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Der Zauber einer alten Welt: Die Protektorin (Band 1)

von E.T. Byrnes (Autor:in)
350 Seiten

Zusammenfassung

Eines Abends erhält Rebekkah die seltsame Nachricht, dass ihre Tante Sarah verschwunden sei. Rebekkah weiß nicht so recht, was sie davon halten soll, denn die Familie hat seit Jahrzehnten keinen Kontakt zu Sarah – und nun stellt diese sich als Hexe und sogar Protektorin der Natur Irlands heraus. Es kommt noch dicker: Nicht nur wurde sie entführt, sondern auch Rebekkah hat eigentlich magische Kräfte, die sie Stück für Stück auf eher ... uncharmante Weise zurückerhalten soll. Bei ihrer Suche nach Sarah lernt sie die Heckenhexe Jules, den Reisenden Zorin und mehr magische Wesen kennen – und findet leider erst nach ein paar Tagen einen Koffer voller Alkohol, der ihr die Stimmung ein wenig versüßt, während um sie herum magische Wesen am Rad drehen und die Zeit immer knapper wird, um das Rätsel um das Verschwinden ihrer Tante Sarah zu lösen und ihre Magie in den Griff zu kriegen ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Prolog: Eine Reise in eine alte Welt

Es war ein absolut hässliches Geräusch, als der Holzknüppel auf Sarahs Hinterkopf traf. Ein Knacken, das jeden normalen Menschen hätte erschaudern lassen und der alten Frau das kostbare Bewusstsein raubte, das sie gebraucht hätte, um den Schutzzauber zu weben. Sarahs letzter Gedanke flog davon wie eine leichte Daunenfeder im Wind, getrieben von unsichtbaren Böen, bevor die Dunkelheit ihn in sich aufsog.

… zeitgleich an einem anderen Ort

Der Rabe flog hinauf zum Fenster und setzte sich auf den Sims. Sein Blick ins Innere des Zimmers fiel auf eine junge Frau, die ihre Haare in einem glatten Knoten im Nacken hochgesteckt hatte. Sie trug eine einfache Jeans, ein schwarzes T-Shirt, dazu ein wild gemustertes Tuch um den Hals geschlungen und saß mit hochgelegten Beinen auf der Couch. Ihr Kopf nickte im Takt der Musik, die aus einem einzelnen USB-Lautsprecher kam, der am Laptop auf ihrem Schoß angedockt war.

Als sie aufblickte, fanden ihre Augen die des Raben und ihre Stirn runzelte sich. Ihr Mund formte Worte, die der Vogel nicht verstand, vermutlich wollte sie ihn verscheuchen. Als dieser Versuch misslang, stand sie auf und ging zum Fenster. Der Rabe bewegte sich kein Stück und hielt seinen Blick starr auf die junge Frau gerichtet. Sie schien zu frösteln, versuchte ihn durch ausladende Handbewegungen erneut zu verjagen, trat einen Schritt zurück und zog abrupt den dunkelgrauen Vorhang zu. Innerlich seufzte der Vogel auf, flatterte entrüstet mit seinen dunklen Schwingen und machte sich auf den Rückweg zu seiner Laoch-Kriegerin. Das konnte ja heiter werden.

Kapitel 1: Ruhe vor dem Sturm

,Rebekkah Redthorne.“

Wenn Annka diesen Ton anschlug, verfehlte er seine Wirkung nie, selbst vom anderen Ende des Flurs, der ihre beiden Büros miteinander verband. Rebekkah lächelte, drehte sich um und winkte ihrer Kollegin mit der leeren Kaffeetasse in der Hand zu.

„Komm schon, ich habe nicht ewig Pause, das Marketing hat echte Arbeit zu erledigen, im Gegensatz zur Redaktion“, rief sie Annka zu und setzte den Weg in die Kaffeeküche fort. Obwohl Annka relativ neu in der Agentur war, hatten die beiden sich relativ schnell los angefreundet. Routiniert stellte Rebekkah den Vollautomaten nach ihren Wünschen ein und die Tasse unter den Ausguss. In der schimmernden Front des Geräts prüfte sie kurz ihr Make-up und wischte sich kleine Mascara-Spuren unter den Augen weg. Ihre grüne Iris betonte sie nur selten mit mehr als einem präzisen gesetzten Lidstrich, weil sie hinter ihrer großen Brille leicht untergingen. Die braunen Locken fielen heute offen auf das ärmellose, cremefarbene Oberteil. Ein fast perfekter Look, wäre da nicht der super müde Blick. Rebekkah streckte ihrem Spiegelbild die Zunge raus und schnitt eine Grimasse. Jepp, das sah gleich so viel besser aus. Nun ja, heute war sowieso kein großer Termin geplant.

„Hast du es schon gesehen?“, hörte sie Annka, die sich endlich durch die Kollegen auf dem Gang geschlängelt hatte. Sie waren in etwa gleich alt, aber sie um einiges kleiner als Rebekkah. Ihr eiserner Wille und Wortwitz machten sie trotz ihrer Körpergröße zu einer echten Hausnummer in der Redaktion der Agentur. Amüsiert schüttelte Rebekkah den Kopf.

„Und dir damit die Freude nehmen, es mir zu zeigen?“, grinste sie und nahm ihre Kaffeetasse aus der Maschine. „Niemals!“

„Gib’s zu, ohne mich würdest du sie alle verpassen“, gab Annka zurück und zückte ihr Handy. Sie war glühender Basketball-Fan und hatte ein Auge auf einen der neuen Spieler geworfen, den ihr Lieblingsverein kürzlich erst verpflichtet hatte. Dessen Aussehen erinnerte mit seinem wilden Bart und den muskelbepackten Armen, die durch das rote Trikot nur noch stärker betont wurden, tendenziell eher an einen Haudegen. Antvin war sein Vorname, erinnerte sie sich. Nicht, dass Annka zulassen würde, dass Rebekkah diesen Namen jemals vollständig vergaß. Aktuell jedoch war das sowieso unmöglich. Der Spieler hatte beschlossen, seinen Fans etwas ganz Besonderes zu bieten, quasi als ganz persönlichen Countdown zu den Playoffs: Jeden Tag postete er ein neues Bild von sich. Rebekkah pfiff leise, als Annka ihr mit breitem Grinsen das Handy unter die Nase hielt. Von einem Profisportler erwartete man durchaus einen trainierten Körper, aber wenn er sich so entspannt mit hinter dem Nacken verschränkten Armen auf einer Badeliege präsentierte, war das… definitiv interessant. Annka feixte breit und steckte das Handy weg, während Rebekkah sich verlegen räusperte.

„Erwischt“, lachte sie. „Aber ich habe noch nie gesagt, dass er schlecht aussieht“, versuchte sie sich zu verteidigen. Annka lächelte verschmitzt und nickte nur.

„Antvin Dantzik ist einfach das Beste, was diese Stadt gerade zu bieten hat. Mach dir keine Sorgen, das geht nicht nur dir so, wir stehen alle auf ihn.“

„Offensichtlich. Aber wolltest du mir nicht noch ein anderes Update geben?“, bohrte Rebekkah nach und freute sich, als eine leichte Röte das Gesicht ihrer Freundin überzog. Das Gefühl verflog, als sie deren zusammengekniffenen Mund bemerkte.

„Was ist passiert?“

Etwas kläglich zuckte Annka mit den Schultern.

„Das Date fand nicht statt. Er ist nicht gekommen.“

Rebekkah stand der Mund offen.

„Was?“

„Also eigentlich schon, das hat er zumindest geschrieben. Aber er ist nicht aus dem Auto ausgestiegen“, druckste sie herum.

„Er ist was nicht?!“, fuhr Rebekkah auf, ihre Augen blitzten hinter der Brille.

Annka nickte traurig.

„Erst habe ich gewartet, dann meinte er, er sei hier. Gesehen habe ich ihn nicht, also habe ich noch etwas gewartet und nach 20 Minuten bin ich gegangen. Auf dem Weg habe ich ihm zwei ziemlich bissige Nachrichten geschickt. Daraufhin meinte er, er säße im Auto vor dem Lokal und würde nun aussteigen.“

„Was für ein Vollpfosten! Aber du bist nicht zurück, oder?“

„Nein, natürlich nicht. Wer weiß, was er sich von dem Abend wirklich erhofft hat. Mit Dates bin ich erst mal fertig.“

Rebekkah schüttelte ebenfalls ihre Lockenmähne. „Was für ein Idiot.“

„Jupp. Und jetzt sag: Gibt es hier auch noch einen Kaffee für mich? Global Robics hat spontan einen neuen Prototyp vorgestellt und jetzt muss bis mittags natürlich eine ausführliche Pressmitteilung stehen“, erklärte sie, rollte mit den Augen und positionierte gleichzeitig ihre Tasse im Kaffee-Vollautomat. Für einen Moment beherrschte das monotone Brummen der Maschine den Raum.

„Und wegen dem Typ?“, wollte Rebekkah sich der emotionalen Stabilität ihrer Freundin versichern, die sich in einem Lächeln versuchte und mit ihrem Handy herumfuchtelte.

„Wenn der Gedanke an gestern mich runterzieht, muss ich nur kurz zu Antvin schauen.“

Beide lachten und kassierten ein missbilligendes Zungenschnalzen von Mark, der das zweite Marketingteam leitete und sich bisweilen anmaßte, den Vorsitz der Abteilung zu führen. Gerade baute er sich im Türrahmen auf und ließ seinen ungnädigen Blick über Rebekkah und Annka gleiten.

„Haben die Damen sich ausgesprochen? Unwichtige Unterhaltungen über lächerliche Outfits geführt? Das Wochenende zusammengefasst? Ja? Dann sollten wir vielleicht wieder an die Arbeitsplätze zurückkehren, wo …“

„Halt die Klappe, Mark!“, rutschte es Rebekkah heraus, bevor sie kurz nachdenken konnte. Für eine Sekunde herrschte Stille, dann zuckte sie mit den Schultern. Es war ja nicht so, als hätte sie nicht Recht. Er hatte ihr gar nichts zu sagen. Mit einem Blick brachte sie ihn dazu, seinen Mund vollständig wieder zu schließen und drängte sich so an ihm vorbei, dass er einige Schritte nach hinten ausweichen musste. Im Gang hörte sie noch, wie Annka etwas brummte und ihn ebenfalls stehen ließ. Rebekkah wusste, dass sie sich bald etwas überlegen musste. Eine gewisse Konkurrenz zwischen ihren Teams war nur natürlich und auch gesund. Aber am Ende des Tages hatten sie das gleiche Ziel und mussten zusammenarbeiten. Das schien Mark nicht ganz klar zu sein, sonst würde er sich die plumpen Kommentare sparen.

An ihrem Tisch angekommen lehnte sie sich zurück und genoss den Duft des Kaffees, der sich langsam ausbreitete. Vor ihrem Fenster tanzten die letzten Schneeflocken dieses Winters und gesellten sich zu der hauchdünnen weißen Schicht, die trotz des nahenden Frühlings seit heute Nacht gefallen war. Frühe Kindheitserinnerungen stiegen in ihr auf: an Adventssonntage und Weihnachtsfeiertage voller Familie, Plätzchen, Stollen und Streichen ihres kleinen Bruders, die er meistens zusammen mit ihrer Tante Sarah akribisch geplant und minutiös durchgeführt hatte. Jeder hatte unter dem Chaosteam zu leiden, aber es hatte auch oft Spaß gemacht, dabei zuzusehen, was die beiden nun wieder ausheckten. Rivkah, so hatte Sarah sie immer genannt. Jetzt, rund 20 Jahre später, war von den kindlichen Empfindungen damals nicht mehr viel zu spüren.

Soweit sie wusste, hatte ihre Tante außerhalb der Stadt gelebt, bevor der Kontakt völlig ab. Ob wegen Drogen oder Alkohol, das wusste Rebekkah nicht. Allerdings hatten sie sich auch schon seit Jahren nicht gesehen. Als Kind hatte sie den riesigen Streit mitbekommen, den ihre Eltern mit Sarah hatten, anschließend hatte eiskalte Stille im Haus geherrscht und ihre Tante war nie wieder zu Besuch gekommen.

Ein Klopfen riss sie aus ihren Gedanken und sie schrak hoch. Ein Praktikant stand in der Tür.

„Hättest du Zeit für ein Meeting um 14 Uhr?“, fragte er und Rebekkah nickte. „Super“, antwortete er und verschwand. Seit seiner Einarbeitungsphase bei Mark war er zunehmend wortkarg geworden. Hoffentlich war ihr ‚Lieblingskollege‘ klug genug, keine richtige Hetzkampagne gegen sie zu starten.

Die Tasse in ihren Händen hatte mittlerweile merklich an Wärme verloren, sodass sie sie abstellte und sich lieber ihren beiden Bildschirmen zuwandte.

… zeitgleich an einem anderen Ort

Sarah erwachte von einem Rütteln, das ihren gesamten Körper schlottern und ihren Kopf immer wieder leicht an das Holz hinter ihr fallen ließ. Offenbar saß sie in einer Art Kutsche, an Händen und Füßen gefesselt, die Augen verbunden. Ein leichter, aber deutlich wahrnehmbarer Schmerz pulsierte in Wellen durch ihren Kopf, ihr Mund war trockener als die Sahara – und durch einen Knebel gestopft. Versuchsweise straffte sie das Seil, mit dem ihre Hände in ihrem Schoß zusammengebunden waren. Ihre Fingerspitzen erspürten Knoten, simpel, aber fest geschnürt. Ihre Entführer waren also wahrscheinlich keine Profis, aber nicht dumm. Und definitiv gewaltbereit. Dieser Schlag … Abschreckung war schon vor tausenden Jahren ein bewährtes Mittel, um sich potenzielle Feinde vom Hals zu halten. Ihre Gegnerin hatte einen blutigen Ruf kultiviert und unter den Menschen einen barmherzigen. Kein Wunder, dass sie sie über so viele Jahrhunderte angebetet hatten. Aber auch sie war der modernen Zeit zum Opfer gefallen, denn die Anbetung dürfte auf fast Null zurückgegangen sein und damit ihre Macht in der realen Welt. Sie galt als schwach und das konnte ihre Gegnerin nicht akzeptieren. Fragte sich nur, was sie mit Sarah anstellen würde – eine gewaltsame Machtdemonstration?

Wieder wurden ihre Gedanken aufgewirbelt und fegten durcheinander. Ihre letzte Erinnerung vor der Dunkelheit galt dem fehlgeschlagenen Schutzzauber und Rebekkah, ihrer Nichte – und jetzt vermutlich Nachfolgerin. Sie seufzte auf. Wie gut, dass sie noch nichts von ihrem Glück wusste und der nächste Angriff vermutlich ihr galt. Niemand, der geistig halbwegs gesund war, legte sich mit einer der Redthorne-Hexe an und ließ die anderen in Ruhe. Wenn, dann musste man alle aus dem Weg räumen. Auch hier griff das Konzept der Machterhaltung durch Abschreckung. Schöne Scheiße. Zorn nistete sich in Sarahs Bauchgegend ein. Wut auf sich selbst, denn ihre Nichte war das perfekte Opfer – weil Sarah sie dazu gemacht hatte. Eine falsche Entscheidung vor vielen Jahren, mehr hatte es nicht gebraucht. Sie war wehrlos gegen ihre Entführer.

Wer so lange wie Sarah als Protektorin Dublins gelebt und sozusagen gearbeitet hatte, hatte sich auf menschliche und magische Art mehr als genügend Feinde gemacht. Noch dazu hatte sie in letzter Zeit in viele Wespennester gestochen, um eine Reaktion zu provozieren. Wie es aussah, hatte sie dabei auch einige verärgerte Hornissen erwischt, die nun über sie hergefallen waren. Doch mit diesen Allegorien kam sie jetzt, in diesem Moment, nicht weiter.

Stattdessen konzentrierte sie sich auf ihre Magie, bis feine, weiße Blitze über ihre Haut liefen. Ein vertrautes Gefühl, aber deutlich zu schwach. Ihre Kopfverletzung musste schlimmer sein als gedacht, wenn sie ihre Energie nicht stärker fokussieren konnte. Enttäuscht ließ sie den Kopf sinken, aber das drückte den Knebel nur noch fester in ihren Mund. Sie versuchte zu husten, aber stieß mit ihrer Zunge nur gegen den Knebel, was für einen vehementen Würgereiz sorgte. Sarah bot all ihre Konzentration auf und riss sich am Riemen. Gleichmäßig atmen. Ein. Und aus. Ruhig bleiben. Nicht kotzen. Positiv denken: Niemand wollte sie töten. Zumindest noch nicht. Und selbst dann hatte sie als Hexe mehr als genug Möglichkeiten, aus dem Jenseits Rache zu nehmen. Nur was Rebekkah betraf …

Kapitel 2: Das alte Telefon

Einige Stunden später rieb Rebekkah sich die Augen vorsichtig hinter den Brillengläsern und beschloss, dem Büro für heute den Rücken zu kehren. Sie stand auf, streckte sich, holte ihren Parka und suchte mit automatischen Griffen in ihrer Handtasche nach Geldbeutel, Handy und Schlüssel.

„Hey“, Annka steckte ihren Kopf zu Rebekkahs Büro rein, „hast du Lust auf einen Feierabenddrink?“

Die Angesprochene überlegte kurz. „Ich muss heute mal wieder bei meinen Eltern vorbeischauen.“

„Ah, richtig, die Kreuzfahrt. Sind unter deiner Aufmerksamkeit und Pflege denn schon die ersten Pflanzen gestorben?“, stichelte Annka.

Gespielt empört schnaubte Rebekkah auf. „Weder das, noch habe ich die Tür offenstehen lassen oder Einbrecher eingeladen“, frotzelte sie zurück.

„Na dann, viel Spaß bei deinem kleinen Nebenjob“, grinste Annka und winkte zum Abschied.

Auf dem Weg zur Straßenbahn konnte Rebekkah ein Gähnen nicht mehr unterdrücken. Der Kaffee schien nicht so gut gegen die Müdigkeit zu helfen wie ihre liebste Teemischung, auf die sie leider eine Allergie entwickelt hatte. Sehnsüchtig dachte sie an ihr Guten-Morgen-Ritual, bei dem eine dampfende Tasse Tee genauso dazu gehörte wie ein paar Minuten Zeit, um den zwitschernden Vögeln vor dem Fenster zuzuhören.

Menschen rempelten Rebekkah an, als sie aus der Straßenbahn, der Luas, ausstiegen und den Ausgängen entgegen strömten. Es machte ihr nichts aus. So war das Leben in der Stadt nun einmal. Jeder wollte irgendwohin, jeder versuchte, die tausenden anderen Personen auszublenden. Wie schnell konnte man inmitten dieses Trubels vereinsamen. War sie das nicht auch? Unbewusst schnitt Rebekkah eine unwillige Grimasse und stieg ein. Eingepfercht zwischen Teenagern, die Kopfhörer mit Lautsprechern verwechselten, versuchte sie, die melancholischen Gedanken zu verdrängen und an glückliche Momente zu denken. Die Basketballspiele, die sie mit Annka besucht hatte, jede Menge Bier verschüttet und sich die Kehle wund geschrien hatte. Der Killarney-Urlaub, den sie sich endlich einmal gegönnt hatte: Zwei Wochen wandern durch die entlegensten Ecken des Nationalparks hatte ihre Gedankenwelt durchgepustet und ihr außerdem einen seltenen irischen Sonnenbrand beschert. Vielleicht würde der Spaziergang von der Station zum Haus ihrer Eltern ihr jetzt helfen, etwas Abstand vom heutigen Tag zu gewinnen.

Sie folgte dem verlassen vor ihr liegenden Straßenzug und betrat den Park durch ein kleines Tor, der das Haus ihrer Eltern vom restlichen Viertel trennte. Als Kind hatte sie davon geträumt, dass der Park zu ihrem Garten gehörte und sich vorgestellt, was sie alles in der Anlage haben würde, wenn es ihre wäre. Von Karussellen mit Einhörnern bis hin zu einer Rennbahn für Kettcars war alles dabei. Rebekkah lächelte bei dem Gedanken an ihre Vorstellung von damals. Die Magie der Kindheit, als alles möglich erschien und jeder Traum scheinbar in Reichweite lag.

Ein Krächzen holte sie aus ihrer Tagträumerei zurück. Ein Rabe flog so dicht über sie hinweg, dass Rebekkah ihren Kopf erschrocken einzog. Schon wieder einer. Erst gestern hatte sich einer auf dem Fensterbrett ihres Wohnzimmers hingesetzt und sogar mit dem Schnabel gegen das Glas gehackt. Komisches Verhalten für ein wildes Tier – allerdings war es vor ein paar Tagen ein besonders ansehnliches Exemplar seiner Art, wie sie fand. Sein Gefieder hatte geglänzt wie frisch poliert, sein Schnabel war von einem so tiefen Schwarz, dass Kohle im Vergleich dazu grau wirken mochte.

Es dauerte nicht lange und die Schemen des großen Zauns schälten sich aus den Schatten der Parkanlage. Sobald sie den Garten betreten hatte, wand sich der Pfad leicht bergauf und führte zu einem kleinen Bach, an dem die verschiedensten Pflanzen wuchsen. Von feuerroten Wasserlilien bis hin zu einer sehr seltsamen Pflanze mit enormem Blätterwerk, das aussah wie Huflattich und dessen Blätter größer waren als Rebekkah selbst. Die Blätterstiele trugen Dornen, an denen sie sich lieber nicht stechen wollte. Als sie einen Baum passierte, dessen Äste bis zum Boden gingen und der aussah wie ein dunkelgrüner Zuckerhut, konnte sie auch schon das Haus sehen. Wie immer, wenn sie es sah, setzte ihr Herz für einen Schlag aus und einen Moment später laut rumpelnd wieder ein. Es war ihr Zuhause, der Ort, an dem sie willkommen war und sein konnte, wie sie nun einmal war. Ohne wenn und aber. Wo Liebe eine Familie zusammenhielt und das schon über Generationen.

Ein dunkelroter Backsteinbau mit einem Turm auf der Ostseite, großen Fenstern mit Buntglas in jeder Hauswand und Erkern sowie Anbauten, sodass er mehr einem abstrakten Kunstwerk glich. Überall fanden sich Schnitzereien aus Holz, die den Fensterrahmen ein fragiles Aussehen gaben und aus einer Tür zum Garten ein fantasievolles Tor zu einer anderen Welt machten. Mit einem Lächeln auf den Lippen stieg Rebekkah die Treppe hinauf, fischte den altmodischen Schlüssel aus ihrer Parkatasche und sperrte auf. Absolute Stille empfing sie und hüllte sie sofort in einen weichen Kokon der Ruhe. Sie hielt inne und sog den Moment in sich auf, denn sie wusste genau, dass sie diese Stille stören musste. Fast bereute sie ihre nächsten Schritte, die auf den alten Dielen knarzende Geräusche auslösten und der Parka raschelte, als sie ihn ablegte. Der Schlüsselbund klirrte, als sie ihn in die Tasche warf und schließlich drang das Ticken der Standuhr im Flur an ihre Ohren. Sie war Zuhause.

Ruhigen Schritts ging sie in die Küche, wo die Gießkanne bereits an der Spüle auf sie wartete. Das uralte Becken war massiv und aus einem einzelnen Stein gehauen. Als Kind war ihr hier mehr als nur ein Glas zerbrochen, weil sie es zu fest auf den Rand gestellt hatte. Mit der Gießkanne aus Plastik würde sie das Problem eher nicht haben, dachte Rebekkah und schmunzelte, als ihr Blick auf die bunten Stecker aus Stoff fiel, die ihre Mutter in die Töpfchen mit den Küchenkräutern gesteckt hatte. Vermutlich selbstgebastelt, wie so vieles in diesem Haus.

Aus dem Hängeschrank über ihr holte sie ein Tuch, um die Wasserspritzer wegzuwischen, die es nicht in die Gießkanne geschafft hatten. Das dunkle Holz des Schrankes hob sich deutlich von den hellen Regalen ab, die jeweils daneben hingen. Die restliche Küche war in grauem Marmor und dunklem Holz gehalten. Damit man den Dreck nicht sah, witzelte ihr Vater immer, weil ihre Mutter nicht gerade für ihre peniblen Reinigungskünste bekannt war.

Das Tuch legte sie auf die Kücheninsel, die mitten im Raum stand und allerlei Geräte in sich barg. Was nicht zu sehen war, war aufgeräumt, pflog ihre Mutter zu sagen. Mit ihrer linken Hand strich Rebekkah über den kühlen Stein der Platte. Dann machte sie sich ans Werk und wässerte die Blumentöpfe in der Küche und dem Flur, bevor sie zurückkehrte und sich dem ersten Stockwerk widmete. Den Wintergarten würde sie mit dem Gartenschlauch versorgen, sonst würde sie sich nur kaputt schleppen. Auch wenn sie ab und zu ins Fitnessstudio ging, wog die Kanne bestimmt ihre 35 oder 40 Pfund.

Als die letzte Pflanze mit kostbarem Nass versorgt war, ließ sie sich an Ort und Stelle in den Ohrensessel fallen, der an einem deckenhohen Fenster stand. Die kleine Bibliothek, in der sie sich befand, war ihr liebstes Zimmer in diesem Haus. Eigentlich konnte man es fast nicht Bibliothek nennen, aber als Kind war ihr der Raum riesig erschienen. Die Regale reichten vom Boden bis zur Decke und kleideten alle Wände bis auf eine in einen Wall aus Büchern. Der Inhalt wartete mit alten Schinken bis hin zu neuen Werken auf, die meist auf Betreiben ihrer Mutter aufgenommen wurden, als Urlaubslektüre. Sogar eine Kinderecke gab es, denn Rebekkah und Evan weigerten sich strikt, auch nur eines ihrer Bücher wegzugeben. Irgendwann würden sie sie vielleicht ihren eigenen Kindern oder Nichten und Neffen vorlesen können.

Als sie gedankenverloren nach außen blickte, bemerkte sie überrascht, dass es allmählich dunkel wurde und der leichte Schneefall sich in matschigen Regen verwandelt hatte. Das unrühmliche Ende der ansonsten so romantischen Winterzeit. Wie sehr sie diese Übergangszeit zum Frühling verabscheute. Rebekkah zog ihr Handy aus der Hosentasche und suchte sich die Nummer des Taxiunternehmens heraus, das sie immer in Dublin rief, egal wo sie war.

„Wegen des Wetters dauert es etwa eine halbe Stunde, bis der Fahrer bei dir ist“, erklärte die Frau des Inhabers, die ihren Anruf entgegengenommen hatte.

„Kein Problem Moira, ich stehe ja nicht in der Kälte. Danke dir“, versicherte Rebekkah und legte auf. Unschlüssig sah sie sich um. Sie könnte noch den Briefkasten leeren, auch wenn nur sehr selten etwas ankam, denn ihre Eltern lebten sehr zurückgezogen. Gemäßigten Schrittes verließ sie die Bibliothek und betrat den Eingangsbereich des Hauses. Der Briefkasten war altmodisch und in die Hauswand eingelassen, sodass sie zum Glück das Haus nicht verlassen musste. Von außen sah man ihn von weitem, denn er bestand aus grün gestrichenem Gusseisen und leuchtete aus den roten Backsteinen hervor wie eine rote Rose im Schnee. Von innen hatte man ihn irgendwann weiß gestrichen, sodass er nicht mehr so stark auffiel. Rebekkah öffnete die Klappe, blätterte oberflächlich durch die wenigen Sendungen, entsorgte die Werbeflyer gleich und positionierte den einen Brief von der Stadt auf den Tisch in der Küche, wo seit einigen Wochen zwei andere auf die Rückkehr ihrer Eltern warteten.

Und jetzt? Ihre Finger klopften in langsamen Abstand auf die Tischplatte. Sie könnte sich ein Buch suchen. Allerdings hatte sie daheim ein angefangenes liegen und parallel lesen war nicht ihr Stil. Auf ihr Smartphone hatte sie keine Lust, sie hatte sowieso den ganzen Tag vor einem Bildschirm verbracht. Ihre Finger trommelten mittlerweile unruhiger. Rebekkah zog eine Schnute und sah sich um. Immer noch 20 Minuten, bis ihr Taxi vorfahren würde. Sie ging den Flur hinab und holte Parka samt Tasche nach vorne zur Eingangshalle. 19 Minuten, bis sie den Heimweg antreten konnte. Sie ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank. So gut wie gähnende Leere, ihre Eltern hatten alles eingefroren, was ging, und aufgegessen, was sich nicht halten würde. Verschwendung war sinnlos, eine weitere Doktrin ihrer Kindheit. Das Licht erlosch, als Rebekkah die Tür wieder schloss. 16 Minuten bis Taxi-Time. In Gedanken begann sie, ein bekanntes Lied der 90er auf Taxi-Time umzudichten und war gerade beim Refrain angekommen, als das Telefon klingelte. Nicht das moderne Festnetzgerät – was sie erst kapierte, als sie es in die Hand nahm und das Display nicht leuchtete. Das alte. Das an der Wand hing und schepperte, als hinge sein Leben davon ab. Mit hochgezogenen Augenbrauen drehte sie sich zu dem unhandlichen Apparat um. Das alte Ding hatte noch nie geklingelt, im Leben nicht. Als Kind hatte sie damit endlose Gespräche mit Freunden und Fantasiefiguren geführt. Eigentlich dachte sie, es funktionierte nicht, weswegen Rebekkah noch einige Sekunden anstarrte, als hätte sie einen Geist gesehen. Als das schrille Klingeln nicht aufhören wollte, nahm sie schließlich den schweren Hörer von der Gabel.

„Redthorne.“

„Spreche ich mit Annabelle Redthorne, der Bibliothekarin?“

Bibliothekarin?! Rebekkah runzelte die Stirn. Ihre Mutter hatte seit Jahren nicht mehr in einer Bibliothek gearbeitet.

„Nein, tut mir leid, meine Mutter ist gerade nicht verfügbar. Kann ich Ihnen weiterhelfen?“

Es rauschte und knackte fürchterlich in der Leitung und Rebekkah hatte schon die Befürchtung, dass sie den Anrufer vielleicht gar nicht richtig verstanden hätte, da ertönte bereits lautes Tuten. Aufgelegt. Na wunderbar. Sie hang den Hörer auf die Gabel und wandte sich ab. Höchstwahrscheinlich hatte sich nur jemand verwählt. Aber wieso fragte der Anrufer dann so konkret nach ihrer Mutter …?

Ein abwesender Blick auf die Uhrzeit verriet ihr, dass sie noch 11 Minuten bis zur Ankunft des Taxis zu überbrücken hatte.

Wieder klingelte es. Misstrauisch warf Rebekkah einen Blick auf das Telefon. Erlaubte sich jemand einen ausgesprochen blöden Scherz? Wieder hob sie ab.

„Sie sprechen mit Rebekkah Redthorne.“

„Hallo, wir haben gerade eben schon miteinander telefoniert …“

Sofort hakte sie ein. „Richtig, mit wem habe ich denn das Vergnügen?“

Fast konnte sie die Zurückhaltung des Anrufers durch die Leitung greifen.

„Wird Ihre Mutter demnächst selbst ans Telefon kommen können?“

Nun war es sie, die zögerte. Wenn sie einem Fremden verriet, dass ihre Eltern auf einer Kreuzfahrt waren, könnte sie dann nicht direkt die Tür offen stehen lassen und Einbrechern eine persönliche Einladungskarte schicken?

„Das lässt sich nicht so einfach beantworten“, gab sie etwas lahm wieder, woraufhin der Anrufer einige saftige Flüche ausstieß, die sogar sie leicht aus der Fassung brachten.

„Haben Sie die Möglichkeit, sie umgehend zu erreichen?“, fragte die Stimme beherrscht, aber deutlich aufgewühlt.

„Sicher“, antwortete Rebekkah. „Ich rufe sie gerne auf dem Handy an. Von wem darf ich denn grüßen und hätten Sie denn endlich einmal ein Stichwort für mich, worum es geht?“ Auch ihr Ton war nun deutlich strenger geworden.

„Richten Sie ihr aus … sagen Sie ihr einfach, dass Sarah verschwunden ist.“

Mit einem lauten Klacken beendete der Mann das Gespräch und sie war wieder mit dem Getute allein. Höchst irritiert legte sie auf. Warte … was? Sarah war verschwunden? Ihre Tante Sarah? Sofort ratterten ihre Gedanken los. Damit jemand verschwunden sein konnte, musste man seinen vorherigen Aufenthaltsort kennen. Wenn die Nachricht für ihre Mutter war, hatte sie dann die ganze Zeit … Kontakt mit Sarah gehabt?

Hupen riss sie aus ihren Gedanken. Richtig. Taxi-Time. Immer noch verwirrt, aber mindestens genauso hektisch schlüpfte sie in ihren Parka, schnappte sich die Tasche und verließ das Haus. Nachdenklich verschloss sie die Tür drei Mal, rüttelte noch einmal prüfend an der Klinke und stieg dann hinten ins Auto ein. Sobald sie losfuhren, hatte sie auch schon das Smartphone in der Hand und wählte die Nummer ihrer Eltern, die sich auf bizarre, aber sympathische Art ein Handy teilten. Da niemand abhob, bat sie auf der Mailbox um einen dringenden Rückruf. Nicht, dass einer von beiden normalerweise die Sprachbox abhörte, aber einen Versuch war es wert. Rebekkah beschloss, ihren jüngeren Bruder nicht anzurufen. Evan wusste unter Garantie noch weniger als sie, denn als das jüngste Kind er hatte sicherlich nur typische Kindheits-Erinnerungen an Sarah, wie sie eigentlich auch. Wer war der Anrufer? Warum wollte er ausschließlich mit ihrer Mutter sprechen, aber nicht ihrem Vater? Wieso wusste er von Sarah und dachte, dass sie unbedingt darüber Bescheid wissen musste, dass Sarah angeblich verschwunden war? Und wo war sie all die Jahre gewesen? Auch ein zweiter Anruf ging ins Leere. Sie bezahlte den Fahrer leicht frustriert und verabschiedete sich recht wortkarg.

In ihrer Wohnung angekommen sah sie sofort, dass der Anrufbeantworter ihres Festnetztelefons leuchtete. Eine Terminbestätigung ihres Friseurs und tatsächlich ein Anruf ihrer Eltern. Das Wasser sei blau, der Strand wunderbar, das Schiff riesig und die Essensportionen auch. Na prima. Ihre Tasche stellte sie auf einen Stuhl in der Küche, den Parka hängte sie an die Garderobe. Der nächste Griff galt dem Kühlschrank, wo eine angebrochene Flasche Grauburgunder lautstark nach ihr schrie. Gewissermaßen zumindest. Doch heute wollte der Wein nicht so recht schmecken und so stellte sie das Glas auf den Küchentisch, holte erneut ihr Handy hervor und tippte eine Nachricht in die Familiengruppe.

Hey Mom & Dad, könnt ihr mich zurückrufen?

Einige Sekunden später fügte sie hinzu: Es ist dringend, glaube ich zumindest. Übrigens: Tolle Bilder vom Strand, genießt die Sonne für mich mit!

Beide Haken erschienen und umgehend auch eine Antwort von Evan.

Alles klar mit dem Haus?

Alles prima, tippte Rebekkah mit beiden Daumen. Sie haben einen wichtigen Anruf in Abwesenheit.

Top, dann bin ich beruhigt. Mach dir einen schönen Feierabend!

Klaro, danke, du auch.

Für eine Weile starrte sie auf den Bildschirm des Smartphones, als könne sie eine Antwort ihrer Mutter erzwingen. Als nichts geschah, seufzte sie kurz auf und legte es dann widerstrebend beiseite. Mit einem Blick auf das halbleere Weinglas ging sie zurück zum Kühlschrank. Dank der Pflanzen-gieß-Aktion hatte sie kaum mehr Zeit zum Kochen. Resigniert griff sie nach der quadratischen, weißen Pappschachtel, in der noch ein halber Mega-Burger mit Beef, Ziegenkäse und Avocado auf sie wartete. Er war von vorgestern und roch okay, trotzdem machte Rebekkah sich nicht die Mühe, extra einen Teller aus dem Schrank zu holen.

Sie setzte sich auf ihre Couch und schaltete Netflix ein. Lieber eine Serie ihrer Wahl als das trübe Fernseh-Programm, das nur die ewig gleichen Krimis brachte. Oder noch schlimmer: Big Brother. Stattdessen begann das Intro einer Fantasy-Serie und entführte sie in eine Welt aus Wassernymphen. Sie musste eingenickt sein, denn das Handy in der Küche riss sie unsanft aus dem Schlaf.

„Hey Dad!“, gähnte sie.

„Wie geht’s dir Kleines, alles okay bei dir? Deine Nachrichten klingen gestresst.“

„Im Gegensatz zu euch bin ich ja auch nicht im Urlaub und meilenweit von allem entfernt“, gab sie verschlafen zurück.
„Da hast du wohl recht, aber nun erzähl erst einmal, was das Problem ist. Wenn du gerade Zeit hast, du klingst müde.“

„Passt schon, Dad, war einfach nur ein langer Tag. Pass auf: Vorhin war ich noch einmal im Haus, Pflanzen gießen und so weiter. Dann hat das Telefon geklingelt“, sie unterbrach sich selbst. „Das alte Telefon meine ich, was schon seltsam genug ist. Ich dachte nicht, dass es noch funktionieren würde. Wer angerufen hat, weiß ich leider nicht, aber der Mann wollte unbedingt Mom sprechen.“

Sie hätte schwören können, dass die Stille wie Blei zwischen ihnen lastete.

„Dad?“

„Ja Kleines, ich bin hier“, antwortete er zögerlich. „Hat er dir sonst noch was erzählt?“

„Ich soll euch, also eigentlich ihr ausrichten, dass Sarah verschwunden sei.“

Sie hörte, wie ihr Vater tief einatmete.

„Bist du dir sicher?“

Sie nickte, bevor sie merkte, dass er die Geste ja nicht sehen konnte.

„Ja, bin ich. Dad, meint er wirklich Tante Sarah?“

„Ich wüsste nicht, wen sonst“, erwiderte ihr Vater. Dann schwieg er wieder, als müsse er die Neuigkeit verdauen.

„Und jetzt? Sagst du Mom Bescheid? Weißt du etwa, wer das gewesen sein könnte? Soll ich die Polizei rufen?“, bedrängte sie ihn.

„Keine Ahnung. Ja. Nein und nein, auf keinen Fall“, bekam sie zur Antwort. Allmählich wurde sie ungeduldig.

„Dad, bitte. Was ist hier los?“

„Das weiß ich nicht, aber vielleicht kann deine Mutter es mir oder besser gesagt uns erklären. Sie müsste gleich in die Kabine kommen, wir rufen dich danach noch einmal an“, erklärte er und legte ohne weiteren Abschied auf. Sprachlos starrte Rebekkah auf den Screen. Es ging also wirklich um Tante Sarah und ihre Mutter oder ihre Eltern hatten über all die Jahre wesentlich mehr über sie gewusst, als sie zugegeben hatten. Was zur Hölle war hier los?!

Für die Serie hatte sie nun wirklich keinen Nerv mehr, also schaltete sie den TV aus. Gerade hatte sie den letzten Bissen ihres nicht mehr so frischen Burgers in den Mund gestopft und war dabei, sich die Finger abzulecken, als erneut die Nummer ihrer Eltern auf dem Display erschien.

Umgehend verschluckte sie sich, hustete und schob den grünen Button auf dem Display nach rechts. „Dad?“, fragte sie, als sie ihre Stimme wieder im Griff hatte.

„Nicht ganz“, erklang die Stimme ihrer Mutter. Rebekkah hustete erneut und spülte die Reste des Burgers mit einem großen Schluck Wein hinunter.

„Oh, hi Mom. Hat Dad dir schon alles erzählt?“

„Ja hat er. Rebekkah, pass jetzt bitte genau auf.“

Etwas Bedeutsames schwang in der Stimme ihrer Mutter mit. Hellhörig geworden und aufmerksam setzte sie sich aufrecht hin.

„Ich höre.“

„Deine Tante Sarah wohnt außerhalb von Dublin. Du glaubst wahrscheinlich, wir hätten uns im Streit getrennt. Das ist so nicht ganz wahr, aber hatten trotzdem die letzten Jahre kaum Kontakt. So war es sicherer für dich und Evan.“

Wie bitte? Sicherer? Schon setzte sie an, um ihrer Mutter Millionen von Fragen zu stellen.

„Nein Kleines, lass mich bitte kurz fertig reden. Dass sie verschwunden ist, ist natürlich kein gutes Zeichen. Dein Vater und ich sitzen auf dem Schiff fest und können hier nichts ausrichten. Ich schicke dir gleich die Adresse, wo Sarah wohnt. Du musst dort morgen hinfahren und nach dem Rechten sehen. Aber sei bitte vorsichtig: Wenn du sie nicht findest oder du etwas Seltsames siehst, dann verlass das Haus sofort und schau, dass du wegkommst. Hast du mich verstanden?“

Rebekkah stand der Mund offen. Ihre Mutter hatte den Verstand verloren. Oder sie. Eine von beiden auf jeden Fall.

„Magst du mir bitte erklären, was hier wirklich los ist?“, verlangte sie zu erfahren.

„Noch etwas Schatz: Nimm dir dafür morgen frei, kannst du das? Dann kannst du gleich morgens hinfahren.“

Ihre Mutter ignorierte eiskalt ihre Frage. Was zum Henker war hier los?

„Ich … Ja, sicher“, stammelte Rebekkah.

„Super. Ruf uns bitte sofort an, wenn du morgen in Dunshaughlin bist. Alles klar soweit?“

„Sicher“, wiederholte sie, obwohl sie am liebsten ein lautes NEIN in das Phone gerufen hätte. So gut wie nichts war hier klar.

„Danke Schatz. Bis morgen. Und pass auf dich auf!“

Zum vierten Mal an diesem Abend wurde am anderen Ende der Verbindung einfach aufgelegt. Irgendjemand hier drehte am Rad und das gewaltig.

Hast du irgendwann mal was von Sarah gehört?, schrieb sie schnell ihrem Bruder.

Nö, wieso? Müsste sie nicht langsam mal das Zeitliche gesegnet haben?

Du Charmeur. Sie ist doch in etwa so alt wie unsere Eltern.

Ups. So war das nicht gemeint

Kein Stress kleiner Bruder. War nur eine Frage.

Bist du immer noch sentimental? Weihnachten war ja nicht so dein Event.

Rebekkah zog die Nase kraus. Da hatte er Recht.

Vielleicht. Ist auch egal. Weihnachten ist erst wieder in ein paar Monaten.

;)

Na Wahnsinn. Ihre Tante Sarah lebte und das nicht einmal weit entfernt von der restlichen Familie. All die Jahre sollte sie in ihrer Nähe gewesen sein und ach ja, es gab keinen Streit? Aber was dann? Wieso wurde sie quasi an den Rand Dublins verbannt und inwiefern machte es das Leben sicherer für sie und Evan? Immer mehr Fragen türmten sich auf und Rebekkahs Laune verschlechterte sich auch. Sie hasste verlogene Geheimnistuerei und theatralisches Drama.

Der Screen des Handys erhellte sich. Ihre Mutter, die wie vereinbart eine Adresse geschickt hatte. In Dunshaughlin, westlich von Dublin. Widerstrebend gab sie sie in Google Maps ein. Weniger als eine Stunde mit dem Auto entfernt. Ihr wurde flau im Magen. Es fühlte sich seltsam an. Als würde sich ihre Welt gerade aus den Angeln heben. Und doch hatte ihre Mutter sie eindeutig darum gebeten, morgen dort hin zu fahren und nach einer potenziell vermissten Tante zu fahnden, als wäre es nichts Besonderes.

„Ich weiß ja, dass meine Familie manchmal seltsam ist, aber so …“, murmelte Rebekkah abwesend vor sich hin. Mit fahrigen Bewegungen wischte sie sich durch die App-Auswahl ihres Phones und rief das Mailprogramm ihrer Arbeit auf. Eine einfache Krankmeldung per Mail an ihre Chefin musste reichen. Ein Arzt würde sie nur mehr als drei Tage krankschreiben, fügte sie dem Text hinzu, daher bleibe sie wegen einer herannahenden Erkältung vorbeugend einen Arbeitstag lang zuhause und versuche sich im Home-Office.

Anschließend googelte sie den Namen ihrer Tante. Die Suchmaschine schlug ihr vor, einen anderen Namen zu nehmen, weil es sonst keine relevanten Suchtreffer gäbe. Also suchte sie nach Redthorne und Dublin, doch abgesehen von einer historischen Seite über Dublin im Zeitalter der Hexenverfolgung und einem unvollständigen Familienstammbaum fand sie nichts. Der selbst erstellte aus ihrer Grundschulzeit war ausführlicher, also wählte sie den ersten Suchtreffer.

Ach was. Überraschung zeichnete sich in ihrem Gesicht ab. Auf der gesamten Insel hatte es ausschließlich im Jahr 1711 ein einziges Hexengericht gegeben. Acht Frauen wurden angeklagt, nicht eine zum Tode verurteilt. Klage hatte eine gewisse Mary Dunbar erhoben, die, so verstand Rebekkah es zumindest, wohl von Zeit zu Zeit so etwas wie epileptische Anfälle hatte und behauptete, verhext worden zu sein. Selbst der redegewandte Jonathan Swift hatte ihr angeblich geglaubt und die acht Frauen, die allesamt der unteren Gesellschaftsschicht entstammten, sozial verurteilt. Die armen Frauen hatten wahrscheinlich Narben von Krankheiten oder ähnliches, sodass ihr äußeres Erscheinungsbild eher abgehärmt gewesen sein dürfte. Im Gegensatz zu ihrer 18-jährigen Anklägerin, deren beste Freundin eine Mary Redthorne gewesen sein sollte. Rebekkah kniff die Lippen zusammen. Das war dann wohl die eher weniger rühmliche Seite ihre Familiengeschichte. Vom viel brutaleren Jagdfieber des Kontinents schien die Insel allerdings verschont geblieben zu sein. Was vielleicht nicht so ganz verwunderlich war, auch heute glaubten noch genug Leute noch an das sogenannte Alte Volk, das vor der Ausbreitung des Christentums die Insel besiedelt haben sollte. Das Hügelvolk.

Enttäuscht legte sie das Smartphone beiseite. Heute würde sie nichts mehr ausrichten. Oder sollte sie ihren Eltern noch eine Nachricht schreiben? Nein, die würden sie wahrscheinlich nur ignorieren, genauso wie ihre Fragen vorhin. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, am nächsten Tag gar nicht erst nach Dunshaughlin zu fahren. Nur leider würde ihre Mutter sie wahrscheinlich mit Anrufen terrorisieren, bis sie ihren Willen bekam. Rebekkah stöhnte lautlos ins Kissen und verschmierte sich dabei auch noch ihre Brille.

Sie stand auf, ging ins Bad und stellte sich unter die brütend heiße Dusche. Anschließend rubbelte sie sich die Haut trocken, bis sie rötlich glänzte und betrachtete sich im Spiegel. Ein Friseurbesuch war definitiv nötig, ihre Haare reichten schon wieder weit über die Schultern. Sie kämmte es sanft mit der Bambusbürste durch, zwirbelte es zu einem Knoten zusammen und versenkte einen Haargummi darin. Anschließend putzte sie ihre Brille, sie hasste verschmierte Gläser. Im Schlafzimmer warf sie sich ein altes T-Shirt mit einem Filmmotiv über und kramte im Bett nach der lila karierten Schlafanzughose, die sie zuletzt im Sale gefunden hatte. Das Buch auf dem Nachttisch ignorierte sie, klatschte das Licht aus und zog sich die Decke über beide Ohren. Was für ein seltsamer Abend.

… zeitgleich an einem anderen Ort

Sarah hatte beschlossen, dass ‚blind, verletzt und gefesselt‘ kein Zustand war, in dem man sich von einer Art Kutsche stürzen und den Fluchtversuch wagen sollte. Stattdessen konzentrierte sie sich auf ihre Atmung, um ruhig zu bleiben und spitzte die Ohren. Wer sie entführt hatte, würde ihr seine Absichten garantiert noch kundtun und vielleicht jetzt schon unbeabsichtigt etwas darüber verraten. Ihre Energie konnte sie immer noch nur oberflächlich bündeln und so schickte sie ihre Sinne über ihren Körper, um die Verletzungen besser zu erfassen. Das Schlimmste war tatsächlich der Kopf sowie eine Prellung am rechten Oberarm, auf den sie anscheinend nach dem Schlag gefallen war. Zusammen mit der Kopfwunde fühlte ihre Aura sich merkwürdig langsam an, als würde die Magie nur schwerfällig durch ihren Körper fließen. Vielleicht war die Schwellung unter der Verletzung stärker als gedacht. Sie würde sich vorsehen müssen. Ein direkter Kampf gegen ihre Gegnerin kam in diesem Zustand erst einmal nicht in Frage.

Als der Wagen und das vermaledeite Rütteln endlich stoppten, wappnete sie sich innerlich und erwartete, von groben Händen aus dem Wagen gezerrt zu werden. Stattdessen wackelte das Gefährt, als jemand mit Schwung auf die Ladefläche sprang, dann zupfte jemand an dem Stoff über ihrem Gesicht und befreite es davon. Ihr Blick fiel auf einen verkratzten Eisenhelm, weil ihr Entführer seinen Kopf gesenkt hielt, während er die Knoten ihrer Fesseln prüfte. Dann blickte er auf und Sarah sah das Gesicht eines jungen Soldaten, aber die Augen eines jahrtausendealten Kriegers.

„Wir werden nun in die alte Welt übersetzen“, erklärte er in stockenden englischen Worten. Sie dagegen nickte nur stumm. Sollte er ihre Haut berühren, könnte sie ihn zwar mit ihrer Magie wie mit einem Elektroschocker flachlegen, doch hinter ihm sammelten sich bereits weitere Soldaten – und mit denen konnte sie es in ihrem aktuellen Zustand nicht aufnehmen.

Der Soldat bewegte sich zu ihrer Seite, legte einen Arm um sie und hievte Sarah einfach hoch, bis sie stehen konnte. Wäre sie eine junge Frau, wäre das vielleicht sogar halbwegs beeindruckend gewesen, doch unter ihrem grauhaarigen Pony rollte sie nur mit den Augen. Am Rand der Ladefläche angekommen, ergriffen zwei weitere Männer sie an der Hüfte und hoben sie sachte auf die Erde hinab. Sarah drehte sich mit langsamen Bewegungen umher und musterte ihre Umgebung. Sie befanden sich in einem immergrünen Wäldchen, genauer gesagt auf einer Lichtung, auf der wiederum eine beeindruckende Eiche stand. Vor ihr standen Soldaten, hinter ihr die Kutsche, die, wie sie nun sah, eine sehr alte Form hatte und für maximal zwei Personen ausgelegt war. Mehr ein Streitwagen als eine Kutsche, korrigierte sie sich in Gedanken.

Dann wurde ihr erst mit deutlicher Verspätung klar, welche „alte Welt“ der Mann gemeint hatte. Ihre Mundwinkel verhärteten sich. Dann stimmte ihr Anfangsverdacht also, was die verschwundenen magischen Wesen aus ihrer eigenen Welt betraf. Jemand, und sie wusste jetzt mit Sicherheit, wer, entführte diese Ahnwesen aus der irdischen Welt. Ohne die magischen Ahnwesen aber würde die Magie aus der realen Welt verschwinden, eine absolute Katastrophe für das Gleichgewicht der Dinge.

Was sie nicht kannte, war der Grund. Sarah ballte ihre Fäuste und machte einen Schritt nach vorne. Wie passend, dass die Soldaten sie nun genau zu der Frau bringen würden, die sie seit Wochen gesucht hatte. Kleine Möchtegerngöttin.

Kapitel 3: Redthorne Manor

Missmutig brummte Rebekkah, als ihr Wecker seine Musik abspielte. Natürlich hatte sie ihn vergessen. Und natürlich stand er so nah am Rand des Bettes, dass er eigentlich auch direkt neben ihrem Ohr hätte losplärren können. Ihren Protest vor sich hin grummelnd verkroch sich noch etwas tiefer in der Decke und den drei Kissen. Bis ein siedend heißer Schreck sie durchfuhr. Sie hatte es nicht geträumt, der gestrige Abend hatte wirklich stattgefunden. Sofort saß sie aufrecht im Bett und hielt dann doch wieder inne. Wirklich? Würde sie rausfahren nach Dunshaughlin und ein wildfremdes Haus betreten? Sie klatschte sich mit der offenen Hand an die Stirn. Wie sollte sie eigentlich ins Haus kommen? Der ganze verdammte Trip war mit Sicherheit von vorn herein zum Scheitern verdammt. Entnervt ließ sie sich rückwärts wieder ins Bett fallen.

Das Problem war, dass der zweite Wecker loslegte – der, der außer Reichweite des Bettes stand. Und nun spielte er modernen Hiphop. Zeit fürs Bad, wenn sie sich eh schon bewegen musste. Eine Runde Morgentoilette später fletschte sie im Spiegel kurz die Zähne, betrat den Flur, griff sich Tasche und Parka und verließ ihre Wohnung im dritten Stock.

Beides pfefferte sie erst auf den Beifahrersitz ihres kleinen Dreitürers, bevor sie sich noch zu Fuß auf den Weg zu Kelly’s Bakery an der nächsten Straßenecke machte. Immer noch so missmutig wie beim Aufstehen sprang sie über eine große Pfütze, die der Regen über Nacht übriggelassen hatte. Die Backstube war warm und behaglich, nicht so klinisch wie die Selbstbedienungsläden. Die tolle Atmosphäre der Bäckerei konnte man schon spüren, wenn man vor dem Laden stand und die Angebote überflog, die auf zwei großen, nebeneinander hängenden Schiefertafeln standen. Manchmal entdeckte man auch ein kleines Kunstwerk, das jemand in eine Ecke gezeichnet hatte.

„Guten Morgen Kelly“, begrüßte Rebekkah die Inhaberin.

„Hey ‘bekka“, rief diese durch den Laden und konzentrierte sich dann wieder auf den Kunden, der gerade eine ganze Horde Scones bestellt hatte. Als sie an der Reihe war, lehnte sie sich auf den Tresen und wartete, denn Kelly wusste genau, was sie wollte.

„Na“, fragte sie, während sie die drei Scones zusammen mit einem kleinen Gläschen Marmelade und einem Holzlöffelchen für Rebekkah einpackte, „besondere Pläne heute?“

„Das könnte man so sagen“, bestätigte sie. „Hast du keine Clotted Cream mehr?”

„Nein, leider nicht, nur Beerenmarmelade. Und bei dir, was Wildes auf Arbeit?“, grinste Kelly spitzbübisch über den Tresen.

„Wenn es nur das wäre, dann wüsste ich wenigstens, worauf ich mich vorbereiten kann“, haderte Rebekkah mit ihrer Tagesplanung. „Ich fahr kurz raus nach Dunshaughlin, da wohnt anscheinend meine Tante, nur dass sie möglicherweise verschwunden ist.“

Wow. Wenn man es laut aussprach, klang es wie der Plot für einen schlechten Krimi.

Kelly zog die Augenbrauen hoch. „Nicht dein Ernst.“

„Oh doch“, versicherte Rebekkah der Bäckerin trocken. „Das klingt nach einem schlechten Scherz, ich weiß.“

„Du hast noch nie von einer Tante erzählt.“

„Jepp. Ich dachte auch nicht, dass es sie noch gibt. Sozusagen. Ich habe sie zuletzt gesehen, da war ich vielleicht vier oder fünf Jahre alt.“

„Und woher sollst du wissen, dass sie verschwunden ist und nicht einfach irgendwo Urlaub macht?“

„Das, liebste Kelly, ist eine exzellente Frage. Eine von vielen, wenn ich ehrlich bin. Aber meine Mom sagt, ich soll hinfahren, also werde ich das für sie tun“, erklärte Rebekkah und zuckte mit den Schultern.

„Wenigstens ist es ein Tag ohne Arbeit und ich starte mit deinen Scones in den Tag.“

Sie zwinkerte der Bäckerin zu. Die lachte laut auf.

„Irgendwann hängt eine Plakette mit deinem Namen hier drin. Mit ‚Beste Kundin der Welt‘ und einem Bild von dir.“

„Gott bewahre“, wehrte Rebekkah ab, warf Kelly einen Luftkuss zu und trat den Rückweg zum Auto an. Der Verkehr auf der M50 lief schleppend, sodass die Tüte mit den Scones schneller leer war als geplant, Marmeladenfleck auf der Hose inklusive. Bedauernd betrachtete Rebekkah die letzten Krümel auf ihrer Handfläche, bevor sie sie mit einer schnellen Bewegung in ihren Mund warf. Auf der M3 kam sie wesentlich zügiger voran, die Musik auf dem USB-Stick beflügelte ihre Laune und ließ ihre Fingerkuppen im Rhythmus auf dem Lenkrad trommeln.

Schon bald führte das Navi sie direkt durch Dunshaughlin hindurch und aus der Ortschaft hinaus. Kurz vor dem Kreisverkehr bremste sie scharf und bog gerade noch rechtzeitig rechts ab. Der Weg vor ihr war schmal, bei Gegenverkehr würde einer von beiden rückwärts zur nächsten Straße ausweichen müssen. Rebekkah verzichtete auf ein hohes Tempo, stattdessen versuchte sie so viel wie möglich von der Umgebung zu sehen. Ihre Augen wurden groß, als sie an einem See vorbeikam, an dessen Ufer ein kleines Herrenhaus zu stehen schien, alt und verlassen. Verflixt und sie hatte nur ihr Smartphone dabei, das nicht gerade tolle Bilder machte. Im Sommer konnte sie vielleicht noch einmal herfahren, überlegte sie und hätte dabei fast das Schild übersehen. Ein verschnörkeltes R kuschelte sich eng an ein ebenso aufwändig gezeichnetes M. Rebekkah liebte derart detaillierte Darstellungen und beschloss, auf dem Rückweg dort zu halten und ein Foto mit dem Herrenhaus am Ufer im Hintergrund zu machen, Handyqualität hin oder her.

„In drei Minuten sind Sie am Ziel“, flötete das Navi plötzlich und Rebekkahs Schultern verkrampften sich vor Anspannung, als der seltsame Grund ihres Besuchs sich in den Vordergrund ihrer Gedankenwelt drängelte. Da es nur noch geradeaus ging, schaltete sie das Gerät ab. Dann klappte ihr langsam der Mund auf. Ihr Ziel war kein Cottage, kein Einfamilienhaus. Diese Auffahrt mit zwei steinernen Säulen als Eingang, den sie gerade passierte, führte zunächst durch einen Park und damit garantiert zu einem ähnlichen Haus wie dem ihrer Eltern. Schnell warf sie einen suchenden Blick in ihre Umgebung und nahm dabei den Fuß noch weiter vom Gas, doch nirgends war ein Hinweis auf ein Altersheim oder eine ähnliche Einrichtung zu finden. Stattdessen hing an jeder Säule eine enorme sechseckige Lampe, die im Winter vermutlich Gold wert waren, wenn man sein Auto in der Dunkelheit nicht zu Schrott fahren wollte. Wäre es nicht das einzige Haus weit und breit, wäre sie sich spätestens jetzt sicher, dass ihre Mutter ihr die falsche Adresse geschickt hatte. Zögernd bugsierte sie den Wagen durch die Säulen und rollte im Schritttempo weiter. Bald wichen die Bäume und Büsche samt Wildwuchs zur Seite und erlaubten einen ungehinderten Blick auf das Haus. Nicht so prächtig, wie es das Herrenhaus am See einst gewesen sein musste, aber durchaus imposant und vor allem intakt. Gebaut aus grauem Stein, gebogene, fast gotisch anmutende Fenster. Nicht so reich an Details wie das Haus ihrer Eltern, aber standhaft, verheißungsvoll.

„Oh bitte bitte, lass es einen großen Kamin und eine Bibliothek haben“, flüsterte Rebekkah unbewusst vor sich hin.

Sie parkte am Rand der Auffahrt, um niemandem im Weg zu stehen, dann überwand sie die restliche Distanz zum Eingang zu Fuß. Sie stand nun vor der Mitte des Hauptgebäudes, das rechts und links von quadratischen Türmen zusammengehalten wurde. Vielleicht, um nicht zu wuchtig zu wirken, waren die Dächer wie Glocken geschwungen und schlossen mit filigranen Eisendekoration ab. Nach links schien das Haus in einen Wintergarten überzugehen, der wiederrum an einen überdachten Säulengang anschloss. Fast hätte sie zwischen ihren Zähnen hindurchgepfiffen. Dann fiel ihr Blick auf die gleiche verschnörkelte Darstellung der gusseisernen Buchstaben R und M, die an der Tür hingen. ‚Redthorne Manor‘ stand darunter und Rebekkah war baff. Das klang ja, als wäre das Haus der eigentliche Familiensitz der Redthornes. Davon hatten ihre Eltern ihr noch nie etwas erzählt.

Sie umging eine große Pfütze, die sich in einer Senke vor der Treppe gebildet hatte. Kaum hob sie die Hand und wollte klopfen, da schüttelte sie den Kopf, ließ die Hand wieder sinken und ging einen Schritt zurück. Abgesehen davon, dass sie emotional so gar nicht auf ein Wiedersehen mit ihrer Tante vorbereitet war, würde man das Klopfen durch eine so dicke Tür innen garantiert nicht hören. Einen schweren Türklopfer fand sie nicht, dafür unter etwas Efeu die Spitze eines weiteren Schildes. Siehe da, in der Mitte ein Knopf. Entschlossen drückte sie ihren Finger für drei Sekunden darauf. Was anderes blieb ihr sowieso nicht übrig.

Nichts rührte sich.

Sie klingelte erneut.

Stille antwortete ihr.

Sie atmete aus und spürte Erleichterung, dass es scheinbar so einfach war. Doch das Gefühl war mit Bedauern durchsetzt und gleichzeitig ein wenig ... Trauer? Plus Neugier, denn auch wenn sie vor verschlossener Tür stand, hatte sie etwas über ihre Familie und damit sich herausgefunden. Hier gab es noch mehr zu erfahren. Die Neugier war es auch, die sie vom Haupteingang zum Wintergarten trieb, oder zumindest zu dem Gebäudeteil, den sie dafür hielt. Seine Fenster liefen nicht spitz zu, sondern rund, als hätte ein Bogengang früher hier begonnen und das Glas und die Rahmen wären erst später eingesetzt worden. Sie drehte sich auf den Absätzen herum. Der kreisrunde Brunnen inmitten der Einfahrt stand still, die Blätter aus dem vergangenen Herbst lagen immer noch im Becken, das von einer simplen Figur gekrönt wurde. Die ein Schwert hielt? Sie rollte mit den Augen. Vermutlich irgendeine mythische Figur, die männliche Stärke unterstreichen sollte. Sie kramte ihr Smartphone hervor und rief ihre Eltern an.

„Rebekkah? Was gibt es Neues?“

„Guten Morgen Mom, ich habe super entspannt geschlafen und bin hier gut angekommen, danke der Nachfrage.“

Sie konnte förmlich spüren, wie ihre Mutter genau wie sie selbst gerade die Augen verdrehte, aber das war ihr gerade komplett egal.

„Es tut mir leid, Rebekkah und danke, dass du zu Redthorne Manor gefahren bist.“

„Apropos Redthorne Manor“, unterbrach sie ihre Mutter, „warum hast du nie davon etwas gesagt?“

„Das ist Teil einer größeren Geschichte, die ich dir und deinem Bruder gerne erzähle, wenn wir wieder da sind. Vorher sag mir bitte, ob du Sarah gefunden hast.“

„Eigentlich nicht. Das Haus ist in gutem Zustand, aber es öffnet niemand die Tür.“

„Hast du es selbst probiert?“

„Habe ich was?“

„Selbst versucht, die Tür zu öffnen.“

„Nein Mom, das Haus gehört nicht uns, also bin ich nicht einfach eingebrochen.“

„Du bist Familie, das wäre doch kein Einbruch“, empörte sich ihre Mutter. Rebekkah begann, mit ihrer freien Hand den Bereich zwischen ihren Augenbrauen zu kneten.

„Mom, weder bin ich eingeladen, noch habe ich Tante Sarah in den vergangenen 20 Jahren auch nur ein einziges Mal gesehen. Es wäre einbrechen und wenn es das gesetzlich nicht wäre, dann auf jeden Fall emotional. Ich kann nicht einfach in ihr Haus eindringen, basta.“

„Rebekkah, ich bitte dich. Das hier ist sehr wichtig, nicht nur für unsere Familie.“

„Richtig Mom, der Anruf gestern von einem unbekannten Mann – es sei denn natürlich, du kennst ihn und verrätst wieder einmal nichts. So wie du nichts von all dem hier erzählt hast.“

„Kind, ich habe dir doch gesagt, das erkläre ich dir später ausführlich.“

Rebekkah seufzte auf, zum gefühlt tausendsten Mal in diesen Tagen.

„Und für Sarah war das vielleicht zu spät …“, murmelte sie, doch ihre Mutter hatte sie sehr gut verstanden. Wie gut das manchmal ging, wenn sie nur wollte.

„Rebekkah Redthorne. Das ist jetzt genug. Vielen Dank für deine Bemühungen. Fahr bitte wieder heim, ich werde Jules bitten, sich des Vorfalls anzunehmen. Wir sprechen uns Samstag. Mittagessen, 13 Uhr. Komm pünktlich.“

Ihr Mund stand offen. Wie alt war sie, 4 oder 5? So jedenfalls hatte ihre Mutter damals mit ihr gesprochen, inklusive des wehe-du-sitzt-nicht-pünktlich-am-Tisch-Kommentars.

„Und was soll Jules machen? Anlauf nehmen und sich mit heldenhaftem Schwung gegen die Tür werfen? Das macht es nicht weniger zu einem Einbruch“, zickte sie zurück.

„Wie oft soll ich es noch sagen – wir sind eine Familie, es ist kein Einbruch.“ Ihre Mutter betonte jedes Wort und verriet damit, wie wütend sie gerade war.

„Fein, dann kommandier als nächstes eine Bekannte in diese Einöde und bring damit eine Außenseiterin ins Spiel“, erwiderte Rebekkah und legte auf. Fast wünschte sie sich in eine Zeit zurück, in der man den Hörer noch richtig auf die Gabel donnern konnte, anstatt wütend und wenig kathartisch auf ein rotes Telefonhörer-Icon tippen zu müssen. Fassungslos ließ sie die Hand mit dem Phone sinken und starrte auf die Fenster des Wintergartens.

Es war ein Huschen, fast ein Hauch einer Bewegung, die sie aus ihrer kurzen Starre riss. Sie kniff die Augen zusammen und beugte sich vor. Trotzdem spiegelte sich das Tageslicht zu stark in dem Glas und sie erkannte fast nichts. Nein, das ging sie alles nichts an. Sie würde nicht wie ein Perverser vor den Fenstern herumschleichen und die Bewohner beobachten.

Dann kam ihr ein ganz anderer Gedanke. Was, wenn Tante Sarah verletzt war und irgendwo in diesem großen Haus lag, hilflos? Aber dann hätte doch niemand angerufen und etwas von einer vermissten Person erzählt. Jemand, der davon wusste und jemanden zu Hilfe rufen würde, hätte sich doch eher direkt um Sarah gekümmert.

Nope, es war wirklich Zeit zu gehen. Sollte ihre Mutter sich doch aus der Ferne darum kümmern.

Entschlossen machte sie sich auf den Weg zum Haupteingang, um dort ein letztes Mal zu klingeln. Bevor sie wieder den Efeu zur Seite schieben konnte, um den Klingelknopf zu betätigen, knarrte die Tür leicht und Rebekkah zuckte zusammen.

„Hallo?“, fragte sie etwas zu zaghaft und schon ärgerte sie sich über sich selbst. Sie war eine erwachsene Frau. Es gab keinen Grund, wie ein verschrecktes Reh aufzutreten.

„Hallo, ist hier jemand?“, fragte sie erneut, diesmal mit fester Stimme. Wieder knarzte die Tür, das einzige Geräusch wirkte wie eine Antwort in dieser so stillen Umgebung. Nein, eine Haustür antwortete nicht, schalt sie sich erneut. Dennoch kribbelte es in ihrer Magengegend und die Neugier regte erneut ihr kunterbuntes Köpfchen. Mit einer langsamen Bewegung legte sie ihre Hand flach auf das dunkle, harte Holz der massiven Eingangstür. Ein leiseres Knarzen, fast, als würde eine hungrige Katze bei Streicheleinheiten das Schnurren anfangen. Lächerlich. Rebekkah atmete tief ein, nahm die Hand von der Tür, drehte sich um und schritt die Stufen hinab.

Das nächste Geräusch jagte ihr einen Schauer den Rücken rauf und runter: schweres Holz, das allmählich über rauen Stein schrammte, dann wieder Knarzen, als eine Bewegung stoppte. Auch Rebekkah erstarrte. Dann wandte sie sich halb um und fragte: „Hallo?“

Stille.

„Tante Sarah?“

Misstrauisch drehte sie sich um und sah, dass die Tür nun sperrangelweit offenstand. Also war doch jemand da.

„Hey, wer auch immer hier ist, komm doch raus und stell dich vor“, sagte sie laut in Richtung der Tür. Stille.

„Ich bin übrigens Rebekkah, Rebekkah Redthorne“, fügte sie versuchsweise hinzu und fühlte sich dabei reichlich dumm.

Niemand meldete sich zu Wort oder trat hinter der Tür hervor. Vorsichtshalber nahm sie ihren Schlüsselbund aus der Handtasche und klemmte sich jeweils einen Schlüssel zwischen die Finger, die sie nun zu einer Faust ballte. Wenn sie jemand angreifen wollte, hatte sie wenigstens eine Art Schlagring, mit dem sie sich brutal und effizient verteidigen konnte.

Langsam näherte sie sich dem Treppenabsatz um umging wackelig die Pfütze.

„Hallo?“, fragte sie wieder. „Wer hat gerade die Tür geöffnet?“

Nichts.

Der Kiesel unter ihren Füßen knirschte ein letztes Mal, bevor sie die erste Treppenstufe erreicht hatte und möglichst leichtfüßig und leise hinaufsprang.

„Das ist nicht witzig“, rief sie, nun etwas lauter, die Hand mit den Schlüsseln zwischen den Fingern erhoben. Nun stand sie direkt vor der Tür. Sie atmete tief ein, dann machte sie einen großen Satz und sprang so schnell und so weit wie möglich nach innen. Zu spät fiel ihr ein, dass es nicht ausschließlich ein Mensch sein musste, der auf ihr Eindringen wartete. Sofort scannte sie den Boden ab und erwartete halb, einen Dobermann oder so auf sich zustürzen zu sehen. Als dem nicht so war, wurde sie sich der Situation bewusst. Sie stand breitbeinig und mit leicht angewinkelten Knien mitten in einer Diele, Schlüssel zwischen ihren Fingern. Bereit, loszuschreien, sollte sie jemand überraschen. Sie klappte zumindest schon einmal den Mund zu und zählte innerlich von 30 runter. Langsam nervte sie dieses 'nichts passierte'.

Widerwillig entspannte sie ihre Haltung, stemmte die linke Hand in ihre Seite und rief so laut sie konnte nach der Bewohnerin. Ein klirrendes Scheppern aus den Tiefen des Gebäudes ließ sie zusammenfahren. Mit verkniffenem Zug um den Mund stapfte sie in den rechten Flügel des Gebäudes, wo sie die Küche samt Geschirr vermutete, das scheinbar gerade ein kleines Unglück erlebt hatte. Durch ein Empfangszimmer eilte sie hindurch, ohne der fantastischen Einrichtung Beachtung zu schenken und auch das Esszimmer bekam keinen zweiten Blick ab. Sie wurde gerade verarscht, das war ein Problem und nun würde sie es lösen.

Schwungvoll betrat sie die Küche und erwartete halb, eine grauhaarige Frau im Alter ihrer Mutter vorzufinden. Stattdessen war der gesamte Raum leer. Nein, das stimmte nicht ganz. Auf der Anrichte stand eine alte Teetasse mit einem wirklich fürchterlichen Dekor (Streublümchen!), aus der heißer Dampf aufstieg. Direkt daneben stand ein optisch passender Teller, auf dem eine kleine Pastete und eine akkurat ausgerichtete Dessertgabel lag. Offenbar war gerade noch jemand hier gewesen.

„Was ist hier los?“

Der Klang ihrer eigenen Stimme erschreckte sie. Prima, nicht nur redete sie offenbar mit sich selbst, sondern sie hatte auch mit dem rechten Fuß aufgestampft. Sie fröstelte und für zwei kurze Momente wurde ihr Atem als Wölkchen sichtbar. Klaro, sie hatte auch die Tür nicht verschlossen, bestimmt zog das alte Haus in jeder Ecke wie Hechtsuppe. Nur, dass sie in keiner Ecke stand und alle darauffolgenden Atemzüge nicht mehr sichtbar wurden. Probeweise blies sie ihre Lungen auf und ließ die Luft entweichen. Nichts. Das wurde nun doch etwas unheimlich … Wieder griff sie nach ihrem Handy, um einfach irgendwen anzurufen, sodass jemand es merken würde, würde sie es nicht mehr aus diesem Haus schaffen. Die letzte Nummer war die ihrer Eltern. Während es klingelte, wich Rebekkah bereits einige Schritte zurück. Einen letzten Versuch war es wert, irgendwer musste ja im Haus ihrer Tante sein Unwesen treiben.

„Hey, der Tee wird kalt!“, rief sie.

Sie erwartete keine Reaktion, keine Antwort, keine Bewegung, nichts. Deswegen traf es sie wie ein Blitz, als sowohl die Teetasse als auch der Teller mit einem leichten Schaben über die Steinplatte näher zu ihr rutschten.

Das ergab keinen Sinn. Niemand hatte das Gedeck berührt, sie schon gar nicht. Das konnte nur eine Sinnestäuschung gewesen sein. Andere Möglichkeiten konnte es doch nicht geben. Sie wich weiter zurück und drehte sich um, um das Haus so schnell wie möglich zu verlassen. Ein Schauer überzog ihren ganzen Körper.

„Rebekkah, was gibt’s?“, ertönte die Stimme ihres Vaters, als er endlich ans Telefon ging.

„Dad!“ Was für eine Erleichterung. Wenigstens ein Mensch und wahrscheinlich auch der einzige, der sie durch dieses Chaos leiten konnte.

„Dad, ich brauche deine Hilfe.“

Sie passierte das Esszimmer.

„Was ist los?“, sofort klang seine Stimme alarmiert.

„Ich bin in Tante Sarahs Haus und hier stimmt etwas ganz und gar nicht. Bleib bitte in der Leitung, ich will hier nicht allein sein.“

„Dann geh da sofort raus!“, forderte er sie nachdrücklich auf.

„Ich bin schon auf dem Weg, aber ich …“

Ja, aber was? Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, gab es einen Teil von ihr, der bleiben wollte. Es war total irrational. Irgendjemand in diesem Haus spielte Spielchen mit ihr. Saß vermutlich hinter einem Vorhang und beobachtete sie. Nein. Sie wollte es sich einfach nur nicht eingebildet haben. Die Sache mit der Tasse und dem Tee. Es war eine simple Sache, nur wenige Zentimeter, die sie über die Anrichte zu ihr gerutscht waren. Dennoch konnte es so viel mehr bedeuten, wenn kein Trick im Spiel war. Oder war es eine Art morbide Faszination, die sie ihr eigenes Leben riskieren ließ?

„Rebekkah!“, rief ihre Mutter sie aus ihrem Gedankenchaos.

„Mom?“

„Geh da SOFORT raus“, herrschte sie ihre Tochter an. „Ich hab‘ doch gesagt, wenn du etwas Seltsames siehst und Sarah nicht da ist, sollst du sofort gehen! Also verschwinde und fahr sofort zu Jules in den Teeladen!“

„Jules?“, fragte Rebekkah verdattert und durchquerte das Esszimmer. „Was hast du denn die ganze Zeit mit Jules? Und was soll ich bei ihr im Teeladen? Und wer sind ‚sie‘?“

„Das ist kein Spiel! Geh. Da. Raus!“ Etwas in der Stimme ihrer Mutter überzeugte sie davon, dass diese wirklich an eine Gefahr glaubte – Rebekkah legte einen Zahn zu, raste durch das Wohnzimmer, sprintete zur Tür, sprang ins Sonnenlicht – und landete mitten in der Pfütze. Mit einem weiteren Hechtsprung rettete sie sich aus der patschnassen, echt kalten Misere und betrachtete dann angewidert die vollkommen durchnässten Schuhe, aus denen das Schlammwasser nur so troff. Den Brunnen umrundete sie in leichtem Trab, doch leider so knapp, dass ihr rechtes Bein kurz hängen blieb und sie hörte, wie ihre Hose zerriss.

„Rebekkah?“, hörte sie die Stimme ihrer Mutter aus dem Handy, das während des Laufs in ihrer linken Hand quasi durch die Luft rauschte.

Mit fliegenden Händen öffnete sie die Fahrertür ihres Autos, stieg ein, knallte die Tür zu und verriegelte den Wagen.

Einatmen.

Ausatmen.

Dabei zuschauen, wie sich der Dreck ihrer Schuhe auf dem Boden sammelte.

Sie stützte sich mit den Ellenbogen auf dem Lenkrad auf. Ihr Puls normalisierte sich allmählich, da blickte sie auf und sah, wie sich die Tür wie von Geisterhand bewegte und sanft schloss. Nicht zuknallte, sondern sich ganz normal schloss. Ihr Kopf speicherte das Wissen ab, ignorierte die sich aufdrängenden Gedanken. Dann klemmte sie sich ihr Smartphone zwischen Schulter und Wange. Keine Haltung, die man heutzutage noch lange durchhalten konnte, im Gegensatz zu ihrer Kindheit mit den fast faustdicken Festnetztelefonen. Egal. Sie atmete noch einmal durch.

„Mom?“, fragte sie schließlich mit leiser Stimme.

„Rebekkah, wo bist du, ist alles okay?“

Ihre Mutter klang fast, als wäre sie in Tränen aufgelöst.

„Ich sitze im Auto und fahre jetzt wieder zurück nach Dublin. Warte bitte noch einen kurzen Moment.“

Sie startete den Wagen, schaltete den Lautsprecher an und ließ das Handy auf den Beifahrersitz fallen. Ohne zu zögern wendete sie und fuhr mit deutlich höherer Geschwindigkeit den schmalen Weg zurück als der, mit der sie hergekommen war. Sie wurde allmählich verrückt, anders ließ sich das alles nicht erklären.

Im Haus selbst schien die Luft über dem ersten Treppenabsatz zu schimmern, als die Figur eines Mannes etwas Form annahm. Seine Silhouette hätte wie Nebel wirken können, doch sie hatte ein ganz eigenes Leuchten und veränderte immer wieder ein wenig ihre Form. Er schwebte leicht über dem Boden. Hätte man genau hingesehen, hätte man vermutlich die weißen Handschuhe gesehen, eine Anzugsweste über einem ebenfalls weißen Hemd, zugeknöpft bis oben hin. Dazu eine graue Anzugshose und schwarze, auf Hochglanz polierte Lederschuhe.

„James, was meinen Sie, kann sie uns helfen?“, ertönte eine rauchige Stimme auf Kniehöhe der Erscheinung. Sie nickte stumm.

„Dann haben wir es wohl gerade richtig verbockt“, erklärte der Gnom verbittert, schob sich seine widerspenstigen grauen Haare aus dem Gesicht und blickte empor zu der Stelle, wo James‘ Gesicht hätte sein sollen. Doch der Geist teilte wohl seine Meinung zu der verfahrenen Situation. Wenn James nicht wollte, konnte man ihn gar nicht sehen, manchmal wiederrum nur grob und wenn er gute Laune hatte, war er ein Abbild seines vergangenen Körpers. Jetzt schien er eine Silhouette bleiben zu wollen.

Eine unbedachte Bewegung sorgte dafür, dass die Haare dem Gnom prompt wieder zurück ins Gesicht fielen und ihm zusammen mit seinem fast bis auf den Boden hängen Rauschebart das Aussehen eines kleinen, haarigen Monsters verliehen. Nicht, dass er seinen Bart nicht hätte schneiden lassen können, aber er wollte eben nicht. Er mochte klein sein, selbst für einen Gnom, aber er würde in Würde altern und Traditionen an seine Söhne und Töchter weitergeben, auch wenn es immer weniger von ihnen gab. Was er nicht zu akzeptieren bereit war, war, dass dies weit früher passieren könnte, wenn sie jetzt nichts unternahmen. Alle magischen Wesen waren in Gefahr und sie brauchten dringend eine neue Protektorin oder ihre alte zurück.

James kniete sich neben Magnus, so gut Geister sich eben knien konnten.

„Es stimmt etwas nicht mit ihr. Ich denke fast, ihre Magie fehlt“, sagte der Geist. „Im Wintergarten dachte ich kurz, sie hätte mich gesehen. Aber sie zeigte keine Reaktion, von daher …“ Seine Stimme verlor sich in der Stille.

„Na prima. Also hat der Rabe Recht gehabt“, moserte Magnus.

Wie aufs Stichwort krächzte es einmal laut und schon landete der Vogel neben ihnen. Das Tier neigte den Kopf und blickte ihn aus seinen dunklen Augen an.

„Mich hat sie zwar gesehen, aber nicht die Kette und den Stein um meinen Hals“, wiederholte er das Geschehene der letzten Tage und klopfte mit seinem Schnabel auf den grünen Anhänger, der auf seinem dunklen Gefieder fast schon leuchtete. „Sie hat mich verscheucht, als sei ich ein normaler Vogel“, monierte er. „Und ihr meint, sie verfügt über keine Magie? Ich glaube ja, es ist sogar schlimmer. Sie lebt auch noch in einer Welt, die rein gar nichts mit Magie zu tun hat. Das Gleichgewicht ist längst aus den Fugen geraten.“

Magnus zuckte bitter mit den Schultern. „Und gerade ist sie ziemlich erschrocken weggerannt, als James den Tee und Kuchen für sie bereitgestellt hat.“

James nahm eine deutlichere Form an. Jetzt konnte der Gnom die Sorge in dessen Mimik ausmachen.

„Glaubt ihr, sie kommt wieder?“, fragte Magnus leise.

Sowohl James als auch der Rabe schwiegen betreten. Dann kramte der Gnom einen Schokoriegel aus einer seiner vielen Taschen, riss das knisternde Papier ab und biss hinein. James und der Rabe tauschten besorgte Blicke.

„Das wird jetzt aber kein Zuckerrausch, oder? Du weißt, was beim letzten Mal passiert ist“, erkundigte James sich. Als Magnus ein weiteres Mal energisch abbiss und grimmig dreinblickte, nickte der Geist dem Vogel zu, der sich daraufhin auf den Riegel stürzte und so lange daran zog und zerrte, bis der knurrige Gnom aufgeben musste. Empört und mit in die Seiten gestemmten Fäusten starrte er den Vogel an, der nun außerhalb seiner kleinen Reichweite auf dem Treppengeländer saß und mit dem restlichen Schokoriegel im Schnabel vorwurfsvoll nach unten blickte.

„Das ist nicht fair. Echt nicht.“

Kapitel 4: Der Teeladen

Erst, als sie mitten durch die kleine Ortschaft hindurch war, konnte sie einen halbwegs klaren Gedanken fassen. Sie fischte sich das Handy vom Beifahrersitz und wischte herum, bis sie Bluetooth aktiviert hatte und das Auto sich automatisch mit dem Gerät verband.

„So, Mom. Ich habe gestrichen die Nase voll. Du erzählst mir jetzt, was hier los ist.“

„Dein Vater und ich sollten das gemeinsam tun. Ich stelle dich kurz auf den Lautsprecher.“

Der Lärmpegel erhöhte sich und wurde durch Rauschen und allerlei Hintergrundgeräusche erweitert.

„Mom, Dad?“

„Ja, wir verstehen dich. Du uns auch?“

„Wenn ihr noch etwas näher an das Handy ran könntet, wäre das nicht schlecht“, erklärte Rebekkah.

„So besser?“

„Jupp. Und jetzt los“, forderte sie ihre Eltern ohne Umschweife auf.

„Du hast deinen Tee abgesetzt, nicht wahr?“, fragte ihre Mutter und Rebekkahs Puls schnellte hoch. Sie packte das Lenkrad so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.

„Mom, das ist jetzt bitte NICHT dein Ernst“, presste sie die Worte zwischen den Zähnen hindurch.

„Rebekkah, bitte, das ist wichtig und gehört wirklich zu der Geschichte“, fauchte ihre Mutter ihrerseits nun wütend und fügte hinzu: „Es ist deine eigene Geschichte, also pass lieber auf!“

Ihre Tochter knirschte mit den Zähnen und gab dann zu: „Ja, ich habe eine Allergie auf den Waldmeister bekommen und sollte ihn nicht mehr trinken. Dr. Gabriel hat den Test gemacht, das Ganze ist jetzt etwas über zwei Monate her.“

„Und hast du seither etwas Seltsames gesehen?“

„Abgesehen von heute? Nein“, Rebekkah überlegte kurz, „bis auf gerade eben eigentlich nicht viel.“

Sie hörte, wie ihre Eltern aufatmeten.

„Das ist gut“, hörte sie ihren Vater.

„Könnt ihr mir bitte kurz erklären, was hier los ist?“

Sie hörte, wie ihre Eltern miteinander flüsterten und schnaubte laut auf. „Überlegt ihr gerade ernsthaft, welche Lüge ihr mir als nächstes erzählt?“

Peinliches Schweigen erfüllte das Auto, bevor es geräuschvoll über ein Straßenloch holperte.

„Rebekkah“, begann ihr Vater und die Art, wie er pausierte, machte ihr klar, wie schwer ihm die nächsten Worte fallen mussten. „Deine Tante Sarah ist etwas Besonderes. Leider ist die Gesellschaft ziemlich beschissen, wenn es um besondere Menschen geht. Sie haben Angst vor allem, was ihnen unbekannt ist.“

Rebekkahs Augenbrauen wanderten nach oben. Wegen der Menschheit hatte er auf jeden Fall Recht. Aber was hatte das mit ihr zu tun? Doch sie wollte ihn nicht unterbrechen.

„Damit ihr und auch dir nichts geschieht, haben wir uns gemeinsam darauf geeinigt, dass sie Redthorne Manor bekommt und quasi in Abgeschiedenheit lebt. Damit sie nicht auffällt, vor allem nicht bestimmten Gruppen, die sich ihrer und deiner … Besonderheit bedienen würden.“

Sie hatte das Gefühl, dass etwas ihren Brustkorb zuschnürte. So, wie ihr Vater sprach, würde sie gleich etwas erfahren, das ihre Welt verändern würde – und nicht zum Guten. Etwas, das für immer zwischen ihnen stehen würde wie eine unüberwindbare Schlucht.

„Leider scheint jemand sie gefunden zu haben. Und nein“, kam er seiner Tochter zuvor, „wir wissen nicht, wer oder was.“

… oder was? Rebekkah runzelte ihre Stirn.

Schließlich stellte sie ihre Frage.

„Das hast du richtig gehört“, bestätigte ihr Vater. „Es könnte auch ein ‚was‘ gewesen sein. Und so lange wir nichts Genaues wissen, müssen wir dich erst einmal in Sicherheit bringen und die nächsten Schritte einleiten.“

„Du bist genauso besonders, Rebekkah“, mischte ihre Mutter sind in die Erklärung ein. „Ich wünschte, wir wären bei dir, könnten dir das alles persönlich erzählen“, Tränen schienen die Worte zu schlucken, doch mit erstickter Stimme fuhr sie fort: „aber jetzt musst du wirklich zu Jules. Sie kennt sich mit deinem Tee und Sarah aus. Wenn dir jemand in der Zwischenzeit helfen kann, dann sie.“

„Warum Jules? Und was meint ihr mit ‚wir sind besonders‘?“

„Jules kennt unsere Familie schon lange und weiß über alles Bescheid. Sie kann dir am besten helfen“, wich ihr Vater der eigentlichen Frage aus.

„Mama, Papa. Raus mit der Sprache. Tante Sarah und ich, was sind wir?“

Ihr Vater atmete tief durch, räusperte sich und setzte an, um zu sprechen.

„Rebekkah, ihr seid Hexen“, knallte ihre Mutter ihr vor den Latz.

Rebekkah legte reflexartig auf. Tippte oft und heftig auf den roten Button, bis sie ihn endlich richtig traf.

Das war zu viel. Und zu doof.

Mal ehrlich.

Hexen?

Das ging gar nicht.

Wie sollte das überhaupt funktionieren. Simsalabim und hex hex? Um Himmels Willen, das konnten ihre Eltern doch nicht ernst meinen.

Im Ortskern von Dunshaughlin hupte jemand sie aggressiv an und Rebekkah merkte zu spät, dass sie demjenigen eiskalt die Vorfahrt genommen hatte.

Wahnsinn. Das hier war Wahnsinn. Sie war doch keine Hexe. Hexen hatten Warzen, riesige Nasen, flogen auf Besen und hatten eine schwarze Katze dabei. Sie lachte laut auf. Nein, jetzt wurde natürlich sie wahnsinnig, das waren Kindergeschichten von Hexen. Die sollten von hässlich aussehenden Menschen warnen, weil arme Leute damals oft durch Krankheiten entstellt waren und eher zu Kriminalität neigten. Wow, jetzt war sie thematisch direkt wieder bei Irlands einzigem Hexengericht angekommen. An dem eine Redthorne beteiligt gewesen war. Sie fuhr links ran, stieg aus und lehnte sich an ihr Auto.

Hexen existierten maximal in Kindergeschichten und Kinofilmen. Trotzdem hatte ihre Mutter es gesagt.

Ihr seid Hexen.

Genau so hatte sie es gesagt.

Drei simple Worte, die ihr gerade den Boden unter den Füßen entzogen hatten. Doch wenn Rebekkah ehrlich zu sich selbst war, wusste sie in ihrem Herzen, dass ihre Eltern sie gerade nicht angelogen hatten. Sie glaubten genau das, was sie ihr gerade gesagt hatten. Das hieß aber noch lange nicht, dass sie diese Information als Wahrheit akzeptieren konnte oder dass es überhaupt wahr sein musste. Rebekkah ließ ihren Kopf hängen und starrte auf die verstaubten Steinchen unter ihren völlig verdreckten Schuhen.

Ihr Handy klingelte, doch Rebekkah ignorierte es. Auch ein zweites Mal. Sie musste heim. Ab ins Bett. Die Decke über sich ziehen. Oder noch besser: Irgendeine Serie anmachen, in der ein Team aus Wissenschaftlern jedes noch so komplizierte Verbrechen anhand eines mikroskopisch kleinen Beweismittels aufklären konnte. Vier Folgen oder mehr davon dürften ihren Kopf leeren und sie ruhiger stellen als jedes Valium.

Ein dezenter Klingelton ertönte, der jemand anderen als ihre Eltern ankündigte. Als die Person nicht auflegte, stieß Rebekkah sich ab, öffnete die Tür und nahm das Handy vom Beifahrersitz. Die Nummer kannte sie, weil sie sie oft genug für Vorbestellungen gewählt hatte. Der Teeladen. Jules. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals.

„Rebekkah hier.“

„Hi Rebekkah, ich bin‘s, Jules!“, begrüßte sie eine fröhlich-aufgekratzte Stimme, die so gar nicht in die aktuelle Stimmung passte.

„Ich will dich gar nicht groß stören, aber deine Eltern meinten, du würdest gleich bei mir vorbeikommen. Meinen Laden habe ich nach wie vor im gleichen Viertel wie schon immer, The Liberties, du kennst dich ja aus. Wunder dich nicht, dass in der Tür ein Schild mit ‚geschlossen‘ steht, klopf einfach und ich komm nach vorne“, plapperte Jules los. „Also bis gleich, ich freu mich, ciao ciao!“

Schon hatte sie aufgelegt.

Dumm war sie ja nicht, dachte Rebekkah säuerlich. Einfach keine Zeit für Widerrede geben und zack, alles Nötige erklärt, ohne den Elefanten im Raum anzusprechen.

Glaubte sie ihren Eltern, dann musste Jules mehr wissen, wenn nicht sogar alles. Sie hatte die Wahl: Heimfahren, zu ihrem Bruder und ihn mit in diesen Wahnsinn reißen oder zum Teeladen. Ersteres würde sie nicht vor der Heimkehr ihrer Eltern schützen, Zweites das Chaos garantiert um ein Vielfaches vergrößern und Drittes bot wenigstens die Chance auf Informationen, die das Bild vervollständigen würden. Wenn man mal davon absah, dass Tante Sarah und sie Hexen sein sollten. Denn das konnte einfach nicht der Wahrheit entsprechen. Für so etwas hatte ihre Realität einfach keinen Platz.

Also hatte sie genau genommen doch keine Wahl. Sie hatte zu viele Fragen, allen voran, wie sie diesen Tag vergessen machen konnte.

Mit zitternden Händen setzte sie sich wieder ins Auto und programmierte das Navi um. Sie fuhr mehr als vorsichtig, weil sie merkte, dass sie mit ihren Gedanken ganz woanders war. Eine halbe Stunde später verschwendete sie acht Minuten ihres Lebens mit der Parkplatzsuche und machte sich dann auf den Weg zum Teeladen, der inmitten der Liberties lag, einem maximal historischen Viertel der Stadt mit heute noch semi-kriminellem Ruf. Als Mönche die ehemalige Wikingersiedlung ausbauten, unterstanden sie nur ihrer eigenen Gerichtbarkeit, was sich nach 700 Jahren in den Köpfen festgesetzt hatte: Recht und Ordnung war Privatsache und die ganzen Handwerker, die sich hier angesiedelt hatten, beanspruchten diese Stimmung manchmal noch heute für sich. Die Zustände, die dem Gebiet damals den Spitznamen Dublin Hell verpasst hatten, hatten daran nichts verbessert.

Rebekkah wünschte sich in diesem Moment, sie würde rauchen. Irgendwas machen können, um ihre Nervosität in den Griff zu kriegen, die mit jedem Schritt anstieg, bis sie ihre zitternden Hände in der Jackentasche verstecken musste. Voller Unruhe stieg sie die 40 Stufen hinter der St. Audeon’s Church hinunter.

Jules Teeladen war ein kleines Geschäft, zumindest wenn man der Front nach urteilte. Vor dem Laden stand ein kleiner Bistrotisch mit nur drei Stühlen, doch viel mehr Menschen konnten vor dem Schaufenster sowieso keinen Platz finden. Schon bevor sie die rechte Hand aus der Jackentasche nahm, um gegen das Glas der abgeschlossenen Tür zu klopfen, nahm sie die verschiedensten Aromen wahr. Roter, grüner und schwarzer Tee mischten sich mit Blüten, Gewürzen und Kräutern. Und wer wusste schon, was Jules unter der Theke noch verkaufte. Dazu nagte etwas in ihrem Unterbewusstsein, aber sie konnte sich gerade nicht stark genug auf diesen Gedanken konzentrieren.

Sie klopfte und die zierliche Blondine kam aus der Tiefe des Ladens noch vorne geeilt. Sie drehte an drei verschiedenen Schlössern, zog die Tür auf, winkte Rebekkah hektisch hinein, schmiss die Tür zu und verschloss sie wieder. Dann zog sie die schweren, dunkelgrünen Samtvorhänge zu, damit keine ungebetenen Zaungäste hineinblicken konnten.

Jules packte Rebekkah am Unterarm und zog sie ohne Worte an dem großen Tisch vorbei, der in der Mitte des Ladens residierte. Auf ihm standen Einmachgläser mit allerlei Kräutern, an denen Kunden schnuppern und sich dann ihren ganz eigenen Tee zusammenstellen konnten. Im Hinterzimmer angekommen, löschte Jules das Licht im Laden und schloss die Tür zwischen den beiden Räumen. Überrascht beobachtete Rebekkah, wie feine Linien aus Licht über Jules Hände zuckten. Vielleicht hätte sie vorher eine besondere Kräutermischung rauchen sollen, dann könnte sie das alles entspannter betrachten und als Einbildung abhaken. Als das Spektakel vorbei war, drehte die Blondine sich um, suchte Rebekkahs Blick und zog sie entschieden in eine feste Umarmung.
„Hi“, begrüßte sie sie und musterte sie prüfend.

„Hey“, antwortete Rebekkah befangen.

„Du schaust aus, als hättest du einen Hindernislauf im Wald gemacht. In deinem Kopf ist vermutlich die Hölle los, hm?“

Rebekkah nickte einfach nur.

„Das Wichtigste gleich voraus: Hier in dieser Teeküche sind wir für die nächsten Stunden sicher. Also lass uns hinsetzen, einen Tee trinken und ich versuche dir, so gut wie möglich alles zu erklären, okay?“

Rebekkah zupfte nervös an ihren Ärmeln. „Das wäre prima.“

„Willst du etwas Bestimmtes trinken?“

„Danke, aber nein.“ Dann jedoch fiel ihr etwas ein. „Hast du von meiner eigenen Tee-Mischung noch etwas da?“

Jules erstarrte mitten in ihrer Bewegung und Bedauern zeigte sich in ihrem Gesicht.

„Theoretisch ja, aber aus einigen Gründen darfst du ihn jetzt nicht mehr trinken“, gab sie relativ kleinlaut zu.

„Dann einfach nur Pfefferminz“, bat Rebekkah. Sofort lächelte Jules.

„Super, klasse, den bekommst du gern.“

Während des Wasserkocher vor sich hin brummte, wechselten die beiden Frauen immer wieder einen Blick, nur um sofort woanders hin zu blicken. Wie begann man so ein Gespräch? Einfach fragen: Na, was hältst du denn vom Thema Hexen? Klar. Oder wie wäre es mit: Was war das gerade für Licht auf deinen Händen? Rebekkah lehnte sich zurück und starrte auf die dunkle Tischplatte aus geölten Nussholz, bis Jules einen riesigen Becher mit einem Stoffsieb vor sie hinstellte und sich ihr gegenüber hinsetzte.

„Wie geht es dir?“, fragte sie ihre Besucherin schließlich. Ein vermeintlich sicherer Einstieg in die Unterhaltung also. Trotzdem zögerte Rebekkah.

„Ich bin eindeutig verwirrt“, begann sie vorsichtig. „Ich hatte eine sehr absurde Unterhaltung mit meinen Eltern, während der ich panisch aus dem Haus gestürzt bin, in dem meine lange verschollen geglaubte und nun wirklich verschwundene Tante lebt. Dazu habe ich ein, zwei Dinge gesehen, die bei vernünftiger Betrachtung nicht sehr viel Sinn ergeben.“

Ja, das umfasste das Grundproblem ganz gut, ohne Informationen preiszugeben, die sie notfalls auch in die Klappse hätten bringen können.

Jules streckte eine Hand quer über den Tisch aus.

„Du bist bei mir sicher, Rebekkah.“

„Bin ich das wirklich?“ Endlich sah sie auf und der Teehändlerin in die Augen. „Dann sag mir, was in meiner Kräutermischung drin war.“

Jules blickte auf und lächelte. „Tatsächlich genau das, was auf der Packung steht. Die zwei Faktoren, die deinen Tee von anderen unterscheiden, ist die exakte Mischung und Dosierung auf der einen Seite. Auf der anderen Seite kommen deine Kräuter nicht von einem Großhändler, sondern zum größten Teil aus meinem eigenen Garten und einer anderen privaten Quelle.“

Sie holte kurz Luft und schien zu warten, aber Rebekkah tat ihr nicht den Gefallen, eine Frage zu stellen, sondern wartete ihrerseits stoisch darauf, dass Jules weitersprach.

„In meinem Garten wachsen sie wie normale Pflanzen, aber ab und zu gibt es, sagen wir, etwas speziellen Dünger und geerntet werden sie nicht einfach, indem ich sie abschneide und zum Trocknen aufhänge. Mehr wäre jetzt vermutlich zu viel des Guten. Jedenfalls kommt dann noch dazu, dass du eine Hexe bist und auf manche Kräuter etwas anders reagierst als Menschen.“

Das musste Rebekkah erst mal sacken lassen. Nicht, dass sie mit irgendwelchen dubiosen Kräutern abgefüllt wurde und auch nicht, dass es eine Verschwörung zwischen Jules und ihren Eltern gegeben hatte. Sondern die bewusste Unterscheidung in Hexe und Mensch, die Jules gerade getroffen hatte und wie selbstverständlich Jules‘ Haltung zu der Aussage ihrer Eltern passte. Ein nahtloser Übergang. Hexen. Es war ihr immer noch zu viel.

„Ihr habt mich also unter Drogen gesetzt“, stellte sie schließlich fest, was ihr einen ehrlich empörten Blick von Jules eintrug.

„Bei allen Göttern dieser Welt, das nun wirklich nicht!“

Rebekkah sah, dass sie weiter ausholen wollte, aber winkte nur ab und Jules beherrschte sich tatsächlich und lehnte sich zurück.

„Du musst viele Fragen haben“, gab Jules stattdessen zurück und wartete nun ihrerseits auf eine Rückmeldung von Rebekkah.

„Ja, mit welcher Frage sollte ich wohl anfangen. Zum einen habe ich eine Tante, die sich was – mit meinen Eltern verstritten hat oder nun nicht? Warum haben sie sie weggeschickt, wenn sie trotzdem Kontakt zu ihr hielten? Ich bitte dich, sie lebt in einem Haus namens Redthorne Manor – es ist also nicht so, als hätte sie versucht, die Familienzugehörigkeit zu verschleiern“, brach es aus Rebekkah hervor. Nicht der logischste Gedankengang, aber einfach gerade der, der ganz oben auf dem Berg ihrer Gedanken vor sich hinblubberte.

„Naja, weißt du, es gibt kein Zeugenschutzprogramm für Hexen“, erklärte Jules trocken.

„Warum eigentlich nicht?“, fuhr Rebekkah widerwillig auf. Höchstwahrscheinlich machte ihre Frage absolut keinen Sinn, aber gerade in diesem Augenblick war Rebekkah einfach gegen alles eingestellt, was ihre bisherige Realität angriff.

„Hexen und … andere Wesen gibt es seit Jahrtausenden, quasi genauso lange wie die Menschheit“, gab Jules zurück.

„Na bitte, ein Grund mehr. Warum hat nie jemand versucht, ähnliche Strukturen mit Behörden oder so etwas aufzubauen?“, unterbrach Rebekkah sie.

„Diese Versuche gab es und immer, und ich meine IMMER, endete es darin, dass die Menschen Jagd auf uns gemacht haben. Nein, lass mich ausreden Rebekkah. Damals waren es Mistgabeln und Feuer, bei den Römern dann Messer, Pfeile und Bögen. Heute? Sind die Waffen brutaler, effizienter und wenn es eine Regierung auf uns wirklich absehen würde, hätten wir keine Chance. Keinen einzigen abgefuckten HAUCH einer Chance“, explodierte Jules und stieß mit ihrem Zeigefinger in die Luft vor Rebekkahs Gesicht. „Und die, die sie nicht töten würden, wären wahrscheinlich in einer Anstalt und würden die Opfer von Forschern und Ärzten. Denk doch einfach mal an das Dritte Reich in Deutschland – und das waren nur Menschen untereinander. Was meinst du, was sie mit uns anstellen würden, wüssten sie von unserer Existenz?!“

Jules holte tief Luft und Rebekkah verharrte in ihrer Erstarrung. Natürlich hatte sie das nicht bedacht. Sie fühlte sich übertölpelt und wie eine Schülerin, der ein ganz simpler Zusammenhang in einer Aufgabe entgangen war.

„Okay, dann eine andere Frage: Als Hexe wird man geboren?“

Jules nickte.

„Und wie kann es dann sein, dass ich davon nichts wusste? Warum ist meine Mutter keine Hexe?“

„Eines nach dem anderen. Ja, die meisten Hexen sind Frauen, die Magie wird sozusagen über die weibliche Linie vererbt. Deine Tante ist begabt, dein Vater nicht, aber er trägt das Erbe inaktiv in sich und hat es dir weitergegeben. Deine Mutter entstammt meines Wissens nach keiner magischen Familie.“

„Mein Bruder ist also auch inaktiv?“

„Genau“, bestätigte Jules.

Ein Gedanke rumorte in Rebekkah und kam nicht zur Ruhe. Wenn ihr Vater derjenige mit dem Erbgut war, warum hatte ihre Mutter die Führung in Sachen Tante Sarah übernommen?

„Und was dein Unwissen angeht“, redete Jules weiter, „deine Tante ist eine findige Frau. Sie und meine Cousine haben eine Weile getüftelt, bis sie die perfekte Kräutermischung herausgefunden hatten. Ursprünglich wollten sie deine Magie vollständig unterdrücken, aber das wäre ein Ventil gewesen, das irgendwann unkontrolliert in die Luft geflogen wurde. Also haben sie sie umgeleitet.“

Jules grinste. „Das war eine echte Sensation, denn das hatte zuvor noch niemand geschafft, zumindest nicht mit etwas so einfachem wie Tee, der jeden Tag getrunken wurde.“

„Auf den ich übrigens allergisch bin“, konnte Rebekkah sich die Antwort nicht verkneifen.

„Das bezweifle ich“, konterte Jules gelassen. „Wahrscheinlich war es eine Reaktion deiner Magie auf die Umleitung.“

Rebekkah lächelte matt und stützte ihr Kinn auf ihre Hände. War ja irgendwie klar. „Und wohin wurde meine … Magie geleitet?“

„In einen Teil der Community. Deine Tante, meine Cousine und auch ich sind beteiligt. Waren es“, fügte sie eilig hinzu, als sie Rebekkahs Mimik sah.

„Das ist gar nicht so seltsam, wie es klingen mag“, versuchte sie sie zu beruhigen. „Es war für uns, als hätten wir jeden Tag einen kleinen extra Schub Koffein oder Energie bekommen. Mein Cousinchen und ich haben es dafür genutzt, diesen Laden aufzubauen und noch etwas weiter zu forschen. Deine Teemischung zum Beispiel wurde über den Lauf der Jahre öfters angepasst. Mal mussten Hormonschübe mit einbezogen werden, mal deine geänderten Lebensgewohnheiten.“

„Na dann hat sich die Arbeit für euch ja gelohnt.“

Vielleicht war ihre Reaktion etwas spitzfindig, aber wenn dem wirklich alles so war, hatte man Rebekkah über Jahrzehnte hinweg … beraubt.

„Es war nicht ohne Risiko für uns“, gab Jules mit spitzer Stimme zurück. „Ich mag nur Heckenhexe sein, aber jede persönliche Magie hat eine ganz spezifische Spur, eine Art DNA. Hätte dich jemand gesucht und angreifen wollen, hätte er stattdessen uns gefunden.“

Rebekkah fühlte sich leicht vor den Kopf geschlagen. Sie nahmen ihr die Magie, ließen sie im Dunkeln wie einen Champignon, überhäuften sie mit wild ausgetüftelten Kräutermischungen und jetzt beschwerte Jules sich ernsthaft, dass es für sie nicht ganz ohne Komplikationen abgelaufen war? Nicht ihr Ernst.

Rebekkah kniff die Lippen zusammen und überlegte, wie sie weiter vorgehen würde. Ihre Laune jedenfalls war grandios, aber das half gerade niemandem weiter.

„Vielleicht hat man das auch, also euch gefunden“, murmelte sie nachdenklich.

„Verdammt, das meinte ich nicht so“, antwortete Jules und legte ihre Hand auf die von Rebekkah. Die blickte auf und spürte eine Träne in ihrem Augenwinkel hängen.

„Aber es könnte wahr sein, oder?“

Widerstrebend nickte Jules.

„Lass uns das später einmal richtig durchsprechen, in Ordnung?“

Rebekkah stimmte zu und nahm sich die Brille von der Nase. Mit der rechten Hand knetete sie den Steg zwischen ihren Augenbrauen. Sie fühlte sich, als würden Abgründe rund um sie herum weit aufgerissen gähnen und sie in die Tiefe locken wollen. Ob sie aus diesem Chaos jemals einen Ausweg finden würde? Ihre Eltern, Jules, dieser Laden, diese Geschichte rund um den Tee. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte.

„Du meintest, du wärst eine Heckenhexe. Was heißt das?“

Jules zog ihre Hand zurück und knetete sie, fast schien es, als sei sie unangenehm berührt.

„Ich bin nicht besonders stark magisch begabt“, druckste sie herum. Dann atmete sie tief durch.

„Egal, du bist nicht in der magischen Gemeinschaft aufgewachsen. Also, es gibt Hexen wie deine Tante und später auch du, die echte Zauber wirken können. Ich konzentriere mich eher darauf, sympathetische Verbindungen zu verstärken.“

Als sie den fragenden Blick Rebekkahs sah, suchte sie nach Beispielen.

„Wir können beide mit Tieren sprechen, Geister sehen und Schutzzauber sprechen oder weben. Du kannst dann noch aktiver werden, Feuerbälle gehen bestimmt bei dir. Okay, letzteres ist eher selten, aber kann schon mal passieren. Ich dagegen kann aktiv sehr wenig und nutze die vorhandene Magie zwischen Objekten. Wenn 2 Holzbecher aus dem gleichen Stamm oder Baum gemacht wurden, kann ich sie quasi zusammenschweißen, also die sympathetische Verbindung zwischen ihnen stärken.“

Sie drehte sich um und zeigte auf die Tür.

„Sie ist magisch verschlossen. Einem normalen Öffnungsversuch widersteht sie, selbst wenn jemand den Schlüssel hätte. Bei einer Axt hätte sie auch noch mehr Widerstand, aber ich denke, von einer waschechten Hexe würde meine Barriere recht schnell überwunden werden.“

Dann hellte ihr Gesicht sich auf.

„Dafür habe ich andere Stärken! Diesen Laden habe ich nicht umsonst allein übernommen, nachdem meine Cousine geheiratet und umgezogen ist. Kräuter und ihre Wechselwirkung mit Magie sind meine Spezialität, ein eher wissenschaftlicher Bereich.“

„Das scheint mir um einiges nützlicher zu sein als … Magie.“

Fast konnte sie das Wort nicht aussprechen. Leider kam sie nicht um das Thema herum. Selbst wenn sie es mit einer absolut rationalen Erklärung versuchte: Jules glaubte felsenfest an Magie, es gab keinen anderen Schluss aus ihrem Verhalten und ihrem Gespräch.

Plötzlich stand Rebekkah auf und ging zur Tür. Mit einer Hand umfasste sie fest den Knauf. Sie drehte und drückte. Nichts passierte. Sie erhöhte den Druck, indem sie die andere Hand gegen die Wand neben dem Türrahmen stemmte. Sie blieb geschlossen. Schließlich nahm sie ihren Frust zusammen und warf sich mit ihrem gesamten Körpergewicht gegen die Tür, die sich keinen Millimeter bewegte.

„Bist du fertig?“, ertönte Jules Stimme in ihrem Rücken.

Sie drehte sich um und ging zurück zum Tisch.

„Sorry.“

Jules verständnisvoller Blick fand den ihren. „Kein Problem, Rebekkah. Du hast mit Sicherheit heute einen der eher seltsameren Tage deines Lebens.“

Es pochte laut und vehement an der vorderen Ladentür und beide Frauen zuckten zusammen. Sofort erhob sich Jules, warf Rebekkah einen warnenden Blick zu und legte den Finger auf die Lippen. Mit erhobener Stimme rief sie: „Der übliche Mechanismus!“

Kurz darauf hörten sie die vordere Tür ins Schloss fallen und sahen Lichtlinien über die Tür zur Teeküche laufen. Sie sahen genauso aus wie die, die sie vorhin auf Jules Hand gesehen hatte. In ihrem Magen bildete sich ein kleiner Knoten. Mit Rationalität kam sie nicht mehr weiter. Ihre Eltern, Jules, was sie hier selbst erlebte … Die Linien verblassten, der Knauf drehte sich und ein Mann undefinierbaren Alters erschien in der Tür. Jules entspannte sich sichtlich, ergriff ihn am Arm und zog ihn in den Raum, bevor sie die Tür wieder versiegelte. Rebekkah betrachtete den Neuankömmling, der ihren Blick direkt und voller Neugier erwiderte. Ein wenig größer als sie, dunkle Haare, die ersten grauen schimmerten dazwischen. Bart, aber nicht zu lang und gepflegt. Die Nase lief leicht spitz zu, passte aber sehr gut zu den markanten Wangenknochen und verlieh ihm ein attraktives Aussehen. Das Bemerkenswerteste aber waren seine Augen, die in einem seltsamen Blaugrün aus der olivfarbenen Haut und dem dunklen Haar hervorleuchteten, als wäre in ihnen ein Licht entzündet.

„Rebekkah, das ist Zorin“, stellte Jules ihn vor und sie stand auf, um ihm die Hand zu geben. Anstatt sie zu schütteln, ergriff er sie jedoch und drehte sie sofort herum, um ihre Handinnenfläche zu mustern. Umgehend legte Jules ihre Hand darüber und störte so seine Betrachtung.

„Dafür ist jetzt nicht die richtige Zeit, Zorin“, tadelte sie ihn.

Er hob kurz seine Mundwinkel an um ein Lächeln anzudeuten, blickte zurück zu Rebekkah und ließ dann ihre Hand los.

„Dann lasst uns den Zauber lösen“, murmelte er mit einer leicht rauen, dunklen Stimme und holte aus seiner Jackentasche eine kleine Tüte hervor. Jules schmiss den Wasserkocher wieder an und zog Rebekkahs Tasse quer über den Tisch zu sich.

Verwirrt blickte Rebekkah zwischen den beiden hin und her.

„Zauber lösen?“, fragte sie verhalten. „Ich dachte, meine Magie wäre nur unterdrückt.“

Mit einem verschmitzten Lächeln drehte sich Zorin zu ihr um. „Richtig, und jetzt werden wir diese Barriere auflösen, damit du einen sagenhaften Start in eine Welt voller Magie hinlegen kannst!“

Aha. Rebekkah kniff die Augen zusammen und musterte den Unbekannten langsam und etwas abschätzig.

„Und ihr glaubt, ich mach da einfach so mit.“

Jetzt war es an Jules, sich noch einmal umzudrehen, Rebekkah eine Hand auf die Schulter zu legen und beschwörend auf sie einzureden.

„Der Prozess ist bereits am Laufen, du wirst so oder so wieder in den vollen Besitz deiner Magie kommen. Du hast keine Wahl, weil mal ehrlich: Letzten Monat hast du keinen Tee bei mir gekauft und deine spezielle Mischung kriegst du nur bei mir. Du bist also quasi schon voll im Entzug, mit allen Konsequenzen. Nur: Wenn es jemand auf deine Familie und dich abgesehen hat, ist es deutlich besser für dich, wenn du dich eher früher als später wehren könntest.“

Rebekkah schnaubte laut auf.

„Du denkst also, ich werde bald Feuerbälle schleudernd durch die Weltgeschichte stolpern und meiner verschwundenen Tante hinterherrennen?“, fragte sie spitz.

Jules und Zorin zuckten mit den Schultern und erwiderten vollkommen synchron: „So in etwa“, bevor sie sich wieder ihrer Tätigkeit zuwandten.

Rebekkah stand der Mund offen. Was zur Hölle?

… zeitgleich an einem anderen Ort

Als sie realisierte, wie die Truppe in die Alte Welt reisen würde, verpuffte ihre Wut schlagartig. Sarah seufzte theatralisch auf und fing sich den schrägen Blick eines Soldaten ein. Sie hätte es natürlich wissen müssen. Unter den Soldaten war ein Verräter der magischen Welt.

Für einen Moment dachte sie, wie schön es wäre, wenn sich vor ihr nun unter knisternden Lichtblitzen ein kreisrundes Portal öffnen würde. Dann könnten sie alle einfach hindurchschreiten und hätten den Wechsel in die Alte Welt mit Grazie hinter sich gebracht. Das wäre doch einmal eine der kunterbunten Lügen Hollywoods, die es in Realität auch geben könnte!

Leider sah ihr Reiseweg so aus, dass eine Eiche die neue mit der alten Welt verband. Statt eines bequemen Schrittes musste sie, eine durchaus betagte Dame, darauf warten, dass der Verräter eine Bindung zwischen jeder einzelnen Person und dem Baum herstellte, der seinerseits seit seiner jungen Existenz an die Alte Welt gebunden war. Eine sehr spezielle Art einer sympathetischen Bindung, die auf Abbildern, Gruppenzugehörigkeiten und Simulationen basierte. Nicht besonders verlässlich, vor allem für eine so große Zahl von Menschen. Sie wechselte zur magischen Sicht und sah, wie tatsächlich einer der Soldaten sich selbst mit der Eiche verband und anschließend ein Band zu ihr webte. Von ihm selbst gingen leuchte Pfade zu den anderen Soldaten. Aha, also eine sympathetische Bindung der zweiten Art. Noch riskanter ging es kaum.

Sie schnalzte abfällig mit der Zunge, doch kein Widerstand hätte etwas gebracht. Anschließend lief die Reise über diese gegenseitige Bindung und natürlich wurde ihr übel – hätte sie heute Morgen etwas gegessen, wäre der Äther nun voll mit irischem Frühstück.

Im Reich der Göttin angekommen, musste Sarah noch für einige Momente stehen und durchatmen, denn der Schwindel wollte nicht weichen. Sie war einfach zu alt für den Scheiß. Allmählich klärten sich ihre Gedanken und ihr wurde wieder bewusst, weswegen sie hier war.

Doch der Schwindel kam mit Schwung zurück und sie strauchelte zu Boden. Mit einem lauten und vermutlich ziemlich unflätigen Fluch sprang ein Legionssoldat herbei, um die rüstige Dame aufzufangen. Kurz stützte sie sich auf ihn und schob ihn dann weg, als sie wieder sicher auf beiden Beinen stand.

„Bring mich zu deiner Göttin“, forderte sie den Soldaten auf. Der blieb unschlüssig auf der Stelle stehen. Ob er sie überhaupt verstanden hatte?

Ach egal, das war vermutlich sowieso seine Order. Sarah dagegen brauchte dringend einen Schlachtplan. Sie mochte stinkwütend sein und die Energie von zehn durchgehenden Kuhherden mitbringen, doch ihre Gegnerin war eine waschechte Göttin, die nicht nur Jahrzehnte Jagderfahrung hatte, sondern tausende Jahre auf ihrem sicherlich nicht so krummen Buckel. Das allerdings gab ihr nicht das Recht, die magischen Wesen der Erde zu entführen, aus welchem Grund auch immer sie das tat.

Scheinbar unwillkürlich trat sie auf der Stelle hin und her, während die Soldaten sich vor und hinter ihr formierten. Aus dieser Bewegung heraus schlüpfte sie aus ihren Hausschuhen, in denen sie barfuß steckte.

Der aufsteigende Geruch zwickte ihr kurz in der Nase, machte ihr aber weniger aus als der Soldat, der sie plötzlich von hinten packte und hochhob. Mit gepresster Stimme rief er seinen Kameraden etwas zu, doch Sarah wehrte sich nicht. Der kurze Kontakt ihrer nackten Füße mit der Erde hatte dafür ausgereicht, Kontakt zum Element herzustellen und einen Teil ihrer Energiereserven aufzufüllen. Der Kopfschmerz war weg und sie fühlte sich, als hätte sie frisch gemahlenen Kaffee in den Venen. Zeit, die Schwellung zu heilen und wieder ordentlich Fokus zu bekommen.

Natürlich wäre es absolut fantastisch gewesen, hätte sie kontinuierlich Kraft aus der Erde ziehen können, doch ihre Gegnerin wusste wahrscheinlich genau, wen sie entführt hatte – und offenbar entsprechende Order an ihre Soldaten gegeben, sie von der Natur fernzuhalten. Prompt versuchte einer der Soldaten, ihre noch immer in der Luft hängenden Füße erst in Socken und dann in ihre Hausschuhe zu zwängen. Dass er so ein Kleidungsstück wie die weißen Tennissocken noch nie in der Hand hatte, erkannte man auf den ersten Blick. Entsprechend begann der, der sie hielt, stärker zu schnaufen, je länger der zweite brauchte.

Sarah schnaufte absichtlich theatralisch durch und sie sah, wie der am Boden kniende Legionär vor Wut rot anlief. Umso besser. Je emotionaler das Pack wurde, desto eher würde ihm Fehler unterlaufen. Als sie sockig auf dem Boden stand, stellte der Soldat ihre Hausschuhe fein säuberlich vor ihr ab. Wieder seufzte sie genervt auf und schlüpfte freiwillig hinein, während sie mit den Augen rollte. Ein bisschen Drama durfte sie sich schon erlauben. In ihrem Alter zumindest.

Dann griff sie auf ihre Magie zu und atmete tief durch. Die Luft strömte in ihre Lungen, füllte sie aus und traf in ihrem Inneren auf die Energie, die sie zuvor aus der Erde gezogen hatten. Check, das zweite natürliche Element dieser Welt stand ihr nun für den Angriff auf die Göttin zur Verfügung. Fehlte nur noch Wasser und Feuer. Sie schloss die Augen, ihre Hand zu einer lockeren Faust und konzentrierte sich auf die Luft darin. Nur Momente später spürte sie das Wasser, das aus der Luft kondensierte und tröpfchenweise auf ihrer Haut entlanglief. Sie öffnete ihre Augen wieder und lächelte die Soldaten zuckersüß an, die sie argwöhnisch musterten.

Für das Feuer könnte sie im größten Notfall auf ihre eigene Körperwärme zurückgreifen, doch das konnte auch gewaltig schief gehen. Der Funke des Lebens, so nannten es viele alte Schriften, sollte niemals im Kampf genutzt werden – zumindest, wenn man diesen überleben wollte. Dann stach ihr jemand mit seiner Lanze sachte in den Rücken. Sanft genug, um sie nicht zu verletzen, aber gleichzeitig nachdrücklich genug, um ihr eine Warnung geben. Einige Legionäre gingen voran und Sarah folgte ihnen.

Kapitel 5: Eine Welt mit Magie

„Jetzt, wo die Wirkung des ersten Tees so gut wie aufgehoben wird, wird sich einiges für dich ändern. Was wir hier machen, ist quasi die Umkehrung“, erklärte Zorin nach einer Weile aus dem Nichts.

„Inwiefern?“, fragte sie verhalten und betrachtete die Rücken der beiden.

„Oh, natürlich indem wir deine Magie wieder komplett zurück zu dir leiten“, erklärte Jules, als sei das das Normalste dieser Welt. „Mit meinem Cousinchen habe ich bereits telefoniert, sie dürfte in den nächsten Minuten einen ähnlichen Tee trinken, wenn sie es nicht sogar schon hat. Dann komme ich dran, anschließend du und dann hast du fast deine volle Macht.“

„Fa … fast meine volle Macht?“ Das war zwar mehr gestottert als gefragt, aber okay.

„Ja, leider nur fast. Einen Teil haben wir ja auf Sarah umgeleitet und da sie verschwunden ist …“, missverstand Zorin ihre Frage.

„Natürlich“, gab sie zögerlich zurück. Also war sie dann zu drei Vierteln einsatzbereit oder fähig, sich gegen wen auch immer zu wehren? Jetzt wurde die Geschichte doch allmählich absurd.

Zorin schien ihr Unbehagen zu spüren, denn er kam zu ihr rüber, setzte sich neben sie und ergriff ihre Hände. Sein Duft erreichte Rebekkah und zog sie mit Zimt, Holz, etwas Verbranntem und einer Vanillenote in seinen Bann.

„Wirklich?“, fragte er sie behutsam.

Rebekkah schwieg. Wer war er? Offenbar Teil der magischen Welt, sonst würde Jules ihm nicht vertrauen. Aber konnte sie das auch? Mit langsam Bewegungen löste sie ihre Hände von seinen, nicht, ohne ein leises Bedauern zu fühlen. Seine Hände waren warm, trocken und kräftig, ohne die ihren zu umklammern.

Bevor die Stille zu lang wurde, räusperte er sich, stand auf und trat einen halben Schritt zurück. Sie erhaschte einen Blick auf Jules, die mit ihrer Hüfte an der Küchenzeile lehnte, die Arme verschränkt hatte und sie beide kritisch musterte. Oh nein, durchfuhr es Rebekkah, vielleicht gehörten die beiden zusammen. Schnell stand sie auf und trat selbst einen schuldbewussten Schritt zurück.

Mit einem Klicken schaltete sich der Wasserkocher aus und Jules drehte sich wieder zur Wand. Zorin räusperte sich erneut.

„Also, was dieser Tee bewirken soll ist, die restliche Wirkung des anderen aufzulösen. Aber wie soll das funktionieren?“, fragte Rebekkah.

„Oh, das ist in diesem Fall gar nichts Magisches“, versicherte er ihr mit ruhiger Stimme.

„Es ist einfach eine Mischung, die gut für die Nieren ist und deinen Körper sozusagen durchspült.“

Rebekkahs Gesicht zerfiel in eine säuerliche Miene.

„Ihr schickt mich aufs Klo?!“

Zorin wackelte leicht mit dem Kopf hin und her, dann konnte er ein breites Grinsen nicht mehr zurückhalten.

„Ich denke, so könnte man es auch sagen, ja. Aber das Gute daran ist ja, dass es ein vollkommen natürlicher Prozess ist.“

„Ist das euer Ernst?“, fragte Rebekkah ungläubig.

„Welcher Prozess wäre denn nicht natürlich?“, fragte Zorin mit Unschuldsmiene. „Darüber könnte man jetzt natürlich lange diskutieren, denn die Bestandteile wären die vier Elemente und noch ein wenig mehr und rein theoretisch wäre auch das alles natürlichen Ursprungs.“

Top, Zorin war also ein Typ, der mit einem innerlich erhobenen Zeigefinger herumlief und sich nicht wundern brauchte, wenn er dafür ab und zu aufs Maul bekam, dachte sich Rebekkah.

„Und was machst du jetzt hier?“, wechselte sie das Thema, während sie sich hinter dem Stuhl verschanzte, auf dem zuvor Jules gesessen hatte.

„Ich, oh, ich bin einer der Initii. Ich habe die besten Brennnesseln und den zartesten Schachtelhalm, die du auf diesem Kontinent bekommen wirst“, erklärte er nicht ohne Stolz.

„Bist du eine moderne Kräuterhexe oder heißt das, du bist auch ein Heckenmagier?“, versuchte Rebekkah sich an einer Zuordnung. Die Begriffe kamen ihr nur zögerlich über die Lippen. Sie war noch nicht wirklich in dieser Welt angekommen, in der sie selbst auch eine Hexe sein sollte.

„Die Initii sind deiner Meinung nach Heckenmagier?!“

Sein ehrliches Erstaunen versetzte ihr einen Stich und machte sie gleichzeitig ein wenig wütend. Sie wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, da fuhr auch schon Jules dazwischen.

„Zorin! Was habe ich dir am Telefon gesagt? Sie war, nein, sie ist immer noch so gut wie vollständig unwissend, weil sie mit uns noch nie in ihrem Leben etwas zu tun hatte. Also lass sie bitte einen Schritt nach dem anderen gehen und überfall sie nicht gleich.“

Nach dieser Ansage stellte sie erneut eine dampfende Tasse vor Rebekkah ab und setzte sich gegenüber hin. Rebekkah folgte ihrem Beispiel, ließ sich auf dem Stuhl vor ihr nieder und spielte mit der heißen Tasse zwischen ihren Händen.

„Die Initii sind ein fahrendes Volk. Darunter darfst du dir keine von der Gesellschaft verteufelten Zigeuner vorstellen, eher … Reisende“, begann Jules zu erklären.

„Früher übernahmen wir sehr viele Recherche-Aufgaben für alle, die magisch begabt waren. Stell es dir so vor: Wir sind eine Art fahrende Bibliotheksgemeinschaft, das historische Gehirn der magischen Gesellschaft. Früher gab es manchmal richtige kleine Gemeinschaften, ein ganzes Dorf voller begabter Familien, aber die meisten Hexen blieben gerne unter sich. Wenn zu viele in einer Region oder gar an einem Ort wohnen, ging das langfristig selten gut“, mischte Zorin sich ein. „Nein, korrigiere. Es ging nie gut, nicht einmal in Irland.“

Er setzte sich nicht mit an den Tisch, sondern blieb lässig an die Küchenzeile gelehnt.

„Allzu viele gab es damals schon nicht von uns, heute erst recht nicht mehr. Wobei wir immer noch ein umfassendes Netzwerk bilden, digitaler Technik sei dank.“

„Und du ziehst durch die Weltgeschichte und machst was genau?“

Er lächelte und enthüllte zwei Grübchen, die ihm ein eher jungenhaftes Aussehen gaben.

„Ja und nein. Die meisten, mich eingeschlossen, haben eine feste Wohnung. Weißt du, wir haben auch Smartphones und müssten nicht mehr meilenweit reisen, um eine Botschaft zu übermitteln.“ Jetzt hatte er ihr eindeutig zugezwinkert. Wahrscheinlich hielt er sie für komplett dumm, dachte sich Rebekkah und rollte innerlich mit den Augen.

„Mit unserer Vergangenheit sind wir eine Art Forschungsgemeinschaft geworden. Durch die vielen Reisen haben die Initii wirklich viel Wissen aus allen Ecken der Erde angehäuft. Damit beraten wir quasi Hexen, die mit Fragen zu uns kommen. Und wie du mitbekommen hast, habe ich in der Nähe einen kleinen Garten, in dem ich ganz vorzügliche Brennnesseln ziehe.“

Wieder diese Andeutung eines schelmischen Lächelns, das Rebekkah mit einem schiefen Blick quittierte, bis es verblasste. Sie hatte gerade keine gute Laune und das durfte Zorin gerne wissen.

„Neben Hexen und den Initii gibt es noch die Laoch, eine Art Kriegerbund“, warf Jules ein. „Nenn sie Wächter, nenn sie magische Polizei. Oder Söldner, denn buchen kann sie quasi jeder.“

Jules Verachtung war mit Händen greifbar, aber Zorin musterte sie missbilligend.

„Man sollte vielleicht auch sagen, dass der Ruf der Laoch von ihren Aufträgen abhängt und andersherum. Sie achten also auf eine gewisse Auswahl.“

„Soweit du weißt, beziehungsweise sie es dich wissen lassen“, murmelte Jules.

„Okay okay, ich hab‘s verstanden, fangt jetzt bloß nicht an, euch zu kloppen“, unterbrach Rebekkah den Schlagabtausch.

„Als Initii kannst du mir eigentlich gleich meine erste Frage beantworten“, murmelte sie anschließend.

„Schieß los“, antwortete Zorin ohne zu zögern und schien aufrichtig erfreut.

„Was ist Magie?“

Da war sie, die Frage, die seit einer gefühlten Ewigkeit durch ihre Gedanken spukte. Sie zu stellen bedeutete, sich allmählich auch der Realität zu stellen.

„Sein oder nicht sein, das ist hier …“

Ein böser Blick von Jules und ein leichter Faustschlag von ihr auf den Tisch sorgten dafür, dass Zorin vorerst verstummte.

„Keine Spielchen“, warnte sie den Reisenden. „Meine Lunte ist maximal kurz im Moment.“

Abwehrend hob er die Hände.

„Alles gut, ich werde mich benehmen“, versprach er. Dann stieß er sich mit etwas Schwung von der Küchenzeile ab und zog sich einen Stuhl an den Tisch, sodass er zwischen Jules und Rebekkah saß.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752130416
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Januar)
Schlagworte
Hexen Magie Natur Irland Urban Fantasy

Autor

  • E.T. Byrnes (Autor:in)

E. T. Byrnes (Pseudonym), geboren 1987, ist deutsche Autorin der (Urban) Fantasy / Phantastik. Im Oktober 2015 erschien das Debüt „Dämonische Feuerseele“, 2017 „Das Wissen der Welt – Viktorias Reise“. 2021 folgt mit „Der Zauber einer alten Welt“ der Auftakt einer Serie rund um eine Hexe in Dublin. Aufgewachsen ist E.T. Byrnes in Hochfranken als jüngstes von 3 typischen Dorfkindern. Nach dem Abschluss des Studiums im Bereich Economics ist sie hauptberuflich als Chefredakteurin in München tätig.
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Titel: Der Zauber einer alten Welt: Die Protektorin (Band 1)