sie früher immer aufgeregt hatte.

»Ging mir am Anfang auch so. Das Rauschen des Meeres hat mich …«

»Hast du die beiden eben gehört?«, unterbrach ihn Lilli ungeduldig.

Chris sah sie verwundert an. »Klar, sie sind wieder zurück. Sie waren heute länger weg als sonst …«

»Hast du gehört, worüber sie sich unterhalten haben?« Lilli griff zu dem Buch und las den Titel. Es war ein Krimi. Sie machte das Lesezeichen hinein, das weiter hinten zwischen den Seiten steckte.

»Ähm, nein.« Chris’ Augen, die ihren Bewegungen leicht amüsiert gefolgt waren, sahen sie wachsam an.

Lilli machte sich auf seinem Bett Platz, indem sie seine Beine zur Seite schob. Mit gesenkter Stimme sagte sie: »Ich zitiere:

Mom, nervös: Wieso sollte Rex wieder am Flughafen gewesen sein, Chéri? Ich habe ihn erkannt, ich bilde es mir nicht ein. Er trug zwar eine Baseballkappe und Sonnenbrille, aber ich erkenne dieses Gesicht überall.

Dad, leicht verärgert: Suzú, ich weiß es auch nicht! Ich denke, wir sollten die Augen offen halten. Es gibt keinen Grund, deine Mutter jetzt schon damit zu beunruhigen.

Mom: Und ich denke, wir sollten sie sofort verständigen. Sie muss Seraphim Bescheid geben.

Dad, ziemlich gereizt: Du weißt doch gar nicht, ob Seraphim nach all den Jahren noch vor Long Island ist.

Und nochmals Mom: Louis, ich habe Angst. Ich will nicht, dass …

Der Rest ging unter«, beendete Lilli und holte tief Luft, denn sie hatte alles in einem einzigen Atemzug heruntergebetet.

Chris schaute sie eine Weile nachdenklich an. »Keine Ahnung, was das zu bedeuten hat.«

»Hast du in letzter Zeit irgendetwas Eigenartiges bemerkt?«

»Du meinst, etwas noch Eigenartigeres als Don Pedro, der ab und zu durchs Haus schleicht, die menschenleere Ortschaft und die Harmonie zwischen den beiden?« Er tat so, als würde er angestrengt nachdenken, dann schüttelte er energisch den Kopf. »Nee, sonst nichts.«

Lilli bemerkte natürlich seine Anspielung. Die Harmonie zwischen ihren Eltern war in der Tat etwas Neues. Wenn sie an das letzte halbe Jahr in New York zurückdachte, war der heutige Tag der Inbegriff der Harmonie gewesen. Lilli erinnerte sich nicht mehr, womit es begonnen hatte. Doch in den letzten Monaten war es offensichtlich gewesen, dass ihre Eltern unglücklich waren. Es hatte wegen jeder Kleinigkeit Streit gegeben, sie hatten nichts mehr gemeinsam unternommen und sind sich meist aus dem Weg gegangen. Sogar das heilige Ritual des gemeinsamen Abendessens wurde vernachlässigt und langsam aufgegeben.

Chris klopfte ihr auf den Rücken und holte sie zurück in die Gegenwart.

»Wenn es dich beruhigt, werde ich ein Auge offen halten. Geh jetzt schlafen. Du siehst echt … blass aus.«

Lilli schaute ihn mit gekräuselten Lippen an. »Angeber. In zwei Wochen wirst du das nicht mehr sagen.« Sie stand auf und ging zur Tür.

»Doch, es soll schlechtes Wetter kommen.«

Lilli drehte sich um und blickte ihn finster an.

»Nacht!«, rief Chris.

Als sie antwortete, hatte sie die Tür bereits hinter sich zugezogen. Sie schlich sich zurück in ihr Zimmer, kroch ins Bett und starrte lange in die Dunkelheit.

 

Im Zimmer nebenan zog Chris ein altes, in blassbraunes Leder gebundenes Buch aus der Kommodenschublade heraus und schlug es auf. Er betrachtete die elegante Handschrift auf der ersten Seite. Sie war an einer Stelle verwischt, doch er las:

… raphim y Rex Fothergyll.


7.
Finsternis und Frost

 

Ich träume nicht. Es ist ein Déjà-vu. Oder die schrecklichste aller Erinnerungen, wirklicher als alle Wirklichkeit.

Die Dunkelheit drückt schwer auf meine Brust. Ich will ihr entfliehen, aber etwas lähmt mich. Meine Bewegungen sind schwerfällig und alles tut weh. Ich schwimme durch eisigen Brei, komme aber nicht von der Stelle. Der Eisbrei klebt auf meiner Haut und droht, mich zu ersticken. Mir ist so kalt, dass ich kaum mehr zwischen Schmerz und Kälte unterscheiden kann. Wieso friere ich überhaupt? Ich habe noch nie gefroren!

Einatmen ist unmöglich, denn es ist kein Wasser und keine Luft. Und so läuft mir die Zeit davon, mein Leben, während ich gefangen bin in einem Ozean von Finsternis und Frost.

Doch das Schlimmste ist, dass ich das Licht dort oben sehe, ein feuergelbes Licht wie eine tröstende Sonne. Sie würde mich wärmen. Wenn ich sie erreiche, könnte ich weiterleben, ihr Leben in mich aufnehmen.

Ich komme aber nicht vom Fleck und mir bleibt keine Zeit. Ich muss hier weg! Verzweifelt strecke ich meine Arme dem Feuer entgegen, dorthin will ich, ins Feuerlicht, sonst

Alex erwachte röchelnd und setzte sich mit einem Ruck auf. Die plötzliche Bewegung jagte einen stechenden Schmerz durch seinen Körper, der ihm den Atem raubte. Er schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen, spürte, wie sich seine Lungen füllten und der Schwindel und Schmerz sich legten.

Es war doch ein Traum, nur ein Traum! Mit einer fahrigen Geste wischte sich Alex über die Augen und zog seine Decke bis unters Kinn, er zitterte am ganzen Leib. Fror er? War es möglich, dass sich ein Traum so real anfühlte?

Langsam festigte sich die Welt um ihn, er war zu Hause. Doch die Erinnerung an die Schmerzen in tausend Metern Tiefe riss ihn so plötzlich mit wie ein Strudel. Es war fast wie vorhin im Traum gewesen, nur viel, viel schrecklicher.

Ein sich krümmender Körper, nackt und hilflos. Er hörte sich schreien. Schreie, die sich im Abgrund wie ein unwirkliches, dumpfes Dröhnen verloren. Als ob der tonnenschwere Druck die Geräusche zermalmte. Und er erinnerte sich, dass es einen Moment gegeben hatte, in dem er nicht gewusst hatte, ob er es war, der schrie oder die anderen – oder alle zusammen.

Er sah sich wieder dort, in der Finsternis und Kälte. Sah sich, als jede einzelne Zelle seines Körpers brannte und schmerzte, er sich krümmte, sich wünschte, zu sterben, damit es aufhörte. Er sah sich im Wahnsinn an den Gitterstäben zerren und rütteln. Sich beißen, immer und immer wieder, in der Hoffnung, sein eigenes Gift würde ihn endlich erlösen.

Und dann sah er sich sterben. Den Augenblick, in dem er plötzlich ruhig wurde, obwohl die Schmerzen in ihm weiter tobten. Als gehörten sie nicht mehr zu ihm. Als wäre sein schmerzgequälter Körper weit weg und er nur Stille und Frieden.

Es war befreiend, tat unendlich gut, es war vorbei. So also war sterben. Erträglicher als leben, das war gewiss. Es war nicht schmerzhaft, ganz im Gegenteil. Leben hatte weh getan, das jetzt war gut.

All das sah er sich dort unten denken, hier zu Hause, in seinem Bett.

Und er erinnerte sich weiter: an die Stimme, die ihm zugeflüstert hatte, er müsse wieder zurück zu den Schmerzen. Zurück zu den Schmerzen? Nein, das ging nicht! Das wollte er nicht, nein, unter keinen Umständen! Er war doch nicht verrückt! Zurück? Das war dort, wo es so weh getan hatte. Warum in aller Welt sollte er Schmerzen haben wollen? Das würde die Stimme sicher verstehen …

Weil er noch nicht so weit war, sagte die Stimme. Er könne jetzt nicht aufgeben, er war noch nicht angekommen. Nicht ganz verwandelt. Seltsam, dachte er, wieso klang sie wie Seraphims Stimme?

Dennoch. Zurück? Einen Moment lang spürte er wieder den Schmerz und schüttelte energisch den Kopf. Auf keinen Fall.

Doch dann sah er sich friedlich sterben. Und im nächsten Augenblick jagte ihm dieses Bild, in dem er nicht mehr existierte, er ganz von der Welt verschwunden war, als hätte es ihn nie gegeben, einen viel größeren Schrecken ein als der alte Schmerz. Nein, noch nicht. Er wollte noch in der Welt bleiben, es gab noch etwas zu tun.

Und so machte er sich auf den Weg zum Schmerz zurück, ließ ihn wieder zu und war überrascht, dass er sich gar nicht mehr so schrecklich anfühlte.

Dann der Augenblick der Gewissheit. Es war geschafft, er hatte es geschafft. Ein Schwebezustand zwischen Bewusstsein und Ohnmacht, zwischen Leben und Sterben. Die Gewissheit, dass Sterben nicht das Gegenteil von Leben war, es war das Gegenteil von Geborenwerden. Leben war ewig.

Wie lange er dort geblieben war, wusste er nicht. Es hatte nicht mehr so wehgetan. Und dann war auch das vorbei gewesen.

Doch wie war er zurück nach Thalassa 3 gekommen und was war mit den anderen geschehen? Dieser Teil war zu undeutlich in seiner Erinnerung, wie ein Traum, der ihm jetzt, da er wach war, schnell entglitt. Jemand hatte das Schloss an seinem Tor entfernt. Und er war zurückgeschwommen. Das Nächste, an das er sich erinnerte, war Seraphim wartend an der Schleuse.

»Die anderen …?«, hatte Alex entkräftet gefragt, Seraphim nur mit den Schultern gezuckt.

»Ich weiß es nicht, du bist der Erste.« Eine behutsame Umarmung und Seraphim hatte ihn auf sein Zimmer geschickt.

Hier lag er nun. Auf seinem Bett in seinem Zimmer, von dem er sich in einem anderen Leben verabschiedet hatte. Die Uhr zeigte neun Uhr morgens und er fühlte sich erstaunlich ausgeruht, obwohl er nicht länger als drei Stunden geschlafen haben konnte.

Seine Augen! Als wäre es nicht vollkommen dunkel, erkannte er alles, besser als je zuvor. Wie jedes Raubtier konnten die Wasseramphibien im Dunkeln gut sehen, doch so deutlich wie jetzt war es noch nie gewesen. Alex blinzelte und vergewisserte sich, dass nirgendwo ein Licht brannte.

Behutsam, um Schmerzen zu vermeiden, stand er vom Bett auf und schaute sich neugierig um, als betrachte er sein Zimmer zum ersten Mal. Die Gegenstände waren die gleichen. Und doch war alles so scharfgezeichnet, als hätte jemand einen Schleier von seinen Augen gelüftet. Die Dinge waren beunruhigend klar, jede Linie und jede Farbe wie frisch gereinigt.

Und da war noch etwas anderes. Die Gegenstände hörten nicht mehr an ihren Grenzen auf, sie hatten eine farbige Aura um sich, eine zweite Kontur. Alex blinzelte erneut. Hatte er Sehstörungen? Er fixierte den Rahmen mit dem Foto seiner Mutter auf dem Schreibtisch. Ja, der Rahmen hatte selbst einen hellbraunen Rahmen und je länger er darauf starrte, desto klarer sah er den zweiten Umriss.

Er probierte es mit anderen Gegenständen. Um das Bücherregal schimmerte es in einem dunklen Grün, um den Rucksack dagegen war ein heller Gelbton. Der Schreibtisch hatte einen blass-violetten Rand und um das Buch, das dort aufgeschlagen lag, leuchtete es in Silbergrau.

»Interessant«, murmelte er. Das muss der Energiekörper sein, von dem Seraphim erzählt hatte. Wirklich erstaunlich.

Doch nicht nur sein Sehsinn war schärfer, die Gerüche, das Schmecken auf der Zunge, seine Haut und sein Gehör waren so empfindlich, als würde die Welt auf ihn ungefiltert einstürmen. Alles vibrierte, die Gegenstände schienen lebendig, Energie füllte den Raum wie Luft und er konnte sie sehen, spüren. Sie floss durch jedes Ding, um alles herum, durch alles hindurch. Die Welt hatte ihre Konturen geschärft und verdoppelt und erzitterte in einer Masse aus Formen und Farben, Gerüchen und Geräuschen.

Irgendwie … unangenehm. Sehr sogar. Und jetzt? Was sollte er damit anfangen? Alex dachte an die Worte seines Mentors: »Die ersten Tage wird es euch verrückt machen. Aber ihr werdet jeden Tag lernen, damit besser umzugehen. Ihr werdet es nach Belieben ein- und ausschalten können, und irgendwann wird es zu euch gehören und euch dienen, wann immer ihr wollt. Ihr werdet euer Unterscheidungsvermögen schulen und bald die Kraft der Klarheit schätzen lernen. Denkt daran, ihr werdet einen Kristallkörper haben. Aber zunächst einmal: Geduld, Geduld, Geduld!«

»Geduld ist nicht gerade meine Stärke.«

Richtig. Wenn wir schon beim Thema Kristallkörper sind … Er schaute an sich herab. Die Veränderung war nicht sichtbar, aber er spürte sie in jeder Faser, wie einen leichten Schmerz im ganzen Körper, so, als sei er Hunderte Meilen am Stück geschwommen. Ja, er war nackt. Der silberne Schwimmanzug war verschwunden, war tatsächlich mit seiner Haut verschmolzen.

Er fuhr sich über die Arme, behutsam, als erwartete er, dass silbrige Funken von seiner Haut sprühten. Dann fuhr er über seine Brust auf und ab. Wenn er mit seiner Hand von oben nach unten glitt, war alles normal, strich er aber in die andere Richtung, fühlte sich seine Haut rau an, als streiche man über ein Stück Samt in die falsche Richtung.

Er musste schmunzeln. Der berühmte Haihauteffekt, dachte er. Perfekt angepasste Haut, um im Wasser leichter zu gleiten. Aber klar. Seraphim hatte es erwähnt, denn es gehörte, wie das Erkennen des Energiekörpers, zu den allgemeinen Veränderungen nach der Kristallverwandlung. Spannender war es mit den persönlichen Kräften und Fähigkeiten, die sich in wenigen Tagen zeigen sollten.

Seraphim hatte ihnen während der Ausbildung verraten, dass die meisten der Kristallverwandelten spezielle Fähigkeiten und Kräfte bekamen. Was das für Kräfte waren, konnte niemand vorher sagen, doch immer waren sie höchst erstaunlich. Als er einige Beispiele genannt hatte, waren diese so fantastisch gewesen, dass es Alex schwergefallen war, Seraphim Glauben zu schenken.

Der hatte nach der Kristallverwandlung gleich zwei Fähigkeiten bekommen. Er konnte Gegenstände bewegen, indem er sich mit ihrem Energiekörper verband. Und er konnte sich sowohl an Land als auch im Wasser unsichtbar machen. In Bruchteilen von Sekunden passte sich sein Körper der Umgebung wie ein Chamäleon an. »Changieren«, hatte es Seraphim liebevoll genannt.

Einmal hatte er sich einen Spaß erlaubt. Er war vor ihnen in den Übungsraum gegangen und hatte unsichtbar vor der Wand gestanden. Als ihr Geschwätz am lautesten gewesen war, hatte er »Ruhe!« gerufen und alle zu Tode erschreckt. Er hatte das Rätselraten noch eine Weile ausgekostet, dann war er von einer türkisfarbenen Wand zu Seraphim zurückgekehrt.

Diese Fähigkeit war ihm seine liebste. Aber das war noch nicht alles, ihr Mentor hatte nach jeder Verwandlung noch weitere Kräfte bekommen, was sehr selten war. Doch sie hatten ihm so gut wie nichts darüber entlocken können.

»Über manche Dinge redet man nicht«, hatte er bedauernd gesagt. »Das Gleiche rate ich auch euch. Plaudert nicht leichtsinnig aus, was ihr könnt. Es ist besser, dass es niemand weiß. Wird euer Vorteil sein, wenn es darauf ankommt.«

Als jemand gefragt hatte, wie man merken würde, dass man eine solche Fähigkeit besaß, hatte Seraphim nur gesagt:

»Ihr werdet es einfach wissen.«

Alex überlegte, was wohl seine besondere Fähigkeit sein könnte, wenn er denn eine haben sollte. Doch zwei Gedanken verdrängten seine Neugier. Die anderen und Hunger …

Noch bevor er den Entschluss fasste, sich anzuziehen, nach Seraphim und den anderen zu sehen und sich etwas zu essen zu holen, hörte er jenseits seiner Zimmertür eine Bewegung. Und er roch Essen. Unmöglich …

Jemand verharrte vor der Tür. Alex konnte fast die erhobene Hand sehen, wie sie eine Sekunde später anklopfte.

Er seufzte. Seraphim stand vor seiner Tür. Obwohl er ihn nicht sehen konnte, wusste er es. Er konnte es … riechen. Seraphim – und das Essen. Verflixt, echt unangenehm. Er sah sich nach etwas zum Anziehen um. Vorsichtig streifte er ein T-Shirt und eine Hose über.

»Lass dir Zeit, Alex.«

Hatte sein Mentor das gerade gesagt? Wenn das so weitergeht, muss ich mir Ohrstöpsel besorgen. Er öffnete die Tür und bat Seraphim mit seinem Tablett einzutreten.

»Wie geht es dir?«, fragte dieser, nachdem er das Tablett auf dem Tisch abgestellt hatte. Er schaute Alex lange und prüfend an.

»Ich weiß nicht. Der Schmerz lässt nach. Aber«, und mit einer ausschweifenden Geste deutete Alex um sich, »das alles ist irgendwie anstrengend.«

Seraphim nickte. »Anstrengend ist das richtige Wort. Es wird besser, das verspreche ich dir.« Er musterte Alex mit ernster Miene von oben bis unten, dann sagte er erleichtert: »Ich bin stolz auf dich.«

Alex sah ihm in die Augen. »Es war …«

»… die Hölle.«

Seraphim unterbrach jemanden nur sehr selten, dachte Alex verwundert. Überhaupt sah er betrübt und müde aus.

»Ich verrate dir etwas«, sagte Seraphim nach einer kleinen Pause, in der er sich auf den einzigen Stuhl an Alex’ Tisch setzte. »Diese Verwandlung war das Schlimmste und Demütigendste, was die Auserwählten durchstehen müssen. Es ist die einzige Verwandlung, bei der es um Leben und Tod geht. Die anderen sind nicht schmerzhaft und auch nicht gefährlich, nur lästig. Aber notwendig.« Seraphim hielt nachdenklich inne, blickte ins Leere. Dann räusperte er sich und fuhr fort: »Allerdings, du weißt: Noch drei Tage, bis die Schmerzen ganz nachlassen und die Kristallhaut sich vollständig mit deiner verbunden hat. Ihr seid selbstverständlich vom Unterricht entschuldigt.« Er erhob sich und wandte sich zum Gehen.

»Ich hatte meine Formel vergessen, ich dachte ich müsse sterben.«

Seraphim schaute Alex lange an, als würde er etwas abwägen. Dann schien er einen Entschluss zu fassen. »Ich verrate dir noch etwas, und ich vertraue darauf, dass es diesen Raum nicht verlässt.« Während er sprach, ließ er Alex nicht aus den Augen. »Nicht die gesamte Formel ist wichtig. Nur die erste Silbe. Sie enthält die ganze Kraft der Formel. Sie ist die Essenz, wenn du so willst. Und die hast du offensichtlich behalten, sonst stündest du jetzt nicht hier.«

»Nur die erste Silbe?« Alex starrte Seraphim ungläubig an. »Und das andere?«

»Der restlichen Teil der Formel hatte keinen weiteren Zweck als euch abzulenken.«

»Du meinst, er war für die Verwandlung nicht wichtig?«, fragte Alex schrill. Er schnappte nach Luft und sah Seraphim aus schmalen Augen an.

»Es hätte keinen Unterschied gemacht. In der ersten Silbe ist die Quintessenz enthalten. Ein heiliger Laut, der die Kraft und Weisheit der gesamten Formel enthält. Ich weiß«, sagte Seraphim und seufzte, »es ist schwer zu begreifen. Es hat etwas mit der Kraft der Resonanz zu tun. Egal. Ist im Moment nicht wichtig. Du hast es geschafft. Es ist noch nie vorgekommen, dass jemand die erste Silbe vergessen hat.«

»Ich will trotzdem verstehen, es war schließlich mein Kampf gegen den Tod«, schnappte Alex.

Doch bevor sein Ärger ihn übermannen konnte, sagte Seraphim sanft: »Alex, diese Formel ist nur dazu da, um euren Verstand fokussiert zu halten, ihn zu beschäftigen, damit ihr von den Schmerzen abgelenkt seid. Das ist alles.«

Alex nickte und schwieg. Das war also alles. Eine Silbe, eine winzig kleine, nichtssagende Silbe …

»Vertrau mir, es hat sich als Ablenkungsmanöver bewährt. Alles hat seinen Sinn.«

Wieder nickte Alex. Verflixt, diesen Sinn hätte er nur zu gern verstanden!

»Wie geht es den anderen?« Das hatte er längst fragen wollen.

Seraphims Gesicht verdüsterte sich.

Panik übermannte Alex. Marc, er hatte es …

»Marc ist okay. Er ist ziemlich fertig, aber er hat es geschafft.« Seraphim fuhr sich über das Gesicht. »Ziemlich fertig ist sicher untertrieben. Er war halb tot, hat es gerade noch bis vor die Schleuse geschafft.«

Alex atmete erleichtert auf. Egal, er hat es überlebt. Wenn Marc es geschafft hatte, dann … Er bemerkte Seraphims bekümmertes Gesicht. »Aber?«, fragte er vorsichtig.

»Ich sollte es dir noch nicht sagen. Erst wenn wir uns nachher mit den anderen treffen, hätte ich es berichtet.« Seraphim rang mit sich. Schließlich schüttelte er den Kopf und seufzte. »Jimo.« Seine Stimme zitterte. »Er ist … er hat es nicht geschafft.«

Alex starrte seinen Mentor an. Was? Mit keinem Gedanken hatte er an Jimo gezweifelt. Seine Knie gaben plötzlich nach und er glitt zu Boden.

Seraphim ließ ihm Zeit, das Erfahrene zu begreifen. Nach langen, stillen Minuten fügte er hinzu: »Noch etwas ist geschehen.«

Alex hob den Kopf.

»Du erinnerst dich«, setzte Seraphim mit rauer Stimme an, »ich erwähnte, dass es vorkam, dass jemand auch … Danya, sie ist zwar nicht tot, aber …«

»Danya?« Alex’ Stimme war tonlos. »Das ist unmöglich!« Er starrte seinen Mentor an und begriff zunächst nicht. Was? Nicht tot, was dann?

Als Seraphim seinem Blick auswich und nur resigniert den Kopf schüttelte, dämmerte es Alex.

»Oh, nein!« Er rang um Fassung. »Marc hat es geahnt.« Der letzte Satz war nur ein Flüstern. Er vergrub sein Gesicht in den Händen und begann zu schluchzen.

»Er hat es mir gesagt. Allerdings erst vorhin! Das war unverantwortlich. Er hätte mir seinen Verdacht früher mitteilen müssen.« Seraphim klang vorwurfsvoll.

Alex wurde mit einem Mal wütend. »Ach ja, und was wäre dann geschehen, Seraphim? Was hättest du gemacht? Die Verwandlung hätte sie durchmachen müssen, so oder so, oder sie wäre …« Er hielt inne. Schnappte nach Luft. Stand auf und blickte ungläubig zu seinem Mentor. »Du hättest sie getötet.« Es war keine Frage, es war Gewissheit.

»Du verstehst das nicht.«

»Nein, das verstehe ich allerdings nicht. Ich hoffe, ich werde es nie verstehen!« Die Enttäuschung, die Wut und der Kummer ließen Alex erzittern. Sein Inneres vibrierte. Verflixt noch mal, es trieb ihn zur Weißglut. Er fletschte die Zähne und sah Seraphim an, als wolle er ihm gleich an die Gurgel springen.

Seraphim versteifte sich und trat einen Schritt zurück. Seine Stimme klang ruhig, als er auf Alex einredete: »Sie wird viel Böses anrichten, bevor wir sie aufhalten …«

Alex unterbrach ihn: »Aufhalten bedeutet töten, nehme ich an.« Seine Stimme klang frostig. In seinen Zähnen pochte das Gift und sein Atem ging mit einem Mal keuchend. Alles, was Seraphim jetzt sagte, schürte seine Wut nur noch weiter. Er war kurz davor sich gehen zu lassen.

»Wenn es sein muss, ja. Wir werden versuchen, sie zu finden. Bevor sie tötet. Und ich weiß, sie wird früher oder später nicht davor zurückschrecken, wenn es ihrem Ziel dient. Alex, mach dir bitte nichts vor. Sie würde auch dich töten. Sogar Marc.« Seraphims Stimme war eindringlich, ernst, todtraurig. »Sie ist nicht mehr die Danya, die wir kannten. Vergiss das nie. Nie, Alex!« Er packte ihn am Arm.

Alex starrte seinen Mentor an und langsam sickerte das, was er gerade gesagt hatte, zu ihm durch. Sein Atem beruhigte sich und seine Wut ließ nach. Seraphim muss es wissen, durchzuckte es ihn. Er hatte schließlich seinen Bruder Rex so verloren. Rex lebte zwar noch, doch er war durch die Kristallverwandlung vor Jahren bösartig geworden.

Alex erinnerte sich an Marcs Befürchtung. Wie hätte Marc seine Schwester verraten können? Und wie hätte er sie verraten können, Danya und Marc? Es war nur eine Vermutung gewesen, sagte sich Alex, doch der Trost wollte sich nicht einstellen.

Seraphim sah ihn eindringlich an und ließ mit einem Nicken seinen Arm los.

Was hatte Seraphims Berührung zu bedeuten?

»Du wirfst Marc Unverantwortlichkeit vor«, murmelte Alex.

Seraphim atmete auf, als hätte er gerade ein Unheil abgewendet. »Uns gegenüber war er das, allerdings kann ich ihn sehr gut verstehen. Er hat als Bruder gehandelt. Ich kann ihm das nicht vorwerfen. Es ist das Schlimmste, was einem Bruder passieren kann – seine eigene Schwester dem Tod zu weihen. Ich werde Marc dafür nicht verurteilen. Auch nicht bestrafen.«

Seraphim wandte sich zum Gehen. Er blieb noch einmal stehen und sagte mit matter Stimme: »Und es ist ebenso schlimm, seine Schwester ans Böse zu verlieren. Es wird Zeiten geben, in denen Marc sich wünschen wird, sie wäre tot.« Er sah Alex mit traurigem Blick an, dann wandte er sich schnell ab und ging zur Tür.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739418568
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Mai)
Schlagworte
Urban Fantasy Übernatürlich First love Geschichten aus dem Meer neue Welten Meermenschen Wasserwesen epische Fantasy Internat Romantasy Romance Fantasy Episch High Fantasy

Autor

  • Karla Fabry (Autor:in)

Karla Fabry wurde Ende des 20. Jahrhunderts in einem von Veilchenduft durchströmten März geboren und lebt seit Beginn des 21. Jahrhunderts in der Nähe von Stuttgart. Nach dem Studium widmete sie sich der Fotografie, bevor sie zur Arbeit mit dem Wort zurückkehrte. Ihre Hobbys sind digitale Fotokunst, Basteln und, wenn noch Zeit bleibt, das Erfinden von Kochrezepten. Letzteres hat sie auf einen Helden aus ihrer Fantasy-Trilogie »Schattenblau« übertragen. Ihm gelingen alle Rezepte.
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Titel: Schattenblau 1: Das Herz der Tiefe