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Die Seele des Bösen - Rachlust

Sadie Scott 16

von Dania Dicken (Autor:in)
305 Seiten
Reihe: Sadie Scott, Band 16

Zusammenfassung

Bei ihrer Rückkehr aus dem Urlaub wartet Post auf Profilerin Sadie: Serienmörder Brian Leigh sucht Kontakt zu der Agentin, die ihn seinerzeit gestoppt und hinter Gitter gebracht hat. Bei einem Besuch im Gefängnis wittert Sadie, dass Brian etwas im Schilde führt und befürchtet einen Fluchtversuch bei Brians anstehender Verlegung nach San Quentin. Nur wenige Tage später ruft LAPD-Detective Nathan Morris mit einer Hiobsbotschaft an: Brian ist noch vor seinem Gefangenentransport geflohen – und zwar nicht allein. Er wird begleitet von Frauenmörder Tyler Evans, den Sadie vor Brian zur Strecke gebracht hat. Sofort bekommen Sadie und ihre Familie Polizeischutz, denn Brian und Tyler haben keinen Hehl daraus gemacht, dass sie Rache wollen. Eine atemlose Hetzjagd beginnt …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Los Angeles: Samstag, 4. August

 

„Ihr seid hier jederzeit wieder herzlich willkommen“, sagte Matt. Andrea nickte sofort.

„Das ist toll, wir haben hier noch längst nicht alles gesehen. Ich beneide euch so um euer Land!“

„Und viele Amerikaner sehen bis zur Rente nicht besonders viel davon“, sagte Matt bedauernd. „Ich habe schon jede sich bietende Gelegenheit zum Reisen genutzt, in den letzten Jahren auch mit Sadie.“

„Der Yellowstone war so toll“, schwärmte Sadie.

„Oh, der steht noch auf meiner Liste … Wir kommen wieder“, sagte Andrea.

„Geh nicht“, sagte Libby nicht ganz ernst gemeint und etwas theatralisch zu Julie, während sie ihr um den Hals fiel.

„Ich will auch gar nicht“, murrte Julie. „Es ist so viel cooler hier als in England.“

„Ach, das ja nun auch wieder nicht“, widersprach Libby. „England ist klasse.“

„Lass uns tauschen!“

„Ich fürchte, wir müssen langsam“, sagte Matt mit Blick auf die Uhr. Gern hätten sie alle Andrea und ihre Familie zum Flughafen begleitet, aber so viel Platz hatten sie nicht im Auto. Matt würde sie allein zum Thomas Bradley International Airport fahren.

„Sieht so aus“, sagte Sadie und umarmte Andrea noch ein letztes Mal. „Wir bleiben in Kontakt.“

„Wie immer“, sagte Andrea und ging zum Auto. Libby und Julie nahmen Abschied, dann blieben Sadie, Hayley und Libby in der Auffahrt zurück, während Matt den Motor startete und den Weg zum Flughafen einschlug. Sadie und Libby gingen wieder ins Haus. Hayley saß zufrieden auf Sadies Arm und zappelte herum. Sie gingen in die Küche, wo Libby sich etwas zu trinken aus dem Kühlschrank nahm. Dann seufzte sie traurig.

„Julie ist klasse … hier kenne ich niemanden, der ist wie sie.“

„Das verstehe ich“, erwiderte Sadie. „Mit ihrer Mutter geht es mir ähnlich.“

„Du hast mit Andrea aber deutlich mehr Gemeinsamkeiten“, sagte Libby.

„Sicher, aber Julie hat durch den Beruf ihrer Mutter eine bestimmte Sicht auf die Dinge. Sie ist schon mit vielen Dingen in Kontakt gekommen, die Gleichaltrige nicht kennen. Deshalb versteht sie dich auch gut“, sagte Sadie.

Libby nickte. „Sie wird mir fehlen.“

Das konnte Sadie wirklich gut nachvollziehen, denn sie hatte die Mädchen zusammen gesehen. Sie waren einander vertraut, konnten stundenlang reden, verstanden sich wunderbar. Und das, obwohl sie tausende Meilen voneinander entfernt lebten, mehrere Zeitzonen sie trennten und sie sich erst zweimal persönlich gesehen hatten. Aber Sadie wusste, dass sie sich regelmäßig Mails schrieben und wann immer sie Gelegenheit hatten und die Zeitverschiebung es zuließ, telefonierten sie auch. Für Libby war das ein Geschenk. Sadie war froh, dass sie die Chance gehabt hatte, Libby mit nach England zu nehmen, um ihr das zu ermöglichen.

Überhaupt konnte sie Libby so viel ermöglichen, was noch vor zwei Jahren für das Mädchen undenkbar gewesen war. Inzwischen war Libby in dieser Welt angekommen, hatte sich an alles gewöhnt, wirkte gefestigt. Aber ihr alltägliches Leben spielte dabei auch eine große Rolle: In der Schule wurde sie inzwischen ganz normal behandelt, niemand machte einen Unterschied zwischen Mädchen und Jungen. Sie hatte bereits den Führerschein und konnte Auto fahren – etwas, woran in der Sekte für sie kein Denken gewesen wäre. Sie durfte jetzt das normale Leben eines amerikanischen Teenagers leben, anstatt zwangsverheiratet und vermutlich vergewaltigt ihr erstes Kind eines Mannes zu hüten, der nicht bloß sie als Frau hatte. Sadie mochte sich die Trostlosigkeit und Furcht nicht vorstellen, die dieses Leben wohl prägten. Sie verstand so gut, dass Libby davor geflohen war und sie war wirklich froh, dass sie Libby jetzt ein wenig begleiten konnte. Das hatte man für sie schließlich auch einst getan. 

Sadie war ebenfalls etwas traurig, dass die unbeschwerte Zeit des Urlaubs schon vorbei war. Sie hatte die Zeit am Grand Canyon genossen, auch wenn sie ihr viel zu kurz erschienen war. Sie konnte Andrea gut verstehen, die sich in ihrem Urlaub regelrecht in die Wüste der USA verliebt hatte. Es war ihr immer ähnlich gegangen.

Aber nun standen viele Veränderungen bevor. Matt würde in zwei Tagen wieder zur Arbeit gehen und Hayley würde die Tage ab Libbys Schulbeginn bei einer wundervollen und lieben Tagesmutter verbringen, nach der Sadie und Matt lange und gezielt gesucht hatten. Matt war öfter mit Hayley dort gewesen, um sie an alles zu gewöhnen, und auch Sadie hatte sich alles genau angesehen. Was ihre Tochter betraf, wollte sie ganz sicher gehen, dass sie es gut antraf. Sie liebte Hayley einfach viel zu sehr und war davon überzeugt, dass ihre Tochter das gut meistern würde.

Während Libby in ihr Zimmer ging, setzte Sadie Hayley auf dem Wohnzimmerteppich ab und räumte ein wenig in der Küche auf. Sie war schließlich so vertieft in die Hausarbeit, dass sie Matts Rückkehr erst bemerkte, als er im Flur nach ihr rief. Sie hockte in diesem Moment vor der Waschmaschine.

„Was ist denn?“, antwortete sie.

„Du hast schon wieder Post“, sagte er.

Sadie stöhnte. Sie wusste, Matt meinte damit einen weiteren Brief von Brian Leigh. Er schien es sich jetzt zur Gewohnheit zu machen, sie mit Briefen zu nerven. Den ersten hatte er ihr ziemlich unmittelbar nach der Verkündung seines Strafmaßes geschrieben, das nun war bereits der vierte. Sadie wunderte sich wirklich, dass er sein knappes Taschengeld für Briefmarken ausgab, nur um der FBI-Agentin zu schreiben, die ihn hinter Gitter gebracht hatte.

„Kannst ihn behalten“, erwiderte sie knapp.

Als keine Antwort kam, wunderte sie sich schon und dachte, dass das Problem damit erledigt sei. Allerdings hatte sie sich getäuscht. Sie fand Matt mitten in der Küche vor – lesend. Er hatte den Brief geöffnet.

„Was tust du da?“, fragte sie überrascht.

„Was du gesagt hast. Ich will wissen, was dieser Kerl dir schreibt.“

„Ich nicht“, murmelte sie.

Matt las den Brief noch zu Ende und blickte dann auf. „Solltest du aber.“

„Wieso?“ Skeptisch hob Sadie eine Augenbraue.

Wortlos hielt Matt ihr den Brief hin und Sadie nahm ihn in die Hand, bevor sie zu lesen begann.

 

Ich verstehe nicht, warum du mich ignorierst. Du hast doch auch mit Carter Manning hier gesprochen, das hat er mir erzählt. Ich sagte ja, hier sitzen einige, die mit dir zu tun hatten. Ihre Berichte sind teilweise deckungsgleich, sie alle haben einen gewissen Respekt vor dir. Sogar Juan Filhos – den hast du ziemlich beeindruckt, um ehrlich zu sein.

Aber die beiden meinte ich gar nicht, als ich letztens von jemandem sprach, der mir Dinge über dich erzählt hat. Eigentlich nicht bloß über dich, sondern speziell über deinen Ehemann. Sicher weißt du, was ich meine, wenn ich sage, dass Tyler Evans sie mir erzählt hat.

Ich denke wirklich, du solltest mal herkommen und dich mit mir unterhalten. Nicht unbedingt darüber … eher ganz allgemein. Lass uns reden, Special Agent Sadie Whitman, FBI-Profilerin. Du wirst es nicht bereuen.

Wobei ich einsehe, dass du Libby dann schlecht mitbringen kannst. Sie will bestimmt nicht hören, was ich dir über die Morde erzählen kann. Wir hatten ja nie mehr wirklich die Gelegenheit, ins Detail zu gehen.

Aber noch ist nicht klar, wann ich nach San Quentin komme – vielleicht haben wir bis dahin noch öfter Gelegenheit, zu reden. Was meinst du?

 

Sadies Blick hatte sich verdüstert. „Er droht dir?“

„Nein, so dumm ist er nicht. Er wollte ja, dass der Brief hier ankommt“, grollte Matt.

„Er will dir Scherereien machen, wenn ich nicht hinfahre! Ich fasse es nicht … Tyler hat ihm das erzählt?“ Sadie schüttelte ungläubig den Kopf.

An Tyler Evans hatte sie ja schon gedacht, seit Brian ihr das erste Mal davon geschrieben hatte, dass er im Knast mit jemandem über sie gesprochen hatte. Carter Manning hatte sie für sich ausgeschlossen, und an Juan Filhos hatte sie nicht wirklich geglaubt. Joey Baker konnte es gar nicht sein, der saß in Chino ein, genau wie der Pasadena Stalker Julio Hernandez. Aber Tyler Evans war ebenfalls in Lancaster inhaftiert. Chino war ziemlich überbelegt, deshalb war das kein Wunder. Craig Conway fiel aus, der saß seine Strafe ja längst in England ab.

Also hatte sie Recht gehabt. Es war Tyler. Und Tyler wusste von Stacy.

Sadie musste zugeben, dass sie anfangs tatsächlich hin- und hergerissen gewesen war und überlegt hatte, ob sie nicht tatsächlich nach Lancaster fahren und mit Brian sprechen sollte. Eine gewisse Neugier konnte sie nicht leugnen – allerdings hatte er ihr jede ernsthafte Lust darauf mit seinem Ausbruch im Gerichtssaal ausgetrieben. Sie hatte dabei auch an Libby gedacht, denn sie glaubte, dass Libby sich schwer damit tun würde, zu verstehen, warum Sadie jetzt noch mit Brian sprechen wollte. Nicht zuletzt war der Zeitpunkt schlecht gewesen, aber Brian gab ja einfach keine Ruhe.

„Ich kenne diesen Gesichtsausdruck“, sagte Matt.

Sadie blickte auf. „Ich könnte ihm den Hals umdrehen!“

„Weshalb?“

„Das hat mir gerade noch gefehlt, dass er mit Tyler Evans spricht.“

„Das hattest du doch sowieso vermutet.“

„Ja … leider. Die zwei verstehen sich bestimmt hervorragend.“

„Du musst das nicht meinetwegen tun“, sagte Matt. „Soll er doch machen, was er will. Evans konnte mir damals schon nichts anhaben.“

„Ich lasse es bestimmt nicht drauf ankommen“, grollte Sadie.

„Also willst du hin.“

Sie verschränkte die Arme vor der Brust, den Brief immer noch in der Hand, und seufzte. „Ich weiß es nicht. Natürlich wäre es interessant, mit ihm zu reden, aber ich könnte ihm wirklich den Hals umdrehen. Eigentlich will ich ihn nicht wiedersehen. Und Libby freut sich bestimmt auch nicht.“

„Sie wird es verstehen.“

„Ja, schon …“ Sadie seufzte erneut. „Ich frage Cassandra, was sie dazu meint.“

„Gute Idee. Vielleicht will sie mit.“

Das hielt Sadie ebenfalls für möglich. Sie ging zum Schreibtisch und holte die anderen Briefe von Brian heraus. Cassandra kannte nur die ersten beiden, der dritte war während ihres Urlaubs gekommen. Doch bevor sie ihre Kollegin anrief, überflog sie die Briefe selbst noch einmal. Vielleicht fiel ihr noch etwas auf.

Der zweite war etwa eine Woche nach dem ersten eingetroffen und hatte sie tatsächlich ins Grübeln gebracht. Er hatte so versöhnlich geklungen.

 

Mein erster Brief sollte dich eigentlich erreicht haben, da hatte die Gefängnisleitung nichts zu beanstanden. Willst du es nicht machen wie John Douglas und Robert Ressler, die Urväter deiner Disziplin, und einen Austausch mit mir führen? Solange ich noch hier in Lancaster bin, wäre es doch ein Leichtes für dich. Interessieren dich meine Beweggründe denn gar nicht? Vieles hast du ja vor Gericht schon ganz richtig ausgeführt, das muss ich zugeben. Ich verstehe nur nicht, warum du glaubst, dass ich nicht zu einem eigenen Szenario in der Lage gewesen wäre. Dass ich berühmte Vorbilder hatte, heißt doch nicht, dass ich unkreativ bin. Kannst du dir vorstellen, was dazugehört, jemanden wie Dennis Rader nachzuahmen? Man hat ihn über drei Jahrzehnte nicht geschnappt. Den Zodiac-Killer hat man bis heute nicht.

Ich weiß, in diese Liga habe ich es nicht ganz geschafft. Mein Vorliebe für Libby hat mir den Hals gebrochen. Kannst du dir vorstellen, wie es ist, jemanden sympathisch zu finden und ihn gleichzeitig weh tun zu wollen? Das ist ganz schön anstrengend.

Ich wünschte, ihr würdet mich besuchen kommen. Beide. Ich würde Libby gern sagen, dass ich sie nicht umbringen wollte. Auch nicht bei dem Unfall. Ich wollte, dass sie meine Caril Ann ist. Ich würde ihr ja einen Brief schreiben und ihr das selber sagen, aber den würdest du ihr vermutlich nicht geben und ich glaube auch nicht, dass sie ihn lesen würde.

Aber du liest meine Post, denn ich glaube, du bist neugierig. Antworte mir doch wenigstens.

 

Bei aller scheinbaren Versöhnlichkeit hatte der Brief Sadie jedoch auch geärgert, denn Brian hatte ihr für ihren Geschmack zu viel von Libby gesprochen. Sie musste ihre Adoptivtochter beschützen und hatte ihr diesen Brief auch gar nicht gezeigt. Zwar wusste Libby, dass Brian ihr schrieb, aber sie hatte nicht weiter gefragt und Sadie hatte auch von sich aus nichts mehr dazu gesagt.

In seinem nächsten Brief war er dann etwas direkter geworden.

 

Es ist so schade, dass du mir überhaupt nicht antwortest. Ich weiß, du hast Gründe, wütend auf mich zu sein. Nimmst du das mit Libby persönlich? Bitte nicht. Ihr müsst mir glauben, dass ich ihr nichts tun wollte. Das ist alles entgleist. Ich wollte doch auch keine Verfolgungsjagd. Das alles tut mir leid.

Willst du wirklich nicht nach Lancaster kommen, Special Agent? Ich hätte zu gern gewusst, wie du mein Profil erstellt hast. Ich könnte dir erklären, wo du vielleicht falsch gelegen hast. Das würde doch bestimmt für zukünftige Fälle helfen, oder nicht?

Immerhin in einer Hinsicht bin ich Charles Starkweather ähnlich: Man hat mich auch mit neunzehn zum Tode verurteilt. Darauf bin ich nicht stolz, aber ich bin auch nicht wütend. Ja, ich habe all diese Menschen getötet. Das habe ich nie geleugnet. Aber dafür gab es Gründe. Du hast gesagt, nicht jeder Mensch mit einer schweren Kindheit wird zum Mörder. Das stimmt, aber du hast mich nie wirklich verstanden.

Ich meine das ernst, lass uns reden. Schreib mir doch wenigstens. Ich hätte tatsächlich auch Fragen an dich. Ich habe hier Dinge über dich erfahren, die ich wirklich spannend finde. Weißt du, von wem? Du hast doch sicher einen Verdacht.

Bitte richte Libby einen ernst gemeinten Gruß von mir aus.

 

Diesen Brief hatte Sadie erst zwei Tage zuvor bei ihrer Rückkehr aus Arizona entdeckt und bislang weitgehend ignoriert. Überhaupt war der Besuch von Andrea und ihrer Familie der Grund dafür, dass sie sich nicht weiter mit dem Thema beschäftigt hatte. Aber davon wusste Brian natürlich nichts und es wäre ihm wohl auch egal gewesen.

Dass er sich mit Tyler Evans angefreundet hatte, gefiel Sadie überhaupt nicht. Warum konnte man ihn nicht endlich nach San Quentin verlegen? Es war ein Kreuz mit den überfüllten Gefängnissen.

Und Tyler Evans hielt sie durchaus für gefährlich. Sie konnte sich prima vorstellen, dass Brian und Tyler sich gut verstanden. Tyler war zwar ein paar Jahre älter als Brian und hatte einen ganz anderen Hintergrund, aber was brutale Morde anging, hatten sie sich etwas zu sagen. Tyler hatte Anita Paley im Drogenrausch vergewaltigt, gefoltert und brutal totgeschlagen. Er war nicht der typische Serientäter, aber unter den passenden Voraussetzungen hätte er es wieder getan.

Und Brian … sie konnte das Todesurteil für ihn einfach nicht falsch finden, denn sie hielt ihn für äußerst gefährlich. Er war erst neunzehn und hatte trotzdem schon neun Menschen getötet. Er war davon besessen gewesen, hatte es präzise und durchdacht angestellt und die Ermittler monatelang vorgeführt.

Tatsächlich war ihm nur seine Schwäche für Libby zum Verhängnis geworden. Hätte er sich ihr nicht offenbart, wäre nichts passiert. Aber er hatte sich ihr anvertraut und sie entführt – nur deshalb war Sadie misstrauisch geworden.

Er hatte etwas an sich, das ihr eine Gänsehaut bescherte. Sie konnte es nicht genau benennen, aber sie war selten bei einem Täter so froh gewesen, ihn hinter Gittern zu wissen, wie bei Brian. Wie Tyler Evans war Brian ein sadistischer Vergewaltiger. Das hatte er zwar nicht bei jeder seiner Taten bewiesen, aber der Tod seines ersten Opfers, der Schülerin Emily Bryant, musste schrecklich gewesen sein.

Matt verschwand in der Küche, während Sadie zum Telefon griff und Cassandra anrief. Sie hatte jedoch zuerst Jason am Telefon, der erst auf die Suche nach seiner Freundin gehen musste.

„Sadie für dich“, sagte er schließlich und reichte Cassandra das Telefon.

„Hey, was gibt es? Ist dein Besuch schon weg?“, fragte Cassandra.

„Ja, Matt hat sie vorhin zum Flughafen gebracht. Ich rufe an wegen Brian Leigh.“

„Ah.“ Cassandra klang wissend. „Neue Post?“

„Kann man so sagen. Ein Brief kam, als wir in Arizona waren, und vorhin noch ein weiterer. Ich überlege ernsthaft, ob wir ihm nicht am Montag einen Besuch abstatten sollen.“

Darüber musste Cassandra erst nachdenken. „Jetzt also doch?“

„Ja, er hört sonst doch nicht auf. Hören wir uns an, was er zu sagen hat.“

„Du bist neugierig.“

„Auch, wobei ich nach seiner wüsten Drohung im Gerichtssaal wirklich keine Sehnsucht nach ihm habe.“

„Glaube ich dir. Aber ja, bin dabei. Ich habe gerade keinen Fall, nur Papierkram. Passt also hervorragend.“

Sadie lächelte. „Treffen wir uns im Büro?“

„Sicher.“

„Sehr gut. Bis Montag.“

Cassandra verabschiedete sich von ihr und Sadie legte auf. Sie hatte wirklich keine Sehnsucht nach Brian, aber es half ja nicht.

Sie wollte sich erst einmal nicht weiter damit auseinandersetzen und widmete sich wieder der Hausarbeit – nach der Abreise ihrer Gäste musste noch einiges aufgeräumt werden und manches war auch liegengeblieben. Mittendrin erwachte Hayley und Sadie ging schnell nach oben, um ihre Tochter aus dem Bettchen zu nehmen. Als Hayley ihre Mutter im Halbdunkel des Schlafzimmers erkannte, streckte sie gleich ihre Ärmchen nach oben und strahlte übers ganze Gesicht. Sadie wurde warm ums Herz.

„Hey“, sagte sie und nahm ihre Tochter auf den Arm. In ein paar Tagen wurde Hayley schon ein Jahr alt. Sadie konnte es nicht fassen. Für sie war es, als sei Hayleys Geburt erst gestern gewesen. Sie konnte sich gut an alles erinnern und war stolz und glücklich zugleich, dass alles so abgelaufen war. Durch Hayley hatte sie ein ganz neues und unbekanntes Selbstvertrauen gewonnen und allein dafür liebte sie ihre Tochter über alles. Sie drückte sie an sich und drückte ihr einen Kuss auf die weiche Wange, dann ging sie mit Hayley hinüber zu Libbys Zimmer und klopfte dort an die angelehnte Tür. Sie konnte leise Musik hören.

Libby saß vor ihrem Laptop und war damit beschäftigt, sich Videos bei Youtube anzusehen. Sadie lächelte. Es war schön für sie, zu wissen, dass Libby inzwischen ganz normale Dinge tun konnte.

„Hey“, sagte Libby und pausierte das Video. „Da ist ja meine kleine Schwester! Gut geschlafen?“

Hayley strahlte sie fröhlich an. Das reichte Libby als Antwort.

„Was gibt’s?“, fragte Libby an Sadie gewandt.

„Ich muss mit dir über Brian reden“, sagte Sadie und nahm mit Hayley auf Libbys Bettkante Platz.

„Ah.” Libby verzog murrend das Gesicht. „Hat er wieder geschrieben?“

Sadie nickte. „Er ist da irgendwie ziemlich hartnäckig.“

„Wie viele Briefe sind das jetzt?“

„Vier.“

„Oh.“ Libby nickte. „Und was will er?“

„Mit mir reden. Er will ja, dass ich ihm antworte … oder, besser noch, zu ihm ins Gefängnis komme.“

„Das könnte ihm so passen.“

„Am liebsten hätte er es, du kämst mit.“ Sadie wollte ehrlich zu Libby sein, die nur verächtlich kicherte.

„Ist nicht sein Ernst.“

„Doch, das schon, aber natürlich kommt das nicht in Frage. Ich wollte dir nur sagen, dass ich am Montag wirklich mit Cassandra hinfahren werde. Vielleicht reicht ihm das.“

„Okay“, sagte Libby bloß.

„Ich hatte gehofft, dass es kein Problem für dich ist.“

„Nö, musst du ja wissen. Das ist deine Arbeit. Wenn du mit ihm reden willst, nur zu. Solange ich das nicht muss.“

„Nein, dafür werde ich schon sorgen. Er würde dir ja auch gern schreiben, weiß aber, dass ich dir keinen Brief geben würde.“

„Ist auch richtig so. Er hat mich geküsst und mir dann gesagt, dass er ein Serienmörder ist. Das ist doch krank.“ Mit einem unwirschen Gesichtsausdruck zog Libby die Schultern hoch und schüttelte sich.

„Du konntest es nicht wissen.“

„Nein, aber das war mies von ihm. Einfach nur mies. Und ich mochte ihn …“ Es klang, als sei Libby enttäuscht über sich selbst. Sadie lächelte ihr zu.

„So etwas passiert. Sei nicht so hart zu dir selbst.“ Mit diesen Worten stand sie auf und ging langsam zur Tür. Die beiden tauschten einen vielsagenden Blick.

 

 

Antelope Valley State Prison, Lancaster: Donnerstag, 15. März

 

Hoffentlich hatte der heutige Speiseplan etwas Gescheites zu bieten. Das war einer der wirklich anstrengenden Aspekte des Gefängnislebens. Wie gern wäre Brian zwischendurch mal in einen Burger-Laden gegangen. Das konnte er jetzt vergessen. Und zwar für immer, das war ihm klar.

Gelangweilt wanderte er mit der Schlange näher auf die Essensausgabe zu. Als jemand sich hinter ihm anstellte, achtete er gar nicht weiter darauf, bis er angesprochen wurde.

„Ich habe gehört, du wurdest schuldig gesprochen.“

Brian drehte sich um. „Ich hatte nichts anderes erwartet.“

Er musterte den jungen Mann hinter sich, schätzte ihn auf Mitte zwanzig, ein paar Jahre älter als sich selbst. Er hatte dunkles Haar, war gutaussehend. Ein Machotyp. Und er hatte stahlblaue Augen. Brian wurde das Gefühl nicht los, ihn schon mal gesehen zu haben – vor seiner Haft. Außerhalb.

„Wusstest du, dass wir eine Gemeinsamkeit haben?“, fragte der andere.

Brian schüttelte den Kopf. „Ich weiß doch gar nicht, wer du bist.“

„Okay, mein Fehler.“ Er reichte Brian die Hand. „Tyler Evans.“

Brian schüttelte seine Hand und nickte ihm zu. „Weshalb sitzt du hier?“

Die Standardfrage, die immer wieder aufkam. Ihm hatte man diese Frage anfangs nur ein paar Mal gestellt, seitdem wusste jeder Bescheid. Inzwischen war er im Antelope Valley State Prison bekannt wie ein bunter Hund. So junge Serienmörder gab es nicht oft.

„Mord“, sagte Tyler. „Und Vergewaltigung.“

„Und, warst du’s?“

Tyler grinste. „Diplomatie ist ja nicht so dein Ding.“

„Wer hat denn angefangen?“, erwiderte Brian achselzuckend.

„Okay, der Punkt geht an dich.“

Brian grinste. „Ich will nur wissen, mit wem ich es hier zu tun habe.“

„Das weißt du wirklich nicht, oder?“

Fragend hob Brian eine Augenbraue. „Sollte ich?“

„Ich bin seit etwas über einem Jahr hier. Das war auch ein Thema in den Medien.“

Brian zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Erzähl mal.“

„Gleich“, sagte Tyler, denn sie waren fast an der Reihe und holten sich beide erst einmal etwas zu essen. Die unverhoffte Gesellschaft beim Essen kam Brian sehr gelegen, denn bis jetzt hatte er noch niemanden, mit dem er sich wirklich gut verstanden hätte. Niemand wusste so recht, was man von ihm zu halten hatte.

Mit gefüllten Tabletts machten die beiden sich schließlich auf den Weg zu einem Tisch in der Ecke des Speisesaals und setzten sich einander gegenüber. Brian begann hungrig zu essen. Immerhin – Chicken Wings.

„Ich war zusammen mit einem Freund in einem Hotel … wir hatten eine Edelprostituierte gebucht“, erzählte Tyler. „Wir haben gekokst … und plötzlich war sie tot. Mein Kumpel hat mich ganz schön ans Messer geliefert.“

„Ist er auch hier?“, fragte Brian.

„Nein, er ist Engländer und sitzt jetzt zu Hause seine Strafe ab. Ist auch besser für ihn, ich würde ihm am liebsten den Hals umdrehen.“

„Weil er die Frau umgebracht hat?“

Tyler schüttelte den Kopf. „Weil er sein Maul nicht halten konnte. Aber eigentlich wollte ich mit dir reden, weil uns etwas anderes verbindet.“

„Und was?“, fragte Brian mit halb vollem Mund.

„Special Agent Sadie Whitman.“

Brian hörte auf zu kauen. „Ist nicht dein Ernst.“

Tyler nickte. „Bei mir waren es auch Detective Morris und Special Agent Whitman, die mir den Hals gebrochen haben.“

„Ist ja ein Ding.“ Das meinte Brian ehrlich, er war wirklich erstaunt.

„Ich fürchte, da hattest du einfach Pech. Die Frau ist wie eine Gedankenleserin.“

„Scheiße, ja“, stimmte Brian ihm zu. „Die ist echt unheimlich.“

„Ich war erstaunt, dass sie ganz allein rausgefunden hat, was bei uns in diesem Hotelzimmer gelaufen ist. Ihretwegen sitze ich jetzt mindestens fünfundzwanzig Jahre hier, wahrscheinlich mehr.“

Brian zuckte mit den Schultern. „Bei mir müssen sie sich noch überlegen, ob ich ein paar Mal lebenslänglich kriege oder die Giftspritze.“

„Ich weiß“, sagte Tyler. „Ich wette, du könntest ihr den Hals umdrehen.“

„Hätte was“, gab Brian zu. „Mein Fehler war, dass ich eine Schwäche für ihre Pflegetochter entwickelt habe.“

„Oh“, machte Tyler und grinste süffisant. „War sie es wert?“

„Ich dachte, das wird was … aber wenn du mitbekommen hast, was gelaufen ist … diese Verfolgungsjagd auf dem Freeway …“

„Nicht genau“, gab Tyler zu. „Ich hab nur im Zuge deines Schuldspruches mitbekommen, dass sie im Gericht war. Ich dachte, darauf muss ich dich mal ansprechen, wenn ich dich sehe.“

„Klingt so, als hättest du so ein persönliches Ding mit ihr.“

„Schon. Ihr eigener Mann hat eine Frau umgebracht und sie deckt ihn.“

Brian hielt in seiner Bewegung inne und ließ die Gabel wieder sinken. „Ist nicht wahr.“

Tyler nickte. „Ich kann dir so einiges erzählen.“

„Ist ja interessant …“

„Ich sehe schon, wir müssen uns mal ausführlicher unterhalten.“

Brian grinste. „Wenn du willst.“

„Ich weiß gar nicht so viel über dich. Es hieß immer nur, du seist ein Serienmörder und erst achtzehn.“

„Inzwischen bin ich neunzehn, aber ja“, sagte Brian.

Tyler lachte amüsiert. „Als ob das einen Unterschied macht. Wie kommt man dazu, mit achtzehn so viele Leute umzubringen?“

Unschlüssig zuckte Brian mit den Schultern. „Lange Geschichte. Du kommst mir aber auch irgendwie bekannt vor.“

„Kann schon sein. Es war ein großes Thema in den Medien, dass der Sohn des Bürgermeisters eine Hure umgebracht hat.“

Brians Augen wurden groß. „Du bist …“

Tyler nickte. „Ja. Das bin ich.“

„Daher kenne ich dich! Sie hat also auch gegen dich ermittelt.“

„Ja, so wie gegen einige andere hier. Ich bin nicht der Einzige hier, der sie kennt.“

„Das habe ich bislang überhaupt nicht mitbekommen“, musste Brian zugeben.

„Sie haben hier alle Respekt vor dir. Finden dich unheimlich. Ich wusste erst nicht, was ich von dir halten soll, aber ich dachte, genau deshalb spreche ich dich mal an. Wusste gar nicht, dass sie jetzt eine Pflegetochter hat.“

„Doch … sie ist fünfzehn und kommt aus einer Mormonensekte. Sie hat mir erzählt, dass sie seit den Ermittlungen bei Agent Whitman lebt. Ihre Mutter wurde umgebracht.“

Tyler grinste breit. „Wenn man dir so zuhört, könnte man glatt meinen, du bist verknallt in die Kleine.“

„War ich auch“, gab Brian freimütig zu. „Und?“

„Das ist bitter. Hat sie dich wenigstens rangelassen?“

„Dazu kam es nie.“

„Zu dumm. Aber schon interessant – als die Ermittlungen gegen mich liefen, war das Mädchen noch nicht da.“

„Agent Whitman hat inzwischen auch ein eigenes Kind.“

Tyler lachte. „Wie ehrfürchtig du sie Agent Whitman nennst.“

Brian zuckte mit den Schultern. „Stimmt doch.“

„Schon klar … egal. Sie hat ein eigenes Kind?“

Brian nickte. „Ich wollte erst sie … hätte auch seinen Reiz gehabt. Wäre bestimmt anders gewesen mit einer Schwangeren.“

Tyler verzog mit einer Mischung aus Ekel und Anerkennung das Gesicht. „Du bist wirklich nicht mehr ganz dicht, wie die anderen sagten.“

„Was denn?“, fragte Brian arglos. „Sag mir nicht, du hättest nie drüber nachgedacht.“

„Doch, klar. Sie hätte eine richtige Abreibung verdient.“

Gedankenversunken nickte Brian. „Die Chance kriege ich wohl nicht mehr.“

„Sei doch nicht so voreilig!“

 

 

Los Angeles: Montag, 6. August

 

„Ist das seltsam“, sagte Matt, während er auf den Parkplatz des FBI fuhr. Innerhalb des letzten Jahres war er nicht oft dort gewesen. Zwar hatte er ein paar Wochen gearbeitet, als Sadie nach ihrer schweren Schussverletzung ausgefallen war, aber seitdem war er nur zweimal dort gewesen und fühlte sich jetzt ein wenig fremd.

„Glaube ich dir“, sagte Sadie. „Ich hoffe, wir muten Libby nicht zu viel zu.“

„Es war ihre Idee.“

„Ja, aber sie ist den ganzen Tag allein mit Hayley.“

„Sie schafft das, glaub mir.“

„Das macht sie, weil sie glaubt, sie schulde uns was.“

„Nein, das denke ich nicht. Sie liebt unsere Tochter wie eine kleine Schwester. Wir sind jetzt eine Familie, Sadie. Sie trägt jetzt sogar unseren Namen und ist erbberechtigt. Lass sie auf Hayley aufpassen. Sie meldet sich schon, wenn etwas ist.“

Das alles versuchte Sadie sich auch zu sagen, aber sie hatte trotzdem ein schlechtes Gewissen. Libby hatte noch eine Woche Ferien und selbst angeboten, sich in dieser Woche um Hayley zu kümmern, damit sie noch nicht zur Tagesmutter gehen musste. Und auch, wenn Sadie sich Gedanken machte, musste sie zugeben, dass sie stolz auf Libby war.

Am Eingang ließ Matt seinen Ausweis ohne Probleme einlesen. Dabei wirkte er ein wenig unsicher, was Sadie nachvollziehen konnte. Schließlich hatte er sogar mit dem Job als solchem gehadert und machte die Arbeit am Schreibtisch jetzt als Kompromiss. Gemeinsam fuhren sie mit dem Aufzug nach oben und ungeachtet der anderen Personen im Aufzug gab Sadie Matt einen Kuss, als er auf seiner Etage aussteigen musste. Sie fuhr noch zwei Stockwerke höher und ging auf ihrer Etage gleich auf die Suche nach dem Schlüssel für einen Dienstwagen. Sie war noch dabei, den Empfang zu quittieren, als Cassandra plötzlich neben ihr stand.

„Guten Morgen“, sagte sie und begrüßte Sadie mit einer Umarmung.

„Dir auch einen guten Morgen“, erwiderte Sadie lächelnd. Cassandra musterte sie demonstrativ von Kopf bis Fuß.

„Was?“, fragte Sadie.

„Supervisory Special Agent Whitman … sieht man dir gar nicht an.“

Sadie lachte. „Nein, wie soll das auch aussehen?“

„Das ist toll. Du kannst stolz auf dich sein.“

Zwar lächelte Sadie, aber dann wurde sie wieder ernst. „Das ist kein Problem?“

Cassandra winkte ab. „Gar nicht. Ich habe überhaupt keine Ambitionen in diese Richtung. Ich freue mich nur, dass wir wirklich bald neue Kollegen bekommen.“

„Das wird auch Zeit … Und heute zur Abwechslung mal ein Ausflug.“

„Ich bin gespannt. Was denkt Libby darüber?“

„Sie ist einverstanden. Es ist ihr egal. Sie betrachtet es als Bestandteil meiner Arbeit.“

„Kluges Kind. Und sie passt heute allein auf Hayley auf? Freut Matt sich auf die Arbeit?“

Die beiden plauderten über die verschiedensten Dinge, während sie wieder nach unten fuhren und sich im Parkhaus auf die Suche nach dem Dienstwagen machten. Cassandra überließ Sadie den Fahrersitz und machte es sich daneben bequem.

„Ich muss mir doch noch mal ansehen, was Brian dir überhaupt geschrieben hat“, sagte sie dann.

„Stimmt“, sagte Sadie und griff nach ihrer Tasche, um die Briefe herauszuholen, die sie in weiser Voraussicht eingepackt hatte. Danach fuhr sie auf die Interstate 405 und schwamm in aller Ruhe im Berufsverkehr mit. Je näher sie den Bergen kamen, desto flüssiger wurde der Verkehr.

„Tyler Evans“, sagte Cassandra kopfschüttelnd, nachdem sie alle Briefe gelesen hatte. „Du hattest ja vermutet, dass es um ihn geht.“

„Das passte einfach am besten. Die beiden liegen bestimmt auf einer Wellenlänge.“

„Vermutlich … wobei ich nicht weiß, wer der Schlimmere von beiden ist.“

„Brian“, sagte Sadie ohne zu zögern. „Er hat sich bewusst dafür entschieden, ein Serienkiller zu sein. Tyler ist bloß ausgerastet.“

„Er wäre wieder dazu fähig.“

„Bestimmt, aber trotzdem ist er kein Serienmörder wie Brian Leigh.“

„Nein, das ist wahr.“ Cassandra überflog den letzten Brief noch einmal. „Dass wir jetzt hinfahren, hat aber nicht damit zu tun, dass er Matt anspricht, oder?“

Mit dieser Frage hatte Sadie nicht gerechnet. Sie starrte tunlichst geradeaus auf die Fahrbahn. „Nein, wieso?“

„Weil du dich immer dagegen verwahrt hast, Brian besuchen zu wollen. Und jetzt …“

„Er nervt mich einfach nur“, sagte Sadie.

Cassandra erwiderte nichts. Sie hatten schon einige Meilen zurückgelegt, als Cassandra das Schweigen doch wieder brach.

„Jason hat sich damals Sorgen um Matt gemacht.“

Sadie sah sie kurz an, überrascht über den plötzlichen vermeintlichen Themenwechsel. „Wann?“

„Da war doch dieser eine Tag, an dem Matt einfach von der Arbeit verschwunden ist. Das hat Jason mir nach Feierabend erzählt. Das war irgendwie seltsam. Er sagte damals, er hätte Angst, dass Matt sich was antut. Deshalb hat er dich auch gleich angerufen.“

Sadies Finger krampften sich ums Lenkrad. „Das hat er mir nie gesagt.“

„Nein, er hat das auch Matt gegenüber nie angesprochen. Nie direkt jedenfalls. Ich habe daraufhin mal überlegt … das hätte gepasst, oder?“

Sadie starrte wieder bloß auf die Straße und überlegte noch, was sie erwidern sollte, als Cassandra sagte: „Das geht zu weit, sorry. Ich ziehe die Frage zurück.“

„Nein, schon gut“, sagte Sadie. „Es ist ja keine Schande.“

„Es hat mir immer sehr leid getan, weißt du … Ich habe damals überlegt, was wohl vorgefallen sein muss, dass es ihm so geht. Dass man ihn wegen Stacy gleich zweimal verhaftet hat, hat die Sache ja auch nicht besser gemacht.“

„Nein“, sagte Sadie ohne erkennbaren Tonfall.

„Es tat mir so leid für euch beide. Er hat wirklich gelitten, das weiß ich. Es hat ihn verändert. Seitdem ist er nicht mehr derselbe.“

„Nein“, sagte Sadie wieder und spürte plötzlich, wie ihr die Tränen kamen. Sie schluckte hart und versuchte, nicht die Fassung zu verlieren.

„Tut mir leid“, sagte Cassandra schnell. „Du fährst, ich sollte das jetzt nicht mit dir besprechen. Ich wollte nur, dass du weißt, dass wir hinter euch stehen. Ihr habt nie alles erzählt, was damals passiert ist, und das verrät mir genug. Ich glaube, du hast Matt damals das Leben gerettet.“

Sadie nickte wortlos und biss sich auf die Lippen.

„Was auch immer Brian gleich sagen wird … ich weiß noch gut, was Evans deinem Mann damals vorgeworfen hat. Damals wollte ich es nicht glauben. Und heute … heute ist es mir egal. Auf meine Unterstützung kannst du zählen.“

Sadie starrte immer noch geradeaus, dann löste sich eine Träne aus ihrem Auge, die sie hastig wegwischte. Cassandra legte ihre Hand auf Sadies, die auf dem Schaltknüppel ruhte, und drückte sie kurz.

„Matt ist ein guter Mensch.“

Sadie nickte bloß. Sie hatte verstanden, dass Cassandra es wusste. Das hatte sie sich manchmal gefragt, aber sie hätte nie gewagt, es anzusprechen. Dafür tat es ihr einfach zu weh und sie wollte Cassie auch nicht belasten.

„Du hast ihn allein wieder auf die Beine gebracht, oder?“, fragte Cassandra dann.

„Was hätten wir sonst tun können?“, erwiderte Sadie leise.

„Du meine Güte. Das kann ich mir kaum vorstellen.“

„Willst du auch nicht. Ich hatte einfach nur Angst um ihn.“

„Natürlich … hey, uns könnt ihr vertrauen. Das wollte ich dir nur sagen.“

„Danke“, sagte Sadie gerührt und mit zitternder Stimme. Das bedeutete ihr viel.

„Lass dich heute bloß nicht von Brian provozieren. Ich nehme ja nicht an, dass jemand irgendwas beweisen kann“, sagte Cassandra nach kurzem Schweigen.

„Nein, das konnten sie nie“, sagte Sadie.

„Manchmal hasse ich unseren Job. Er konfrontiert uns mit Dingen, die sonst niemand wissen will.“

„Das wussten wir vorher“, murmelte Sadie leise.

„Als ich vor zwei Jahren her kam, sind dem auch reifliche Überlegungen vorangegangen, ob ich überhaupt weitermachen will. Was mir passiert ist, ist nur durch meinen Job passiert. Das kennst du ja auch zur Genüge.“

„Und wie“, sagte Sadie. „Matt übrigens auch.“

„Ich denke, ich verstehe, warum er jetzt am Schreibtisch sitzt.“

„Ich hasse Stacy immer noch für das, was sie ihm angetan hat“, wisperte Sadie.

„Du kannst es nicht mehr ändern.“

„Ich nehme an, auch dazu hast du dir deine Gedanken gemacht.“

Cassandra nickte. „Ausgehend von dem, was im Bericht stand … wenn Stacys Behauptung stimmte, muss mir niemand erklären, wie ihm zumute war.“

Sadie konnte es nicht fassen. „Das stand im Bericht? Wer hat das reingeschrieben?“

„Ich weiß es nicht. Ich habe das nur durch Zufall mal gesehen“, sagte Cassandra und fügte nach kurzem Zögern hinzu: „Danke für dein Vertrauen.“

Sadie lächelte scheu. „Ich weiß, dass du es verdienst.“

Cassandra lächelte ebenfalls und schlug dann vor, das Thema zu wechseln. Sie erkundigte sich bei Sadie nach ihrem Urlaub und ihrer gemeinsamen Zeit mit Andrea. An einem Abend war sie mit Jason zum Grillen vorbeigekommen, um Andrea wiederzusehen. Darüber hatte sie sich sehr gefreut, aber es war natürlich nur ein flüchtiger Moment gewesen. Sadie erzählte auch von der Freundschaft zwischen Libby und Julie.

So ging die Zeit bis zum Antelope Valley State Prison in Lancaster schneller vorüber, als ihr lieb war. Schließlich parkte sie auf dem Besucherparkplatz, an den sie sich erschreckend gut erinnerte, und ging voran, denn im Gegensatz zu ihr war Cassandra noch nie dort gewesen.

Am Eingang ließen sie sich filzen, ihre Waffen hatten sie vorsorglich gar nicht erst mitgenommen. Als sie fertig waren, bat man sie, noch kurz zu warten, um Brian zu holen. Zwei Minuten später stand plötzlich der Gefängnisdirektor vor ihnen.

„Agent Whitman“, sagte er zu Sadie und begrüßte sie mit einem kräftigen Händedruck. Überrascht sah Sadie ihn an und stellte Cassandra vor, nachdem sie sich gefangen hatte.

„Man sagte mir gerade, dass Sie hier sind“, erklärte er sich dann. „Hat Leigh es also geschafft und Sie doch hierher gelockt?“

„Offensichtlich kennen Sie den Inhalt seiner Briefe“, stellte Sadie fest.

„Ja, ich habe sie mir persönlich angesehen, als man mir sagte, dass er Ihnen schreiben will. Gefallen hat es mir nicht, aber ich habe keinen Grund gefunden, es ihm zu verweigern. Er hat mir einfach keinen geliefert.“

„Ich weiß“, sagte Sadie. „Tatsächlich möchten meine Kollegin und ich uns mal anhören, was er zu sagen hat.“

„Das ist Ihre Entscheidung. Ich wollte Ihnen das nur sagen … wenn ich seine Briefe zukünftig zurückhalten soll, kann ich das gern tun. Ich muss es nur wissen.“

„Weiß ich noch nicht“, sagte Sadie ausweichend.

„In Ordnung. Schön, Sie auch mal persönlich kennenzulernen. Inzwischen ist Ihr Name mir geläufig, Sie haben mir ja einige Insassen hier beschert. Und keine Nobodys.“ Er sagte das mit einem freundlichen Grinsen.

„Ist Ihnen aufgefallen, dass Leigh sich mit Tyler Evans angefreundet hat?“, fragte Sadie.

„Angefreundet? Ich weiß, dass sie miteinander zu tun haben. Im Übrigen hoffe ich, dass San Quentin innerhalb der nächsten zwei Wochen grünes Licht für eine Verlegung von Leigh gibt. Die sind aber wohl noch stärker überbelegt als wir. Sie wissen ja, wie das ist.“

Sadie nickte. „Mit überfüllten Gefängnissen habe ich so meine Erfahrungen.“

Der Direktor ging nicht darauf ein. „Kommen Sie, ich habe Sie lange genug aufgehalten. Leigh ist bestimmt schon dort. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg.“

Sadie und Cassandra bedankten sich und ließen sich von einem Wärter in einen speziellen Besucherraum bringen. Brian war tatsächlich schon dort. Er war mit seinen Handschellen an den Tisch gekettet und machte ein gelangweiltes Gesicht. Erst, als Sadie und Cassandra den Raum betraten, hellte seine Miene sich sichtlich auf.

„Du bist ja doch gekommen“, sagte er und grinste.

„Für dich immer noch Supervisory Special Agent Whitman“, erwiderte Sadie knapp und setzte sich ihm gegenüber. Cassandra nahm daneben Platz, während Brian Sadie mit großen Augen anstarrte.

„Du bist befördert worden.“

„So ist es“, sagte Sadie unbeeindruckt.

„Ich freue mich wirklich, dass ich dich doch motivieren konnte, herzukommen.“

„Ich kann den Gefängnisdirektor bitten, deine Briefe an mich zurückzuhalten“, erwiderte Sadie.

Enttäuschung zeichnete sich auf Brians Gesicht ab. „Das würdest du tun?“

Sadie ging über seine gezielte Provokation hinweg. „Immerhin hast du ja richtig erkannt, dass ich Libby keinen Brief von dir geben würde. Davon abgesehen würde sie auch keinen wollen.“

„Hast du ihr gesagt, dass es mir leid tut?“

„Denkst du, das will sie hören, nachdem du bei Gericht davon gesprochen hast, dass du bereust, sie nicht vergewaltigt zu haben?“

„Vergewaltigt …“ wiederholte Brian mit einem verächtlichen Unterton. „Du weißt aber schon, dass sie ein wenig in mich verliebt war?“

„Das war aber, bevor du auf diese Natural Born Killers-Schiene abgedriftet bist.“

„Sie hätte es bestimmt gewollt.“

„Siehst du, das ist der Fehler, den ihr alle macht“, murmelte Sadie. „Ihr redet es euch schön. Ihr glaubt, den Willen der Frau zu kennen. Ihn zu beachten. Dabei ist er euch ganz egal.“

„Libby war mir nie egal“, widersprach Brian.

„Was nicht dasselbe ist.“

„Du nimmst es persönlich. Sie ist doch bloß deine Pflegetochter.“

„Wir haben sie inzwischen adoptiert“, sagte Sadie. „Sie ist jetzt Libby Whitman. Und auch zuvor war sie nicht bloß unsere Pflegetochter.“

„Hätte nicht gedacht, dass ihr das tut.“

„Warum nicht?“

„Weil ihr doch eine eigene Tochter habt“, sagte er.

„Libby ist genau so unsere Tochter. Ich weiß, dass du ihr mal Angst damit machen wolltest, wir könnten sie nicht mehr lieben, wenn wir erst ein eigenes Kind haben. Das war ziemlich hinterlistig von dir.“

„Es war doch nur eine berechtigte Überlegung!“

„Könnten wir jetzt zum Thema kommen?“, bat Sadie. „Du willst über deine Motive reden und dich erklären. Mich korrigieren, wo ich falsch gelegen habe. Ich hatte tatsächlich keine Lust, deine Briefe zu beantworten, aber vielleicht kommt ja doch etwas dabei heraus.“

„Ach, du bist also nicht bloß hier, weil du Angst hast, ich könnte deinen Mann verpetzen?“ Grinsend beugte er sich vor.

Im Augenwinkel sah Sadie, dass Cassandra ein echtes Pokerface aufgesetzt hatte. Damit fühlte sie sich in diesem Moment sicher und stark. Cassandra gab ihr Rückendeckung.

„Da gibt es nichts zu verpetzen“, erwiderte Sadie ruhig.

„Ach nein? Tyler hat mir etwas anderes erzählt.“

„Das kann ich mir schon denken. Man hat Matt damals etwas angehängt, weil Tyler seine eigene Haut retten wollte.“

„Tatsache ist: Du hast dich aus den Ermittlungen zurückgezogen“, stellte Brian seelenruhig fest. Sadie spürte, wie ihr heiß wurde, aber sie versuchte, ihre Unsicherheit zu überspielen.

„Ist das so? Hat Conway damals nicht das belastende Geständnis, das Tyler den Hals gebrochen hat, bei mir abgelegt?“, entgegnete sie.

„Ja, aber nicht sofort. Weißt du, der Flurfunk hier im Knast ist schnell. Ich bin ja schon länger hier und es hat sich herumgesprochen, wer ich bin. Ein junger Serienkiller, dem die Todesstrafe droht – das ist schon was Besonderes. Man hat hier Respekt vor mir. Sie haben den Prozess verfolgt und irgendwann kam natürlich zur Sprache, wie man mich nach Monaten überhaupt geschnappt hat … ich habe von dir erzählt. Von deinem Profil. Und von Libby. Nach meinem Urteilsspruch im März stand plötzlich Tyler Evans vor mir und meinte, ich befände mich in guter Gesellschaft, was das Erwischtwerden von dir betrifft. Das war interessant.“

„Das wusstest du nicht vorher?“ Sadie war erstaunt.

„Nein, über ihn wusste ich tatsächlich nicht Bescheid. Er ließ ziemlich schnell durchblicken, dass er echt sauer auf dich ist.“

„Kann ich mir vorstellen“, sagte Sadie trocken. „Hat er dir auch erzählt, dass sein Vater mit seinem Wissen seinen Kumpel umbringen lassen wollte, nur um einen unliebsamen Zeugen zu beseitigen?“

„Du meinst Conway? Er hat das etwas anders formuliert. Er fühlte sich von ihm verraten.“

Sadie zuckte mit den Schultern. „Was sonst.“

„Er hat mir ziemlich schnell erzählt, dass er eine spezielle Meinung zu dir hat. Anfangs fand er dich noch ziemlich scharf, aber inzwischen findet er, dass du unlautere Methoden benutzt.”

„Mir kommen gleich die Tränen“, erwiderte Sadie unbeeindruckt. „Ich habe nur meine Arbeit gemacht, was ihm naturgemäß nicht gepasst hat. Und er hat, um mich mundtot zu machen, eine wüste Story über meinen Mann konstruiert.“

„Er hat das damals überprüft“, widersprach Brian eifrig. „Es gibt eine Tote namens Stacy Gallagher, deren Todesursache nie eindeutig geklärt werden konnte. Und eine Nachbarin von Stacy Gallagher hat deinen Mann der Vergewaltigung bezichtigt.“

„Brian“, sagte Sadie mit einem strengen Unterton. „Ich bin nicht hergekommen, um mit dir über Tyler Evans und meinen Mann zu diskutieren.“

Doch er blieb stur. „Es gibt Zeugen dafür, dass du dich nach der Drohung, ihn des Mordes an Stacy Gallagher zu beschuldigen, aus den Ermittlungen gegen Tyler zurückgezogen hast.“

Sadie stand abrupt auf. „Im Gegensatz zu dir kann ich jederzeit gehen.“

„Schon gut, schon gut …“ Brian hob beschwichtigend seine Hände. Seine Handschellen rasselten leise. „Reden wir über etwas anderes.“

Langsam setzte Sadie sich wieder. „Was wolltest du mit mir besprechen?“

Brian antwortete nicht gleich. Sadie wurde das Gefühl nicht los, dass er sie absichtlich zappeln ließ. Dass er sie beobachtete.

„Ich habe berühmte Vorbilder nachgeahmt, ja“, sagte er. „Dem lag eine bewusste Entscheidung zugrunde. Ich habe nie begriffen, warum du daraus abgeleitet hast, dass ich nichts Eigenes auf die Beine stellen kann.“

„Weil es ungewöhnlich ist, dass ein Sadist wie du nicht sein eigenes Ding macht. Täter wie du haben ihre eigenen Gewaltfantasien, ihre Wünsche, ihr Skript. Es ist ungewöhnlich, dass du es befriedigend fandest, das zu tun, was andere vorgemacht haben. Und dann auch noch so unterschiedliche Taten, die  – wenn überhaupt – eigentlich nur die Gemeinsamkeit hatten, dass die Täter Kontakt mit der Polizei aufgenommen haben. Deshalb habe ich angenommen, dass du berühmte Vorbilder nachahmst, weil du kein eigenes Szenario auf die Beine stellen kannst oder willst – und um dich in einer Reihe mit ihnen zu sehen.“

Brian nickte und sah dabei überraschend gelangweilt aus. „Klingt wie aus dem Handbuch für angehende Profiler, meinst du nicht?“

„Es gibt immer wieder Ausnahmen, aber die sind selten. Die meisten Täter folgen bestimmten Schemata. Und ja, da du Douglas und Ressler angesprochen hast … sie haben das herausgearbeitet. In den meisten Fällen stimmen diese Annahmen. Gerade der Nightstalker ist da eine Ausnahme.“

„Ich weiß“, sagte Brian. „Über Serienkiller weiß ich bestimmt so gut Bescheid wie du. Ich habe gelesen, dass selbst das FBI damals erst nicht geglaubt hat, dass all diese Taten auf sein Konto gingen, weil sie so unterschiedlich waren. Modus Operandi, nicht wahr? Meiner waren die Briefe mit den Songtexten. Natürlich. Ich hatte schon erwartet, dass ihr das sonst nicht in Verbindung bringt.“

„Trotzdem hast du nicht ein einziges eigenes Szenario erdacht“, sagte Sadie. „Ich hätte erwartet, dass du dich irgendwann vom Nachahmen löst und etwas Eigenes tust. Dass du nachahmst, um dir Inspirationen zu holen. Oder war nie das Richtige dabei?“

„Jetzt stellst du die richtigen Fragen“, sagte Brian selbstsicher. Sadie fand ihn ziemlich frech – dafür, dass er zum Tode verurteilt worden war, hatte er eine ganz schön große Klappe. Oder gerade deshalb? Er hatte ja nichts mehr zu verlieren, härter hätte man ihn gar nicht bestrafen können. Auch, wenn fraglich war, ob und wann diese Strafe vollstreckt wurde – er würde das Gefängnis niemals wieder verlassen. Ein Neunzehnjähriger. Er hatte sein Leben verpfuscht.

„Ich habe mich tatsächlich ausprobiert“, sagte Brian. „Das erste Mal war natürlich ganz schön krass. Das war Emily … ich habe sie sehr sorgfältig ausgewählt.“

„Warum Bundy?“, fragte Sadie.

„Na, Bundy ist doch ein Name … und ja, es sollte ein Frauenmörder sein.“

„Ich könnte jetzt wieder von Gary Ridgway anfangen.“

Brian grinste. „Das war schon fast ein Running Gag hinterher.“

Das wäre nicht Sadies Bezeichnung gewesen, aber sie wusste, was er meinte. „Es gibt jede Menge Frauenmörder.“

„Ja, aber Bundy … Ich hatte doch erzählt, wie die Doku über ihn mich angespornt hat. Diese Bilder … das wollte ich auch. Und ja, mein erster Mord war wie ein Rausch. Dafür habe ich Emily geliebt. Sie war einfach perfekt.“

Sadie ließ sich nicht anmerken, wie abscheulich sie das fand. „Und trotzdem wurde es danach der BTK-Killer. Ein Mordfall ohne Vergewaltigung.“

„Das schon, aber nicht ohne Spaß“, sagte Brian grinsend. „Weißt du, es war schon spannend genug für mich, alles bis ins Detail zu planen. Ja, ich habe durchaus meine eigenen Ideen entwickelt. Die hätte ich auch irgendwann umsetzen wollen. Das mit Libby wäre der erste Schritt gewesen. Und du musst zugeben, ich habe meine Sache gut gemacht. Wäre ich bei Libby nicht schwach geworden, hättest du mich noch eine ganze Weile nicht gefunden.“

Das wollte Sadie ihm nicht bestätigen, auch wenn es wohl stimmte. „Du hast mir geschrieben, dass du nie wusstest, ob du sie sympathisch finden oder ihr weh tun sollst. Das klingt wirklich anstrengend.“

Brian nickte. „Das war es tatsächlich. Ich habe dich ja beobachtet und bin euch zu eurem Haus gefolgt, wo ich dann Libby gesehen habe. Und ich fand sie toll. Schon auf den ersten Blick. Sie war so …“ Er schloss die Augen, um sich besser daran erinnern zu können. „Unschuldig. Und dabei verdammt attraktiv. Meine erste Idee war ja, dir nachzustellen, aber ich fand Libby so sexy, dass sie in meinen Fokus gerückt ist. Und tatsächlich musste ich zu meiner Überraschung feststellen, dass ich wirklich persönlich an ihr interessiert war. Ich wollte sie nicht einfach umbringen … das war anders. Ich wollte sie kennenlernen. Ich war mir die ganze Zeit nicht sicher, ob ich mich an sie heranpirschen will, um ihr Vertrauen zu gewinnen und sie besser umbringen zu können, oder ob ich mit ihr befreundet sein will. Das war schräg. Irgendwie fand ich die Vorstellung auch ganz nett, dass sie freiwillig mit mir Sex haben würde.“

Sadie grub ihre Finger in ihre Hose, was Brian nicht sehen konnte, sehr wohl aber Cassandra. Unbemerkt tastete Cassandra unter dem Tisch nach Sadies Hand und legte ihre darauf.

„Vor Gericht klang das nicht mehr so“, erinnerte Sadie ihn.

„Nein, das war …“ Brian suchte nach Worten. „Ich war wütend, weil ich es mir selbst versaut hatte. Ich habe doch geschrieben, dass ich sie als meine Caril Ann wollte. Ich weiß nicht, wie ich auf die bekloppte Idee gekommen bin, das könnte klappen. Warum habe ich mich ihr anvertraut? Ich hätte die Klappe halten, ihre Bewunderung genießen und mit ihr Sex haben sollen. Ich habe da übrigens nicht von Vergewaltigung gesprochen.“

Sadie reagierte nicht gleich. Ihre Hand unter Cassandras war immer noch verkrampft. „Kennst du überhaupt den Unterschied?“

Brian grinste breit. „Kennst du ihn?“

„Warum willst du mich provozieren?“, fragte sie ihn ganz direkt.

„Will ich nicht“, behauptete Brian mit Unschuldsmiene. „Aber dein Vater war auch ein Vergewaltiger und ich weiß, dass es hieß, er hätte deine Schwester missbraucht.“

„Du weißt aber verdammt genau Bescheid. Und nein, mein Vater hat mich nicht angefasst. Ich war ihm zu jung.“

„Ach was“, sagte Brian. „Aber Kindesmissbrauch ist auch speziell.“

„War Emily Bryant kein Kind mehr für dich?“

Brian schüttelte den Kopf. „Sie hatte schon so hübsche kleine Brüste. Noch keine Hand voll. Dann ist man kein Kind mehr, oder?“

„Der Gerichtsmediziner hat Schlammpartikel in ihrer Lunge gefunden. Sie ist im Dreck erstickt. Das ist widerlich, Brian.“

„Ich weiß“, sagte er ungerührt. „Möchtest du wissen, was ich mir für dich überlegt habe, als ich gesehen habe, dass du schwanger bist?“

„Ich verzichte“, sagte Sadie kühl. „Wir reden hier über dich.“

„Das gehört doch dazu, oder?“

Sie starrte ihn nur an. „Wie gesagt, ich kann jederzeit gehen.“

„Noch kannst du das.“ Brian grinste sie breit an, die Finger ineinander verschränkt. Sadie war geschockt. Das hatte nichts mehr mit dem Brian gemein, mit dem sie nach dem Unfall im Krankenhaus gesprochen hatte. Man merkte ihm deutlich an, dass er mittlerweile seit einem guten Jahr im Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses saß. Und er war nicht mehr in der Jugendhaft. Man ging nicht zimperlich mit ihm um.

„Drohst du mir?“, fragte sie.

„Wer, ich?“, erwiderte er mit übertriebener Unschuldsmiene. „Das würde ich nicht wagen. Aber ich habe ja verdammt viel Zeit hier, um nachzudenken. Wenn ich noch einmal die Chance hätte, würde ich es vollkommen anders machen. Und ich glaube, mit Libby wäre ich weniger zimperlich gewesen …“

Sadie hörte den Widerspruch deutlich. Erst hatte er beteuert, dass er ihr nichts hatte tun wollen – und jetzt doch?  

„Woher kommt dieser ganze Hass? Vom Mobbing in der Schule? Von einer desinteressierten Mutter? Die Welt müsste voller Triebtäter sein“, sagte Sadie kopfschüttelnd.

„Es kam einiges zusammen. Aber vielleicht wird man auch einfach als Killer geboren, meinst du nicht? Dein Vater hatte doch auch keine beschissene Kindheit und trotzdem ist er einer der blutrünstigeren Serienkiller der amerikanischen Geschichte.“ 

„Er war“, korrigierte Sadie spitz. „Er ist seit vier Jahren tot.“

„Schon so lange“, murmelte Brian und sah ihr dann direkt in die Augen. „Ich frage mich, ob es etwas gibt, das SSA Sadie Whitman Angst macht. Was könnte das sein? Ich sehe, wie du deinen Mann schützt … bleibt noch deine Tochter. Oder deine beiden Töchter?“

Sadie lehnte sich zurück und zog ihre Hand unter Cassandras hervor. „Ich werde besser schlafen, wenn du in San Quentin bist. Das ist ja ein Stück weit weg.“

„Ich hab gehört, die Aussicht dort auf die San Francisco Bay soll ganz toll sein“, bemerkte Brian trocken.

„Tyler wird dir sicher fehlen.“

„Vermutlich. War wirklich interessant, was er über dich erzählen konnte. Er wird gespannt sein, zu hören, was ich später über deinen Besuch hier berichten kann.“

Sadie schüttelte unbeeindruckt den Kopf. „Du willst mich doch nur nerven.“

„Klappt es denn?“, fragte Brian mit einem breiten Grinsen.

„Du willst gar nicht ernsthaft mit mir über deine Motive reden, oder?“

„Im Moment macht das hier genügend Spaß.“

Erneut stand Sadie auf. „Du hast mir den letzten Brief geschrieben und ich werde auch nicht mehr herkommen. Für Spielchen bin ich nicht zu haben.“

„Ach, komm schon!“, rief Brian und hob enttäuscht die Hände. „Wir sind doch gerade erst warmgelaufen …“

Sadie schüttelte den Kopf. „Das alles ist immer noch ein Spiel für dich. Aber ich habe immer noch Vertrauen in unser Rechtssystem. Dein Strafmaß ist tatsächlich vollkommen richtig.“

Sein Blick verdüsterte sich. „Du fühlst dich sicher da draußen, oder?“

„Du überschätzt dich, Brian.“

„Meinst du? Denkst du, deine kleine Tochter ist sicher? Wie heißt sie denn nun eigentlich?“

„Warum sollte ich dir das sagen?“, fragte sie.

„Ich habe doch miterlebt, wie dein Bauch größer und runder geworden ist. Das lässt mich nicht kalt!“

„Ich werde dir ganz bestimmt nicht sagen, wie meine Tochter heißt“, grollte Sadie. „Komm, Cassie, wir gehen.“

Cassandra stand bereits und nickte. Sadie klopfte an die Tür, damit geöffnet wurde. Ein Wärter entriegelte die Tür und steckte seinen Kopf hinein.

„Wir sind hier fertig“, sagte Sadie.

„Wir werden uns wiedersehen“, rief Brian ihr hinterher. „Schon sehr bald.“

„Bestimmt nicht“, erwiderte Sadie und ging. Cassandra folgte ihr auf dem Fuße. Der Wärter brachte sie zum Ausgang, wo man ihnen nach kurzem Warten ihre Handys zurückgab. Sie hatten sie gerade in Empfang genommen, als der Direktor wieder auftauchte.

„Sie sind schon fertig?“, fragte er.

„Wie erwartet ist das hier bloß ein Kräftemessen“, sagte Sadie. „Er will mir beweisen, was er drauf hat. Sonderlich produktiv ist das nicht.“

„Kann ich verstehen. Ich werde fortan keine Briefe mehr an Sie weiterleiten, wenn Sie wollen.“

„Das wäre gut“, sagte Sadie. „Vielen Dank.“

„Selbstverständlich.“ Der Direktor verabschiedete die beiden nach einigen netten Worten und blickte ihnen hinterher, während Sadie sich beeilte, das Gefängnis zu verlassen. Erst draußen an der frischen Luft wich das Gefühl der Beklemmung aus ihrer Brust. Auf dem Weg zum Auto verloren weder sie noch Cassandra ein Wort. Als sie dort waren, warf Sadie Cassandra den Schlüssel zu.

„Ist das okay für dich?“

„Klar.“ Cassandra nickte verstehend und stieg auf der Fahrerseite ein. Sadie machte es sich mit vor der Brust verschränkten Armen auf dem Beifahrersitz bequem. Sie starrte stur geradeaus, während Cassandra zum Highway zurückfuhr.

„Ich versuche gerade immer noch, zu verdauen, dass er erst neunzehn ist“, sagte Cassandra irgendwann.

„Hm“, machte Sadie achselzuckend. „Sean war dreiundzwanzig und ich hatte nie so viel Angst vor jemandem wie vor ihm.“

„Es ist nie gut, wenn solche Täter so jung sind. Die rasten immer gleich völlig aus. Sieht man ja.“

„Mein Vater hat seinen ersten Mord ebenfalls in Seans Alter begangen. Das ist ja nicht ungewöhnlich.“

„Nein, aber Brian ist es“, sagte Cassandra. „Das ist er wirklich. Er kommt mir vor, als lebe er in seiner eigenen Welt.“

„Das ist doch nichts Besonderes für solche Täter“, fand Sadie. „Was mir viel mehr Sorgen macht, ist seine überhebliche Art. Er wollte mir drohen, Cassie. Er sitzt bald im Todestrakt!“

„Wo er auch hingehört“, fand Cassandra.

„Ja, aber …“ Sadie suchte nach Worten. Damals bei Rick hatten sie der Drohung geglaubt. Und Brian hatte ihr sehr offen gedroht, sie provoziert und versucht, sie aus dem Konzept zu bringen. Dass ein Täter das machte, hatte sie nicht oft erlebt.

Sie hatte das Gefühl, dass er irgendetwas plante und sie bislang so mitgespielt hatte, wie er das wollte. Mit Tyler schien er sich gut zu verstehen; das verunsicherte sie. Würden sie Matt noch schaden können? Würden sie das versuchen? Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt bei dem Gedanken.

 

Cassandra und Sadie waren kurz vor der Mittagspause wieder beim FBI eingetroffen und gleich nach der Pause erwartete sie ein Meeting. Allerdings war Sadie nicht ganz bei der Sache. Sie musste die ganze Zeit an Brian denken und fragte sich, was er im Schilde führte. Er wurde so persönlich.

Warum würden sie sich wiedersehen? Das würde bedeuten, dass Sadie zu ihm kommen müsste und das hatte sie nicht wieder vor.

Ihre Gedanken kreisten ununterbrochen um Matt. Brian hatte Recht – sie hatte sich damals aus den Ermittlungen zurückgezogen. Das war kein Beweis, aber es sprach Bände.

Ihr wurde schlecht bei dem Gedanken, dass vielleicht doch noch belastende Beweise gegen Matt auftauchten. Zwar wusste sie nicht, was das sein sollte, aber die bloße Vorstellung bereitete ihr Übelkeit.

Nach dem Meeting beschloss sie, Nathan anzurufen. Brian Leigh war sein Fall gewesen und auch über Stacy Gallagher war er im Bilde. Vielleicht konnte er ihr etwas sagen. Um sicher zu gehen, nahm sie ihr Handy und drückte sich damit auf dem Flur herum. Zu ihrer Erleichterung war Nathan fast sofort dran.

„Sadie“, sagte er erfreut. „Was kann ich für dich tun?“

„Hast du kurz Zeit?“

„Um vier habe ich einen Termin, aber bis dahin gehöre ich ganz dir.“

„Ich war heute bei Brian Leigh.“

„Freiwillig?“ Nathan lachte.

„Nicht ganz“, gab Sadie zu. „Er schreibt mir Briefe.“

Der Detective war erstaunt. „Davon hast du gar nichts gesagt.“

„Nein, ich hatte zu viel um die Ohren und dachte, er verliert das Interesse, wenn ich nicht antworte. Dem war aber nicht so. Am Samstag kam ein Brief, in dem er von Tyler Evans sprach und davon, dass der ihm etwas verraten hätte.“

„Verstehe“, sagte Nathan. „War vielleicht nicht die beste Idee, deshalb hinzufahren …“

„Ich bin nicht deshalb hingefahren“, sagte Sadie. „Ich war dort, um zu hören, was er will. Meine Hoffnung war, dass er aufhört. Aber vorgefunden habe ich eine Fortsetzung dessen, was er vor ein paar Wochen im Gerichtssaal abgezogen hat.“

„Eine große Klappe?“, fragte Nathan.

„Wahnsinnig groß, ja. Selbstsicher. In den Briefen hat er angefangen, mich zu duzen, und setzt das auch stur fort. Er hat sich wahnsinnig an Matt aufgehängt, an Libby ebenfalls … und er war einfach nur vorlaut. Er wird richtig persönlich.“

„Er hat ja auch nichts mehr zu verlieren.“

„Das habe ich mir auch gedacht, aber als ich es abgebrochen habe, weil es mir zu dumm wurde, meinte er, wir sähen uns bald wieder.“ Sadie atmete tief durch. „Was läuft da, Nathan? Der Gefängnisdirektor meinte, er hofft auf eine Verlegung innerhalb der nächsten zwei Wochen.“

„Ich weiß auch nichts Gegenteiliges. Machst du dir Sorgen, er könnte hier bleiben? Das wird er nicht.“

„Nein … Ich habe Angst, er gräbt mit Tylers Hilfe zu tief.“

„Verstehe.“ Nathan seufzte nachdenklich.

„Du könntest sicher unauffällig in Erfahrung bringen, was da läuft … ich meine … wenn neue Erkenntnisse vorliegen würden.“

„Könnte ich, aber da liegt nichts vor, Sadie. Was soll da vorliegen? Die haben damals tief gegraben und konnten nichts finden, weil da nichts ist.“

„Ich weiß, ich … ich mache mir einfach nur Sorgen.“

„Das verstehe ich. Ich habe es dir nie erzählt, aber ich habe später mal in die Aufzeichnungen von Matts Verhören reingeschaut.“

Sadie machte große Augen. „Ernsthaft?“

„Sie hatten nichts in der Hand, sie sind bloß der Behauptung nachgegangen. Und Matt … er hat sich von ihnen nicht bequatschen lassen. Nicht ein einziges Mal. Da kann nichts sein, Sadie. Was auch immer Brian erzählt, darum kann es nicht gehen.“

„Wenn du das sagst …“

„Ich nehme es ernst, wenn du sagst, er heckt was aus. Zutrauen würde ich es ihm ebenso wie Tyler Evans. Aber was soll das sein? Ich kann mir schon vorstellen, dass der feuchte Traum der beiden eine Flucht ist, aber wenn du jetzt mal an deinen Vater denkst – ihm ist die Flucht beim Gefangenentransport aufgrund eines Unfalls gelungen. Wie wahrscheinlich ist es, dass das wieder passiert? Eben.“

„Ich bin da nicht im Bilde, Nathan. Ich weiß nicht, wie oft jemand aus Gefängnissen flieht“, gab Sadie zu.

„Nicht sehr oft.“

„Er wird aber auch noch nach San Quentin gebracht. Vielleicht spielte er darauf an. Vielleicht planen sie etwas für seinen Transport. Könnte doch sein.“

Darauf erwiderte Nathan nicht gleich etwas. Das beruhigte Sadie nicht gerade.

„Hältst du das für denkbar?“, fragte sie.

„Ich kann es nicht in Abrede stellen. Brian Leigh ist zwar, abgesehen von seinen Taten, ein ziemlicher Nobody – aber Tyler Evans ist es nicht. Dass die beiden sich angefreundet haben, schmeckt mir nicht.“

„Ich weiß nicht, ob ich mich freuen soll, dass du das ernst nimmst“, murmelte sie.

„Sadie, ich kenne dich. Du würdest mich nicht einfach anrufen, weil Brian frech zu dir war. Das prallt doch an dir ab. Ich habe dich schon in Verhören erlebt. Wenn du jetzt ein Unbehagen hast, dann bestimmt nicht grundlos.“

„Jetzt fühle ich mich auch nicht besser …“

„Solltest du aber. Ich werde dafür sorgen, dass Brians Gefangenentransport in letzter Sekunde verschoben wird, und zwar vorverlegt. Ziemlich knapp. Das müsste ich eigentlich hinkriegen.“

„Ansonsten wüsste ich vielleicht wen beim Marshal Service ...“

„Nein, lass mich mal machen“, sagte Nathan. „Der kommt in San Quentin an wie geplant, das verspreche ich dir.“

„Das war irgendwie beängstigend“, sagte sie.

„Das glaube ich dir, aber du hältst dich da jetzt raus.“

„Der Direktor will dafür sorgen, dass Brian mich nicht mehr kontaktiert.“

„Das ist auch besser so“, sagte Nathan. „Also, ich weiß Bescheid, ich bleibe dran. Und du machst dir mal keine Sorgen.“

„Danke, Nathan. Jetzt geht es mir besser.“ Sadie meinte es so.

„Siehst du“, sagte er.

„Habt ihr am Wochenende etwas vor? Wir könnten bei uns im Garten grillen.“

„Oh, das klingt hervorragend. Wir sind gerne dabei!“

„Super, ich freue mich“, sagte Sadie, bevor sie sich von ihm verabschiedete. Die Aussicht darauf, Nathan wiederzusehen, hellte ihre Stimmung gleich auf und sie wusste, Matt und Libby würden sich auch freuen. Überhaupt, Matt wollte immer noch seinen Geburtstag feiern und Hayleys erster Geburtstag stand auch vor der Tür. Das schrie eigentlich nach einer Party … so weit hatte sie während ihres Urlaubs noch überhaupt nicht gedacht.

Nach ihrem Gespräch mit Nathan war sie beruhigt und dachte mehr über die Idee einer Party nach als über ihre Begegnung mit Brian. Schließlich war es auch schon an der Zeit für den Feierabend. Zusammen mit Cassandra machte sie sich auf den Weg ins Büro der Einheit von Matt und Jason. Das hatten sie auch früher oft getan. Seit einem ganzen Jahr war das nun nicht mehr der Fall gewesen und so fühlte es sich zugleich eigenartig und vertraut an.

Sie fanden Matt und Jason in der Kaffeeküche, wo sie sich noch unterhielten. Allerdings kamen sie zügig zu einem Ende und machten sich gemeinsam auf den Weg zum Aufzug.

„Du siehst so aus, als würdest du dich freuen, dass Matt wieder hier ist“, stellte Sadie in Jasons Richtung fest.

„Und wie. Er hat hier ganz schön gefehlt, aber sein Beispiel macht Schule. Wir haben noch einen Kollegen, der jetzt überlegt, auch Familienzeit zu beantragen. Es muss ja immer erst einer anfangen“, sagte Jason.

„Ich hab’s auch nie bereut“, sagte Matt. Sadie wusste, dass er das genau so meinte.

„Ich werde es mir merken“, sagte Jason augenzwinkernd. Vor dem Gebäude verabschiedeten sie sich voneinander und gingen zu ihren Autos. Mit einem zufriedenen Lächeln stieg Matt in seinen Challenger und freute sich, als er den Motor anließ.

„Irgendwie habe ich das ja schon vermisst“, sagte er beim Ausparken.

„Das glaube ich dir“, sagte Sadie. „Da du mir dein Auto ja überlassen hast …“

„Du hast jeden Tag ein Auto gebraucht, ich nicht. Und die Babyschale ging in dein Auto auch besser rein.“

„Mein Auto ist gar nicht so übel.“

„Nein, aber antik. Mit dem Chally bist du doch auf dem Freeway besser unterwegs.“

Da musste Sadie ihm zustimmen. „Wollen wir eigentlich am Wochenende unsere Freunde zum Grillen einladen? Ist vielleicht etwas kurzfristig, aber vielleicht klappt es ja noch.“

„Klar … wie kommst du darauf?“

„Wir könnten deinen Geburtstag nachfeiern und Hayleys ersten Geburtstag gleich mit.“

„Oh, klasse! Denkst du, Norman würde kommen?“

„Wenn er kann, bestimmt. Ich sage das jetzt, weil ich vorhin mit Nathan telefoniert und ihn eingeladen habe. Aber das könnte man doch erweitern.“

„Klar“, sagte Matt, bevor er stutzte. „Du hast mit Nathan telefoniert?“

„Ja … wegen Brian“, sagte Sadie.

„Oh, stimmt. Ihr wart ja in Lancaster.“

„Offensichtlich hattest du so viel zu tun, dass du das vergessen hast“, stellte Sadie ohne jeden Vorwurf fest.

„Ich habe es ja nicht mal in die Kantine geschafft. Entsprechend viel Hunger habe ich jetzt …“

„Ich auch, ich hatte bloß eine Kleinigkeit.“

„Wie war es denn?“, fragte Matt.

Sadie ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. „Ich hatte das Gefühl, er führt mich an der Nase herum. Macht sich lustig. Er war ganz schön frech.“

„Wäre doch nicht das erste Mal.“

„Nein, aber ich hatte das Gefühl, er plant etwas.“

„Planen kann er viel. Er sitzt bald im Todestrakt ein paar hundert Meilen von hier.“ Das beeindruckte Matt nicht sehr.

„Und genau das ist mein Problem. Ich habe Nathan vorhin davon erzählt. In der Hauptsache habe ich deinetwegen angerufen … Brian hat deshalb wirklich Druck gemacht.“

„Meinetwegen?“, wiederholte Matt überrascht.

„Tyler scheint ihm alles erzählt zu haben. Das war das gefundene Fressen für ihn. Und er hat richtig festgestellt, dass ich mich damals immerhin habe erpressen lassen …“

„Das beweist aber nichts.“

„Natürlich nicht, aber ich hatte Angst, sie pinkeln dir ans Bein. Das hat er auch gemerkt, fürchte ich. Ansonsten hat er sich über Libby ausgelassen. Er scheint sie wirklich mal gemocht zu haben, was nicht heißt, dass er sie nicht doch gern zum Sex zwingen würde.“

„Lass ihn reden. Gerade du weißt doch, wie solche Typen sind. Er hört sich unglaublich gern reden. Er will dich nur provozieren!“, sagte Matt.

„Ich weiß, aber da war mehr.“

„Was soll denn da sein? Er kann doch nur aus dem Gefängnis heraus versuchen, seine Fäden zu ziehen. Andernfalls müsste er ausbrechen.“

Sadie nickte. „Genau die Idee haben Nathan und ich vorhin entwickelt.“

Matt schüttelte den Kopf. „Ich bitte dich. Weißt du, wie selten es vorkommt, dass jemand aus dem Gefängnis entkommt?“

„Nein, aber mein Vater war einer davon.“

„Dein Vater ist ja nicht aus dem Gefängnis entkommen.“

„Nathan hat jedenfalls gleich in diese Richtung gedacht. Er will jetzt dafür sorgen, dass Brians Transport umorganisiert wird.“

„Wird bestimmt nicht schaden“, sagte Matt achselzuckend.

„Du glaubst nicht daran, dass er etwas tun kann?“

„Dein Vater sagte doch selbst, man hätte die Gefahr aufgrund seiner Drohung damals überschätzt. Brian spielt bloß mit dir. Ist mir nur neu, dass du drauf reinfällst.“

Doch das ließ Sadie nicht gelten. „Du warst nicht dabei, Matt. Hättest du ihn gehört …“

„Ich weiß nicht. Ob das wohl etwas geändert hätte?“

„Glaub mir“, sagte Sadie. „Das war seltsam.“

„Fand Cassie das auch?“

„Schon.“ Sadie seufzte unentschlossen. „Ich weiß es doch auch nicht, Matt. Es war seltsam. Es war unheimlich. Ich hoffe, ich spinne nur.“

„Ich weiß nicht, auf deine Instinkte ist normalerweise Verlass.“

Auch das beruhigte Sadie nicht gerade. „Ich hoffe nur, es passiert nichts und ich bilde mir das alles nur ein. Der Gefängnisdirektor will jedenfalls keine Briefe mehr an mich weiterleiten.“

„Oh, hervorragend“, fand Matt. „Dann hat sich das Thema sicher bald erledigt.“

„Ich denke auch.“

Damit war es für Matt tatsächlich auch erst mal erledigt. Während der restlichen Heimfahrt besprachen sie die Idee einer Gartenparty am Wochenende und hofften, dass ihre Freunde auch spontan Zeit hatten. Abends wollten sie noch alle einladen.

Darüber trafen sie zu Hause ein und waren beide gleichermaßen erstaunt, im Haus von Totenstille begrüßt zu werden. Vor dem Hintergrund ihrer Begegnung mit Brian wurde Sadie gleich nervös.

„Libby?“, rief sie laut. Es kam keine Antwort.

„Sie sind im Garten“, sagte Matt, der schon gesehen hatte, dass die Terrassentür einen Spalt weit offen stand. Erleichtert atmete Sadie auf und ging zu ihm.

Auf einer Picknickdecke saßen Libby und Hayley, denen Figaro Gesellschaft leistete. Hayley krabbelte munter herum und holte sich ein Stofftier, während Figaro sich gerade auf Libbys Schoß zusammengerollt hatte und sich kraulen ließ.

„Hier seid ihr“, sagte Sadie lächelnd, als sie nach draußen trat.

Libby nickte. „Guck mal, Hayley, Mum und Dad sind zurück.“

Hayley drehte sich um und strahlte. Sie beeilte sich, durchs Gras zu Sadie zu krabbeln, die sich hinkniete und ihre Tochter in Empfang nahm. Dann hob sie Hayley hoch und wirbelte sie durch die Luft.

„Wir sind wieder da“, sagte sie fröhlich und gab ihrer Tochter einen Kuss. Matt kam dazu und nahm ihr Hayley schließlich ab.

„Und, wie lief es heute?“, erkundigte Sadie sich bei Libby.

„Ganz gut“, erwiderte Libby. „Ihr ist zwar aufgefallen, dass etwas anders ist … sie hat nach euch gefragt, wenn ich das richtig verstanden habe. Aber sie hat sich von mir füttern und ins Bett bringen lassen. Wir haben zusammen gespielt und sie hat nicht geweint.“

„War das okay für dich? Oder bereust du schon, dass du das angeboten hast?“

„Ach was“, sagte Libby kopfschüttelnd. „Es kann zwar nerven, wenn sie permanent Aufmerksamkeit will, aber so sind Kinder nun mal. Ich kenne Schlimmeres.“

Sadie nickte verstehend und nahm sich vor, das nicht immer zu vergessen. Libby war umringt von Kindern aufgewachsen und hatte sicher das eine oder andere hüten müssen. Sie brachte Qualitäten mit, die andere Gleichaltrige nicht hatten.

„Wir sind dir sehr dankbar dafür, dass du das tust“, sagte Matt.

„Müsst ihr nicht. Ich bin Hayleys große Schwester. Ich passe gern auf sie auf.“

„Danke“, sagte trotzdem auch Sadie. „Wir kümmern uns dann jetzt um Hayley.“

„Lasst uns bitte etwas zu essen bestellen“, sagte Matt mit flehendem Blick. „Ich habe keine Lust zu kochen.“

„Au ja“, sagte Libby. „Ich habe solche Lust auf Sushi …“

„Okay, Sushi“, sagte Matt gleich. „Sadie?“

„Klar“, erwiderte Sadie. Damit war es beschlossene Sache. Nachdem sie sich umgezogen hatte, hütete sie Hayley, damit Matt Sushi bestellen konnte. Danach kontaktierte er ihre Freunde, um für das Wochenende einzuladen, und bekam zu seiner Freude tatsächlich auch nur Zusagen.

„Ich muss später noch Norman anrufen“, sagte Sadie. „Aber erst mal gibt es Essen!“

„Ich habe wirklich Hunger“, sagte Matt. Er trug nur noch Muskelshirt und Shorts, was perfekt dafür war, mit Hayley im Garten herumzutollen. Sadie wollte sich etwas zu trinken holen und sich dazugesellen, während Libby noch kurz in ihr Zimmer gehen wollte. Bevor sie jedoch die Küche verließ, blieb sie stehen und drehte sich zu Sadie um.

„Warst du heute bei Brian?“

Sadie nickte. „Hätte nicht gedacht, dass du fragst.“

„Ich wollte es nur wissen. Er ist doch bestimmt immer noch so übergeschnappt, oder?“

„Kann man so sagen. Er war wirklich frech.“

„Hat er von mir gesprochen?“, fragte Libby.

„Ja, aber nichts, was du nicht schon weißt oder dir denken kannst.“

„Okay.“ Libby nickte und verschwand. Sadie beneidete sie um die Fähigkeit, das einfach hinzunehmen. In ihr hingegen rumorte es immer noch.

 

Antelope Valley State Prison, Lancaster: Dienstag, 10. Juli

 

„Du machst ja ein Gesicht.“ Kameradschaftlich legte Tyler einen Arm um Brians Schultern.

„Du weißt, was übermorgen ist“, erwiderte Brian düster.

„Ja, schon klar. Was denkst du, wird die Kleine im Gericht sein?“

„Vermutlich.“

„Ist doch toll, dann siehst du sie noch mal.“

Brian schnaubte verächtlich. „Sie hasst mich. Und ich … ich weiß nicht, was ich denken soll. Warum habe ich Idiot ihr gesagt, wer ich bin? Habe ich ernsthaft geglaubt, sie findet das gut?“

Tyler zuckte mit den Schultern. „Du warst wohl doch ziemlich verknallt.“

„Wahrscheinlich … ich hätte sie wirklich flachlegen sollen, als ich noch konnte.“

„Ja, hättest du“, sagte Tyler.

„Na ja, jetzt ist auch egal. Wenn sie mich wirklich zum Tode verurteilen …“

„Bei den Geschworenen weiß man nie.“

„Nein, aber Agent Whitman hat ihnen auch keinen Grund geliefert, nachsichtig mit mir zu sein.“

„Das war bei mir genau so“, sagte Tyler. „Ich würde es ihr richtig gern heimzahlen.“

Sie hatten Hofgang und es war verdammt heiß draußen. Aber das Gefängnis lag auch in der Wüste. Für Brian war immer noch nicht klar, ob das für den Rest seines Lebens sein Zuhause sein würde oder ob er in den Todestrakt in San Quentin kam. In zwei Tagen würde er es wissen, dann würde das Strafmaß verkündet werden. Und wenn es auf San Quentin hinauslief, würde er Tyler nicht mehr wiedersehen. Das nervte ihn noch am allermeisten, denn Tyler war inzwischen ein echter Freund geworden. Und das nicht bloß, weil dieselbe Profilerin sie beide zur Strecke gebracht hatte.

Sie hatten sich ausführlich über sie ausgetauscht. Tyler hatte ihm wirklich interessante Dinge erzählt. Sadie Whitman hatte Tyler ganz schön hinterlistig zur Strecke gebracht – und das, obwohl sein Vater sie extra hatte bespitzeln lassen und dabei tatsächlich etwas Belastendes zum Vorschein gekommen war. Sie hatte sich damals mit dem Detective unterhalten und es war die Rede von einer Stacy gewesen. Evans hatte damals alles herausgefunden: Matt Whitman war fast von einer durchgedrehten Stalkerin getötet worden, und diese Stalkerin war jetzt tot. Im Gesprächsverlauf war die Rede davon gewesen, dass Morris sein Gewissen nicht belasten sollte und sie keine andere Wahl hatte, als ihren Mann zu decken. Daraufhin hatte Evans’ Anwalt ihr einen Schlag versetzt und ihr gedroht, zur Polizei zu gehen, wenn sie nicht aufhörte, gegen Tyler zu ermitteln … und das hatte sie tatsächlich getan. Vorübergehend. Man hatte Matt Whitman nie etwas nachweisen können, aber Tyler hielt ihn für schuldig und Brian genauso.

Aber war jetzt auch egal, denn sie würde ihr Leben leben mit ihm und Libby und dem kleinen Baby, das nun bestimmt auch schon seit einer ganzen Weile auf der Welt war. Wenn ihm nachts in seiner Zelle langweilig war, versuchte er, sich vorzustellen, wie das Kind wohl hieß. Wie es aussah. Ob es rote Haare hatte?

Und er dachte an Libby. Immer noch. Er konnte nicht anders. Er hätte sie damals haben können und er hatte nicht zugegriffen. Dumm. Selbst schuld. Er hätte ihr erster Mann sein können. Von dem Gedanken war er regelrecht besessen.

Ja, hoffentlich war sie bei der Verkündung des Strafmaßes dabei, er hätte sie zu gern noch einmal gesehen. Davon würde er zehren.

Missgelaunt starrte er durch den Zaun hindurch in die staubige Wüste. Er bereute seine Schwäche gegenüber Libby. Das hatte ihm wirklich den Hals gebrochen. Hätte er doch bloß sein dummes Maul gehalten …

Tyler hatte versucht, ihn aufzumuntern und ihm gesagt, dass er eben noch jung war. Das half Brian jetzt aber auch nicht. Im Gegenteil. Er hatte sein Leben verpfuscht. Genau wie Tyler, der ja auch nur gut fünf Jahre älter war als er. Inzwischen hatten sie sich ausführlich über ihre Taten unterhalten. Tyler hatte Brian bereitwillig Auskunft gegeben und ihm auch erzählt, wie Anita Paley gestorben war – zumindest so weit, wie sein zugekokstes Hirn es sich gemerkt hatte. Er hatte irgendwann auch erzählt, dass Anita gar nicht die erste Frau war, die er vergewaltigt hatte.

In dem Moment hatte Brian gemerkt, wie ähnlich sie sich tatsächlich waren.

„Hey … selbst wenn sie dich verurteilen“, begann Tyler erneut. „Bis das Urteil vollstreckt wird, dauert es noch Ewigkeiten.“

„Ja, aber dir ist klar, dass ich dann nicht hier bleiben kann, oder?“, erwiderte Brian.

„Ist es“, sagte Tyler. „Und bevor du fragst, mir gefällt das auch nicht.“

Überrascht sah Brian ihn an. Er hatte jeden Grund, ein wenig zu Tyler aufzublicken, der älter und erfahrener war als er. Aber umgekehrt hatte er auch irgendetwas an sich, das Tyler sehr schätzte. Was auch immer das war.

„Du hast wenigstens die Chance, irgendwann wieder rauszukommen“, brummte Brian. „Die hab ich nicht.“

„Gib dich nicht so auf“, sagte Tyler.

„Ach, verdammt, Tyler! Du hast gut reden, für dich ändert sich ja nichts.“

„Und ob“, sagte Tyler und dirigierte Brian vorsichtig in eine ruhigere Ecke.

„Ich will das genau so wenig wie du“, begann Tyler dann erneut. „Und deshalb treffe ich schon Vorkehrungen.“

„Du triffst Vorkehrungen?“, fragte Brian irritiert.

„Du glaubst nicht ernsthaft, dass ich hier mein Leben verschwenden will.“

„Nein, aber …“ Brian kniff die Augen zusammen. „Was hast du vor?“

„Ich will hier raus und ich glaube, ich weiß auch, wie. Und dich nehme ich mit.“

Brian lachte nervös. „Du spinnst.“

„Glaubst du? Mein Vater hat Geld, Brian. Das öffnet so manche Türen. Auch die in Gefängnissen.“

„Du hast sie nicht alle.“

„Ich arbeite schon lange daran, der Plan steht. Ich will hier raus und du kommst mit.“

„Und dann? Mexiko?“

„Vielleicht. Du könntest deine Libby holen.“

Brian schnaubte. „Ich sagte doch, sie hasst mich.“

„Du sollst sie auch nicht um Erlaubnis fragen, du Idiot. Du holst sie dir einfach und … nimmst sie dir.“ Tyler grinste breit. „Vielleicht ist sie immer noch Jungfrau, so wie Emily.“

„Verdammt, hör auf“, raunte Brian und verschränkte die Arme vor der Brust. Das fehlte ihm bloß noch, dass ihm jetzt die Hose zu eng wurde …

Tyler lachte sich kaputt. „Reiß dich zusammen, Mann.“

„Schönen Dank auch“, grollte Brian.

Tyler lachte weiter. „Du bist herrlich. Nimmst alles immer so ernst.“

„Du bist so ein Arsch, Tyler. Wirklich.“

„Sag das noch mal, wenn ich deinen hier gerettet habe.“

„Das schaffst du nicht.“

„Wetten, doch? Du wirst sehen. Und wenn wir draußen sind … dann holst du deine Libby. Und ich schnappe mir Sadie Whitman.“

Mit hochgezogener Augenbraue blickte Brian zu seinem Freund. „Ist das dein Ernst?“

Tyler nickte. „Mein völliger Ernst.“

Brian grinste breit.

 

 

Los Angeles: Dienstag, 7. August

 

Es war ein unglaublich heißer, stickiger Abend. Über den Bergen brauten sich unheilvolle Wolken zusammen und Sadie fragte sich, ob endlich ein Gewitter kam und die ersehnte Abkühlung brachte.

Hayley lag bereits im Bett und Libby hatte sich in ihr Zimmer verzogen. Um Matt vor dem Fernseher nicht zu stören, setzte Sadie sich mit dem Telefon ins Schlafzimmer. Jetzt konnte sie in Ruhe telefonieren.

In der Mittagspause hatten sie und Matt ihre Freunde und Kollegen zu ihrer Party am Wochenende eingeladen und sich gefreut, dass sowohl Phil als auch Cassandra und Jason zugesagt hatten. Matt hatte am Vorabend bereits mit seinem Vater telefoniert, während es Sadie nicht gelungen war, Norman oder Tessa zu erreichen. Deshalb versuchte sie es jetzt noch einmal und hatte auch gleich Glück bei ihrem Onkel.

„Sadie, Liebes“, sagte er erfreut. „Wie schön, dass du dich meldest.“

„Ich habe es gestern schon versucht, aber leider ohne Erfolg“, sagte Sadie.

„Ja, ich war nicht zu Hause … aber sag mir doch erst mal, wie geht es dir?“

„Gut“, sagte sie. „Kann nicht klagen.“

„Du bist wieder arbeiten, oder?“

„Ja, seit gestern.“

„Und wie ist das so nach der Beförderung?“

„Hm“, machte sie unbestimmt. „Genau wie vorher. Aber wir werden jetzt unser Team vergrößern.“

Bereitwillig erzählte sie Norman ein wenig von der Arbeit. Er hörte gespannt zu und sagte schließlich mit unverhohlenem Stolz: „Ich freue mich so für dich, Sadie. Es gab eine Zeit, da wusste ich nicht, was mal aus dir werden soll … und jetzt sieh dich an. Du hast einen tollen Mann, tolle Kinder und einen nicht ganz alltäglichen Job, aber du machst ihn wirklich gut. Das ist großartig. Ich hatte mir das immer so für dich gewünscht.“

„Danke, Norman.“ Sie lächelte gerührt.

„Doch, wirklich. Du hast es wirklich zu etwas gebracht.“

„Du hattest einen nicht unerheblichen Anteil daran.“

„Mag sein, aber du kannst in der Hauptsache stolz auf dich sein. Dass du es zum FBI geschafft hast, konnte ich kaum beeinflussen – und was dort aus dir geworden ist, auch nicht.“

„Und ob, Norman. Aber lassen wir das. Eigentlich wollte ich dich etwas fragen.“

„Ich bin ganz Ohr.“

„Hast du am Wochenende Zeit? Hayley hat am Donnerstag Geburtstag und Matt hatte ja auch gerade, deshalb hatten wir überlegt, am Samstag eine Party für Freunde und Familie zu geben.“

„Oh, das klingt wunderbar. Ich komme sehr gern.“

„Wie schön“, freute Sadie sich. „Matts Vater kommt auch.“

„Vielleicht können wir zusammen fahren.“

„Gute Idee“, fand Sadie.

„Tut mir leid, dass du gestern umsonst angerufen hast. Ich war bei Christine zum Essen.“

„Wie schön! Ihr scheint euch gut zu verstehen“, sagte Sadie.

„Ja, absolut. Gestern habe ich ihr von Fanny erzählt.“

„Oh. Wie hat sie reagiert?“

„Gut. Sie hat bislang nicht gefragt, um nicht unhöflich zu sein, sagte sie. Eigentlich hatte sie erwartet, dass Fanny auch krank war, aber als ich sagte, dass sie ermordet wurde, war sie im ersten Moment natürlich schockiert“, berichtete Norman.

„Das kann ich mir vorstellen.“

„Ich kam nicht umhin, weit auszuholen und von Rick zu erzählen. Sie hat gut reagiert, wir wollen uns am Freitag wieder sehen. Deshalb kann ich auch erst am Samstag zu euch kommen.“

„Das ist ja nicht schlimm“, sagte Sadie. „Gut, dass sie es endlich weiß.“

„Ja, ich bin auch ganz erleichtert. Nun steht das nicht mehr zwischen uns. Sie sagte, sie würde sich freuen, euch mal kennenzulernen. Sie ist jetzt neugierig auf meine Nichte beim FBI.“

„Das kann ich mir vorstellen.“ Sadie lachte. Sie freute sich wahnsinnig für ihren Onkel. Er hatte eine alleinstehende Frau in seinem Alter kennengelernt und möglicherweise bahnte sich dort etwas an. Das hätte sie Norman wirklich gewünscht.

Er fragte nach ihrem Urlaub, nach Andrea und ihrer Familie und erkundigte sich natürlich auch nach Matt, Libby und Hayley. Sadie erzählte ihm alles, aber über Brian Leigh verlor sie kein Wort. Dafür war ihr das nicht wichtig genug.

Schließlich verabschiedete sie sich wieder von Norman, weil sie immerhin noch Tessa anrufen musste. Sie hoffte, ihre Freundin diesmal anzutreffen und hatte auch hier Glück.

„Sadie!“, rief Tessa hocherfreut. „Welche Ehre. Ist es bei euch auch so heiß?“

„Frag nicht“, erwiderte Sadie, die bloß noch ihr Trägertop trug und sich lang auf dem Bett ausgestreckt hatte. „Aber wenn ich jetzt die Klimaanlage anmache, sind meine Füße in fünf Minuten Eiszapfen.“

„Wem sagst du das. Wie geht es dir?“, erkundigte Tessa sich.

„Gut, und dir?“

„Ein bisschen müde. Ich bin vor einer halben Stunde erst nach Hause gekommen.“

„Oh. Störe ich?“

„Nein. Sylvie sagte mir auch gestern, dass du angerufen hast, aber ich war zu nichts mehr zu gebrauchen. Der Job hat es in sich und durch die Fahrerei in die Stadt dauert alles immer ewig.“

„Das kann ich mir vorstellen. Aber solange du es nicht bereust ...“

Tessa schnaubte. „Nein, nicht im Geringsten. Bin dabei, meine Wohnung aufzulösen, alles wieder zurück nach Livermore zu schaffen und nebenbei aufzupassen, dass es mit Sylvie gut läuft und wir nicht in alte Muster verfallen. Was bei dem Stress, den ich im Moment mit der Arbeit habe, wirklich nicht einfach ist. Aber wir sind auf einem guten Weg.“

„Das schafft ihr“, sagte Sadie.

„Ich denke auch. Übrigens hat Hocking mich letzte Woche noch mal angerufen“, wechselte Tessa das Thema.

„Was wollte er?“, fragte Sadie überrascht.

„Lindsays Anwalt will ein Gutachten über sie erstellen lassen, das hat er mir gesagt. Sie wollte auf Kaution raus, aber der Richter hat das abgelehnt. Er sah da die Gefahr, dass sie dann anfängt, mich zu stalken.“

„Prima“, brummte Sadie. „Das bräuchten wir ja ganz dringend.“

„Hab ich mir auch gedacht. Aber nein, sie bleibt bis zum Prozessauftakt im Knast. Hocking überlegt jetzt, einen Gegengutachter zu bestellen. Du kommst ja leider nicht in Frage …“

„Wohl wahr. Sollte er wider Erwarten keinen finden, könnte ich ihm aber ein paar Namen geben.“

„Nicht in Frisco, oder?“, fragte Tessa.

„Nein, das leider nicht. War auch nur so eine Idee.“

„Ich finde es immer noch krass, wie du sie nach so kurzer Zeit so gut einschätzen konntest. Ich meine, ich war monatelang mit ihr zusammen und hatte keine Ahnung, was für ein Psycho sie ist …“

„Du weißt, ich habe es bei Sean auch nicht gemerkt.“

„Ja, aber trotzdem. Das war etwas Anderes.“

„Mach dir keine Vorwürfe, Tessa.“

Doch die machte Tessa sich sehr wohl. Es war schlimm für sie, auf eine Frau hereingefallen zu sein, die ihr Böses wollte. Sie hatte eine Beziehung mit ihr geführt, sie ganz nah an sich herangelassen. Das hinterließ Spuren.

Doch Sadie wechselte elegant das Thema und lud Tessa und Sylvie für die Gartenparty ein. Tessa war sofort Feuer und Flamme und sagte zu, ohne Sylvie gefragt zu haben.

„Es ist gut, dass wir uns jetzt wieder häufiger sehen“, sagte sie. „Das darf nicht wieder so einreißen.“

„Da sagst du was“, stimmte Sadie zu. Sie zog das Gespräch nicht unnötig in die Länge, um Tessa noch etwas von ihrem Abend und ihrer Freundin zu lassen, denn immerhin war es auch schon halb zehn.

Nachdem sie aufgelegt hatte, ging sie mit dem Telefon in der Hand wieder nach unten, barfuß und nur mit Slip und Top bekleidet. Matt musterte sie entsprechend und grinste, als sie vor dem Sofa auftauchte.

„Was muss ich denn da sehen?“, fragte er augenzwinkernd.

„Mir ist warm“, murrte Sadie und ließ sich neben ihn sinken. Er lag ebenfalls bloß noch in Shorts auf dem Sofa und verfolgte eine Comedyserie.

„Hast du sie erreicht?“, erkundigte er sich. Sadie berichtete ihm knapp von ihren Telefonaten und ließ sich dann erschöpft gegen das Sofa sinken. Ihr Blick streifte das Babyfon vor Matt auf dem Tisch.

„Alles ruhig“, sagte er.

Sadie lächelte. „Das ist es doch meistens.“

„Das stimmt.“ Matt stellte den Fernseher leiser und setzte sich aufrecht. „Ich möchte dir am liebsten ununterbrochen für unsere wundervolle Tochter danken.“

Überrascht sah Sadie ihn an. „Als ob du nichts damit zu tun hättest.“

„Schon … aber schwanger warst du und zur Welt gebracht hast du sie auch.“

Sadie lächelte gerührt und setzte sich neben ihn. „Damit habe ich mir selbst ein Geschenk gemacht.“

„Stimmt.“ Verstohlen sah Matt sie an. „Verdammt, Sadie, du machst mich ganz nervös.“

Sie lachte leise. „Ist das so?“

Er nickte. „Du hast fast nichts an.“

„Wie schrecklich …“ Grinsend rutschte sie näher an ihn heran und signalisierte ihm, dass es okay war. Das war eine unausgesprochene Übereinkunft zwischen ihnen – sie gab grünes Licht, wenn sie in Stimmung war. Mit unbeteiligter Miene zog Matt ihr einen dünnen Träger von der Schulter, so dass ihr das Top bis auf die Brust rutschte. Sadie bekam eine Gänsehaut.

„Wir könnten ganz leise ins Schlafzimmer schleichen“, raunte er ihr zu.

Verschwörerisch sah Sadie ihn an. „Oh, und dann?“

„Hm … dann könnte ich dich ganz langsam in den Wahnsinn treiben und genüsslich vernaschen.“

Sie grinste. „Wie könnte ich da Nein sagen?“

„Das wollte ich hören“, sagte Matt, schaltete den Fernseher aus und wollte Sadie schon auf seine Arme heben, um sie elegant nach oben zu tragen, aber sie stahl sich davon.

„He“, sagte er gespielt empört. Er dachte gerade noch daran, das Babyfon mitzunehmen, während Sadie flink die Treppe hinauf lief und im Schlafzimmer auf ihn wartete. Augenblicke später stand er vor ihr und schloss leise die Tür hinter sich.

Ihn anzusehen, brachte sie im Handumdrehen auf Ideen. Sie hatte ihn immer schon verdammt anziehend gefunden. Breite Schultern, ein muskulöser Körperbau – und diese Arme …

Sie ließ es mit sich geschehen, als er flink das Babyfon zur Seite stellte und sie dann mit gespielter Wildheit aufs Bett warf. Er beugte sich über sie und streifte unter Küssen ihr Top hoch. Seine Lippen suchten sich über ihren Hals den Weg abwärts. Sadie schloss die Augen und genoss seine Liebkosungen, während sie sich atemlos an ihm festkrallte.

Inzwischen konnte sie sich leichter fallen lassen. Das hatte Hayleys Geburt mit sich gebracht. Matt hatte sie zurückhaltend und doch bestärkend begleitet, hatte es mit ihr ausgehalten und keine Miene verzogen, wenn sie markerschütternd laut vor Schmerz geschrien hatte. Er hatte sie einfach nur unterstützt und ihr danach seinen allergrößten Respekt ausgesprochen, so dass sie seitdem keine Hemmungen mehr vor ihm hatte, in keiner Hinsicht. Seitdem hatte sie auch ein besseres Körpergefühl, was sie genoss.

Er ließ seine Hand in ihrem Slip verschwinden, zerrte ihn ihr dann von den Hüften und fuhr geübt damit fort, sie so richtig anzuheizen. Irgendwann riss sie ihm ungeduldig die Shorts herunter und zog ihn über sich. Sie schlang die Arme um ihn und küsste ihn leidenschaftlich, während er zwar auf ihr lag, aber sich kaum noch rühren konnte.

„He“, sagte er ungeduldig. „Womit verdiene ich das denn?“

Sadie grinste. „So nah und doch so fern …“

„Na warte, Sadie Whitman!“ Er richtete sich auf und griff vorsichtig nach ihren Handgelenken, dann schlang er seine Finger um ihre und drückte ihre Arme neben ihrem Kopf in die Kissen. Sadie lächelte, sein gespielter Überfall gefiel ihr. Gierig küsste er sie und sah sie dann verschwörerisch an.

„Soll ich?“

„Also wenn du schon so fragst …“ erwiderte sie grinsend. 

Für einen Moment ließ er sie los, bis sie eins waren, griff dann wieder nach ihrer Hand und suchte sich langsam seinen Rhythmus. Sadie hielt die Augen kurz geschlossen und genoss das Gefühl. Sie konnte sich ihm hingeben. Sie liebte es, seine Begierde zu spüren. Zwar hatten sie nun seltener die Gelegenheit, aber wenn sie einander nah waren, war es schöner denn je. Leise stöhnend bäumte sie sich unter ihm auf.

Sie ließen sich Zeit. Matt wusste genau, was er tun musste, aber er kostete jede Sekunde aus. Erst, als er merkte, dass Sadie beinahe vor Ekstase platzte, ließ er jede Zurückhaltung fallen und schnappte keuchend nach Luft, als sie unter ihm geradezu explodierte. Sadie musste sich Mühe geben, leise zu sein, während Matt sich mitreißen ließ und sie schließlich atemlos küsste.

Mit zitternden Knien ließ er sich neben sie fallen und machte keinerlei Anstalten, sich wieder zu bewegen. Sadie brauchte ebenfalls einen Moment, bevor sie aufstand, ihr Top herunterzog und sich auf dem Weg ins Bad ihren Slip schnappte. Als sie Augenblicke später ins Schlafzimmer zurückkehren wollte, fand sie es leer vor, aber die benachbarte Tür des Kinderzimmers stand einen Spalt weit offen. Sie blieb stehen und wartete auf dem Flur, bis Matt wieder herauskam. Seine notdürftig übergestreiften Shorts saßen vollkommen schief.

„Sie hat ihren Schnuller vermisst“, sagte er. Als sie wieder im Schlafzimmer waren, umarmte er Sadie kurz entschlossen und schenkte ihr einen tiefen Kuss. Sie erwiderte ihn nur zu gern und lächelte selig, als sie sich zusammen ins Bett legten. Wortlos schmiegte sie sich an ihren Mann und lauschte auf seine langsam ruhiger werdenden Atemzüge. Nachdenklich glitt sie mit den Fingerspitzen über die Operationsnarbe auf seiner Brust.

„Wir sind schon zwei schöne Helden“, sagte Matt leise. Er drehte sich halb seitlich und sah Sadie genau in die Augen. Ihr Top war wieder verrutscht, so dass ihre jüngere Narbe von der Schussverletzung in England zum Vorschein kam. Matt legte seine Hand darauf und seufzte.

„Danke, dass ich dich lieben darf.“

Sadie wusste, wie er das meinte, und küsste ihn zärtlich. „Ich werde nie aufhören, dich zu lieben, Matt Whitman.“

 

Los Angeles: Donnerstag, 9. August

 

Es waren Hungerlaute ihrer Tochter, die Sadie aus dem Schlaf rissen. Wie fast immer hörte sie Hayley vor Matt, aber sie ärgerte sich nicht darüber. Mütter waren evolutionär so programmiert. Sie erkannte auch das Weinen ihrer Tochter unter anderen Kindern ganz mühelos. Mit Hayley fühlte sie sich auf eine andere Art sogar noch verbundener als mit Matt. Sie liebte Matt und hätte alles für ihn getan, aber für Hayley waren diese Gefühle fast noch intensiver. Sie glaubte aber, dass es Matt ähnlich ging und hielt das auch für völlig normal.

Müde quälte sie sich aus dem Bett, stellte den Fläschchenwärmer an und ging hinüber ins Kinderzimmer. Hayley klang untröstlich, sie jammerte weinerlich und streckte Sadie in ihrem Bettchen die Arme entgegen.

„Hey“, sagte Sadie sanft und hob ihre Tochter aus dem Bett. Liebevoll wiegte sie Hayley auf ihrem Arm und streichelte ihr Köpfchen, während sie mit ihr hinüber ins Schlafzimmer ging und sie wie immer in die Bettmitte legte. Der Fläschchenwärmer war inzwischen fertig, Sadie füllte das Milchpulver ins Fläschchen und legte sich neben Hayley, um sie zu füttern. Gierig begann ihre Tochter zu trinken. Wohlige Laute vertrieben die Stille im Schlafzimmer. Matt rührte sich und drehte sich um.

„Was für ein wunderbares Geschöpf liegt denn hier“, murmelte er müde und streichelte Hayleys Kopf.

Sadie lächelte in der Dunkelheit. „Eins, das vor einem Jahr geboren wurde.“

„Happy Birthday“, murmelte Matt und küsste Hayley auf die Stirn. Unbeeindruckt trank die Kleine weiter. Sadie hielt Hayleys kleine Hand in ihrer und lächelte versonnen. Sie erinnerte sich an die Geburt, als sei sie gestern gewesen – und sie dachte mit Stolz daran zurück. Da waren keinerlei negative Gefühle. Sie war über sich hinausgewachsen, hatte in einem animalischen Kraftakt ihre Tochter einfach so zur Welt gebracht und spüren dürfen, wozu sie eigentlich in der Lage war. Das war etwas Besonderes. Seitdem hatte sie ein anderes Bild von sich selbst.

In einer Windeseile hatte Hayley das Fläschchen ausgetrunken und schlief gleich wieder ein. Sadie und Matt ließen sie an Ort und Stelle liegen und blieben ebenfalls noch eine Weile im Bett, denn sie hatten noch Zeit, bis sie aufstehen mussten. Die ganze Zeit über lauschte Sadie auf den Atem ihrer Tochter. Sie war dankbar für Hayley, die Kleine war ein echtes Geschenk.

Schließlich standen sie doch auf. Irgendwie fühlte Sadie sich in der Pflicht, an diesem Tag etwas Besonderes für Hayley zu machen, beruhigte sich aber mit dem Gedanken, dass Hayley noch zu klein war, um zu verstehen, was ihr Geburtstag war. Sie wollten früher Feierabend machen und abends gemeinsam zum Santa Monica Pier fahren, wo es auch für kleine Kinder viel zu entdecken gab. Als Geburtstagsprogramm fand Sadie das recht passend. Bis dahin würde Libby sich wieder liebevoll um Hayley kümmern, was ihr wunderbar gelang. Sadie hatte leider keinen Urlaubstag zu erübrigen, aber das musste sie auch nicht. Bei Libby war Hayley in den allerbesten Händen. Sie war stolz auf ihre Adoptivtochter.

Als sie fertig waren und sich auf den Weg zur Arbeit machen wollten, weckte Matt Libby und stellte sicher, dass Hayley beaufsichtigt war, dann brach er mit Sadie auf.

„Was machst du denn für ein Gesicht?“, fragte er, als sie den Freeway erreicht hatten.

„Es ist Hayleys erster Geburtstag und wir fahren ins Büro.“

„Ja, ich weiß. Sie wird es nicht schlimm finden. Das ist bloß unser persönliches Problem.“

„Du hast Recht. Trotzdem denke ich … ach, ich weiß nicht.“

„Wir holen es doch heute Abend nach. Und am Wochenende.“

Sadie nickte. Trotzdem tat es ihr leid. Hayley hätte eigentlich etwas anderes verdient. Dabei versuchte Sadie jeden Tag, die Welt für ihre beiden Töchter ein bisschen sicherer zu machen.

Dabei war ihre Arbeit gerade nicht einmal besonders spannend. Brian war ihr letzter großer Fall gewesen, seither hatte sie mehrmals die Polizei beraten, ein Profil in einem Entführungsfall geliefert und das Profil eines sporadisch zuschlagenden Serienvergewaltigers erstellt, der in Anaheim sein Unwesen trieb. Gefasst hatte man ihn aber immer noch nicht. Seit ihrer Rückkehr aus dem Krankenstand war in beruflicher Hinsicht nichts Spektakuläres passiert, was Sadie nicht störte, aber allmählich wünschte sie sich zumindest ein bisschen Abwechslung.

Dass Matt freiwillig Dienst am Schreibtisch machen wollte, war ihr unverständlich. Sie liebte den Außeneinsatz, ganz gleich wie oft sie dabei schon in Mitleidenschaft gezogen worden war. Aber auch vor seinem Wechsel zum FBI hatte Matt bei der Polizei ganz andere Dinge gemacht als sie. Als Polizeifotograf hatte er wirklich fast nur Fotos gemacht und wenig an Ermittlungen mitgewirkt, und dass er auf Streife gewesen war, war abgesehen von seiner Zeit in Dale City schon Ewigkeiten her.

Aber er schien jetzt nicht unzufrieden zu sein. Zumindest hatte sie nicht den Eindruck gehabt, als er aus dem Aufzug gestiegen war. Und das war die Hauptsache. Es machte sie traurig, dass Matt sich so verändert hatte, aber gleichzeitig liebte sie ihn unverändert und wollte für ihn da sein, wo immer sie konnte.

Nachdem sie ihren Rechner hochgefahren hatte, fand sie eine Mail von Nick Dormer aus Quantico. Er fragte an, ob sie nicht mal wieder zur Academy kommen und einen Vortrag halten wollte. Zwar hatte Sadie gerade eigentlich keine Lust, aber das war tatsächlich mal eine Abwechslung und für die Rekruten war es sicher gewinnbringend.

Sie beantwortete einige Mails, bevor sie beschloss, zu Hank zu gehen und das Thema bei ihm anzusprechen. Seine Tür stand offen, deshalb klopfte Sadie an den Rahmen. Hank blickte auf.

„Sadie.“ Er lächelte erfreut.

„Kann ich etwas mit dir besprechen?“

„Komm doch rein.“

Sadie nahm vor seinem Schreibtisch Platz. „Nick Dormer hat mir geschrieben. Er fragt, ob ich noch mal einen Vortrag an der Academy halten möchte.“

„Über Foster?“, fragte Hank.

„Unter anderen, ja. So, wie ich das schon gemacht habe.“

„Sicher, für den Nachwuchs ist das bestimmt nützlich. Von dir kann man ja inzwischen so einiges lernen. Und dankbares Publikum gibt es ja immer in Quantico.“

„Das stimmt allerdings.“

„Das wäre vielleicht gar nicht schlecht, dann könntest du dort tatsächlich nach möglichen neuen Mitarbeitern für euer Team Ausschau halten.“

„Hast du denn noch niemanden im Auge?“, fragte Sadie.

„Doch, hier liegen schon Bewerbungen, aber ich will da niemanden übersehen.“

„Verstehe“, sagte Sadie und lächelte. „Ich kann Dormer ja auch schon mal fragen.“

„Sicher, mach das. Sag mir einfach nur Bescheid, wann du in Quantico bist.“

„Danke, Hank“, sagte Sadie und machte sich wieder an die Arbeit. Jetzt ging es darum, Flüge zu buchen und den Rest zu organisieren. Sie beschloss, Nick dafür anzurufen. Zum Glück erreichte sie ihn gleich.

„Hey, Sadie. Schön, von dir zu hören“, sagte er. „Wie geht es dir?“

„Bestens“, sagte sie. „Und dir?“

„Viel zu tun, aber das ist ja nichts Neues. Ich nehme an, du rufst wegen meiner Mail an?“

„Genau. Lass uns mal einen Termin absprechen, das ist vermutlich so am einfachsten.“

Nick stimmte ihr zu, schnappte sich seinen Kalender und ging mit Sadie mögliche Termine durch. Schließlich einigten sie sich auf Mitte September.

„Du könntest mir bis dahin aber auch noch einen Gefallen tun“, sagte Sadie. „Unser Team soll größer werden. Fürs Erste wollen wir zwei neue Profiler einstellen und Hank meinte, wir sollen uns auch mal unter den Absolventen in Quantico umschauen.“

„Oh, das freut mich aber. Da fällt mir auch spontan jemand ein … eine junge Frau, die auch erst Polizistin war, genau wie du. Ich glaube, sie ist zwei Jahre jünger als du, kommt aus Chicago und hat dort schon an einigen Mord- und Vergewaltigungsfällen mitgearbeitet. Sie hat Psychologie und Kriminologie studiert. Klingt gut, oder?“

„Unbedingt“, fand Sadie.

„Sie ist gerade mitten in den Prüfungen und käme für euch in Frage. Fürs Profiling hat sie ein feines Gespür. Ich kann euch ja mal ihre Akte schicken.“

„Bitte, tu das. Ich bin sehr gespannt.“

„Und wer leitet euer Team dann?“, erkundigte Nick sich.

Sadie grinste verlegen. „Das mache ich.“

„Ach was.“

„Ja … hätte ich dir vorhin per Mail geantwortet, hättest du in der Signatur SSA Whitman gelesen.“

Nick antwortete nicht gleich. „Meinen Glückwunsch, Sadie. Sehr verdient und überfällig. In Los Angeles möchte ich kein Serienkiller sein …“

Darüber musste sie lachen. „So viele Serienkiller hatte ich ja hier auch noch nicht.“

„Nein, aber du weißt ja, was ich meine. Wenn du einen Fall hast, dann löst du ihn auch. Vielleicht dauert das auch etwas, wie etwa im Falle von Brian Leigh … aber auch den hast du geschnappt.“

„Hör mir bloß auf mit Leigh“, sagte Sadie.

„Warum?“

„Der ist geradezu besessen von mir.“ Sadie erzählte Nick, was vorgefallen war und er hörte aufmerksam zu.

„Das hatte ich auch schon“, sagte er dann zu ihrer Überraschung. „Manche Killer hängen sich sehr an dem Ermittler auf, der sie zu Fall gebracht hat. Meistens ist das aber völlig harmlos.“

„Ich weiß, aus dem Gefängnis heraus kann er ja nicht viel tun.“

„Eben. Mach dir da mal keine Gedanken, Sadie. Du kennst doch solche Typen. Sie halten sich für die Größten, aber viel von dem, was sie von sich geben, ist auch nur heiße Luft. Meines Wissens landet er doch im Todestrakt?“

„Ja, aber leider ist er dort noch nicht“, sagte sie unerfreut.

„Kommt noch. Mach dich nicht verrückt. Ignorier ihn einfach.“

„Du hast Recht. Danke, Nick. Mit dir zu reden ist immer erhellend.“

Er lachte. „Sehr gern. Ich freue mich auf deinen Besuch hier. Und Glückwunsch nochmal.“

„Danke. Bis dann“, sagte Sadie und legte auf. Sie machte sich daran, ihre Flüge zu buchen und erhielt in der Zwischenzeit von Nick eine Mail mit der Akte von Maggie Ryan von der FBI Academy.

Bis zum Mittagessen war Sadie damit beschäftigt, die Akte zu sichten und Anfragen von Polizeidienststellen aus der Stadt durchzugehen. Ja, es war wirklich eine gute Idee, das Team zu verstärken. Allein mit Cassandra konnte sie das einfach nicht schaffen.

Schließlich war es an der Zeit für die Mittagspause. Sie tat sich mit Cassandra zusammen und holte Matt und Jason auf dem Weg zur Kantine ab. Es gefiel Sadie, dass Matt wieder beim FBI war. Tatsächlich hatte er ihr verdammt gefehlt, aber Hayley hatte ihn gebraucht – und Sadie hatte ihn so manches Mal beneidet.

Sie freute sich, als auch Phil in der Kantine auftauchte. Wie so oft erschien er in halber Kampfmontur, trug immer noch die Hose seines Kampfanzugs und darüber nur ein eng sitzendes T-Shirt, unter dem sich seine inzwischen doch recht ansehnlichen Muskeln abzeichneten. Sadie sah schon von weitem, dass er ziemlich kleine Augen hatte.

„Du siehst müde aus“, sagte sie gleich nach der Begrüßung, als sie sich zusammen an einen Tisch setzten.

„Ach, hör auf“, sagte Phil und seufzte. „Das habe ich mir ja selbst eingebrockt. Aber wem sage ich das … du weißt ja selbst, wie die Nächte mit einem Baby sind.“

„Inzwischen ganz gut. Es ist okay, wenn sie früh wach wird. Was schlaucht, sind irgendwelche Episoden mitten in der Nacht, wenn man aus dem Tiefschlaf gerissen wird“, sagte Matt von der Seite.

„Ich hab ja keine Ahnung, woher Amelia die Geduld nimmt, dann auch noch zu stillen“, sagte Phil. „Ich biete ihr immer an, auch mal ein Fläschchen zu geben, aber sie will nicht. Und heute Nacht war einfach nur Terror. Ich glaube, die Kleine zahnt.“

„Oh, wie lustig“, sagte Sadie sarkastisch. „Das kennen wir ja gar nicht …“

„Also meine Nacht war sehr erholsam“, sagte Jason von der Seite und handelte sich dafür eine Kopfnuss von Matt ein.

„Werd du mal Vater, du Angeber“, sagte er.

„Ich hab da keine Eile“, verkündete Jason. „Oder, Cassie?“

„Wir werden sehen“, erwiderte sie uneindeutig.

Sadie genoss es aus vollen Zügen, mit ihren Kollegen und Freunden die Mittagspause zu verbringen. Es war eine fröhliche, vertraute Runde und sie war froh, dass Matt jetzt wieder dabei war. Sie hätte verstanden, hätte er das FBI wirklich verlassen wollen, aber zum Glück war das erst mal vom Tisch.

Schließlich kehrte sie ins Büro zurück. Sie hatte ihren Schreibtisch jedoch noch nicht erreicht, als ihr Handy klingelte. Auf dem Display stand Nathans Name.

„Hey“, begrüßte Sadie ihn freundlich. „Was gibt es?“

Er räusperte sich. „Ich weiß immer noch nicht, wie ich dir das jetzt sagen soll.“

„Was denn?“, fragte sie ganz unbefangen.

„Brian Leigh und Tyler Evans sind verschwunden.“

 

 

„Was soll das heißen, verschwunden?“, fragte Sadie verständnislos.

„Sie sind beide nicht zu ihrer Arbeit angetreten. Im Moment stellen sie das ganze Gefängnis auf den Kopf, aber der Direktor hat mich gerade angerufen. Ich habe ja am Dienstag mit ihm telefoniert, damit er mit mir Brians Transport nach San Quentin abspricht. Er sagte mir, dass ihr miteinander gesprochen habt und er sich Sorgen macht, weil Brian dir geschrieben hat. Deshalb hat er mir gerade schon Bescheid gegeben, damit ich dich informiere.“

Diese Nachricht musste Sadie erst einmal verarbeiten. „Du machst Witze.“

„Ich fürchte, nein. Beim Hofgang heute Vormittag wurden sie zuletzt gesehen. Er meinte, sie hätten die Überwachungsaufnahmen aus dem Speisesaal bereits gesichtet und da fehlen sie. Vorhin haben sie die Zellen der beiden auseinandergenommen und dabei auf Brians Bett einen Brief an dich gefunden.“

„Was steht drin?“ Sadie schloss die Augen, um sich zu konzentrieren.

„Auf dem Umschlag stand nur dein Name, er war nicht weiter adressiert, so als hätte Brian gar nicht vorgehabt, ihn in die Post zu geben. Der Direktor hat ihn gleich geöffnet und mir vorhin ein Foto geschickt.“ Nathan räusperte sich und las vor. „Ich habe es dir doch gesagt, wir werden uns wiedersehen. Du und deine Familie seid nirgends mehr sicher vor uns. Wir haben beide noch eine Rechnung mit euch offen. Sag Libby, ich freue mich auf sie. Brian.“

Sadie konnte nicht antworten. Sie wusste nicht, was. Sie wusste auch nicht, was jetzt zu tun war. In ihrem Kopf spielte alles verrückt. Dann versuchte sie, sich zu beruhigen und aufs Wesentliche zu fokussieren.

„Ihr geht also davon aus, dass sie weg sind“, sagte sie.

„Müssen wir ja. Noch weiß keiner, wie das funktioniert haben soll, aber ich hatte überlegt, hinzufahren und mir das anzusehen. Vielleicht willst du mit? Oder … keine Ahnung. Wenn ich gleich aufgelegt habe, werde ich zuallererst Personenschutz für dich und deine Familie beantragen. Mit Brians Brief ist das kein Problem.“

Sadie merkte, dass er schon weiter gedacht hatte als sie. „Okay ... ich muss mit Matt reden.“

„Sicher. Willst du dich gleich noch mal melden?“

„Ja … ich weiß gerade nicht, was ich sagen soll.“

„Das kann ich verstehen. Lass dir Zeit. Beim FBI bist du ja sicher.“

Das brachte Sadie auf einen Gedanken. Ihr wurde heiß. „Wann genau wurden sie zuletzt gesehen?“

„Um kurz vor elf.“

Und jetzt war es kurz nach zwei. „Kannst du eine Streife zu mir nach Hause schicken?“

„Natürlich, das mache ich sofort.“

„Die Kollegen sollen bitte Libby und Hayley herbringen. Ist das okay?“

„Natürlich ist es das. Bin schon dabei.“

„Danke. Bis gleich.“

Sadie steckte ihr Handy weg und sprang auf. Draußen auf dem Flur wartete sie nicht auf den Aufzug, sondern rannte die beiden Treppen nach unten ins Büro zu Matt. Atemlos stürmte sie hinein und verdrehte die Augen, als sie weder Matt noch Jason am Platz fand. Ihre Kollegin Jeannette sprach Sadie gleich an.

„Suchst du Matt?“

„Wo ist er?“

„Sie haben seit fünf Minuten eine Besprechung.“

„Wo?“, insistierte Sadie.

Jeannette wies auf die geschlossene Tür eines Besprechungsraums. Sadie hatte nicht vor, jetzt zu warten. Matt musste das wissen. Beherzt klopfte sie und öffnete die Tür einen Spalt weit. Vor dem Whiteboard stand Matts Chef Peter Warner mit einem Stift in der Hand und hielt verdutzt mit seinen Ausführungen inne.

„Entschuldigung“, sagte Sadie und suchte nach Matt, der sie überrascht ansah. „Das ist mir unangenehm, Peter, aber ich muss dringend mit Matt reden.“

Doch Warner zeigte sich verständnisvoll. „Nur zu.“

Matt stand auf und beeilte sich, nach draußen zu kommen. Fragend sah er sie an. „Was ist denn jetzt los?“

„Nathan hat angerufen. Brian und Tyler sind aus dem Gefängnis verschwunden und man hat auf Brians Bett einen Brief an mich gefunden, in dem er mir droht. Nein … uns, um genau zu sein.“

Sprachlos starrte Matt sie an. Es dauerte einen Moment, bis er sich gefangen hatte. „Das ist nicht dein Ernst.“

„Sie sind seit drei Stunden unauffindbar. Nathan schickt gerade eine Streife zu uns nach Hause.“

„Oh, sehr gut. Das Wichtigste zuerst.“

Sadie nickte. „Brian kennt unsere Adresse. Er war schon dort.“

„Ich weiß. Rufen wir zu Hause an.“

„Gute Idee“, sagte Sadie. Die Idee hatte sie noch überhaupt nicht entwickelt.

Matt hatte gleich sein Handy in der Hand und rief Libby an. Gespannt beobachtete Sadie ihn, doch nichts geschah.

„Sie geht nicht ran“, murmelte Matt überflüssigerweise.

„Oh Gott“, wisperte Sadie und legte ihre Hände in einer flehenden Geste an die Lippen. Matt versuchte es erneut, aber Libby ging immer noch nicht dran.

„Ich fahre hin“, sagte er.

„Wir brauchen auch zwanzig Minuten … sie könnten längst dort sein.“

„Ist mir egal. Hast du deine Dienstwaffe?“

Sadie nickte. Matt überlegte gerade, Peter Bescheid zu geben, als das Handy in seiner Tasche zu vibrieren begann. Es war Libby.

„Geht es dir gut?“, war das Erste, was Matt fragte.

„Was ist los? Ich war gerade damit beschäftigt, Hayley ins Bett zu bringen“, sagte Libby. „Jetzt ist sie wieder wach …“

„Libby, du musst sie in die Babyschale setzen. Sind alle Türen und Fenster zu? Gleich wird eine Polizeistreife kommen, um euch beide zu uns zu bringen. Den Officers machst du auf, aber niemandem sonst“, schärfte Matt ihr ein.

„Was ist denn?“ Libby verstand kein Wort.

„Brian ist mit jemandem aus dem Knast geflohen. Er hat Sadie gedroht und er kennt ja unsere Adresse.“

„Oh Gott“, entfuhr es Libby. „Ja, klar, ich passe auf. Die Türen sind zu. Ich hole Hayley gleich und dann warten wir auf die Polizei.“

„Bitte seid vorsichtig“, sagte Matt.

„Ich passe schon auf Hayley auf. Keine Angst.“

„Danke. Bis gleich.“

Erleichtert legte er auf und gab Sadie wieder, was Libby gesagt hatte.

„Meine Güte. Ich dachte, mein Herz bleibt stehen“, gab Sadie zu.

„Es ist alles okay. Sie weiß jetzt Bescheid.“

„Oh Gott.“ Erst jetzt merkte Sadie, wie sehr sie eigentlich zitterte. Matt schloss sie in seine Arme und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, um sie zu beruhigen.

„Er wird Hayley nichts tun“, sagte Matt sanft.

„Ich habe an seinen Tatorten gestanden“, sagte Sadie. „Er ist krank im Kopf, Matt. Das ist er wirklich.“

„Die beiden sind gleich bei uns.“

„Oh mein Gott …“ Sadie fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und versuchte, einen kühlen Kopf zu bewahren.

„Ich rede mit Peter“, sagte Matt und klopfte an die Tür des Besprechungsraums, die er gleich öffnete. „Peter, ich muss dich etwas fragen.“

Augenblicke später stand Warner vor der Tür. „Hi, Sadie. Was ist denn hier los?“

„Der Son of the Nightstalker Brian Leigh ist wohl gerade aus dem Gefängnis verschwunden“, sagte Sadie. „Er hat einen Drohbrief an mich und meine Familie gerichtet.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739426686
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (November)
Schlagworte
Rache SWAT Serienkiller Profiler Thriller Gefängnisausbruch Serienmörder Entführung Spannung FBI Psychothriller Krimi Ermittler

Autor

  • Dania Dicken (Autor:in)

Dania Dicken, Jahrgang 1985, schreibt seit der Kindheit. Die in Krefeld lebende Autorin hat in Duisburg Psychologie und Informatik studiert und als Online-Redakteurin gearbeitet. Mit den Grundlagen aus dem Psychologiestudium setzte sie ein langgehegtes Vorhaben in die Tat um und schreibt seitdem Psychothriller mit Profiling als zentralem Thema. 2014 hat sie ihre ersten Psychothriller und Fantasyromane im Selfpublishing veröffentlicht; die Profiler-Reihe erschien neu bei Bastei Lübbe.
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Titel: Die Seele des Bösen - Rachlust