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Ariz

von Tanja Rast (Autor:in)
468 Seiten
Reihe: Schmachten & Schlachten, Band 4

Zusammenfassung

Epische High Fantasy mit Helden, Schlachten, Magie und einer Romanze, die sich wie ein rotes Seidenband durch die Geschichte zieht und weder drohende Niederlagen noch selbst den Tod fürchtet. Gleich zwei Könige machen Yeva den Hof! Abgeschieden und zur Fügsamkeit erzogen schwankt die letzte Thronerbin zwischen Entsetzen und Begeisterung. Doch bevor sie ihre Wahl treffen kann, stürmen feindliche Soldaten den Sommerpalast. Verzweifelt sucht Yeva Schutz in den weitläufigen Grabanlagen ihrer Vorfahren – und trifft dort auf ihr Schicksal: Aus der Grabkammer des Reichsgründers erhebt sich ein stummer, lange toter Krieger. Ariz mit dem eindringlichen Blick ist nicht nur dazu bestimmt, die Prinzessin zu beschützen, sondern rüttelt Yeva auch auf, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Kann Yeva ihr Reich retten und Ariz erlösen? Und will sie Letzteres überhaupt?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1.

Trauer im Sommerpalast

 

Yeva gab vor sich selbst zu, dass sie die Hauptstadt Bentanes Hald nicht mochte. Sie sehnte sich zurück zur Winterresidenz oben in den Bergen, wo die Luft frischer und nicht so drückend war, wo der Fluss noch nicht nach Fäulnis stank und im Prinzip nur aus flüssigem Dünger bestand.

Sie rümpfte die Nase und wedelte mit einem parfümierten Tuch vor ihrer Nase herum. Bestimmt roch sie selbst nicht besser als das grüne Wasser, das sich träge am Sommerpalast, der Hauptresidenz des Königreiches Bentane vorbeiwälzte. Bei dieser Schwüle halfen weder ein morgendliches Bad noch Duftöle. Sie fühlte sich erhitzt und verschwitzt und sehnte die kühlen Abende, ja selbst die eisigen Nächte herbei. Diese Gegensätze zermürbten sie langsam, aber sicher, und sie war doch erst seit vier Tagen im Palast.

Aber es half alles nichts. Ihre Anwesenheit stellte eine Pflicht dar. Ihr Onkel war verstorben und wurde seit Tagen für die Bestattung vorbereitet. Gleich nach seiner Krönung vor über zwanzig Jahren hatte er mit dem Bau seiner Grabkammer begonnen. In diesem Reich zahlte es sich aus, gut vorbereitet zu sein. Sobald sein Leichnam in der Grabkammer abgelegt worden war, stand die Krönung von Yevas Vetter auf dem Plan der Priester. Auch dieser Feierlichkeit musste Yeva beiwohnen, bevor er ihr hoffentlich erlaubte, sich wieder in den Winterpalast zurückzuziehen, wo sie seit frühester Kindheit gelebt hatte.

Sie tupfte sich Schweiß von der Stirn und betete verzweifelt um eine milde Brise. Zumindest im Palast der Toten sollte es kühler sein.

Sie wandte sich vom Fenster ab, das nur einen tristen Blick auf den grünen Strom vor den Palasttreppen bot, und schlenderte erschöpft von der ungewohnten Hitze zu ihrem Bett.

Nur eine Weile ausruhen, bevor sie nach einer Dienerin klingelte, damit diese ihr beim Ankleiden half und sie danach mit allem verfügbaren Erbschmuck behängte.

Yeva stöhnte verzweifelt auf. Sie wollte nach Hause. Dies war niemals ihr Heim gewesen. Vielleicht würde die schwüle Wärme ihr nicht so schrecklich zusetzen, wenn sie zumindest von Zeit zu Zeit die Hauptstadt hätte besuchen dürfen. Aber ihr Onkel hatte ihren Erziehern, Lehrern und Kindermädchen stets befohlen, mit ihr im Winterpalast von Tuvone zu bleiben.

Was hatte ihm das gebracht? Eine schwitzende Nichte, der vor der Bestattungsfeierlichkeit graute und die sich nichts sehnlicher wünschte als einen kalten Wind vom Gebirge her.

Auf jeden Fall würde sie keinerlei fromme oder segenswünschende Gedanken bei der Bestattung hegen, sondern sich nur weit weg von Hitze und Gestank wünschen. Wie Menschen hier leben und fröhlich aussehen konnten, war ihr ein Rätsel.

Sie streckte sich auf dem Bett aus, legte die Füße auf ein mit Troddeln verziertes Kissen und dämmerte Halbschlaf entgegen, als vor ihrer Zimmertür der Wachwechsel stattfand. Vier riesige Kerle, die mit viel Waffengeklirr die anderen vier ablösten. Phantastisch. Sie stopfte sich die Finger in die Ohren und wünschte, die Männer würden leiser sein.

Das Klopfen an der Tür vernahm sie trotzdem. Sie nahm die Finger wieder aus den Ohren, setzte sich auf, strich ihr Kleid glatt und rief die Aufforderung zum Eintreten.

Drei Dienerinnen betraten das Zimmer. Eine trug eine große Holzschatulle, in der sich ganz bestimmt der gesammelte Schmuck der Jahrhunderte befand. Die beiden anderen keuchten unter der Last einer Kleidertruhe.

Yeva seufzte. Wo war die Zeit geblieben, die sie zum Ausruhen hatte nutzen wollen?

»Gepriesene, es ist Zeit, sich umzukleiden.«

»Ich weiß.« Sie machte eine unbestimmte Handbewegung, und die beiden Frauen mit der Kleidertruhe atmeten auf, als sie die schwere Kiste abstellten und den Deckel aufklappten.

Sie traten einen Schritt zurück und lächelten, als ob sie Beifall erwarteten. Yeva stand auf und ging langsam zur Truhe, um voller Abscheu hineinzusehen: Seide, Spitzen, noch mehr Spitzen und zahllose Ellen Tüll versprachen ungemütliche und viel zu warme Kleidung. Edelsteine in dunklen, beinahe blutigen Farben waren auf den schimmernden Stoff genäht.

Sie seufzte erneut, streckte die Arme zu den Seiten aus und schloss ergeben die Augen, als die drei Frauen sich regelrecht auf sie stürzten, ihr das schlichte Leinenkleid auszogen, sie mit Parfüm besprühten und ihr die Haare hochsteckten, bevor sie duftendes Öl auf Yevas Rücken verteilten.

Yeva hörte das Rascheln des Kleides, das ihr Vetter und wahrscheinlich alle seine Ratgeber für die Bestattung eines Königs als angemessen betrachteten. Sie fühlte glatten, weichen Stoff auf der Haut, viele Hände, die an ihr herumnestelten – und das Gewicht einer vollen königlichen Robe.

Artig hielt sie still und ließ sich ankleiden, bis eine Dienerin sie auf einen Hocker hinab drückte, ihr die Sandalen auszog und ein anderes Paar anzog.

Erst als ein Kamm an Yevas Haaren zerrte, öffnete sie die Augen wieder. Vor ihr stand ein hoher Spiegel, in dem sie erschrocken die Fülle des schwarzen Gewandes betrachten konnte. Sie sah aus wie ein gemästetes Schwein in schwarzer Spitze, verdammt!

Bald war sie zurück im Winterpalast, sagte Yeva sich entschlossen. Da konnte sie wieder bequeme Hosenkleider tragen, in denen sie atmen und sich bewegen konnte. Sie wusste sicher, dass ihren Vetter der Schlag treffen würde, sollte er sie jemals in einem dieser bequemen Kleidungsstücke sehen. Aber der kam ja niemals in den Winterpalast, insofern konnte es ihr egal sein, was er dachte.

Ein wenig war sie auf ihn gespannt. Sie hatte ihn noch nie gesehen. Auch an ihren Onkel besaß sie nur ganz dunkle Erinnerungen. Als sie kleiner gewesen war, war er manchmal zu Besuch in den Winterpalast gekommen. Diese seltenen Visiten hatte er nach dem Tod ihrer Mutter eingestellt. Yeva war damals noch zu klein gewesen, um der Obhut ihrer Kinderfrauen entzogen zu werden. Der Leichnam ihrer Mutter war hierher geschafft und in einer der zahllosen Grabkammern beigesetzt worden.

Sie nahm sich vor, ihre Anwesenheit in Bentanes Hald zu nutzen, um das Grab ihrer Mutter zu besuchen. Irgendeine Dienerin oder einer der stets anwesenden Leibwächter würde schon wissen, wo genau es sich befand.

Während die Frauen an ihr herumzupften, dachte Yeva über ihren Vetter nach. Er musste etwa in ihrem Alter sein und war nun außer ihr das einzige lebende Mitglied der Königsfamilie. Eigentlich eine Frechheit, dass er sich nicht einmal bei ihr hatte blicken lassen. Selbst wenn er vor Trauer außer sich war, sollte die simple Höflichkeit eines gemeinsamen Teetrinkens doch möglich sein?

Ihre Haare türmten sich über ihrem Kopf auf. Nun war die Schmuckschatulle an der Reihe. Beklommen fragte Yeva sich, ob die Dienerinnen wirklich wussten, was sie da taten. Sie hatte keine Lust, vollkommen aufgedonnert zum Gespött der Höflinge zu werden, weil die Frauen maßlos übertrieben.

Schwere Goldketten wurden ihr um den Hals gelegt, und Yeva hatte das Gefühl, von dem schieren Gewicht niedergedrückt zu werden.

Broschen, ein Diadem, Armreifen und kleine Klammern, die ihr auf die dunklen Locken geschoben wurden, vervollständigten das Bild überladenen königlichen Pomps.

Und das alles nur, um durch die Tunnel des Palastes der Toten hinter einem Sarg herzugehen. Wenn sie in diesem ganzen Zeug überhaupt gehen konnte und nicht nach wenigen Schritten vor Überanstrengung zusammenbrach. War das einem Trauerzug angemessen, wenn sie klimperte und klapperte wie eine Horde Wildtreiber?

Noch eine Woge Parfüm wurde über sie ergossen, dann verließen die Dienerinnen knicksend und mit gesenkten Blicken das Zimmer.

Yeva rang in ihrer Duftwolke nach Atem und hatte das Gefühl, dass die ganzen Öle und Wässerchen einen pelzigen Belag auf ihrer Zunge hinterließen. Das fing ja gut an.

 

Priester, Dienerinnen und natürlich die Leibwächter eskortierten Yeva fast zwei Stunden später durch hallende Flure des Palastes.

Sie war zornig. Die ganze Zeit hatte sie in dem steifen Kleid auf dem Hocker gesessen und darauf gewartet, dass man sie abholte. Warum waren die Dienerinnen so früh gekommen? Es fühlte sich an wie Schikane, als hätte Vetter Mynco sie wissen lassen wollen, wo ihr Platz in dieser Welt, diesem Königshaus und in der Wertschätzung ihres Vetters war. Sie hoffte von Herzen, dass er eine schrecklich herrschsüchtige Frau geheiratet hatte, die ihm nicht einen ruhigen Moment gestattete!

Sie vertrieb sich sehr angenehm die Zeit ihres Marsches durch scheinbar endlose Flure damit, sich diese Frau vorzustellen. Natürlich eine Adlige aus gutem Hause. Als zukünftiger König hatte ihr Vetter Mynco ja eine gewisse Verpflichtung. Außerdem achtete er bestimmt darauf, dass die Mutter seiner Erben eine gewisse Stellung innehatte und ihre Familie einen wichtigen Bündnispartner darstellte.

Diese Frau war gewiss wunderschön. Und kälter als die Winter in Tuvone. Yeva malte sich vergnügt aus, dass Myncos Ehefrau versessen nach Luxus war und stundenlang mit ihrem Mann zankte, wenn sie nicht ihren Willen bekam. Ja, jetzt ging es ihr ein bisschen besser.

Ihre Laune hob sich noch ein wenig mehr, als sie die zweite Gruppe ihrer Leibwächter entdeckte, die vor einem großen Portal ausharrte und sich wohl diesem Zug anschließen würde. Vielleicht löste sie auch ihre jetzigen Begleiter ab.

Sie wusste nicht, wie viele Leibwächter Mynco als notwendig erachtete. Doch es schienen wahre Heerscharen zu sein, die sich ständig in Yevas Nähe aufhielten, stumm und wachsam neben ihr hergingen oder rund um ihre Zimmer patrouillierten.

Im Winterpalast hatte sie solche Einengungen niemals erleben müssen. Auch hier erstaunte sie es. Was sollte ihr hinter den schützenden Mauern von Bentanes Hald, hinter den Verteidigungsanlagen des Palastes schon zustoßen können?

Der Grund, warum sie den neuerlichen Zuwachs an Beschützern jetzt mit einem leisen Erröten und einem mühsam unterdrückten Lächeln begrüßte, ragte hünenhaft auf und sah in seiner Rüstung allzu gut aus: Luvon.

Was es genau war, das ihr so behagte, konnte sie nicht einmal sagen. Sie hatte den vagen Verdacht, dass es sein träges Lächeln war. Er hatte die Anlieferung ihres umfangreichen Gepäcks überwacht und dabei einfach nur still mitten im Zimmer gestanden, das durch seine jeden überragende Größe zusammenzuschrumpfen schien.

Als er Yeva angesehen hatte, hatte er gelächelt. Freundlich, ein Bauernlächeln, ohne Hintergedanken, dessen war sie sich sicher. Er war einfach der erste Mensch im Sommerpalast von Bentanes Hald gewesen, der sie freundlich angesehen hatte. Der Erste und bislang Einzige, der Yeva als Mensch wahrzunehmen schien – und nicht nur als Kostbarkeit der königlichen Familie, als Artefakt und Schatz.

Er und seine Kameraden öffneten nun das Portal und gingen voraus. Das Sonnenlicht stach Yeva zuerst in die Augen, bevor es auf ihrem Kopf brannte und sie unter zahllosen Schichten schwarzer Seide, Spitze und Tüll heftig zum Schwitzen brachte. Sie fühlte das warme Salzwasser an ihrem Körper hinabrinnen. Und sie war erst drei Schritte aus der relativen Kühle des Palastes getreten.

Die Leibwächtertruppe um Luvon schloss zu ihr auf. Jetzt befand sie sich in einem wahren Pulk von Begleitern. So war immerhin jemand in der Nähe, falls sie von der Hitze ohnmächtig werden sollte.

So riesig der Sommerpalast auch war, so stellte er nur ein Staubkorn im Vergleich zum Palast der Toten dar. Jeder Herrscher seit Anbeginn des Reiches war dort beigesetzt. Zusammen mit seinen Ehefrauen, Kindern, Neffen, Nichten, Geschwistern und engsten Freunden und Beratern. Sowie seinen zänkischen Schwiegermüttern und bestimmt dem einen oder anderen peinlichen Großonkel.

Die Sagen berichteten vom Reichsgründer, der nach dreihundert Regierungsjahren hier seine letzte Ruhe gefunden hatte. Vielleicht hatte sogar der schreckliche Verwandte in seiner Nähe liegen. Yeva kämpfte Gelächter nieder.

Was vielleicht einmal als Tempelbau über der Grabkammer des allerersten Königs begonnen hatte, stellte nun einen Irrgarten aus Gängen, Kammern, Treppen und kleinen Andachtsräumen dar. Die Größe der Heiligen Hallen wurde nach der Bedeutung des Königs bemessen, hieß es. Yeva dachte frech, dass die Großartigkeit sich wohl eher nach dem Reichtum des Herrschers richtete.

Der Palast der Toten erinnerte Yeva nicht nur von ungefähr an einen riesigen Weinstock. Jede Grabanlage stand für eine Traube. Und so ballten sich Bauwerke unterschiedlichster Epochen und ebenso mannigfacher Baustile zu einem kolossalen Komplex. Irgendwo unter all dem Marmor, Sandstein und Schiefer konnte ein Suchender den ersten Sakralbau vielleicht noch entdecken – wenn er lange suchte und viele, viele Kerzen zur Verfügung hatte. Und einen langen Faden, mittels dessen er nach etlichen Tagen oder Wochen auch wieder nach draußen fand.

Der kleine Tross hielt an. Es duftete nach dem Räucherwerk, das zwei Hilfspriester in kleinen Eisenpfannen rechts und links des anführenden Geistlichen verbrannten.

Posaunen erklangen. Yeva sah zur Seite. Dort schwang im Sommerpalast ein großes Tor auf. Mädchen tanzten heraus und warfen weiße Blütenblätter in die Luft und auf den Boden, bis der raue Pflasterstein unter einem dicken Teppich verborgen lag. Immer mehr Mädchen strömten hervor, bis die weiße Schicht vom Tor bis zum Palast der Toten reichte.

Nicht ein Lufthauch regte sich zwischen den beiden Gebäudekomplexen, und die Blütenblätter lagen still auf den Pflastersteinen.

Dann rollte der Katafalk auf den weißbesäten Hof. Größer, als Yeva jemals ein solches tuchverhangenes Gestell gesehen hatte, stark genug, nicht unter dem immensen Gewicht von Leichnam, Blumenschmuck und hölzerner Totentruhe zusammenzubrechen.

Keine Zugtiere, die das schwere Monstrum bewegt hätten. Tiere galten als unrein, wenn es um die Bestattung eines Königs ging. Stattdessen schufteten die höchsten Adligen des Landes, um den Katafalk über das Pflaster zu rollen.

Unter Posaunenklang schob die Prozession sich über den Hof bis zum Portal des Palastes der Toten. Dort standen weitere Priester, die inmitten einer Wolke von Räucherwerk kaum auszumachen waren.

Yeva sah Mynco – zumindest war sie sich ziemlich sicher, dass der Mann in schwarzen Roben und mit zahllosen Goldbehängen ihr Vetter sein musste. Die Ähnlichkeit mit seinem Vater erschien Yeva deutlich, und niemand – nicht einmal sie selbst – trug so viel Geschmeide wie er.

Er ging alleine. Schade, keine streitbare Ehefrau.

Im Schutze der Rauchschwaden betrachtete sie ihn genau. Klein. Mit Müh und Not war er ebenso groß wie sie. Seine Hautfarbe war bleich, aber das konnte Yeva freundlich der Trauerzeit zuschreiben. Vielleicht war Mynco ja wirklich außer sich über den Verlust des Vaters. Das runde, blasse Gesicht des Thronfolgers jedenfalls wirkte vollkommen ausdruckslos.

Als sie strauchelte, war Luvon sofort an ihrer Seite, packte wortlos ihren Oberarm. Yeva fing sich leicht wieder, und der Leibwächter ließ sie umgehend los.

Die Adligen schoben und zogen den Katafalk in eine große Eingangshalle des Palastes der Toten, wo die Männer erst einmal verschnauften, während der Rest der Prozession in der backenden Hitze vor den Toren verharren musste. Nur Mynco samt seines Trosses sowie Yeva mit ihrer Leibwache konnten in den Schatten treten.

Die Adligen taten ihr leid. Wahrscheinlich hielten sie es für die höchste Ehre und Auszeichnung, dass sie sich so abschuften durften. Aber sie sahen elend, schweißtriefend und vollkommen erschöpft aus.

Nun traten die Priester vor. Die Luft wurde dick vom Rauch ihrer Kohlepfannen. Sie schoben einen leichteren Wagen herbei, der lautlos auf kleinen Rädern über den Marmorboden rollte.

Die Adligen wuchteten den vergoldeten Sarg auf ihre Schultern, wankten einige Schritte vorwärts, und die Priester schoben den Wagen unter die Totenlade.

Allgemeines Aufatmen, und Yeva legte die Hand fest auf ihren Mund, um nicht kichern zu müssen. Sie fing einen Blick von Luvon auf, der diese Bewegung offenbar gesehen und augenscheinlich richtig gedeutet hatte. Ein Lächeln blitzte in seinen Augen auf, und Yeva sah rasch zu Boden auf ihre staubigen Röcke, denn Luvons träges Lächeln war beinahe zu viel für ihre Selbstbeherrschung.

Es ging leicht bergan. Der Gang zog sich wie eine Spirale nach oben. Die Luft war erheblich kühler, schmeckte nach Sand und wie gekocht und dann abgekühlt. Wie oft kamen Menschen hier herein? Betraten die Priester wirklich täglich den gigantischen Totenpalast, um Speiseopfer und Blumen zu bringen?

Eines Tages, das wurde Yeva in diesem Augenblick klar, würde auch ihr Leichnam durch diesen steinernen, von Menschenhand geschaffenen Irrgarten geschafft werden, damit sie in einer Grabkammer nahe der ihres Onkels zur letzten Ruhe gebettet werden konnte. Sie erinnerte sich kaum an den Bruder ihrer Mutter. Ein ihr Fremder lag in dem prächtigen Sarg, der auf dem Wagen durch die Tunnel und Hallen gefahren wurde.

Sie empfand sich als eine Unbekannte zwischen all jenen, die sich um die Ehre stritten, den toten König ein paar Meter weit schieben zu dürfen. Mynco war ihr fremd, und sie wusste nicht, ob er Beileid wünschte, ob er überhaupt traurig war. Er sah sehr stolz und würdevoll aus, aber das konnte durchaus Maskerade sein. Sie betrachtete ihn genau. Wie alt mochte er sein? Sie meinte, dass er älter war als sie selbst. Aber die Erinnerung konnte täuschen. Mynco war pausbäckig, was schlecht zu seiner ernsten Miene passte, untersetzt und hatte leicht krumme Beine, die sich nach außen wölbten. Er blickte stur geradeaus und schritt langsam und sehr königlich hinter dem Sarg seines Vaters her. Aber Yeva sah kein Gefühl in seinem runden Gesicht.

Immer weiter schraubte sich der Weg nach oben, bis eine weitere Halle erreicht war, in der leichtbekleidete Mädchen auf dem Boden hockten und die Ankömmlinge furchtsam betrachteten. Sklavinnen, vermutete Yeva, die an den Mädchen vorbeiging und sie dabei neugierig ansah, bevor sie angesichts der tränennassen Gesichter den Blick abwandte. Ihr wurde übel, als sie verstand. Klein und kalt nistete eine Kugel Widerwillen in ihrem Bauch und behinderte sie beim Atmen. Als sie die Mädchen zuerst gesehen hatte, war sie dumm genug gewesen, sie um die leichte Bekleidung zu beneiden.

Yevas Onkel wurde in einem vergoldeten Sarg zu Grabe getragen. Garantiert trug sein Leichnam Schmuck und wertvolle Gewänder. Und war literweise mit Duftölen begossen worden, weil eine Leiche nach drei Wochen bei dieser Bruthitze natürlich stank. Das war alles, was der tote König an weltlichen Dingen in seine Grabkammer bekam. Das und eine Handvoll seiner liebsten Sklavenmädchen.

Der Trauerzug stoppte, und Yeva sah wieder zu den Mädchen, denen ein Priester ein Getränk in Weinschalen servierte.

Gift. Entweder, um die armen Dinger sofort umzubringen, oder um sie zumindest zu betäuben, sodass sie ohne Kreischen und Gegenwehr in die Grabkammer getragen werden konnten. Sobald der letzte Trauergast diese Kammer verlassen hatte, würde sie für den Rest der Ewigkeit versiegelt werden.

Yeva hoffte, dass es ein schnellwirkendes Gift war, sodass diese bedauernswerten Sklavinnen nicht in ihrem Gefängnis wieder aufwachen und noch einige Stunden oder Tage leben würden, bis sie erstickten oder verdursteten.

Sie schämte sich mit einem Mal, zum Königshaus zu gehören, den Toten im Sarg zumindest offiziell Onkel nennen zu dürfen. War es üblich, einem Verstorbenen solche Grabbeigaben zu schenken? Yeva fand es barbarisch und grausam. Widerlich und einfach nur scheußlich.

 

In einer Grabkammer nicht weit von Yeva entfernt regte sich etwas einen Herzschlag lang und fiel dann wieder zurück in den Staub der Jahrhunderte.

 

Nach einem anstrengenden Tag, der durch sein steifes Zeremoniell und die Opferung der Sklavenmädchen – obwohl nicht direkt beobachtet – gründlich verdorben worden war, wuchs das Heimweh wie ein wildes Kraut in Yeva. Sie wollte nur noch weg von all den Höflingen, ihrem fremden Vetter und dem Prunk des Königspalastes von Bentanes Hald. Das ganze Königreich konnte ihr gestohlen bleiben, wenn sie nur ungestört nach Tuvone zurückkehren und dort den Rest ihres Lebens verbringen durfte.

Sie wusste, wie sie auf gefühlsmäßige Anspannung reagierte, und hatte Angst, in diesem kaltherzigen Palast nachts mit rasendem Herzen und zerfasernden Bildern im Hirn zu erwachen.

Aber statt Ruhe und ein wenig Zurückgezogenheit stand ihr ein großes Bankett am Vorabend der Krönung bevor. Sie kannte nicht einen der Würdenträger, die sich im Großen Saal einfinden würden. Ihr war mehr als nur unbehaglich deswegen zumute. Sie wollte nicht daran teilnehmen, wagte aber nicht, Kopfschmerzen oder eine andere leichte Erkrankung vorzuschützen. Immerhin hing es auch von der Gnade ihres Vetters Mynco ab, ob und wann sie nach Tuvone zurückkehren durfte.

Sie betrachtete sich im Spiegel, während die Dienerinnen sie umkleideten. Dunkelgrün, immer noch trist genug, um dem Anlass der Trauerfeier angemessen zu sein. Aber während das Schwarz ihre Haut hatte teigig aussehen lassen, stand Grün ihr, und sie wusste es. Auch der Schmuck fiel deutlich bescheidener aus, was Yeva als Wohltat empfand.

Als sie fertig gekleidet, frisiert, parfümiert und geschmückt war, übergaben die Dienerinnen sie an die Leibwache. Vier Männer. Einer davon Luvon. Das versöhnte Yeva zwar nicht mit ihrem Schicksal, aber es wurde dadurch ein wenig leichter.

Seine Augen schienen einen Herzschlag lang aufzuleuchten, als er sie ansah, aber es war so schnell vorbei, dass Yeva vermutete, sich das nur eingebildet zu haben. Außerdem war der Mann nichts weiter als ein Soldat aus der unteren oder mittleren Volksschicht. Wenn sie so töricht wäre, diesen Umstand zu vergessen, konnte sie sicher sein, dass Luvon selbst und vor allem ihr Vetter es nicht einen Wimpernschlag lang aus dem Sinn verlieren würden. Andererseits war das vielleicht eine Möglichkeit, Mynco dazu zu bewegen, sie möglichst schnell wieder in den Winterpalast abzuschieben. Die verwilderte Base, die nicht einmal die Grundregeln des höfischen Anstands verstand.

 

Der Große Saal war im Prinzip eine überdachte Terrasse mit breiten Öffnungen in alle Richtungen. Seidenschals flatterten als Vorhänge zwischen Säulen, und eine muffig warme Brise strich durch die versammelte Oberschicht Bentanes.

Yeva versuchte, einen Überblick zu gewinnen, während sie durch diese Menschenmasse zum Hohen Tisch der Frauen geführt wurde. Männer und Frauen speisten getrennt, aber nur eine Reihe Topfpflanzen bildete die Grenzlinie zwischen den Tischen. Gespräche waren möglich – wenn Yeva denn jemanden gekannt hätte, mit dem sie sich unterhalten wollte.

Von der erhöhten Position ihres Platzes bekam sie zumindest einen Eindruck von Größe und Pracht des Saals. Das Gesamtbild von Seide, Spitzen, Vogelfedern und Edelsteinen schien ihr erdrückend. Hunderte von Gesichtern sahen zu ihr auf. Männer und Frauen des Reiches, die in der Hierarchie hoch genug standen, um zum Trauerbankett eingeladen worden zu sein.

Sie erspähte ausländische Würdenträger. Natürlich, dies war Myncos erster öffentlicher Auftritt als Nachfolger seines Vaters. Noch war er ungekrönt, aber das war nur noch eine Formsache, vermutete Yeva. Es gab niemanden, der ihm die Königswürde streitig machen könnte. Die weibliche Linie sprang nur im Notfall ein, falls kein männlicher Erbe überlebt hatte. Zumindest in der Theorie, denn in Bentane hatte noch nie eine Königin regiert. Die einzige Kandidatin für diese sehr unwahrscheinliche Nachfolge war Yeva. Und niemand hier konnte erwarten, dass sie – fern vom Hof erzogen, in Staatsdingen vollkommen ahnungslos und ohne die geringste Anhängerschaft – ihrem Vetter wider die Erbfolge in die Quere kommen würde.

Yeva sah sich um und versuchte, sich so viele Gesichter wie möglich einzuprägen. Die Abgesandten der Nachbarreiche waren leicht zu erkennen. Ihre Kleidung und auch ihre Tischmanieren unterschieden sich krass von denen Bentanes. Die Männer schienen sich auf ihren flachen Sitzkissen nicht ganz wohl zu fühlen, der Tisch dadurch noch niedriger als ihre Knie. Sie hockten da, fand Yeva erheitert, wie verkümmerte Affen.

Eine Dienerin in fremdartiger Kleidung huschte hinter den Ehrentischen entlang und fiel hinter Yeva auf die Knie. Die Dienerin verharrte schweigend, bis Yeva fand, das Mädchen lange genug ignoriert zu haben.

»Du darfst sprechen.«

»Gepriesene, Seine Königliche Hoheit Renan von Govil schickt dir dieses Geschenk und bittet um die Gnade einer Unterredung.«

Das Geschenk lag in der gesäuberten Schale einer Muschel, deren Deckel halb aufgeklappt war. Formvollendete Perlen schimmerten im Kerzenlicht. Yeva war reichen Schmuck gewöhnt, aber diese Halskette besaß eine schlichte Schönheit, die dem Erbschmuck Bentanes vollkommen abging.

Trotzdem verzog Yeva keine Miene. »In Bentane ist es nicht üblich, dass Herrscher fremder Reiche eine Frau aus königlicher Familie ansprechen.«

»Seine Königliche Hoheit Renan von Govil kennt und respektiert die Gebräuche Bentanes. Er bittet um Vergebung und die Unterredung, Gepriesene.«

Yeva spürte hinter sich eine Bewegung, hörte das Klirren einer Rüstung und verstand, dass Luvon soeben dicht zu ihr getreten war.

Sie wandte sich halb um und sah ihn fragend an. Sie brauchte Führung und Hilfe, denn sie war überfordert.

Er nickte nur, als sie ihn ansah, dann trat er wieder – bis auf die Geräusche seiner Rüstung – lautlos zurück.

Gut, ob es sich nun gehörte oder nicht, sie würde nicht alleine sein, und Luvons Nicken sagte ihr, dass er sie nicht einen Herzschlag lang aus den Augen lassen würde.

»Ich gewähre deinem König eine kurze Unterredung. Aber er muss sich im Klaren sein, dass ich Dinge des Staats und der Regierung nicht mit ihm besprechen werde.«

»Seine Königliche Hoheit Renan von Govil wird dir dankbar sein. Ich bin dir dankbar. Ich werde Seiner Königlichen Hoheit Renan von Govil deine Nachricht überbringen, Gepriesene.«

Wenn das Gespräch mit Renan ebenso verlief wie mit seiner Dienerin, würde Yeva gleich nach der Begrüßung zu schreien beginnen. Wie versessen musste ein Mann auf seine Titel sein, dass diese arme Dienerin die Ehrenbenennung in jedem Satz zu verwenden hatte?

Die Frau entfernte sich, und Yeva hob die Hand und krümmte die Finger in einem knappen Wink. Leises Klirren – zusammen mit dem Duft von Leder und einem frischgeschrubbten Männerkörper – kündigten Luvons gehorsames Nähertreten an.

»Ich werde diesen fremden Herrscher keinesfalls in meinen Privaträumen empfangen«, sagte sie leise.

Sie sah aus den Augenwinkeln, dass der Leibwächter nickte.

»Nun?«, fragte sie leicht ungeduldig nach. Sie hatte Sorge, dass Mynco irgendwie eingreifen würde, wenn er diese Unterhaltung bemerkte.

»Der Sonnensaal, Prinzessin. Dort arbeiten tagsüber die Verwalter des Reiches. Es ist deiner Position angemessen.«

»Und du kannst es gut überwachen?«

»Sehr gut, Gepriesene.«

Sie nickte, und der große Mann kehrte zu seinem Platz an der Wand zurück.

Sie musste den Kopf senken, denn ihre Wangen glühten aufgrund ihrer offensichtlichen Verwegenheit, einen fremden Herrscher zu empfangen. Noch mehr aber schoss ihr das Blut ins Gesicht, da sie soeben einen Leibwächter zu ihrem Vertrauten erhoben hatte. Luvon musste noch viel besser als sie selbst wissen, dass Yeva mit dieser Unterredung gegen die Gebräuche bei Hof verstieß, und doch machte er sich zu ihrem Komplizen in dieser Sache. Sein Wagemut erfüllte sie mit Aufregung.

Sie trank einen Schluck Wasser. Falls Mynco bemerkte, dass seine Base eine Vorliebe für einen gewissen stattlichen Beschützer entwickelte, wäre das gar nicht gesund für Luvon.

Doch bevor sie weiter nachdenken konnte, wie sie unbemerkt in den Sonnensaal gelangen sollte – nur von Luvon begleitet, um dort sehr ungehörig Renan von Govil zu treffen –, trat eine weitere Dienerin zu ihr.

Im Gegensatz zu dem Mädchen aus Govil sprach dieses freche Ding Yeva umgehend an: »Gepriesene, Seine Königliche Hoheit Mynco von Bentane gewährt dir nach dem Bankett eine Audienz.«

Damit verschwand das Mädchen wieder und ließ Yeva kochend vor Empörung zurück. Mynco war noch keine Königliche Hoheit! Das war es, woran sie sich festklammerte. Das war er erst morgen nach der Krönung. Bis dahin durfte er sich Gepriesener nennen, mehr nicht. Diese Überheblichkeit, ihr eine Audienz aufzuzwingen! Ebenso gut hätte sie ihn zu sich zitieren können. Aber sie hätte brav ihren eigenen Titel verwandt und keinen geborgten. Soeben hatte Mynco es vollbracht, seine Base gehörig gegen sich einzunehmen.

Sie sah zu den Tischen, an denen Renan von Govil sitzen musste. Dann auf die Muschelschale, in deren Innerem die Perlenkette milchig und weich leuchtete. Energisch schob sie das Geschenk in ihre Tasche und suchte die Fremden mit Blicken ab, wer denn der König von Govil sein könnte.

Die Männer sahen ungewöhnlich aus. Kurzes Haar, bartlos, die Haut ein weicher, heller Ton wie Blütenblätter. Keiner von ihnen war so überladen geschmückt wie Yeva oder der hassenswerte Mynco, wie die Bürger Bentanes. Doch Yeva sah reiche Stofffalten, in denen Silber blitzte, hier und da einen winzigen Ring im Ohrläppchen. Stattliche Männer, alle, wie sie da waren. Welcher war denn nun der König?

Sie hielt die Luft an, als sie den einen entdeckte, der sich gerader hielt, der mehr Würde als der Rest verströmte. Sie sah nur sein Profil, das von einer Adlernase dominiert wurde, die ebenso hart gezeichnet war wie seine kraftvolle Kieferlinie.

Dann trafen sich ihre Blicke. An Blumenkübeln und vielen duftenden Menschen vorbei. Zwischen den dahinhastenden, schwitzenden Dienern.

Seine Augen waren so strahlend blau wie Edelsteine, leuchteten in dem hellhäutigen Gesicht mit der eindrucksvollen Nase, den edel geschwungenen Augenbrauen und blieben ganz ruhig, keinesfalls frech oder anmaßend. Sie schimmerten wie Sterne am Nachthimmel, und Yeva hoffte, dass es ein Lächeln war, das sie so glänzen ließ.

Sie lief rot an, fühlte die Hitze aus ihrem Inneren aufsteigen und Busen und Hals rot färben. Rasch schlug sie die Augen nieder, starrte auf ihren vollen Teller und fühlte, wie ihre Ohren immer heißer wurden.

Sie lugte zu Mynco, der wie ein überfütterter, kleiner Junge an seinem Tisch hockte und mit fettigen Fingern mehr Essen in sich stopfte.

Renan hatte sie durch Dienerin und Geschenk höflich behandelt, und er sah auf jeden Fall hundert Mal mehr nach König aus als der dicke Mynco. Renan von Govil war ein großer, stattlicher Mann, dessen Haltung ebenso Würde ausstrahlte wie seine breiten Schultern Kraft.

Na gut. Zuerst die Audienz mit Mynco, dann das Treffen mit Renan im Sonnensaal.

 

Die Dienerin geleitete Yeva durch hallende Gänge, in denen es nach Räucherwerk, Fackelruß und viel Duftöl roch. Warum Mynco nicht einfach im Bankettsaal auf sie gewartet hatte, um sie mit sich zu führen, zeigte Yeva den Rangunterschied, und wie wichtig Mynco sich nahm.

Luvon folgte im angemessenen Abstand, und Yeva hoffte, dass er sich nach der Ankunft zur Audienz umgehend darum kümmerte, Renan ein wenig zu vertrösten.

Sie war müde und verschwitzt, als die Dienerin endlich vor einer hohen Tür stehenblieb. Wächter harrten bewegungslos davor aus. Das Mädchen klopfte, die Soldaten öffneten, und Yeva trat ein, ihren eigenen Leibwächter zurücklassend.

Mynco stand vor einem Altar, auf dem Schalen mit Räucherwerk Schwaden aufsteigen ließen. Er drehte sich sofort um, als Yeva den Raum betrat, betrachtete sie von oben bis unten, während sie in einem Knicks versank, der sie dank der die schweren Roben beinahe am Boden festhielt.

»Ah, Base Yeva. Tritt näher, Kind. Ich habe eine großartige Neuigkeit für dich.«

Er klang genauso blasiert, wie er aussah, fand Yeva, kam aber gehorsam zu ihm und betrachtete ihn interessiert. Er war blass, das Gesicht sah aus wie Hefeteig, in dem Rosinen – seine Augen – tief eingesunken waren. Er besaß kaum Wimpern.

»Das königliche Blut fließt in deinen Adern, meine Teure.«

Danke, das weiß ich. Und mir ist sogar klargeworden, dass ich derzeit deine Erbin bin, weil du kein herrschsüchtiges Eheweib hast, das dir ein halbes Dutzend Söhne schenkt.

»Ich werde dich heiraten.«

Sie wusste, dass sie ihn dämlich anglotzte. Mit allem hatte sie gerechnet – nicht damit. »Du wirst … mich …«

»Ich denke doch, dass die hohe Ehre dich nicht gänzlich unerwartet trifft.«

»Das ist nicht das Wort, nach dem ich suchte«, schnappte sie, als ihre Zunge die erste Schreckstarre abschütteln konnte.

»Du hast das richtige Alter, siehst gut genug aus und bist von königlichem Blut. Du wirst mir Söhne schenken. Du kannst gehen. Mehr habe ich dir nicht zu sagen.«

»Ich möchte nach Hause.« Yeva fand selbst, dass es jämmerlich klang.

»Mach dich nicht lächerlich, Base. Bentanes Hald ist dein Heim. Ich werde dich anständig behandeln, solange du mir keinen Grund für anderes Verhalten gibst.«

»Vetter, du verstehst mich nicht …«

»Ich erfasse an deiner unangemessenen Aufsässigkeit, dass diese Eröffnung dich überrascht. Dies erstaunt mich. Du solltest von deinen Erziehern besser vorbereitet worden sein. Eine Frau hat zu schweigen und solche Entscheidungen hinzunehmen. Trotz und Dummheit, Base Yeva, nehme ich nicht hin. Ich werde dir beides austreiben, solltest du bei unserem nächsten Zusammentreffen noch eines von beiden aufweisen. Jetzt geh. Ich habe zu tun.«

Ich muss fliehen, dachte sie verworren und stolperte zur Tür. Als hätten die Wachen nur auf die nahenden Schritte gehorcht, schwang das Portal auf, und Yeva schwankte auf den Gang.

Keine Dienerin, kein Luvon. Sie hatte keine Ahnung mehr, wo ihre Zimmer lagen. Als ob sie dort Schutz zu erwarten hätte! Hastig und durch die voluminösen Röcke behindert eilte sie den Gang entlang, von dem sie hoffte, ihn auf dem Hinweg bereits beschritten zu haben. Bestimmt kam Luvon ihr gleich entgegen, nachdem er mit Renan gesprochen hatte.

Sie fühlte das Gewicht von Muschelschale und Perlenkette in ihrer Tasche. Aber was hatte das jetzt noch zu bedeuten? Ihr Vetter würde sie heiraten, und niemals würde sie Tuvone wiedersehen, wo sie glücklich und frei gewesen war.

Stattdessen würde dieser teigige Kerl sie in sein Schlafzimmer sperren und dort – wahrscheinlich weder rücksichtsvoll noch besonders gut – besteigen, um seine widerlichen, krummbeinigen Söhne in ihren Schoß zu pflanzen.

Es gab nichts, was sie dagegen tun konnte!

Flucht, hämmerte es in ihr. Du kannst weglaufen.

Wohin? Wo würde Mynco sie nicht finden? In Tuvone würde er als Erstes nach ihr suchen. Er hatte ihr bereits Strafe angedroht, falls sie ihm nicht gehorchen sollte. Sie zweifelte nicht einen Herzschlag lang, dass er diese Warnung ernst gemeint hatte. Sie musste sich fügen. Sie wollte nicht, aber es gab keinen Ausweg.

Ein Schluchzen der Wut und Verzweiflung schüttelte sie. Dann keimte Hoffnung. Hatte er erst zwei oder drei Söhne, würde er seiner Frau vielleicht überdrüssig werden. Möglicherweise entließ er sie dann nach Tuvone in eine Art Exil. Drei, vier Jahre, dann durfte sie unter Umständen zurück nach Hause! Drei oder vier Jahre, in denen sie nachts in seinem Bett liegen und gefügig sein musste. Möglicherweise starb sie auch bei der Geburt oder im Kindbett – wie so viele andere Frauen im Reich. Nein, es war hoffnungslos.

 

Im Palast der Toten regte sich erneut etwas, hob den Kopf und schien zu lauschen. Doch kein Ton konnte durch die vielen Tausend Quadratfuß Stein dringen. Dieses Mal sank die Gestalt nicht zurück in die dicke Staubschicht.

 

Yeva bekam keine Luft mehr und kämpfte verzweifelt darum, nicht in einem der hallenden Flure die Fassung zu verlieren. Hier konnte ihr jederzeit ein Diener, ein Wächter begegnen, und niemals wollte sie diesen einfachen Menschen zeigen, dass auch eine hochgeborene Prinzessin manchmal nur noch heulte, weil es sonst nichts mehr gab.

Sie wollte ihre Gemächer erreichen, sich den schrecklichen Putz vom Leib reißen, ins Bett kriechen und sich die Decke über den Kopf ziehen. Dort konnte sie dann weinen, sich wirre Pläne zu ihrer eigenen Rettung ausdenken, von denen sie keinen einzigen ausführen konnte und durfte.

Doch sie erreichte die Zimmer nicht. Etwas Großes trat ihr in den Weg, und Yeva konnte im flackernden Licht einer rußenden Laterne zuerst nicht erkennen, wer das war. Dann sah sie die Augen, und Erinnerungen überfluteten sie.

Renan von Govil. Der Sonnensaal. Luvon. Ein Treffen, das durch ein Geschenk und viel Höflichkeit eingeleitet worden war. Nicht jetzt. Vielleicht niemals.

Sie hob abwehrend die Hand, und der breitschultrige Mann überwand die kurze Strecke zu ihr mit raschen Schritten, die etwas von der Geschmeidigkeit eines großen Raubtieres hatten.

Schon war er bei ihr und legte ihr große, warme Hände auf die Schultern. »Gepriesene. Weine nicht. Erzähl mir, was dich so erschüttert hat.«

Sie schüttelte den Kopf. Auf gar keinen Fall! Weder würde sie sich an seiner breiten, allzu einladenden Brust ausheulen, noch konnte sie einem Fremden auch nur ein Wort von dem anvertrauen, was zwischen ihr und Mynco vorgefallen war.

Yeva verstand schlagartig und schmerzhaft, dass sie niemanden hatte, mit dem sie darüber sprechen konnte und durfte. Sie war alleine. Hier gab es nur Mynco, vielleicht Luvon, ganz bestimmt nicht Renan.

Der irrwitzige Plan, sich noch in dieser Nacht Luvon hinzugeben, flackerte wie ein Strohfeuer in ihrem entsetzten Hirn auf. Der Wächter würde ihr gehorchen müssen. Mynco würde schäumen, den Mann hinrichten lassen – und sie? Yeva wusste es nicht. Verbannung, Kerkerhaft oder Tod. Heiraten würde er sie nicht mehr wollen. Doch der Preis schien ihr zu hoch – nicht nur um ihretwillen. Vielmehr ging es ihr um Luvon, den sie schutzlos der Wut seines Königs aussetzen würde.

»Komm hier entlang«, sagte Renan sanft und führte sie zu einer großen Flügeltür. »Hier ist der Sonnensaal.«

Sie ließ sich von ihm leiten. Mit einem Mal schöpfte sie Hoffnung, die gleich aber wieder erlosch wie eine kleine Kerze, die Mynco in die Wasser des Flusses drückte.

Das Geschenk, Renans Sanftheit, die tiefe, ein wenig träge Stimme. Ein König, der nachts durch einen Palast streifte, um eine junge Frau zu suchen, die ihm ein Gespräch versprochen hatte. Seine Höflichkeit und offenkundige Besorgnis.

Aber nein. Was konnte Renan von Govil schon tun? Mynco um ihre Hand bitten, da der zukünftige Herrscher von Bentane sie doch zu seiner eigenen Braut auserkoren hatte? Lachhaft. Mynco war ein verwöhnter Weichling, der es gewohnt war, alles zu bekommen, was er nur wünschen konnte. Er würde seinen Anspruch nicht aufgeben, nur weil ein fremder König ihn darum bat.

Aber warum um Erlaubnis fragen? Konnte Renan nicht vielleicht einfach mit ihr durchbrennen?

Sie sah auf in das kantige Gesicht mit den ebenmäßigen Zügen, der gebogenen Adlernase und den Sternlichtaugen.

Doch was würde das für sein Königreich bedeuten? Sie wusste nichts von Govil, hatte den Namen des Reiches heute das erste Mal vernommen.

War eine Frau – war sie selbst und höchstpersönlich – es wert, dass ein Mann ihretwegen einen Krieg riskierte?

Bitte, riskiere es. Rette mich. Bring mich fort von hier an einen Ort, an dem mein widerlicher Vetter mich niemals erreichen kann. Wo ich atmen kann, ohne Angst haben zu müssen, wo die nächtlichen Bilder mich nicht erreichen können. In ein Land, in dem ich ich selbst sein darf.

Aber kein verantwortungsbewusster Herrscher würde diese Grenze überschreiten, dessen war Yeva gewiss. Sie mochte Renan. Sein fremdartiges Äußeres imponierte ihr, seine sanfte Höflichkeit ließ ihre Knie weich werden. Aber wäre er der Mann, den sie in ihm zu sehen hoffte, wenn er im Schutze der Gastfreundschaft die Frau raubte, die ein anderer heiraten wollte? Wenn er die Hand des neu zu krönenden Königs von Bentane zurückstieß, weil Renan ein Weib besitzen wollte, das ihm nicht zustand? Wenn er sich so weit gehen ließ und einen Krieg gegen das ihm schutzbefohlene Volk riskierte, weil er die Prinzessin von Bentane in seinem Schlafzimmer haben wollte?

Nein. Er konnte sie ebenso wenig retten, wie sie auch nur daran denken durfte.

Er brachte sie zu einer Bank und drückte Yeva behutsam auf seidene Kissen nieder, bevor er sich selbst vor ihr auf ein Knie fallen ließ und ernst in ihr Gesicht sah.

Wie seine Augen leuchteten! Wie gut ihm das kurzgeschnittene Haar stand, das die beinahe militärische Strenge seines kantigen Gesichts noch betonte, den hellen Hautton Lügen strafte. So sah niemand aus, der sich darauf beschränkte, nur in Sicherheit zu verweilen und hinter den Linien zu regieren. Jeder Zoll an diesem Mann sprach von Kraft, der klare Blick von Entschlossenheit.

Doch nun lag eine gewisse Milde auf den Zügen, als Renan Yeva genau zu mustern schien. »Es ist offensichtlich etwas vorgefallen, Gepriesene, das dich aus deinem Gleichgewicht gebracht hat. Die denkbar schlechteste Gelegenheit also für mich, mein Anliegen vorzubringen und womöglich weiteren Kummer auf dein Haupt zu häufen. Gestatte, dass ich dich in deine Gemächer begleite. Wir können morgen sprechen.«

Morgen ist es zu spät. Morgen bekommt Mynco seine langersehnte Krone und wird vor versammeltem Hof seine Absicht erklären, mich zu seiner Königin zu machen. Ich wünschte, ich wäre tot. Nein, ich wünschte, er wäre tot.

Trotzdem nickte sie, kämpfte um ihre Fassung und schaffte ein Lächeln, von dem sie hoffte, dass es halbwegs echt und tapfer aussah. Renan wirkte wie ein Schrank, ein Fels. Massiv und beruhigend alleine wegen seiner muskelschweren Gestalt.

Er erhob sich und bot Yeva den Arm.

Sie wünschte sich, dass sie ihm sagen dürfte, wie es stand, was Mynco ihr gesagt hatte. Aber sie wagte es nicht.

Stattdessen legte sie die Fingerspitzen auf den starken Arm unter dem Seidenärmel und ließ sich von diesem wildfremden König, der ihr so vertraut erschien, aus dem Sonnensaal auf den Gang führen.

Dort stand Luvon mit vollkommen ausdrucksloser Miene und schloss sich dem königlichen Paar wortlos an.

 

Zwei Männer führten sie durch den nächtlichen Palast, und sie begegneten sonst keiner Menschenseele. Einmal meinte Yeva, einen gedämpften Schrei gehört zu haben. Aber keiner ihrer Begleiter zuckte auch nur. Sie musste sich geirrt haben.

Kurz vor Erreichen ihrer Gemächer fiel Luvon ein wenig zurück.

Renan lächelte auf Yeva herab. Schneeweiße, ebenmäßige Zähne blitzten dabei auf, bildeten einen Konterpunkt zu den strahlenden Augen. »Sorge dich nicht, Gepriesene. Schlaf in Ruhe. Wir sprechen uns morgen, wenn ich auf eine zweite Gelegenheit hoffen darf.«

Sie nickte wortlos. Es würde kein zweites Gespräch geben. Mynco würde seine Ehepläne in alle Welt ausposaunen, und Yevas Schicksal war besiegelt.

Sie trat in ihre Zimmer und blieb still stehen. Ihre Hände entwickelten ein Eigenleben und wollten sich ineinander verknoten. Mit einem Mal verließ die Anspannung Yeva. Sie warf sich aufs Bett und gab sich einem Tränenstrom hin, der ihren ganzen Körper schüttelte und ihr für etliche Augenblicke beinahe den Atem raubte.

Rotverquollen und mit Schluckauf setzte sie sich schließlich auf und riss sich im Dunklen den Schmuck und das allzu stoffreiche Kleid vom Körper. Sie warf alles auf den Boden, stürzte zu ihrer eigenen Wäschetruhe und zerrte aus deren Tiefen trotzig eines ihrer Hosenkleider hervor. Diese Nacht durfte sie noch sie selbst sein, alleine schlafen – eine kleine Gnadenfrist. Sie zog sich an, und erst dann zündete sie ein Licht an, setzte sich auf das Bett und weinte noch still ein wenig weiter.

Sie hatte Heimweh. Mehr als das erschien ihr die bisher gelebte Freiheit nun umso kostbarer, da Yeva wusste, dass das alles endete. Morgen früh war ihr Leben, wie sie es kannte und sorglos geliebt hatte, vorbei.

Sie blieb bei Kerzenschein sitzen und trauerte Tuvone nach. Den Wäldern, den langen Spaziergängen, dem Fluss, wie er nur nahe dem Winterpalast floss: sauber und frisch, kein träger Moloch, der sich dreckbeladen in seinem Bett wälzte.

Wie Mynco …

Sie fühlte Dunkelheit an ihrem Bewusstsein ziehen, um sie in die Tiefe zu tragen. Samtig und vertraut. Ein Teil von Tuvone, denn nun regte sich diese Gabe das erste Mal seit der Ankunft in Bentanes Hald. Yeva atmete tief ein, ließ sich auf die drängende Finsternis ein, die sie mit bunten Bildern lockte, ihr Dinge zeigen wollte, von denen Yeva nicht wusste, wo sie herkamen, ob sie wahr wurden oder wirklich geschehen waren. Bilder, die sie schon ihr ganzes Leben begleiteten. Wenn sie Angst hatte, kamen sie zu ihr aus der Dunkelheit, wenn sie sich nur darauf einließ.

Sie sah warmes Licht, Feuerschein. Davor eine dunkle Gestalt, die vornübergebeugt still stand, die Klinge eines Schwertes behutsam vor sich auf den Boden gestützt. Das Licht der Flammen wurde kälter, durchscheinend und wechselte die Farbe von rot zu grün.

Yeva fuhr hoch und atmete keuchend ein, als sie – dieses Mal ganz sicher – einen Schrei vernahm. Halberstickt und wie abgerissen klang er.

 

Auch jene Gestalt im Staub wandte den Kopf mit einem Ruck. Sehnige Finger umspannten fest ein Schwertheft. Kein Laut war zu vernehmen außer einem leisen Knarren wie vom Leder einer Rüstung. Kein Atemzug, kein Herzschlag. Wie eine nasse Decke lag Finsternis über der Gestalt.

 

Yeva saß noch einen Moment wie erstarrt auf dem Bett. Dann sprang sie auf und hastete zum Fenster, zerrte die Vorhänge beiseite und lehnte sich weit nach draußen, lauschte angespannt und meinte, nun auch Waffengeklirr zu vernehmen.

Eisig überlief ein Schauder sie. Wer auch immer dort kämpfte, wer auch immer angegriffen hatte: Mynco war nicht der Einzige, der dem Raub der Krone im Weg stand. War der fette kleine Prinz von Angreifern oder Aufständischen erst aus dem Weg geräumt, würde die Jagd auf die letzte Thronerbin, die Letzte des Königsgeschlechts beginnen.

Da war es nur ein äußerst schwacher Trost, dass sie einer Besteigung durch den Vetter entging.

Sie rieb sich die Stirn. War es dies, was die Bilder ihr hatten zeigen wollen? Oder stammten diese Zeichen aus der Vergangenheit des Reiches? Es war vollkommen einerlei und in ihrer jetzigen Lage ohne Bedeutung. Es brannte im Palast, die Bilder hatten ihr Flammen gezeigt. Götter, sie musste hier weg!

War ihr Flucht vor wenigen Stunden noch als unsinnig erschienen, begriff sie nun, dass dies ihre einzige Möglichkeit darstellte. Die Kämpfe fanden im Inneren des Palastes statt. Yeva sah Licht, das im Laufschritt durch die Gärten und halboffenen Gänge getragen wurde. Sie hörte Waffenklirren und nun immer deutlicher Schreie. Es wurde innerhalb der schützenden Mauern gekämpft. Kein Pöbel, der vor den Toren stand, sondern Bewaffnete im Allerheiligsten.

Yeva schnappte nach Luft. Das konnte einfach nicht sein! Nicht Bentanes handverlesene Garde! Doch falls die Angreifer vor Leibwächtern und Soldaten bei Yeva ankamen, war sie verloren. Es war egal, wer das Schwert führen würde, das die Letzte des Königshauses erschlug. Sie wusste nicht, wer Freund oder Feind war. Sie war auf sich alleine gestellt. Je schneller sie diese Tatsache ihrem benebelten Verstand vermitteln konnte, desto besser!

Sie rannte zu ihrer Truhe und zerrte eine Tasche ins Kerzenlicht. Nur ein Leinenbeutel, in den Yeva in fliegender Hast einen Mantel, ein zweites Hosenkleid, Sandalen und dann einer plötzlichen Eingebung folgend auch die Perlenkette von Renan stopfte. Den Schmuck des Königshauses warf sie zu Boden. Der konnte Verfolger ablenken. Sollten sie die grässlichen Klunker ruhig an sich nehmen. Alles, was ihr nun einen Vorteil, einen kleinen Vorsprung verschaffte, war ihr recht.

Sollte die Garde die Angreifer zurückschlagen, konnte Yeva hierher zurückkehren und hoffen, dass zumindest Mynco seine Krönung nicht mehr erlebte.

Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt. Mynco aus dem Weg bedeutete, dass zumindest ein zweites, ruhigeres Gespräch mit Renan möglich war. Dass auch der fremde König in diesem Moment vielleicht schon tot und erschlagen in einer Blutlache lag, verdrängte Yeva entsetzt.

Sie huschte barfuß zur Tür, lauschte und schob die Pforte dann auf. Ein hastiger Blick nach rechts, ein zweiter nach links. Der Gang lag leer und verlassen.

Sie wusste genau, wo sie sich zumindest für einige Stunden verbergen konnte. Nur musste sie den Palast der Toten erst einmal ungeschoren erreichen.

Sie erinnerte sich genau des Weges, den die Trauerprozession genommen hatte. Doch Yeva war sich sicher, dass es einen kürzeren und weniger offensichtlichen Weg gab.

Sie lief lautlos den Gang entlang. Jetzt – in diesem feindlichen Klima, im verhassten Palast – kam ihr das Leben in Tuvone zur Hilfe, wo sie sich nachts durch den Palast geschlichen hatte, um ihre Lehrer und Betreuer gegeneinander auszuspielen und zum Narren zu halten.

Ihr Orientierungssinn war gut, und sie war es zumindest ein wenig gewohnt, auch alleine klarzukommen – und sich zurechtzufinden, ihrem Gespür zu folgen.

Sie huschte lautlos durch leere, dunkle Flure, bis sie an die Außenseite des Palastes kam. Säulen trugen ein gewölbtes Dach, und in der Nachtbrise wehende Vorhänge waren alles, was nun noch zwischen ihr und der freien Fläche des großen Platzes lagen. Behutsam drückte Yeva den feinen Stoff zur Seite und spähte nach draußen.

Niemand zu sehen.

Sie atmete tief durch und schlüpfte zwischen Stoffstreifen ins Freie, klammerte sich am Vorhang fest und war so unsichtbar.

Es war gar nicht so weit bis zum Eingang des Totenpalastes. Fackeln brannten rechts und links des Tores, das selbst um diese Tageszeit einladend offen stand.

Würden dort Priester sein? Oder lag der gewaltige Bau der verstorbenen Herrscher Bentanes nachts wirklich verlassen?

Yeva sah um sich, aber die Kämpfe schienen sich auf andere Bereiche des Palastes zu beschränken. Noch. Die Geräusche allerdings waren lauter geworden und schienen auch näherzukommen. Sie trieben Yeva zur Eile an.

Sie stieß sich ab, floh aus der Deckung der Vorhänge und rannte mit langen Sätzen über den freien Platz direkt auf den Eingang des Palastes der Toten zu.

»Halt!«, brüllte ein Mann hinter ihr.

»Da rennt jemand!«, schrie ein Zweiter.

Yeva beschleunigte nur noch mehr. Sie flog nahezu durch das Portal, warf es hinter sich zu und starrte entsetzt, da es keinen Riegel gab. Natürlich nicht. Wer sollte das Tor denn von innen verschließen? Staubige Königsleichen?

Lampen brannten rund um sie herum, und Yeva ergriff eine kleine Öllaterne, deren gelber Schein durch Glas geschützt war. Yeva konnte nicht darauf hoffen, dass der gesamte Totenpalast beleuchtet war.

Sie lief wieder los. Noch lange war sie nicht außer Atem. Unter anderen Bedingungen hätte ihr dieses Versteckspiel sogar Spaß machen können – um Mynco zu foppen und zur Weißglut zu ärgern, dass seine Braut lieber zu den Toten flüchtete, als in sein Bett zu kommen. Aber Mynco war möglicherweise schon erschlagen. Wer auch immer hinter ihr her war: Es erschien ihr besser, sich zu verbergen und morgen bei Tageslicht vorsichtig Ausschau zu halten, wer als der Sieger aus dieser Nacht hervorgegangen war.

Jetzt galt es, einen stillen Winkel des Totenpalastes zu finden – und zwar schnell.

Das Glas schützte die Flamme vor Zugluft, sodass Yeva ungestört laufen konnte, ständig auf der Suche nach einem kleinen Nebengang, der weit genug entfernt vom Hauptportal lag. Noch hörte sie keine Verfolger. Doch sie war entdeckt worden.

Erkannt?

In den letzten Tagen war sie nur in Staatsroben herumgelaufen, beladen mit genug Schmuck für vier bis fünf Frauen. Sie bezweifelte, dass jemand sie in ihrem jetzigen Aufzug für die Erbprinzessin halten konnte. Möglicherweise für eine Dienerin oder Magd. Und eine solche würde man doch nicht unbedingt verfolgen, nicht wahr?

2.

Belrams Wächter

 

Die Hitze des Tages hielt sich noch in dem gewaltigen Gräberkomplex. Die Luft roch schwer und süß nach Räucherwerk, Harzen und Parfumölen. Überreste der Bestattung, vermutete Yeva, die sich an solch normalen Dingen des Lebens festklammerte, um nicht zu sehr auf das Poltern von Männerstiefeln zu achten.

Fieberhaft rannte sie die Wendelschnecke nach oben, immer weiter nach oben, bis ein dunkler Gang sich auftat, in dem keine Lampen brannten. Perfekt!

Yeva hetzte in den Tunnel, leuchtete vor sich den Boden ab, der ebenso sauber war wie überall sonst im Tempelbezirk. Auch hier brodelte die Luft schwer von Düften.

Sie lief, bis sie zu einer weiteren breiten Spirale kam, die stufenlos in die Tiefe führte.

»Da war Licht! Es bewegt sich!«, brüllte jemand hinter ihr, und vor Schreck hätte sie beinahe die Lampe fallen lassen. Stattdessen sah sie sich in wachsender Angst nach einem Versteck um, entdeckte nichts – und blies die Lampe aus.

Finsternis, vollkommen, tintenschwarz fiel in den Gang, und nun konnte Yeva von der ersten Wendelrampe aus schwachen Lichtschein und Bewegung erkennen.

Sie unterdrückte mühsam ein Keuchen des Entsetzens und tastete sich in die Spirale hinein. Immer an der Wand entlang. Es gab keine Stufen, die sie hinab fallen konnte, und so entwickelte Yeva eine gewisse Geschwindigkeit, während sie über und hinter sich die gefürchteten Männerstiefel poltern hörte. Sie selbst war lautlos auf nackten Sohlen unterwegs und flog Runde um Runde hinab.

Ihre Augen tränten, so sehr bemühte sie sich, die absolute Dunkelheit mit Blicken zu durchdringen. Sie brauchte eine kleine Nische, in die sie kriechen konnte, sodass die Männer an ihr vorbeirannten.

 

In der Dunkelheit erhob sich die Gestalt, richtete sich langsam, beinahe würdevoll auf, ließ den Kopf nach vorne auf die Brust sinken, während sehnige Finger das Schwertheft erwartungsvoll umspannten. Kein Atemzug, um den Körper auf einen möglicherweise bevorstehenden Kampf vorzubereiten. Aber alle Sehnen waren angespannt, Muskeln stahlhart in Erwartung eines Einsatzes. Leise vibrierte der Stahl des Schwertes, als die Schwingungen des Körpers sich durch das Heft übertrugen. Einsatzbereit und wachsam stand die eindrucksvolle Gestalt still da. Wartete ab wie seit Jahrhunderten. Doch jetzt mit einer neuen Aufgabe, die greifbar schien.

 

Yeva floh die Wendelung weiter hinab. Wie tief befand sie sich nun? War sie noch im Grabbau selbst, oder wand diese Spirale sich bis unter die Erde?

Sie hatte jedes Gefühl für Entfernungen, für die zurückgelegte Strecke vollkommen verloren. Nur noch die Wand an ihrer Seite und die Schritte hinter ihr hatten Bedeutung für sie. Die Männer waren ebenfalls in der schneckenförmigen Rampe in die Tiefe unterwegs. Sie hatten Licht und bewegten sich rasch, während Yeva in Dunkelheit entlang der Außenwand der Spirale rannte.

Ihre Füße schmerzten von der Kälte des glatten Steins. Hier lag eine dünne Sandschicht, vielleicht war es auch Staub. Sie hinterließ eine Spur!

Ihre Atemzüge kamen nun rascher, und sie kämpfte darum, so leise wie möglich zu sein. Hier musste doch irgendwo eine Nische sein! Irgendein Versteck, ein abzweigender Gang, wo sie sich hinter Grabschmuck verbergen konnte!

Mit einem Mal nahm sie vor sich ein Schimmern wahr, bog zur Seite ab und fand sich in einem breiten Gang, der durch blaue Lampen beiderseits beleuchtet wurde. In winzigen Nischen standen die Lichter und spendeten gleichmäßiges Licht.

Yeva atmete schaudernd tief ein und rannte los wie von Geistern der Unterwelt gejagt. Das Licht half ihr – aber es würde auch ihren Verfolgern dienen. Irgendwo musste ein Versteck sein!

Aber der Gang war gerade, schnörkellos, die Leuchten die einzige Verzierung.

Yeva hetzte weiter, bis vor ihr ein großes Portal erschien, flankiert von zwei mannshohen Leuchtern, in denen blaue Flammen geräuschlos brannten.

Fahrig und mit rasendem Herzen sah sich Yeva um und entdeckte endlich ein Versteck: eine kleine Nische, in der eine Steinfigur stand. Yeva quetschte sich an der Statue vorbei in die schützende Dunkelheit hinter der steinernen Gestalt, atmete lautlos tief ein, machte sich so klein wie möglich.

Sie wusste, vor wessen Grab sie angekommen war, hinter wessen Statue sie sich nun verbarg: Hier lag der Gründer des Reiches. Die Schriftzüge über dem Portal schrien das in die Welt hinaus. Hier lag Belram der Große, der Erste und Einzige. Der Mann, der den Palast der Toten begründet, die wilden Völker geschlagen und Bentanes Hald gebaut und befestigt hatte. Der Herrscher, der angeblich dreihundert Jahre lang regiert und zahlreiche seiner Söhne, Enkel und sogar Urenkel überlebt hatte, bevor er das weitere Schicksal von Bentane in die Hände des jüngsten Sohnes gelegt hatte. Ihr Urahn.

Bitte, bitte, Belram, wenn du mich hören kannst. Ich bin deine Tochter. Die letzte Erbin deines Hauses, wenn meine Befürchtungen und Hoffnungen wahr sind und Mynco tatsächlich ermordet worden ist. Ich habe solche Angst, und sie sind hinter mir her. Großer Belram, Vater der Könige, Herrscher von Bentane. Ich brauche Hilfe, ich habe solche Angst, dachte sie panisch, während die Schritte näherkamen.

»Hier! Spuren im Staub. Eine Sackgasse. Sie muss hier irgendwo stecken. Das Miststück haben wir gleich.«

Sie zitterte krampfhaft, klammerte sich an der Statue fest und machte sich so klein wie möglich. Gleich waren sie bei ihr, würden sie aus dem Versteck zerren. Sie konnte kaum noch atmen. Ihr Mund war staubtrocken. Jeder Muskel bebte, jedes Haar hatte sich aufgerichtet. Ihre Augen schmerzten.

Sie fühlte den Boden vibrieren. Männerstiefel, nahende Gefahr, heranrasender Tod – oder Schlimmeres.

Warum hatte sie Renan nicht gesagt, was sie bewegte? Vielleicht hätte er sie fortgeschafft. Vielleicht wäre er jetzt noch bei ihr.

Renan. Luvon. Mynco.

Lebte überhaupt noch einer dieser drei? War denn niemand hier, um sie zu schützen?

Licht fiel auf sie, und Yeva unterdrückte nur durch größte Anstrengung einen Schrei des Entsetzens.

»Hab ich dich, Schlampe.«

Eine Hand griff nach ihr, und Yeva wich weiter zurück. Der Boden bebte erneut, dann ein Donnerschlag wie von berstendem Stein. Ein Felsbrocken so groß wie Yevas Faust raste aus der blauschimmernden Dunkelheit und traf den Kerl am Kopf. Blut spritzte. Die Augen des Mannes rollten in den Höhlen zurück, bis nur noch rotgeädertes Weiß zu sehen war. Dann brach der Angreifer zuckend zu Boden, und eine zweite Gestalt schob sich in Yevas Gesichtsfeld.

Die blauen Flammen reflektierten von der Rüstung. Winzige Metallscheiben auf Leder, jede kleine Platte ein funkelnder Stern.

Hünenhaft, breitschultrig in einem Panzer, der die Gestalt noch eindrucksvoller aussehen ließ. Feine, beinahe weiße Haare in einem Pferdeschwanz, ein Schwert, ein Rundschild.

Der Mann stand mit dem Rücken zu ihr, wie um sie vor ihren Verfolgern abzuschirmen.

Sie sah nur lange Beine in Panzerschienen, den breiten Rücken und eine Haltung, die an ein großes, träge lauerndes Raubtier erinnerte. Bereit zum Zuschlagen.

Belram, Vater der Könige, der Große und Einzige. Ich danke, danke dir. Sie konnte kaum noch klar denken, nur die hünenhafte, wuchtige Gestalt vor sich anstarren, die sich hart umrissen gegen den gelblichen Lampenschimmer der Angreifer abzeichnete, vom blauen Licht der Grabkammer umschlossen.

Renan? Nein, nicht Renan. Noch schwerer und größer als der fremde König.

Yeva verstand erst jetzt, dass ihr Tränen der Erleichterung über die Wangen liefen.

Dann griffen die Kerle an, die ihr bis hierher gefolgt waren. Sie konnte an dem Hünen vorbei nicht genug sehen, wusste nicht, mit wie vielen Gegnern er es zu tun hatte. Ihr Herzschlag beschleunigte sich rasant. Nicht mehr nur Angst um sich selbst, sondern auch um ihren unvermutet aufgetauchten Retter und Verteidiger.

Er sprang vorwärts, mitten in den Pulk hinein. Blaues Licht gleißte auf der Schwertklinge, die der Mann in einer kraftvollen Bewegung zur hohen Decke des Ganges zucken ließ und dann mit einem gewaltigen Hieb niedersausen ließ.

Sie spaltete einen Schädel, bevor sie direkt am Heft abbrach.

Yeva stieß ein entsetztes, atemloses Keuchen aus, sprang in der Deckung der Statue auf die Füße und umklammerte den Stein, sog Atem in ihre Lungen und hielt einen Schrei nur knapp zurück.

Der Mann flog zur Seite, riss den Arm in einer knappen, kraftvollen Bewegung hoch und rammte einem weiteren Angreifer den Ellenbogen gegen den Kehlkopf. Es knackte und knirschte entsetzlich. Der Widersacher ging wie ein knochenloses Bündel zu Boden, und nur einen Wimpernschlag später war Yevas Verteidiger mit dem Krummsäbel des Toten bewaffnet und wirbelte leichtfüßig in einen blaublitzenden Windmühlenschlag, der sich in rote Tropfenspuren verwandelte und Blut gegen die Gangwände schleuderte.

Körper schlugen schwer auf dem Boden auf. Schwarze Lachen breiteten sich aus, und der Hüne sprang über die Erschlagenen hinweg und setzte drei Männern nach, die ihr Heil in der Flucht suchen wollten.

Sie kamen nicht weit. Yevas Retter war zu groß und schnell. Er holte sie leicht ein, und wieder blitzte der Stahl auf, schwarzschimmernd im blauen Licht.

Die Präzision des Hünen war atemberaubend. Seine Schnelligkeit erschreckend angesichts seiner hochaufragenden Größe. Nichts, was so schwer und groß war, sollte sich so rasch bewegen können. Yeva spürte, wie ihre Lippen sich verzogen. Sie hätte beinahe mit den Fingerspitzen nach ihrem Mund getastet, bis sie verstand, dass sie lächelte.

Nicht ein Laut von dem Hünen, der nach dem letzten Fall eine starre Haltung wie zu einem letzten Gruß einnahm, bevor er zu Yeva, die noch hinter der Statue Belrams stand, zurückkehrte.

Unwillkürlich hielt Yeva die Luft an, als sie nun das erste Mal das Gesicht ihres Verteidigers klar sehen konnte.

Sonnenverbrannt, sodass seine Haut dunkler noch als ihre eigene war, wie gegerbtes Leder spannte sie straff über einem totenschädelartigen Gesicht, in dem nur die Augen zu leben schienen.

Ihre Farbe war im blauschimmernden Licht nicht zu erkennen, aber sie leuchteten wie von einem inneren Feuer erhellt.

Yeva musste den Kopf in den Nacken legen, um zu diesem dunklen, starren Gesicht aufzusehen.

Einen Herzschlag lang bohrte sich der Blick der flackernden Augen in ihre, dann zuckte ein Mundwinkel, und der Hüne fiel vor ihr auf ein Knie, beugte den Nacken und verharrte still, die bluttriefende Waffe auf den Boden aufgestützt.

Ehrbezeugung. Götter. Wie konnte er wissen, wer sie war? Woher war er so plötzlich genau in dem Augenblick aufgetaucht, da sie ihn gebraucht hatte?

Vorsichtig kam sie hinter der Statue Belrams hervor, trat auf Mauerbruchstücke, auf feinen Staub, bis sie direkt vor ihrem Retter stand, der sich nicht rührte, nur vor ihr kniete, nicht zu ihr aufsah.

»Danke«, brachte Yeva leise hervor und wusste, dass es nicht genug war. Doch sie zitterte am ganzen Körper und war vor Entsetzen und Angst zu Tode erschöpft. Die Anwesenheit ihres Retters und seine flackernden Augen trugen nicht dazu bei, dass das Entsetzen sich legen konnte. Kein Mensch hatte solche Augen, in denen Flammen loderten und irrlichterten.

Ihr Blick flog durch den Gang, der vor wenigen Augenblicken kahl, schmucklos und sauber gewesen war.

Jetzt war er ein Schlachtfeld. Blutlachen und schwarze Spritzer verunzierten den kalten Stein und zeugten von der Gewalt, zu welcher der Hüne fähig war.

Jetzt erst begriff sie, was sie hörte. Ihren eigenen Atem, ihren rasenden Herzschlag in den Schläfen. Kein Laut von jenem Krieger, der wie ein Göttergeschenk zu ihrer Rettung gekommen war. Kein Knarren von Leder, kein Klirren oder Schaben von Metallplatten seiner Rüstung.

Er atmete nicht. Der gewaltige Brustkorb verharrte in totaler Reglosigkeit, die Schultern hoben und senkten sich nicht.

Nach der blitzartigen Bewegung, nach der Vernichtung, die er so überraschend gesät hatte, sollte er keuchen von der Anstrengung. Aber er war wie die steinerne Statue hinter ihr. Vollkommen still.

Sie starrte auf ihn hinab, auf das wie gesponnenes Stroh wirkende helle Haar auf dunkler Haut, auf den starken Nacken.

Demut oder sklavischer Gehorsam?

Sie sah zur Seite, zum vormals zugemauerten Zugang zu Belrams Grabkammer. Nicht länger versiegelt, denn der Stein wirkte wie von Hammerschlägen geöffnet – von innen. Trümmer lagen zwischen Belrams Statue und seinem Grabeingang. Als wäre der Krieger von genau dort gekommen.

Ein Zittern schüttelte Yeva. Sie sah noch einmal auf den stillen Hünen, lauerte auf einen Atemzug, eine Regung, irgendetwas. Obwohl sie schon begriffen hatte, dass sie mit so etwas nicht mehr rechnen konnte.

Kein Kämpfer vollbrachte das, was der Hüne geschafft hatte, ohne nach Atem zu ringen, zu schwitzen. Aber nichts. Nur Stille. Kein Geruch von Wärme und Schweiß. Vollkommene Reglosigkeit, sodass der große Krieger mehr Belrams Statue denn einem Menschen ähnelte.

Behutsam trat Yeva von ihm weg, von Angst jenseits ihres bisherigen Vorstellungsvermögens geschüttelt. Vorsichtig suchte sie sich ihren Weg durch Mauerbruchstücke zum Grabeingang. Dort blieb sie stehen und sah zurück.

Er hatte den Kopf ein wenig gehoben und ihr das Gesicht wieder zugewandt. Sein Blick folgte ihr, während er immer noch auf einem Knie verharrte.

Auf dem Fußboden rund um die Spitze des Krummsäbels hatte sich eine schwarze Pfütze gebildet, erkannte Yeva mit einer Mischung aus Faszination und Grauen.

Aus dem Grab leuchtete es ebenfalls blau. Yeva überschritt die Schwelle und sah um sich, als sie hinter sich das Geräusch hastiger Schritte vernahm. Sie wirbelte beinahe panisch herum, erwartete, in die Augen des Hünen zu sehen, aber er kniete immer noch vor Belrams Statue, sah zu Yeva und regte sich sonst nicht.

»Gepriesene!«

Luvon!

Yeva sprang über Mauerreste zurück in den Gang, sah das gelbe Licht einer Fackel, erkannte Luvons eindrucksvolle Gestalt.

Der Krieger erhob sich – leicht und mühelos. Einen Moment stand er still, während Luvon über die drei Leichen der zuletzt Erschlagenen sprang und den Ruf wiederholte.

Ein ganz leises Knurren – wie von einer Katze, die verärgert nach einem Spielzeug hascht, das sie nicht ganz erreichen kann.

Der erste Laut, den Yeva von ihm vernahm. Nicht im Geringsten beruhigend oder das, was man sich vielleicht von seinem Retter erhoffte. Schrecklicher als alles andere.

Dann sprang der Hüne vorwärts, den blutnassen Säbel in einer schemenhaft, rasend schnellen Bewegung nach oben bringend.

»Luvon!«, stieß Yeva entsetzt aus, sah das Erschrecken im Gesicht ihres Leibwächters, dann flog die Fackel zu Boden, und Luvon versuchte, seinerseits sein Schwert zu ziehen.

Zu langsam, viel zu langsam, denn der Hüne war rasend schnell und beinahe schon bei ihm, ließ die eindrucksvolle Gestalt des Leibwächters zu einem Nichts schrumpfen.

»Halt!«, schrie Yeva in höchster Not und rannte dem Krieger hinterher – der auf ihren Ruf hin mitten im mörderischen Schlag verhielt.

Sie erreichte ihn, streckte die Hand nach ihm aus und verharrte. Sie konnte dieses … dieses Ding nicht berühren.

Ein Bluttropfen bildete sich an der Spitze seines Säbels, wuchs, bis er fett war und langsam wie Honig vom Stahl tropfte und zu Boden fiel. Er bildete im Staub einen schwarzen Krater.

»Nein«, sagte sie leise. »Das ist Luvon. Er gehört zu mir. Er beschützt mich … ebenfalls. Ich will nicht, dass du ihn angreifst.«

Verstand diese Kreatur aus Belrams Grab sie?

Ganz langsam sank die Klinge hinab. So abrupt Angriff und Abbruch desselben erfolgt waren, so gemächlich wirkten die Bewegungen nun. Fast zögernd, widerwillig.

»Bitte«, setzte Yeva hinzu. Eine Hand hielt sie ausgestreckt, um Luvon Stillhalten zu signalisieren. Wenn er sich nun auch nur einen Zoll rührte, falls der große Krieger das als neuerliche Attacke wertete …

Der Arm sank ganz hinab.

Yeva atmete auf. Sie zitterte am ganzen Körper. Doch die Kreatur verstand sie offenbar. Und gehorchte.

»Gepriesene«, flüsterte Luvon, und seiner sonst so ruhigen Stimme hörte Yeva an, wie erschüttert er war.

»Gleich«, verwies Yeva ihn knapp und streckte nun doch die Hand aus, um ihren Retter sanft am Oberarm zu berühren. Abscheu erfüllte sie ebenso wie Angst. Doch sie war sich sicher, spürte instinktiv, dass sie dies tun musste, wie wichtig es war. Der Krieger war von sich aus zu ihrem Schutz gekommen. Sie musste ein Band knüpfen, ihre Angst überwinden und sich nicht länger wie ein furchtsames Mädchen benehmen. Sie hatte fast das Gefühl, dass die Haut ihrer Fingerspitzen versuchte, vor dieser Berührung zurück zu kriechen, sich zu verstecken.

Die Rüstungsplatten waren eiskalt. Darunter nur Stille. Kein Zucken, keine Muskeln, die vor Anspannung vibrierten.

»Ich danke dir«, brachte sie mühsam hervor. »Ich danke dir für deine Hilfe und deinen Schutz. Aber du darfst Luvon nichts tun. Hast du das verstanden?«

Er nickte. Eine knappe, beinahe abgehackte Bewegung. Der Kopf sank ein Stück hinab und schnellte dann wieder in die Ausgangsposition.

»Wirst du Luvon angreifen?«

Der Kopf ruckte nach links, zurück in die Mitte, nach rechts, wieder in die Mitte. Ein Kopfschütteln.

»Danke.« Sie erlaubte sich ein Aufatmen. Jeder ihrer Muskeln schrie vor Überanstrengung. Alles an ihr zitterte. Sie war sich sicher, dass sie gleich kraftlos zu Boden sinken musste. Die Kälte des Steins kroch durch ihre Fußsohlen direkt in ihre Beine und dann immer höher, griff mit eisiger Gewalt nach ihrem Herzen, um es zu erdrücken.

»Gepriesene …«

»Luvon, was ist geschehen?« Sie mochte vor Schwäche zittern, aber noch war sie die Erbprinzessin von Bentanes Hald. Zumindest erinnerte sie sich wieder an diesen Umstand. Das war schon viel wert. Denn nur Augenblicke zuvor war sie lediglich ein ängstliches Mädchen gewesen. Doch nun stand Luvon vor ihr, hatte sie als Gepriesene angesprochen und ihr dadurch wieder Mut und Kraft verliehen, indem er sie an ihren Rang erinnert hatte. Vielleicht war sie auch schon die ungekrönte Königin. Es war gleichgültig. Wichtig erschien jetzt nur, dass sie durchhielt. Weinen und sich zitternd in Decken verstecken durfte sie erst, wenn sie in zumindest vorübergehender Sicherheit war.

»Die Stadt steht unter Angriff.«

»Das habe ich bemerkt. Deswegen suchte ich hier ein Versteck. Was ist mit Mynco und Renan von Govil? Wie steht es?«

»Ich weiß nicht … Ich habe dich gesucht, Gepriesene, als die Kämpfe begannen. Der Gepriesene hat in meine Hände deine Sicherheit gelegt … Ich weiß nicht, wie es steht. Ich weiß noch nicht einmal, wer uns angreift.«

Yeva straffte die Schultern. »Dann sehen wir jetzt nach. Bentane ist auch meine Heimat. Ich will wissen, wer sie überfällt.«

Sie spürte eine Bewegung neben sich und sah auf. Das knappe Kopfnicken war wieder da. Der hellwache Blick, der sie regelrecht durchbohrte, ebenfalls.

Grauenerregend mochte er sein. Er atmete und schwitzte nicht, knurrte nur wie eine Raubkatze. Doch er stand ihr bei. Zwei Leibwächter hatte sie nun, und die Frage, welcher von beiden der Effektivere, Furchtbarere war, konnte sie ganz leicht beantworten.

Der stille Hüne übernahm die Führung, nachdem er seinen Schild abgelegt hatte. Das Holz zerfiel dabei beinahe. Morsch bröselten Holzteile zu Boden.

Yeva starrte auf die Hände des Mannes. Lederhandschuhe. Er musste welche tragen. So sahen normalerweise keine Hände aus. Knochen und Sehnen, über die sich die Haut beinahe runzelig spannte. Handschuhe. Sie nickte entschlossen.

Er ging vor, und Luvon fiel neben Yeva in Schritt.

Ihre Füße waren so kalt, aber sie wagte nicht, um eine kurze Pause zu bitten, damit sie die Sandalen aus dem Leinensack holen und anziehen konnte.

Sie wollte aus dem Palast der Toten, der Anwesenheit ihrer verstorbenen Ahnen entkommen. Beinahe hatte sie das Gefühl, dass sich aus jeder Grabkammer dunkle, blinde Augen auf sie richteten, ihren Fortschritt durch die Nekropole wachsam verfolgten.

Sie war eine von ihnen, konnte ihre Abstammung bis zu Belram, dem Großen, dem Einzigen, zurückverfolgen. Warteten die Ahnen nur darauf, dass sie ebenfalls starb und für den Rest der Ewigkeit in eine der Grabkammern gesperrt wurde?

So wie der stille Krieger, der sicher den Weg zurück zum Portal fand, sie und Luvon führte und dabei die ganze Zeit mehr als nur wachsam schien?

Alles in Yevas Kopf schwamm wild durcheinander. Sie konnte kaum einen klaren Gedanken fassen, klammerte sich nur an den einzigen fassbaren Tatsachen fest: Wer sie war. Was sie zu tun hatte. Falls Mynco tot war. Wie es weiterging.

Hinter jeder Biegung der hallenden Gänge schien der Hüne Gefahr zu vermuten. Ihn würde nichts unvorbereitet treffen, sagte jeder Zoll seiner hochgewachsenen, eindrucksvollen Gestalt.

Wo kam dieser Krieger wirklich her? War er aus dem Grab gestiegen, um die letzte Prinzessin von Bentane zu schützen? Schwachsinnig, sagte Yeva sich. Und gefährlich, so etwas auch nur einen Herzschlag lang zu denken.

Aber er atmete nicht! Wenn er kniete, wirkte er wie eine Statue. Nachdem er den Angriff auf Luvon auf Yevas Befehl hin abgebrochen hatte, war er ebenfalls zu Stein geworden wie jener, der sie in dem Palast der Toten allgegenwärtig umgab. Erstarrt, versteinert. Doch gehorsam.

Sie schwitzte trotz der Kälte, die immer noch in ihren Muskeln und Knochen brodelte. Sie hatte entsetzliche Angst und verstand nichts mehr.

Der Krieger blieb stehen, als das Tor zum großen Platz in Sichtweite kam. Langsam drehte er sich zu Yeva um, und nun konnte sie das Knirschen von Leder, das Klirren des Metalls auf der Rüstung vernehmen. Er sah ihr in die Augen, und jetzt erkannte sie im warmen Fackellicht ziemlich sicher, dass seine Iriden grün leuchteten wie das erste Frühlingsblatt an einer Birke. Frisch, lodernd und durchdringend. Erfüllt von einem Feuer, das tatsächlich in ihnen zu brennen schien, flackernd und unstet.

Er hob die Hand, als wollte er ihr so signalisieren, dass sie für den Moment hier und in relativer Sicherheit bleiben sollte. Dann wandte er den Kopf und starrte Luvon durchdringend an. Wortlos wie bisher drehte er sich um und brachte die letzten Schritte zum Tor lautlos und leichtfüßig hinter sich.

Yeva blieb neben Luvon stehen und starrte auf den breiten Rücken, die langen Beine, das blasse Haar.

Was bist du? Ein Geschenk der Götter? Von Belram gesandt? Ein Mensch bist du nicht. Und fast hoffe ich, dass dort draußen die gesamte feindliche Armee lauert und dich in Stücke schlägt. Aber nur fast. Du hast mich gerettet, und ich bin dankbar. Du machst mir solche Angst, mein Krieger.

Ihr Krieger. Nur in Gedanken ausgesprochen, und doch war es die reine Wahrheit. Woher auch immer er gekommen war, wer auch immer ihn gesandt hatte. Er war zu Stelle gewesen, als sie dringend einen Beistand wie ihn gebraucht hatte. So fremdartig und unheimlich er ihr auch war: Er war ihr Krieger.

Von draußen vernahm sie einen Ruf, als wäre der Hüne gesichtet worden. Sie fühlte, dass Luvon nach ihr greifen wollte, doch sie entschlüpfte seiner Hand leicht und rannte vor zum Ausgang, verbarg sich halb hinter dem Türstock und sah nach draußen.

Mitten auf dem Platz, vom Mondlicht beleuchtet, sodass die Rüstung wieder bläulich schimmerte, stand der Krieger. Die Spitze des Krummschwertes wies zum Boden, der Kopf des Hünen war leicht nach vorne geneigt. Bewegungslos wie zuvor in den Tiefen der Nekropole.

Er war entdeckt worden. Natürlich. Ein so riesenhafter Kerl konnte nicht einfach unter den Augen der Angreifer über einen freien Platz spazieren. Egal, welchen Widerstand diese vielleicht noch im Palast vorfanden – jemanden wie den stillen Krieger mussten sie einfach sehen. Wetten, dass der Kerl das auch genau gewusst, die Reaktion auf sein Erscheinen absichtlich provoziert hatte?

Ein Trupp kam im Laufschritt aus einem Seitenflügel des Palastes. Zehn Soldaten in fremder Uniform. Kein Mann von Bentane. Yevas Herz wurde schwer vor Angst um das Reich, um die Hauptstadt – und um ihre eigene Sicherheit. Sie biss sich fest auf die Unterlippe.

»Gepriesene, es gibt einen zweiten Ausgang aus dem Totenpalast. Ich kann ihn finden und dich in Sicherheit führen.«

Sie rührte sich nicht, sah nur zur stillen Gestalt im Mondschein und verspürte ein schmerzhaftes Aufwallen von Sorge um den großen Krieger dort vorne.

Die Angreifer im Flur vor Belrams Grabstätte hatten nicht mit ihm gerechnet. Er war einfach aufgetaucht und hatte die Kerle niedergemacht, die Yeva gefolgt waren. Doch der Trupp, der sich ihm nun näherte, hatte ihn gesehen und wohl auch abschätzen können, wie groß und schwer er war, welche Reichweite er haben musste.

Dieses Mal befand sich das Element der Überraschung nicht auf seiner Seite.

Er stand ganz still da. Er ließ seine Gegner dicht herankommen – zu dicht für Yevas Geschmack, die Luvon dicht hinter sich spürte.

»Gepriesene …«

»Still«, befahl sie und konnte den Blick nicht von ihrem Krieger wenden, der langsam den Kopf hob.

Dann sprang er vorwärts. Unglaublich schnell – vor allem zu rasch für seine Gegner, die noch nicht einmal Zeit für einen Schrei hatten, bevor die ersten beiden Köpfe auf dem Pflaster aufschlugen. Blut spritzte, schoss in pulsierenden Schüben aus den Halsstümpfen, während die Körper zu Boden gingen, sich beinahe graziös zusammenfalteten. Bevor sie noch auf den Steinen aufkamen, starben drei weitere Soldaten.

Das Schwert schien ein Eigenleben zu entwickeln, zuckte von weit oben hinab, fuhr mit einem brechreizerregenden Knirschen in einen Kopf. Der Stahl flog wieder nach oben und zeichnete im Mondlicht eine schwarze Funkenspur, als das Blut von der Klinge geschleudert wurde.

Die verbliebenen fünf Männer stoppten ihren Anmarsch abrupt. Fast schien es Yeva, dass sie sich zusammenballten, jeder Einzelne von Furcht erfüllt, der Erste sein zu müssen, der sich dem Krieger näherte.

Langsam sank der Schwertarm wieder hinab. Von wildem Kampf zurück zur Stille und Starre, so schien es. Doch dieses Mal täuschte es. Ein langer, kraftvoller Satz, ein Sprung, und er befand sich mitten unter seinen Gegnern. Zwei gingen zu Boden, bluteten, zuckten, verröchelten. Ein Windmühlenschlag sandte den Rest zu ihren Ahnen.

Yeva erwartete, Dampf von Schweiß über dem Krieger aufsteigen zu sehen, doch nur roter Dunst vom Blut erhob sich wie eine Wolke.

Wie auf einen fremden Befehl hin stieß Yeva sich vom Türstock ab und rannte über das Pflaster zu dem stillen Hünen, der sich rasch zu ihr umdrehte, als er ihre Schritte vernahm.

Er streckte die linke Hand nach ihr aus, nach oben offen, als erwarte er, dass sie ihre Finger in seine ledrige Pranke legen würde. Zu ihrem eigenen Erstaunen tat sie genau das.

Die hellgrünen Augen weiteten sich. Hatte sie ihn überrascht mit diesem kleinen Vertrauensbeweis? Sie wusste, dass sie selbst fassungslos über sich war. Doch seine Geste war so selbstverständlich und menschlich gewesen, dass Yevas Körper darauf entsprochen hatte, bevor ihr Verstand noch ganz begriff, was sie da tat.

Der große Krieger sah zu Luvon, der ihr gefolgt war, nickte knapp und zog Yeva dann im halben Lauf mit sich.

Seine Hand war kalt, fühlte sich an, als wären nur Knochen in einem hauchdünnen Handschuh vorhanden. Und doch war der Griff fest und beruhigend. Es war Yeva selbst unverständlich, warum sie sich in der Gegenwart des Hünen so sicher fühlte.

Luvon rannte ihnen hinterher, immer im Schatten der Palastmauer, einmal die gesamte Länge der großen Galerie entlang, bis der Hüne stehenblieb, sich sichernd umsah und Yeva losließ. Er schob den Säbel in seinen Gürtel, beugte leicht die Knie und sprang dann nach oben. Knapp bekam er die obere Kante der Umfassungsmauer zu packen, zog sich hoch, bis er die Unterarme auf die Mauerkrone stützen konnte. Kurzes Verharren, dann wuchtete er sich ganz nach oben, kniete auf der breiten Mauer und beugte sich tief herab, reichte Yeva wieder die Linke.

Sie musste sich recken, wollte wieder die Hand in seine legen, doch er griff tiefer. Hart spannten sich die kraftvollen Finger um Yevas Unterarm, und mit einem gewaltigen Ruck zog er sie dicht zu sich nach oben auf die Mauerkrone, spähte erneut sichernd um sich.

So nahe war sie ihm noch nicht gewesen. Seine Masse war einschüchternd. Und so dicht bei ihm verspürte sie seine fehlende Atmung als noch unheimlicher.

Er sah auf der anderen Seite der Mauer hinab, und Yeva räusperte sich leise. Der Kopf flog zu ihr herum, die Augen geweitet und hellwach.

»Luvon«, sagte sie leise.

Täuschte sie sich, oder verzog sich sein Gesicht einen Herzschlag lang beinahe bösartig? Seine Kiefermuskeln spannten sich an. Der Blick wurde ganz eindeutig trotzig.

»Ich befehle es.«

Er schloss die Augen, riss sie wieder auf, beugte sich hinab und reichte Luvon die Hand.

Yeva saß mit klopfendem Herzen auf der Mauerkrone. Erst als Luvon sicher neben ihr kauerte, beruhigte sie sich ein wenig. Jetzt war der Zeitpunkt erreicht, da sie sich irgendwo klein zusammenrollen wollte. Alles schlug über ihr zusammen.

Von ihrem Standort aus konnte sie Feuer in der Stadt und auch im Palast sehen. Sie erkannte Männer, die hin und her rannten. Vielleicht wollten sie Flammen löschen, möglicherweise waren sie aber auch auf der Suche nach verbliebenen Widerstandskämpfern – oder nach Yeva höchstpersönlich.

»Wir könnten versuchen, uns zum Hafen durchzuschlagen. Dort liegt die Flotte von Govil«, schlug Luvon vor.

Yeva wusste nicht, warum sie die folgenden Worte aussprach. Irgendetwas drängte sie dazu, viel Abstand zwischen sich und die brennende Stadt zu bringen. Es war eine Flucht, dessen war sie sich klar. »Ich möchte nach Hause.«

»Gepriesene, dies ist …«

»Nein, dies ist nicht mein Zuhause«, unterbrach sie Luvon. Sie sah in die leuchtenden grünen Augen ihres Kriegers, die sie wachsam musterten. »Tuvone ist mein Heim. Hier kann ich nichts ausrichten. Ich habe eine Armee von zwei Kriegern. Willst du dich in den Kampf mit den Eindringlingen stürzen, Luvon? Jetzt und hier, wo keine Ordnung und keine Unterstützung zu bekommen sind? Oder willst du ihm die Dreckarbeit überlassen und dich als mein Leibwächter aufspielen?«

»Ich denke nicht, dass ich mich als solcher aufspiele«, entgegnete er und klang sehr gekränkt. Der Blick, den er dem stillen Krieger zuwarf, gefiel Yeva nicht. War das Eifersucht? Worauf? Weil Luvon nicht zur Stelle gewesen war, als Yeva ihn wirklich gebraucht hatte? Weil diese Kreatur aus Belrams Grab ihr zur Hilfe kommen musste, während der Leibwächter noch durch den Irrgarten des Totenpalastes getappt war? Sie wusste es nicht und hatte auch keine Kraft, diesen Knoten jetzt zu entwirren.

Der Hüne nickte wieder nur knapp und sprang dann auf jener der Stadt zugewandten Seite der Mauer hinab. Unten blieb er stehen und hielt einladend die Arme geöffnet.

Neben sich vernahm Yeva ein empörtes Keuchen, und bevor sie hinabspringen und sich von dem toten Krieger auffangen lassen konnte, landete Luvon schon auf dem Boden neben dem Hünen und wartete nun seinerseits, dass sie ihm in die Arme fallen würde.

Kurz zögerte sie. Sie hatte das ganz sichere Gefühl, dass ihre Tugend bei dem Toten besser aufgehoben war. Doch er war ihr auch immer noch unheimlich, trotz seiner ruhigen Loyalität und seines absoluten Gehorsams. Sie hoffte, dass ein Toter keine Gefühle hatte, die sie verletzten konnte, und sprang in Luvons Arme.

Er fing sie sicher auf und hielt sie für einen Wimpernschlag fest an sich gedrückt, bis wieder jenes leise Knurren aus der Kehle des großen Kriegers erklang. Hastig ließ Luvon Yeva hinunter, sodass sie auf ihre eigenen Füße kam.

»Einen Augenblick«, sagte sie energisch, als der Hüne sich umdrehte, um erneut die Führung zu übernehmen.

Sie zerrte die Schnüre des Leinensacks auf und zog ihre Sandalen aus der Unordnung, streifte diese über die bloßen Füße und fühlte sich sofort besser. Hastig band sie den Beutel wieder zu. »Fertig.«

Der Hüne nickte wieder nur auf seine knappe Art und ging voran. Er bewegte sich, als würde er die Stadt genau kennen. Nur hin und wieder verharrte er. Yeva bemerkte schnell, dass es neuere Gebäude waren, die ihn jedes Mal seiner selbstsicheren Orientierung beraubten. Wobei neu ein dehnbarer Begriff war. Die alten Tempel beachtete er kaum, aber schon die große Markthalle, die mehr als fünfhundert Jahre alt war, ließ ihn kurz innehalten.

Wie alt ist er? Ist das nicht eine der wichtigsten Fragen? Belram soll den Legenden nach dreihundert Jahre regiert haben. Vor über siebenhundert Jahren. Und seinem Grab entstieg kampflustig und sehr hilfreich dieser riesige Kerl, der vielleicht all diese Jahrhunderte lang nur darauf gelauert hat, dass jemand quasi vor seiner Schlafzimmertür eine Prinzessin königlichen Bluts attackiert.

Es war alles ein bisschen viel, erkannte sie. Sie musste den Kopf freibekommen, bevor sie zur Ruhe kam. Sonst würden die Bilder auf sie einströmen. Es war eine Sache, das im Schlafzimmer oder gar in der Abgeschiedenheit von Tuvone zu erleben. Keinesfalls wollte sie Visionen haben, solange zwei miteinander konkurrierende Leibwächter neben ihr hockten.

Sie atmete tief durch, während sie hinter dem Hünen herhastete, dessen Verwunderung angesichts neuerer Bauwerke belustigt beobachtete und ansonsten Augen und Ohren offen hielt.

Yeva begriff erst nach etlichen Straßenzügen, dass sie sich von ihren eigenen Ängsten und Sorgen ablenken wollte, indem sie versuchte, in dem Hünen eine Konstante zu sehen.

War dies einer Prinzessin würdig? Andererseits: Was sollte sie sonst in einer ihr vollkommen fremden Stadt tun? Angesichts unbekannter Feinde, die mordend und brandstiftend durch Bentanes Hald rannten und nicht einmal Respekt vor dem Palast der Toten gezeigt hatten?

Wenn sie ruhig bleiben sollte, musste sie sich irgendwie zerstreuen und Kräfte sammeln. Der Feind würde ihr keine Gelegenheit dazu gönnen. Doch die Angst vor den Träumen und dem, was sie ihr dieses Mal zeigen wollten, ließen Yeva Mut sammeln. Dann gaffte sie den großen Kerl halt erheitert an, wenn er ein neueres Gebäude entdeckte, wenn er an einer Kreuzung zweier neuer Straßen stand und sich zu orientieren versuchte.

Er tat es für sie, und es war gewiss sehr unhöflich, aus seiner leichten Verwirrung Belustigung zu ziehen. Aber vielleicht merkte er es nicht – oder Tote hatten keine Gefühle. Wüsste er den Grund für ihr Verhalten, würde er Yeva ganz bestimmt dankbar für ihre Geistesgegenwart sein.

»Wir sollten zum Fluss«, wisperte Luvon eindringlich. »Dort liegt Govils Flotte. Bei Anzeichen von Gefahr können sie von der Mole abgestoßen sein und die Mitte des Flusses angesteuert haben. Dort wärst du in Sicherheit, Gepriesene.«

Der Hüne gab ein unwilliges Knurren von sich, ohne sich auch nur umzudrehen.

»Wir wissen nicht, wer die Angreifer sind und welchen Schaden sie bislang angerichtet haben«, versetzte Yeva, der das Knurren eine Gänsehaut über den Rücken schickte. Es klang wie ein bösartiges Tier. Langsam fragte sie sich, warum ihr Krieger nicht sprach. Lag es daran, dass er nicht atmete? Brauchte man nicht Luft, um zu sprechen? Doch er konnte ja knurren, sich unartikuliert äußern.

Ihr fehlte einfach die Kraft, sich nun mit Luvon über ihr weiteres Vorgehen zu streiten. Es ärgerte sie, dass er ihr widersprach, dass er das überhaupt wagte. Ihr Wort sollte doch Gesetz sein, oder?

Oder war es nur der Gegensatz zwischen ihren beiden Leibwächtern? Der eine befolgte jeden Befehl umgehend und ohne Zögern, während der andere noch selbst nachdachte und Alternativen zu Yevas Plänen suchte und bot?

Sie war zu müde. Sie wollte schlafen, sich irgendwo verborgen unter Decken zusammenrollen, die Augen schließen und beim Aufwachen erkennen, dass alles nur ein böser Traum gewesen war.

Sie wäre immer noch in Tuvone in ihrem vertrauten Zimmer. Kein Befehl, ihren vermaledeiten Vetter zu heiraten, kein Luvon, kein Renan – und kein stiller Krieger, der Luvon aus tückisch glitzernden Schlangenaugen ansah und ihn abzuschätzen schien.

Hatten Tote doch Gefühle, die man verletzen konnte? War der Hüne eifersüchtig? Wie absurd.

Er hielt jedenfalls nicht auf die Dockanlagen zu, sondern ging weiterhin im Schatten der Umfassungsmauer. Er steuerte das Wintertor an, erkannte Yeva mit plötzlicher Dankbarkeit.

Der Krieger verstand sie ganz eindeutig, und er nahm wirklich jedes Wort als Befehl. Keine Kritik seinerseits. Warum regte es sie so auf, wenn Luvon es tat? Weil sie keine Widerworte gewohnt war?

Sie musste herausfinden, was aus Mynco geworden war, wo Renan in all diesem stand. Aber das wollte sie aus einer sicheren Position und Entfernung heraus tun. Verstand Luvon das nicht?

»Gepriesene, du solltest deine Pläne überdenken. Wenn du nun Bentanes Hald verlässt, könnte das als Flucht gedeutet werden.«

»Als Feigheit, ja? Was schlägst du vor? Sollen wir uns quer durch eine brennende Stadt schlagen, um dann dumm an den Molen zu stehen, weil Govils Flotte schon lange Segel gesetzt und das Delta erreicht hat? Weil sie versenkt ist und Renan von Govil tot im Wasser treibt? Willst du mich dieser Gefahr aussetzen?«

»Nein, Gepriesene, aber …«

»Es gibt kein Aber, Luvon. Wir verlassen die Stadt. Im Augenblick habe ich nur dich und ihn, um mich zu verteidigen, falls wir auf Widerstand stoßen.«

»Wir können die Stadt nicht in die Hände deiner Gegner fallen lassen!«

»Das ist schon lange geschehen! Denkst du, wir drei machen einen Unterschied in diesem Augenblick und dieser Nacht? Ich gehe durch die Straßen, und die Feinde fallen auf die Knie und huldigen mir? Sie haben den Palast gestürmt und vielleicht meinen Vetter erschlagen. Warum sollten sie dann vor mir haltmachen? Ich brauche die Generale des Reiches, ich brauche ein Heer!« Und einen Leibwächter, der aufhört, auf meinen Entscheidungen herumzuhacken, der einfach tut, was ich sage. So wie der große Schweigsame da vorne, verdammt.

Er fuhr sich mit einer Hand durch die Haare und sah wirklich verzweifelt aus. Als würde er überlegen, welche weiteren Argumente er vorbringen konnte, um Yeva auf seine Seite zu ziehen. Wahrscheinlich hielt er sie für höchst unvernünftig und dumm.

Sie fühlte Wut in sich brodeln. Solche Behandlung war sie nicht gewohnt. Dem Zeremoniell zu gehorchen und die Ahnen ehren zu müssen, war bislang alles gewesen, was als strenge Richtlinie ihr Leben bestimmt hatte. Doch Luvons offener Zweifel an jedem ihrer Worte machte sie wirklich böse.

Ebenso erzürnte es sie, dass er Renan als ihren einzig möglichen Retter darstellte. Ja, vor wenigen Stunden hatte sie den fremden König ebenso gesehen. Aber er war genau das, verdammt: ein fremder König. Sollte sie sich nicht viel eher auf Bentanes Soldaten und Generale verlassen? War es nicht wichtig, sich erst einmal zurückzuziehen, um aus der Ferne die Schäden und die Lage beurteilen zu können?

Sie hatte doch recht, oder? Sie konnte hier und jetzt nichts zur Rettung der Stadt bewirken.

Sie schrak zusammen, als schlanke Finger sich kalt um ihren Oberarm legten. Sie sah auf und blickte in die brennenden Augen des großen Kriegers. Er schüttelte sacht den Kopf. Was bedeutete das? Wenn er doch nur sprechen könnte!

Vielleicht würde sie ihn dann nicht einmal verstehen. Siebenhundert Jahre waren eine lange Zeit. Die Schrift des Reiches hatte sich verändert, bestimmt war auch das gesprochene Wort von damals anders als heutzutage.

Jetzt sah sie, wie faltig seine Gesichtshaut war. Um den Schädel verschrumpelt, als wäre der Krieger von der Hitze eingetrocknet worden.

Es musste einst ein gutaussehendes Gesicht gewesen sein. Hohe Wangenknochen, ein energisches Kinn. Ein wenig knochig. Aber genau die Sorte Gesicht, die man auf seiner Seite wissen wollte. Passend zu dem Mann, der mit steinerner Miene ruhig im Hintergrund stand und umgehend vorwärtssprang, wenn es nötig war. Kein Schönling, sondern ein Mann, der jedes Wort ernst meinte und zu seinen Eiden stand, auf den Yeva sich blind verlassen konnte.

Eine Gänsehaut überlief sie. Dieses Mal nicht kalt und prickelnd, sondern warm und eine Erleichterung. Ja, sie fühlte sich in der Nähe dieses Kriegers geborgen. Sie vertraute ihm. Er strahlte eine Ruhe und Selbstsicherheit aus, die Luvon im Augenblick vollkommen abging. Eine Gelassenheit und Beständigkeit, die sie in Renan nicht gesehen hatte. Dieser Krieger war anders, und das konnte doch wohl nicht nur daran liegen, dass er tot war.

Sie wollte seinen Namen wissen. Sie wollte erfahren, wie er in das Grab Belrams gelangt war, was ihn befähigte, hier vor ihr zu stehen und sie vor allen Übeln dieser Welt zu beschützen. Und was ihn dazu trieb.

Ein Gedanke tauchte flüchtig auf: War dies Belram persönlich? Vater der Könige?

Nein, unmöglich. Belram würde die Stadt nicht alleine lassen. Aus den brennenden Häusern, aus den umkämpften Straßen würde er die Bewohner um sich scharen und ein Heer aus ihrer Masse schaffen. Er würde seiner Nachfahrin die Ohren langziehen, dass diese an Flucht dachte.

»Nach Tuvone?«, fragte sie, und als Antwort bekam sie wieder das knappe Nicken.

»Das ist doch Wahnsinn. Gepriesene, wir müssen hier und jetzt Verbündete …« Luvon brach ab, als die Kreatur aus dem Grab wieder leise knurrte. Dieses Mal klang es eindrucksvoller als zuvor. Tiefer und eindeutig drohend. Die Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, aus denen im Mondlicht bösartiges Grün funkelte.

»Ich will dich nicht in dein Verderben schicken, Luvon. Sonst würde ich dir jetzt vorschlagen, in die Stadt zu gehen und nach Verbündeten zu suchen, während ich mich nach Winter wende und ein Heer aufstelle, um Bentanes Hald zurückzuerobern. Vielleicht reicht schon eine nahegelegene Garnison, um die Angreifer niederzuschlagen. Wäre ich ein ruchloser Feldherr, würde ich dich mit unmöglichen, wirklich wahnsinnigen Befehlen fortschicken. Hör auf, an meinen Anweisungen zu zweifeln. Renan von Govil ist in allererster Linie ein fremder König. Er wird zuerst an sich denken. Denken müssen! Außerdem will ich nicht in eines Fremden Schuld stehen, was meine eigene Position schwächen würde. Wir gehen nach Tuvone.«

Er ließ die Schultern sinken, schüttelte noch einmal den Kopf, bevor er seine Gestalt straffte. »Wie du befielst, Gepriesene.« Er ließ sie spüren, dass er ihr zu gegebener Zeit, falls sie wirklich einen Fehler begangen hatte, aufzeigen würde, dass er diese Fehleinschätzung der Lage von Anfang an hatte korrigieren wollen.

Seit Belram hatte niemals eine Frau auf dem Thron von Bentanes Hald gesessen. Die vielen Prinzessinnen waren immer nur die eiserne Reserve für den absoluten Notfall gewesen – der niemals eingetreten war. Vielleicht bis zu dieser Nacht.

Der Krieger ließ Yeva wieder los und wandte sich lautlos wie immer um. Nur das ganz leise Knarren des Leders, ein kaum hörbares Klirren der aneinander schabenden Metallplatten war zu vernehmen.

Yeva fiel hinter ihm wieder in Schritt und sah sich nicht um, ob Luvon ihr noch folgte. Irgendwie war es ihr gleichgültig. Götter, vor wenigen Tagen hatte sie noch gedacht, dass sie sich in ihn verlieben könnte. Nun nervte sein Nörgeln sie, die offene Aufsässigkeit zehrte an ihren wenigen Reserven. Ja, vielleicht beging sie einen Fehler. Doch sie glaubte es nicht. Sie war sich sicher, dass der Hüne ihr Einhalt gebieten würde, bevor sie in ihr Verderben rennen konnte. Er gehorchte ihr, aber er konnte nicht dumm sein. Wenn ihr Wohlbefinden sein einziges Anliegen war, würde er Torheiten verhindern, hoffte Yeva, während sie ihm müde nachging.

Rauchgeruch hüllte sie in großen Wolken immer wieder ein. Brennende Häuser, Tempel.

Das Wintertor tauchte gewaltig und scheinbar sicher vor ihnen auf. Doch die großen Torflügel standen offen. Flüchtlinge, die die Stadt verlassen hatten wie Ratten ein sinkendes Schiff? Verräter, die der feindlichen Armee den Weg in die Hauptstadt geöffnet hatten?

Keine Wachen. Der Weg war frei. Yevas Blick flackerte zu dem Hünen an ihrer Seite. Aber die dunkle Miene war vollkommen ausdruckslos.

Sie näherten sich immer weiter dem Kastell, und Yeva bemerkte verärgert, dass ihre Handflächen schweißnass wurden. Dabei hatte der Krieger doch schon bewiesen, mit welcher Übermacht er fertig werden konnte.

Der Hüne durchschritt das Tor gen Winter als Erster, sah sich sichernd um und ging dann langsam weiter, die Hand am Schwertheft.

Luvon griff nach Yeva und hielt sie sanft zurück. Dieses Mal ließ sie es ihm durchgehen. So wie sie schwitzte und zitterte, rechnete zumindest auch ihr Körper mit einer Falle, einem Hinterhalt.

Sie blieben im Schatten des gewaltigen Torbaus stehen, während der stille Krieger ins milchige Mondlicht auf die Straße entlang des Flusses trat. Er blieb stehen, und wieder kam diese merkwürdige Starre über ihn. Der Schwertarm sank hinab. Ein Moment der vollkommenen Stille, dann richtete der Krieger sich wieder auf und gab Luvon und Yeva mit einem knappen Wink zu verstehen, dass sie ihm folgen konnten.

Kein Hinterhalt. Der Weg war tatsächlich frei.

Yeva trat aus der Umfassungsmauer von Bentanes Hald und atmete unwillkürlich auf. So vielem war sie mit diesen wenigen Schritten entronnen. Es war schon beinahe lächerlich. Doch sie hatte alle Mühe, ihre Beine zum Weitergehen zu überreden. Ihre Knie wollten das eindeutig nicht. Diese verräterischen Gelenke wünschten sich offenkundig nichts lieber, als Yeva auf das Straßenpflaster zu befördern. Die Erleichterung war greifbar wie warmer Brei, der sie einhüllte.

Unglaublich, was sich an einem Abend und in einer Nacht ändern konnte. Alles, was ihr als gegeben und in Stein gemeißelt erschienen war, stand mit einem Mal Kopf.

Instinktiv sah sie zum Fluss, ob sie dort als dunklere Schemen gegen das mondlichtbeschienene Wasser die Konturen von Renans Flotte ausmachen könnte.

Renan. Sie hatte keine Ahnung, was sie für ihn empfand. Alles in ihr war leer und kalt – und so müde. Aber der König war ihr freundlich begegnet. Sie mochte seine Augen, sein markantes Gesicht mit der gebogenen Nase, die ihn so kraftvoll aussehen ließ. Die Ruhe, die er verströmt hatte, die Herzlichkeit und Rücksichtnahme.

Ganz anders als Mynco. Sie ertappte sich bei dem innigen Wunsch, dass der ungekrönte König von Bentane wirklich tot war. Dass der Eindringling ihn abgestochen hatte wie das Schwein, das er in ihren Augen war. Er hatte sich angemaßt, über ihr Schicksal und ihre Zukunft zu bestimmen. Er hatte ihr Gewalt angedroht, falls sie seinen Ansprüchen nicht genügen würde. Obwohl es in diesem Reich üblich war, dass der Mann der Frau befahl und über sie entschied, hatten Myncos Worte Yeva mehr erzürnt, als sie es sich bislang eingestanden hatte.

Die Stadt fiel mit jedem Schritt weiter hinter ihnen zurück. Und zumindest schwieg Luvon derzeit und brachte nicht schon wieder seinen Vorschlag vor, zu Renan von Govil vorstoßen zu wollen.

Yeva hatte Sorge, dass sie diesem Drängen irgendwann nachgeben würde, wenn sie noch viel müder wurde. Renans lächelnde Augen, die wie Sterne leuchteten, der Duft seines großen Körpers – das alles war zu einladend und lockend, um dem Drängen ihres Leibwächters auf lange Sicht widerstehen zu können.

Eine leise Stimme fragte sie, warum Luvon dies immer wieder vorschlug. Was an dem Wörtchen Nein verstand er nicht? Er war Leibwächter aus der Garde von Bentane. Besaß er denn gar keinen Stolz, dass er seinen Schützling in die Hände eines fremden Königs geben wollte, statt sich selbst um Yevas Sicherheit zu kümmern? Sie drängte den Gedanken beiseite.

Ja, es wäre wundervoll, sich zu Renan zu flüchten, sich an seine breite Brust zu lehnen und darauf zu bauen, dass er ihr Reich schon befrieden würde.

Wundervoll und weich, schwach und vor allem dumm. Wenn sie sich tatsächlich Hoffnungen auf Renan machte, war es besser, ihm mit geordneten Verhältnissen, der Krone auf dem Kopf und einer Armee in der Hinterhand gegenüberzutreten. Eine starke Verhandlungsbasis, damit sie kein weinendes, schwaches Weibchen war, das sich an eine Heldenschulter flüchtete und dort ausheulte.

Sie war eine Tochter von Belram, verdammt! Und als solche hatte sie einem möglichen Freier gegenüberzutreten.

Sie beschleunigte ihre Schritte, um zu dem stillen Krieger aufzuschließen, der den Weg sicherte und scheinbar überall hinsah, um jede Gefahr auszuschließen.

Mit diesem Wesen war es etwas ganz anderes. Wer auch immer seine Existenz verschuldet hatte, musste im Sinn gehabt haben, einen Beschützer der Königsfamilie zu schaffen. Eine andere Lösung für die Anwesenheit dieses Kriegers fand Yeva nicht.

Götter, er ging ja sogar Luvon an, und der war ihr wirklicher Leibwächter und durch Treue zum Königshaus ausgezeichnet. Niemals sonst hätte der junge Mann die Aufgabe übertragen bekommen, mit Leib und Seele die Sicherheit der Erbprinzessin zu gewährleisten.

Sie sah auf zu dem toten Krieger, nahm jede Einzelheit seines maskenhaften Gesichts in sich auf, die pergamentartig getrocknete Haut, die Form der Ohren, die durch das schüttere Haar zu erkennen waren.

Er sah aus, als hätte er die letzten Jahrhunderte im heißen Sand der Wüste gelegen und wäre dort gedörrt worden.

3.

Leibgarde der Prinzessin

 

Sie marschierten die halbe Nacht die Straße entlang, bis der Hüne auf die Ruine eines Tempels wies, der abseits halb in eine Klippe hineingeschlagen worden war.

Yeva konnte kaum noch die Augen offenhalten. Sie wollte ein Bett. Eine Sänfte. Ihre Ruhe. Die Sandalen von den wundgelaufenen Füßen streifen, sich einrollen und schlafen. Notfalls auf Sand oder Stein. Nur schlafen. Sie hoffte, dass sie dies ohne Störungen tun konnte.

Die Streitigkeiten zwischen ihren beiden Bewachern hatten abgenommen. Luvon war wohl selbst zu müde, um sich mit dem großen Krieger anzulegen.

Erstaunlich, fand Yeva, während sie wieder die Hand des Toten an ihrem Arm fühlte, als der Hüne sie behutsam zur Ruine führte. Sie hatte gedacht, Luvon wäre groß. Aber er reichte nicht an den stillen Krieger heran. Selbst Renan war kleiner und wirkte gedrungener als der Hüne.

Dessen Hand schien nicht mehr so kalt wie Stunden zuvor. Wahrscheinlich war es die eisige Kühle im Palast der Toten gewesen, die Yeva anfangs verspürt hatte. Wenn der Hüne dort jahrhundertelang auf dem Marmor gelegen hatte, musste er ja kalt sein.

Was der fremde König wohl davon halten würde, wenn er sie nun sah? Luvon war ihr nicht einmal zu nahe getreten, hatte sich stets korrekt verhalten. Würde er das auch, wenn der Tote nicht bei ihr wäre? Seine Wandlung vom braven Leibwächter zu ihrem schärfsten Kritiker zermürbte sie. Zuerst hatte sie sich über seinen ständigen Widerspruch nur geärgert. Mittlerweile machte sein mangelnder Respekt ihr ernstlich zu schaffen. Lag es einfach nur daran, dass sie eine junge Frau war, die er beschützen wollte? Oder nervte sie ihn ebenso wie er sie? Bereute er es, mit ihr gekommen zu sein, statt sich im Getümmel des Stadtkampfes einfach abzusetzen?

Sie wusste es nicht, und im Augenblick war es ihr auch völlig gleichgültig. Sie wollte schlafen, von Renan träumen und in Tuvone aufwachen, um glücklich zu erkennen, dass alles nur ein böser, wilder Traum gewesen war. Doch begriff ein kleiner Teil ihres übermüdeten Verstandes, dass solches Hoffen töricht und vielleicht sogar gefährlich war.

Sie schob es auf ihre Erschöpfung, dass sie solche Gedanken hegte. War sie erst ausgeschlafen, konnte sie ihre Lage viel klarer und auch ohne falsche Sentimentalitäten betrachten. Vielleicht erschien ihr dann sogar Luvons Verhalten in einem anderen, freundlicheren Licht.

Willenlos ließ sie sich in den Tempel geleiten und dort in einen Winkel, der windgeschützt lag. Der Krieger nahm ihr das Bündel ab und legte es als Kopfkissen in die kleine Nische, bevor er Yeva in die Ecke drängte.

»Ich bin so müde«, murmelte sie noch und sah ihn nicken.

Dann stand er aus der Hocke wieder auf und ging zu Luvon. Geradewegs und ohne zu zögern. Yeva richtete sich besorgt auf. Wenn der Krieger nun den Leibwächter abstach … Mit einem Mal bekam sie tödliche Angst.

Aber der Große griff nur nach Luvons Umhang und zupfte daran. Sie verstand – Luvon noch nicht gleich. Ein zweites Rucken war notwendig, bis der Leibwächter den stabilen Leinenumhang ablegte und dem Hünen überließ. Luvons Gesichtsausdruck war sehenswert, fand Yeva, die sich dankbar unter dem Stoff zusammenrollte, als ihr großer Krieger sie behutsam zudeckte. Er trat zwei Schritte von ihr weg und fiel wieder auf ein Knie und in diese merkwürdige Starre, in der er stets zwischen zwei notwendigen Handlungen zu warten schien.

Ihre schmerzenden Muskeln entspannten sich, und sofort wurde ihr Geist wieder wacher, drehte sich wie ein Mühlrad um alles, was in den letzten Stunden geschehen war.

Sie richtete sich auf. »Du!«

Er hob den Kopf und sah sie an.

»Ich will wissen, wie du heißt. Kannst du schreiben?«

Er nickte, und sie meinte, Verwunderung auf seinem Gesicht zu sehen. Es war so schwer, irgendetwas an seiner Miene abzulesen. Aber die Augen weiteten sich leicht. Die Brauen kletterten eine Kleinigkeit nach oben. Er sah furchterregend aus, wies trotzdem immer noch einen Hauch seines früheren wahrscheinlich guten Aussehens auf, aber nun war da mehr. Dieses kleine Mehr wärmte Yevas Inneres für einen Moment.

Sie kroch unter der Decke hervor, ignorierte Luvons fassungsloses Starren, in das sich ein stummer Vorwurf mischte, als Yeva den Sand vor dem Hünen mit der flachen Hand glatt strich. Sie suchte nach einem Stöckchen, das der Krieger als Stiftersatz benutzen konnte.

Doch er knurrte nur leise und zeichnete dann mit dem Finger eigenwillige Linien in den Sand. Yeva hatte beinahe befürchtet, dass er das alte Alphabet, die uralten Schriftzeichen, die heute nur noch Priester und Gelehrte entziffern konnten, verwenden würde. Doch so stark und steil die Buchstaben auch wirkten, entsprachen sie doch bis auf vollkommene Schnörkellosigkeit dem, wie noch heute in Bentane geschrieben wurde. Eine Handschrift, die nach der eines Krieger aussah, dessen Wille ebenso stark sein musste wie die Linien im Sand. Beinahe ein stummer Schrei eines dunklen Mannes, der nicht sprechen konnte oder wollte.

Die Linien formten einen Namen, und Yevas Lippen bewegten sich leicht, als sie diesen zuerst einmal lautlos nur für sich aussprach. Wie ein kleines Geheimnis.

Dann holte sie Luft und wiederholte den Namen deutlich hörbar: »Ariz.«

Er nickte und sah sie wieder nur an. Immer noch mildes Erstaunen auf dem dunklen Gesicht.

»Und du warst da unten im Grab von Belram? Ich habe mir das nicht eingebildet, nicht wahr?«

Erst das Nicken, dann das Kopfschütteln.

»Als sein Wächter?«

Ariz zog eine Schulter hoch.

»Als Wächter?«

Er nickte.

»Der Königsfamilie.«

Wieder ein Nicken.

»Gut, er ist also auf deiner Seite, Gepriesene. Das bin ich auch. Ich bin dein Leibwächter. Verrätst du mir deine weiteren Pläne?« Luvon klang ungeduldig. Vielleicht störte er sich an dieser Vertrautheit, an Yevas Interesse an dem Hünen. Oder er war schlichtweg eifersüchtig oder zornig, dass seine bisherigen Ratschläge allesamt in den Wind geschlagen worden waren.

Yeva sammelte die verbliebenen Reste ihrer Geduld. »Das habe ich bereits getan«, antwortete sie sanft und krabbelte wieder unter den wärmenden Mantel. »Und jetzt werde ich schlafen. Ich bin entsetzlich müde. Ich bin keine langen Fußmärsche gewohnt. Ich habe mich noch nie die halbe Nacht in einer Grabanlage aufgehalten und zu Tode gefürchtet. Eine Erfahrung, die ich nicht wiederholen möchte.«

Sie sah es und konnte es kaum glauben: Flüchtig wie der Duft einer Blüte zog ein Lächeln über Ariz’ Gesicht. Was genau er nun erheiternd fand, wusste Yeva nicht. Aber dass er lächeln konnte, gefiel ihr.

 

Ihre alte Kinderfrau hatte die Bilder einen Segen genannt. Yeva hatte ihr niemals zustimmen können. Es waren bunte Schemen in wilder Reihenfolge. Einiges, so war sie sich sicher, zeigte Ereignisse der Vergangenheit. Sie hatte einmal Szenen aus einem Kampf erkannt, und vorsichtige Nachfragen bei ihrem Geschichtslehrer hatten ans Tageslicht gebracht, dass es diese Auseinandersetzung tatsächlich gegeben hatte. Es war Belram der Große und Einzige gewesen, der die Verräter aus der Wüste zurückgeschlagen hatte. Die Kulisse, die Yeva im Traum gesehen hatte, stimmte mit zeitgenössischen Zeichnungen überein, die der Lehrer ihr dann zeigte. Sie war sich sicher gewesen, diese niemals zuvor gesehen zu haben.

Einmal hatte sie geträumt, dass eine Edelsteinkette zwischen den Polstern im großen Saal läge. Am nächsten Tag zerwühlte sie alle Kissen, bis sie tatsächlich die Kette fand. Ein Schmuckstück, das ihrer Mutter gehört hatte.

Doch der rosa Regen oder die Ankunft eines leibhaftigen Drachen aus dem Fluss waren nicht eingetreten.

Im Laufe der Jahre hatte Yeva gelernt, wann diese Bilder sie überfielen: Sobald ihre Gefühle im Tumult waren, sie sich sehr freute oder fürchtete, zu Unrecht von ihren Lehrern gescholten worden war.

Sie entsann sich des Traumes direkt vor dem Angriff auf Bentanes Hald. An Feuer, das die Farbe änderte. Kein Wunder, dass sie in jener Schicksalsnacht von ihren Visionen eingeholt worden war. Aufgewühlt war kein ausreichend starkes Wort, um ihre Gefühlslage zu beschreiben.

Sie kuschelte sich unter dem Mantel zurecht und spürte, wie sie einschlief, wie alle Muskeln sich entspannten, ihr Körper weicher und schwerer wurde. Ein so angenehmes Gefühl, so wohlig und friedlich …

Dann fühlte sie die besondere Dunkelheit in ihrem Inneren aufziehen. Sie schrak zurück, doch sie fiel bereits in Finsternis, von Müdigkeit gezogen, von innerem Aufruhr geschoben.

Sie landete auf Händen und Knien auf einem dicken Teppich, der vor Blut nur so troff. So dicht war sie noch nie gewesen. Noch nie hatte sie derart intensiv in einer Vision ihre Umgebung gespürt.

Dies war Myncos Zimmer. Yeva sah die Vorhänge sich um das große Bett bauschen. Sie stand auf – sie wollte das nicht! Sie tat es einfach! Als ob sie als Beobachterin in einem fremden Körper steckte, der unbedingt nachsehen wollte, wie das Bett aussah. Yeva hatte keinerlei Kontrolle über diesen Leib, konnte den Kopf nicht wenden, die Blickrichtung nicht alleine bestimmen. Ihr Träger ging über den triefnassen Teppich, und Yeva spürte die klebrige Feuchtigkeit an den nackten Fußsohlen, roch das Blut, hörte das feuchte Schmatzen des Untergrundes, wenn ein Fuß aufgesetzt wurde. Sie fühlte sogar das kalte Rot zwischen den Zehen hervorquellen, konnte aber nicht nach unten blicken.

Sie – ihr Träger, wie auch immer – blieb neben dem Bett stehen. Der Wind bewegte sacht die Vorhänge. Das ganze Bett leuchtete in Scharlach.

Dunkelheit umfing Yeva, als sie aus der Vision fiel und zu normalen Träumen flüchten konnte.

Sie hatte keinen Leichnam gesehen. Oft sagten die Visionen nicht die Wahrheit. Doch es war so echt gewesen!

War da der Wunsch der Vater der Bilder gewesen? Götter, bitte, war es so?

 

Yeva erwachte, als der süße Duft von Tee ihre Nase kitzelte. Von Sonnenlicht, das Bilder in Rot und Orange durch die geschlossenen Lider auf ihre Iriden malte, flackernde Zeichnungen im Wind.

Sie schlug die Augen auf und spähte vorsichtig um sich. Keiner der beiden Wächter lag erschlagen im Dreck. Zumindest während ihre Schutzbefohlene geschlafen hatte, hatten sie ihre Feindschaften also nicht ausgetragen. Das war schon viel wert.

Ariz verharrte auf einem Knie unweit ihres Lagers. Weit war der Kopf nach vorne gesunken. Der Hüne sah aus, als wäre er in dieser unbequemen Stellung eingeschlafen. Und doch wusste Yeva, dass der Tote einsatzbereit war und von einem Wimpernschlag zum nächsten aus dieser Starre zu brutaler Kampfaktivität übergehen konnte.

Er war ihr immer noch ein wenig unheimlich, doch verspürte sie mehr, wenn sie über ihn nachdachte. Vieles, das sie verwirrte. Sie schob die Gedanken energisch beiseite. Nicht jetzt. Später, wenn sie in Sicherheit war und sich den Luxus ausgiebigen Grübelns wirklich leisten konnte.

Ebenso bestimmt schob sie auch die Erinnerungen an die nächtliche Vision von sich. Für die gab es sehr viele, sehr gute Erklärungen, die Yeva allesamt für unsinnig hielt. Doch nun war nicht die Zeit, um über Myncos blutiges Schlafzimmer nachzudenken. Falls es denn in Wirklichkeit blutig gewesen war, falls ihr Vetter tatsächlich den Tod gefunden hatte.

Sie sah zu Luvon hinüber, der neben einem winzigen, rauchlosen Feuer kauerte und in den letzten Nachtstunden offenbar irgendwo Lebensmittel, Tee und einen Kessel aufgetrieben hatte.

Er hat mich mit Ariz alleine gelassen.

Eine Gänsehaut überlief sie, doch hätte Yeva gedacht, dass das Grauen sie heftiger schütteln würde.

Sie setzte sich langsam auf, rieb sich den Schlaf aus den Augen, und nur Luvon reagierte auf die Bewegung.

»Guten Morgen, Gepriesene! Ich habe Tee gekocht und auch etwas Brot bekommen. Du musst ausgehungert sein.«

Es klang wie ein Friedensangebot. Sie nahm es dankbar an. Also nickte Yeva und kam ganz unter dem Mantel hervor. Sie streckte sich und fühlte jeden Muskel protestieren. Ihr Winkel hatte in der Nacht gemütlich und einladend ausgesehen. Alleine: Er war es nicht gewesen. Sie hatte noch nie auf nacktem Erdboden geschlafen und hoffte, dass diese Erfahrung ihr zukünftig erspart bleiben würde. Der feine Sand hatte sich anfangs so weich angefühlt, doch während ihres Schlafes hatte er sich in unnachgiebigen Stein verwandelt.

Jeder Schritt tat weh, aber Yeva gab sich Mühe, sich das nicht ansehen zu lassen. Als sie am erstarrten Ariz vorbeiging, hob dieser kurz den Kopf und ließ ihn nur einen Atemzug später wieder sinken.

Sie setzte sich ans Feuer und streckte die klammen Finger über der Glut aus, massierte die Hände, um wieder Gefühl zu bekommen. »Das tut gut«, murmelte sie und lächelte den Leibwächter dankbar an.

Vielleicht war dies wirklich ein Friedensangebot. Hoffentlich hatte die Nacht auch ihm den Kopf geklärt und ihn wieder in ihren verlässlichen, höflichen Luvon verwandelt.

Er hockte im Schneidersitz vor ihr und wartete, bis sie bereit war. Dann reichte er ihr einen Metallbecher, aus dem köstlicher Duft und weitere Wärme aufstiegen. Yeva trank gierig und fühlte, wie ihre Eingeweide nach dem unbequemen Schlaf unter einem dünnen Mantel wieder aufwachten. Es ging ihr rasch besser, und als Luvon ihr eine Brotscheibe reichte, knurrte Yevas Magen vernehmlich.

Sie lachte auf. Froh, am Leben zu sein, glücklich, sich zumindest für den Augenblick sicher fühlen zu können.

Sie hatte Luvon noch nicht im Kampf gesehen, aber er war ein kräftiger Mann, dessen massige Gestalt sie im Palast noch als sehr beruhigend wahrgenommen hatte. Er konnte nicht umsonst in die Garde der Leibwächter aufgenommen worden sein. Er musste schnell und ruchlos sein, falls Yeva in Gefahr geriet. Er musste einfach.

An Ariz im Angesicht ihrer Feinde zu denken, hatte eine leicht berauschende Wirkung auf Yeva. Wie eine große Raubkatze war er zwischen die Gegner gefahren, viel zu schnell, als ob er jede Bewegung vorausahnen, jede Attacke schon im Ansatz, im Gedankengang seines Kontrahenten erkennen könnte. Furchteinflößend. Und sehr beruhigend, ihn in der Nähe und auf ihrer Seite zu wissen.

»Können wir auf der Straße bleiben, oder ist das zu riskant?«, fragte Yeva, nachdem sie das Brot verzehrt und mit Tee nachgespült hatte. Das war ihr Friedensangebot an Luvon: Ihm ein wenig Verantwortung zugestehen und seine Meinung einholen, bevor Yeva eine Entscheidung traf.

Er sah mit seinem freundlichen Lächeln auf. »Wenn wir bei Tag unterwegs sein wollen, sollten wir das nicht auf der Straße tun. Ich war in einem nahegelegenen Dorf. Es ist verlassen. Einige Häuser sind niedergebrannt worden. Ich fürchte, dass man dich sucht, Gepriesene.«

Sie nickte. Dies bestärkte sie in ihrer Überzeugung, dass Mynco tot war. Götter, sie war die Königin! Die erste Königin, die Bentane hatte.

Verstohlen sah sie zu Ariz. Warum war er nicht schon aus dem Grab gekommen, als Mynco ihn brauchte? War der fette kleine Kerl zu weit weg gewesen? Oder hatte Yevas eigener stummer Hilfeschrei an Belram bewirkt, dass Ariz sich erhob und die Mauer durchbrach?

Sie dachte an die schönen Sklavinnen, die ihrem Onkel ins Grab gegeben worden waren. War auch Ariz sterbend, aber noch lebend in die Vorkammer des Grabes geschafft worden? Hatte er sich gewehrt oder in sein Schicksal ergeben? War er noch bei Bewusstsein gewesen, als die ersten Steine gesetzt worden waren?

Eine entsetzliche Vorstellung. Etwas, woran Yeva jetzt besser nicht denken sollte. Sie spürte, wie das Grauen sie zu lähmen drohte, wie Kälte erneut in ihre Knochen kroch, bis diese tot und spröde wurden.

Sie hoffte, dass Ariz tot gewesen war, bevor der Zugang verschlossen worden war – oder zumindest mit Drogen so weit betäubt, dass er nicht wieder erwachte, bevor sein Körper zu atmen aufhörte.

Sie war über sich selbst erstaunt. Die Mädchen hatten ihr leidgetan. Sie hatte die Behandlung barbarisch gefunden. Nun war sie vielleicht bald und theoretisch jetzt schon in der Lage, solche Bräuche verbieten zu können. Aber was, wenn Belram es zu seinen langen Lebzeiten untersagt hätte? Dann gäbe es Ariz nicht. Und dann wäre Yeva nun vielleicht schon tot.

Was sie in diesem Augenblick mehr erschütterte, wusste sie nicht. Doch sie war weit genug von der Hauptstadt und deren Priestern aufgewachsen, um das Unrecht solcher Grabbeigaben zu erkennen und nicht durch Liturgie und Gottesdienste geblendet zu sein. Solche Opferungen endeten nun. Wenn in Hunderten von Jahren deswegen eine ihrer Nachfahrinnen starb, war das so. Doch ihr eigenes Gewissen wollte Yeva nicht mit dieser Art Menschenopfer belasten. Das leise Weinen der todgeweihten Sklavinnen hallte noch in ihr wider. Hätte sie etwas für die Mädchen tun können?

Sie musste die Zähne fest zusammenbeißen, weil Trauer sie überrollte – um Sklavinnen, die sie nicht gekannt hatte, die nach Meinung ihres Onkels ihm für alle Ewigkeit zustanden. Nein, diese jungen Frauen hatte sie nicht retten können. Doch allen, die ihnen folgten, wollte sie helfen und diese barbarischen Bräuche verbieten. Sie atmete tief durch.

Yeva strich sich Haare aus dem Gesicht und nahm ein weiteres Stück Brot entgegen, trank ihren Tee und überlegte, wie sie nun genau nach Tuvone kommen sollte.

Luvon beobachtete sie genau, erkannte sie. Sie wusste nicht, wie viel ihr Gesicht preisgab, dachte sich jedoch, dass der junge Mann schon viel abgelesen haben musste. Er sah so selbstsicher und gelassen aus.

So wunderten seine nächsten Worte sie nicht im Geringsten. »Soldaten – keine von Bentane – ziehen durch die Dörfer. Über Bentanes Hald steht immer noch Rauch. Ich habe keine Flammen mehr gesehen. Vielleicht sind es nur noch schwelende Trümmer. Landbewohner befinden sich auf der Flucht. Wer immer kann, setzt auf die andere Seite des Flusses über. Ich habe zwei, drei große Schiffe gesehen, Teile der Flotte von Bentane. Wenn unsere Schiffe rechtzeitig vom Kai losgekommen sind, besteht die Möglichkeit, dass auch die Flotte von Govil da draußen ist.«

»Zwei oder drei unserer Schiffe – von wie vielen? Und du hoffst immer noch, dass die fünf Schiffe von Govil überlebt haben? Lass mich raten, du möchtest zum Fluss und nachsehen.«

»Das halte ich für eine gute Idee.«

»Jede Unterstützung kommt mir gelegen. Geh zum Fluss. Ariz und ich werden die Uferstraße verlassen und durch das Hinterland weiter nach Winter gehen.«

Luvons Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig. Es wäre beinahe erheiternd, dachte Yeva, wenn sie nicht genau darauf gelauert hätte.

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Ariz den Kopf hob. Bei Tageslicht wirkten seine Augen noch sehr viel eindrucksvoller, wie sie hell und grün im dunklen Ledergesicht strahlten. Keine Sterne oder Edelsteine, wie Yeva angesichts von Renans leuchtenden Iriden gedacht hatte. Ein Flackern wie von Feuer.

Renan … Nein, sie konnte Krieger und König nicht vergleichen. Das wäre unfair. Sie hoffte nur, dass Renan in Sicherheit war.

»Gepriesene!«, brachte Luvon hervor. »Du willst mich fortschicken und nur unter dem Schutz dieser … dieser Kreatur …«

»Entweder das oder wir schlagen uns zu dritt bis zur nächsten Garnison durch. Du willst sehen, was aus Govils Flotte geworden ist. Du willst, dass ich mich unter den Schutz von Renan von Govil stelle. Mir reicht dieser Schutz derzeit nicht. Die wenigen Soldaten, die er mit sich führte, sind keine ausreichend große Heeresmacht, um gegen die nächtlichen Angreifer auch nur den Schimmer einer Erfolgsaussicht zu haben. Die Feinde sind in großer Zahl über uns hergefallen und haben Bentanes Hald überrannt! Eine Stadt, die als gut befestigt und ausreichend bewaffnet galt. Selbst wenn Renan die doppelte Zahl an Soldaten bei sich hätte, wäre das nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Ich brauche ein Heer, um die Hauptstadt meines Reiches zu befreien. Mein Heer, aus meinem Reich. Keine fremden Krieger, die sich für ihre Hilfe eine Belohnung erhoffen. Keine Söldner, sondern Männer von diesem Grund und Boden.«

Sie stand auf, klopfte Staub von ihrem Hosenkleid und sah hinab in das verblüffte Gesicht des Soldaten. Er war noch so jung, dachte sie belustigt, obwohl sie leicht abschätzen konnte, dass er deutlich älter war als sie. Er war ein Kind einfacher Leute, ein Bauernsohn. Und soeben hatte er das zweifelhafte Vergnügen einer erstaunlichen Erkenntnis gehabt.

Yeva war keine kleine Prinzessin, die blind auf Ratschläge vertraute. Sie war keine zitternde Frau, die Schutz an einer breiten Brust suchte – gehörte diese Brust nun Luvon, Renan oder Ariz.

Niemals war Yeva für die vor ihr liegende Aufgabe vorbereitet oder ausgebildet worden. Aber sie war nicht dumm – und nicht ängstlich. Vor ihr lag Arbeit, und mit der Hilfe der Götter, dem Segen Belrams und zwei hochgewachsenen Leibwächtern hatte sie die Möglichkeit, diese neuen Aufgaben anpacken zu können.

Sie trank ihren Tee aus und sah dann Luvon an. »Kommst du mit mir, oder willst du hier nach Unterstützung suchen?«

Sie hatte das sichere Gefühl, dass Ariz’ Körper sich anspannte wie kurz vor dem Sprung. Als ob der stille Krieger auf die Antwort lauerte. Sie hoffte mit einem Mal, dass Luvon sich weiterhin ihr anschließen würde. Er war ihr in den letzten Stunden lästig gewesen. Die Diskussionen und seine Zweifel hatten sie angestrengt. Doch immerhin lebte er.

»Meine Aufgabe ist es, dich zu beschützen. Ich höre nicht jetzt damit auf, Gepriesene. Es wäre eine Fahnenflucht, die sich nicht mit meiner Ehre und meinem Eid vereinbaren lässt. Wenn du mich weiterhin an deiner Seite wünschst.«

Sie nickte nur und hoffte, dass er ihr die Erleichterung nicht ansah. Sie wollte dem Selbstbewusstsein dieses jungen Mannes keinen weiteren Grund geben, auf einen Höhenflug zu gehen. Er sollte sich nichts einbilden. Das war ihr ebenso wichtig wie die Tatsache, dass sie nicht alleine mit Ariz durch das Hinterland schlich, bis sie eine Garnison alarmieren konnte.

»Darf ich deine Sachen tragen?«, bot Luvon an, während er die restlichen kargen Vorräte und auch den Becher in einem kleinen Tragkorb verstaute.

»Nein. Und auch den Korb wirst du nicht tragen. Du und Ariz seid meine Leibwächter – nicht meine Packesel. Im Gefahrenfall ist es sinnvoll, dass ihr die Hände freihabt, um zu den Waffen greifen zu können.«

Sie nahm den Korb an sich, ging in den kleinen Winkel, rollte Luvons Mantel auf und stopfte ihn in ihren Leinensack. Zuoberst legte sie die Vorräte und konnte so den Korb zurücklassen.

Es knirschte und klirrte leise, als Ariz aufstand, seine Rüstung und Bewaffnung knapp kontrollierte und dann zum halbeingebrochenen Tempeleingang ging, um nach draußen zu spähen.

Yeva sah, wie es in Luvons Gesicht arbeitete, wie seine Muskeln sich anspannten, während er auf den breiten Rücken des toten Kriegers starrte.

Eifersucht? Angst? Männliches Imponiergehabe? Alles war möglich, und Luvon war jung genug, dass er unter all diesen Gefühlen auf einmal leiden konnte.

Yeva war überrascht, wie einfach es ihr mit einem Mal schien, wirklich klar zu denken. Keine Verzweiflung mehr, dass sie nach Hause wollte wie ein heimwehkrankes Kind. Keine verrückten Gedanken mehr, wie sie Mynco und seinen Plänen entkommen sollte. Ein Schritt nach dem anderen. Danach noch einen und noch einen, bis sie ein Teilziel erreicht hatte. Es sah ganz einfach aus, und ihr Weg zeichnete sich klar vor ihr ab.

Ariz trat nach draußen, und Yeva folgte ihm dichtauf.

Eine leichte Brise schlug ihnen entgegen, und zum ersten Mal seit seinem urplötzlichen Auftauchen im Palast der Toten konnte Yeva Ariz riechen.

Es war ein sanfter, trockener Geruch. Ein wenig Erde, dazu der Duft von Räucherwerk und verdorrten Blumen. Leder von seiner Rüstung. Unter all diesen angenehmen Aromen lag dunkel wie die Verheißung von Blut und Gewalt ein bitterer Hauch, den Yeva spontan mit dem Gestank verbrannter Knochen verband.

Zauber und trockene Hitze im Grabmal hatten ausgereicht, den Körper in der Rüstung auszutrocknen und über Jahrhunderte zu erhalten. Eine gewisse Verwesung musste trotz allem stattgefunden haben, und Yeva war sich sicher, dass sie diese nun roch, während der milde Wind vom Fluss über den Körper des Toten strich und diese Geruchsmischung zu Yeva trug.

Wie alt mochte er gewesen sein, als er seinem König in dessen Grabkammer folgte? Stammte er aus Bentane, oder war er ein Kriegsgefangener, der solcherart zu ewiger Treue zum siegreichen Volk gezwungen worden war? Ein Sklave? Nein, er musste schon vor seiner Einschließung im Grab ein Krieger gewesen sein. Zu selbstverständlich ging er mit Waffen um, zu knapp waren seine Bewegungen eben gewesen, als er die Rüstung überprüft hatte. Vor allem aber: Zu furchterregend war er im Kampf!

Ein großer Krieger, der zum Lohn für seine Leistungen im Grab seines Königs sterben musste. Sie empfand Mitleid für ihn. Eine neue, ungewohnte Gefühlsregung in Bezug auf diesen stillen Hünen.

Dann setzte er sich in Bewegung, und Yeva beeilte sich, hinter ihm herzulaufen. Natürlich, ein so hochgewachsener Mann hatte lange Beine, und wenn er nicht auf eine kleine Prinzessin achtete, würde er sie rasch abhängen. Sie lächelte. Wie gut, dass er ihr Beschützer war.

Sie hielt mit ihm Schritt, wusste aber, dass sie diese Geschwindigkeit nicht lange durchhalten konnte, zumal Ariz fort vom Fluss, weg von der Straße Kurs auf das hinter der Klippe liegende Land nahm.

Yeva musste ein wenig klettern und den Aufstieg in der Flanke des Felsens bewältigen. Ungewohnt, aber trotzdem machte es ihr irgendwie Spaß. Es war ein Abenteuer wie ihre Ausflüge in die Umgebung der Festung von Tuvone. Wie gerne war sie ihren Lehrern entwischt und hatte auf eigene Faust die Wälder erkundet. Nur dann hatte sie das Gefühl gehabt, wirklich zu leben, frei atmen zu können.

Dieses Abenteuer kann tödlich sein, kroch ein eiskalter Gedanke in ihre Wirbelsäule. Dies ist kein Spaß, kein Streich, den du deinen Bewachern spielst. Nur diese beiden stehen zwischen dir und den Angreifern. Sieh zu, dass du Schwäche eingestehst, bevor sie zu einem ernstlichen Hindernis wird, über das dich selbst ein Riese wie Ariz nicht heben kann. Spar dir die Streitereien mit Luvon. Du hast keinen Atem und vor allem keine Zeit zu verschwenden.

Sie nickte, wie um sich selbst zu bestätigen, dass sie all diese Weisheiten verinnerlichen wollte. Es würde mitunter schwer werden, das war ihr klar. Doch ihre Gedanken flossen so frei und klar, dass es eine Wohltat war. Als hätte sie zusammen mit den schweren Kleidern und alten Schmuckstücken auch eine Art Benommenheit abgeschüttelt. Die nächtlichen Visionen waren seit Myncos Antrag ihre ständigen Begleiter, doch selbst diese Bilder erschienen Yeva deutlicher. Als ob die Träume ein ganzes Leben lang gewartet hatten, um endlich verständlich zu sprechen.

Sie stieg eine steile Kante hinauf, und oben stand schon Ariz, beugte sich zu ihr herab und zog sie das letzte Stück nach oben. Seine Hand war ganz eindeutig wärmer als in der Nacht davor. Yeva spürte die harten Schwielen, die er vom Umgang mit dem Schwertheft zu Lebzeiten davongetragen hatte. Seine Finger fühlten sich knochig und hart an. Und doch war sein Griff fest und beruhigend und ganz und gar nicht grob. Sie kam sicher auf die Füße. Dann sah er sich wieder um, nickte und ging weiter.

Sie rannte, um neben ihn zu gelangen und zumindest ein Stückchen neben ihm gehen zu können – laufen war die korrektere Beschreibung.

Im hellen Tageslicht konnte sie erheblich mehr Einzelheiten an ihm ausmachen. Beinahe mehr, als ihr lieb war. Sie nahm die Feinheiten seiner Rüstung in sich auf, die trockene Haut, die an dünnes Leder oder Pergament erinnerte. Die losen Hautfetzen an seinem Hals, wo es fast aussah, als hätte Ariz dort eine Schnittwunde davongetragen.

Sie fiel wieder zurück, da er seine Geschwindigkeit nicht drosselte. Sie konnte solcherart nicht den ganzen Tag durchhalten! Offenkundig wünschte er keine Gesellschaft und sah sich selbst als eine Art Kundschafter. Da mochte es wirklich Absicht sein, dass er so schnell ging, um Yeva auf ihren Platz hinter sich zu verweisen.

Das hätte er ihr auch anders mitteilen können!

Statt des toten Kriegers kam nun Luvon an ihre Seite und passte seine Schritte ihren an. »Gepriesene, wenn du eine Rast benötigst, musst du es nur sagen.«

»Ich weiß«, gab sie knapp zurück, was der Anstrengung geschuldet war. Sie hatte einfach keinen Atem zu verschwenden.

Luvon hob den Kopf und warf dem breiten Rücken vor ihnen einen dunklen Blick zu. »Er sichert den Weg. Ich hoffe, er kann sich noch soweit an sein eigenes menschliches Dasein erinnern, dass er weiß, wann er Rücksicht nehmen muss.«

»Sonst werde ich ihn erinnern«, verkündete Yeva schnaufend.

Sand drang in ihre offenen Sandalen ein und rieb zwischen Lederriemen und Haut. Vielleicht wäre es besser, wenn Yeva wieder barfuß liefe. Allerdings hatte sie das Gefühl, dass der Sand schon jetzt sehr warm war. Konnte man sich die Füße an heißem Sand unter Sonnenglut verbrennen? Sie wollte das nicht herausfinden müssen. Doch bevor sie sich in den Schuhen Blasen lief, würde sie eher auf bloßen Sohlen über heißen Boden gehen.

Sie warf einen raschen Seitenblick zu Luvon. Vielleicht würde der Mann sie tragen. Dienstbeflissen und besitzergreifend genug war er dazu. Aber eigentlich wollte sie das doch gar nicht. Weder von Luvon und schon gar nicht von Ariz. Es würde unter anderem auch bedeuten, eine Schwäche zuzugeben. Eine Pause zu erbitten, war etwas anderes, befand Yeva und ärgerte sich über ihre eigene Logik.

Also biss sie die Zähne zusammen und stapfte weiter, während sich der Abstand zu Ariz vergrößerte. Er hielt auf die Rückseite der Felsflanke zu. Dort würde der Boden fester sein, hoffte Yeva. Und vielleicht warfen die hochaufragenden Steine auch Schatten. Der wäre ihr sehr willkommen.

Die ferne Gestalt hielt an, als sie die Felsausläufer erreicht hatte. Yeva kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Ariz verschmolz beinahe mit seiner Umgebung. Es musste der leicht staubige Zustand sein, in dem er sich befand. Alles an ihm war sandig und wie mit feinem Puder überzogen.

Sie hoffte mit einem Mal voller Mitgefühl, dass er die siebenhundert Jahre wirklich verschlafen hatte – oder was untote Krieger sonst so taten, wenn sie nicht gebraucht wurden. Seine starren Phasen zählte sie dazu. Doch er reagierte, wenn sie ihn ansprach, war also nicht vollkommen der Welt entrückt. Sie betete, dass er im Grab in einem Zustand der Unkenntnis und des Unbewussten gelegen hatte. Sonst wäre er doch gewiss nach so langer Zeit irrsinnig geworden, nicht wahr?

Langsam schlossen sie zu ihm auf. Er stand da wie eine Statue, den Blick in die Ferne gerichtet. Als Yeva endlich auf festen Boden trat, nickte Ariz knapp und übernahm dann wieder die Führung – in deutlich gemäßigterer Geschwindigkeit. Yeva war dankbar dafür.

Luvon war während des Marsches über heißen Sand auffällig still geworden. Wahrscheinlich war er ebenso erschöpft wie sie. Sein Gesicht wirkte angespannt, als ob er Schmerzen hätte oder angestrengt nachdenken würde.

Ariz hielt an, als der Weg zwischen zwei hochaufragenden Felsbrocken enger wurde. Eine überhängende Felswand spendete tatsächlich Schatten.

Yeva trat unter das Sonnendach und atmete auf. Als Erstes zerrte sie die Sandalen von ihren Füßen, bevor sie sich hinsetzte und gegen einen Stein lehnte. Sie musste sich Schweißtropfen von der Stirn wischen.

»Ich halte dieses Herumschleichen für Schwachsinn«, sagte Luvon unvermittelt.

Ariz‘ Kopf ruckte zu ihm herum, und auch Yeva sah verwundert auf.

»Wir werden im Hinterland verdursten, bevor wir auch nur einer Garnison nahekommen. Und ich möchte wetten, dass wir da niemanden mehr vorfinden. Prinzessin, Renan von Govil würde dir helfen …«

»Ich will nichts mehr von Govil hören!«, sagte sie so beherrscht wie möglich.

»Weib, wen interessiert deine Meinung?«, spuckte er aus.

Yeva sah Stahl aufblitzen und sprang auf die Füße, einen Warnschrei in der Kehle.

Was auch immer sie vorgehabt hatte – sich zwischen die Männer zu werfen, Luvon ihren Reisesack an den Kopf zu schleudern: Sie kam zu spät.

Ariz’ Gesicht verzog sich zu einer ungläubigen Maske, als der Dolch mit einem Knirschen die Rüstung durchschlug oder zwischen den Panzerscheiben hindurch glitt, in seine Brust eindrang und bis zum Heft versank.

Das grüne Flackern in seinen Iriden verblasste. Seine Knie gaben nach. Er ging wie ein riesiges, knochenloses Bündel zu Boden und schlug krachend auf.

Fast erwartete sie, dass er zu Staub zerfallen oder trotzdem Blut aus der Wunde schießen würde.

Aber er lag nur still da – doppelt tot.

Mit gewaltiger Kraftanstrengung riss sie den Blick von Belrams Wächter und starrte Luvon an. »Warum?« Es war nur ein heiseres, entsetztes Flüstern, und Yeva hasste sich selbst für diese offenkundige Schwäche. Luvons Angriff auf Ariz machte ihr nicht halb so viel Angst wie die plötzlich auflodernde Wut des jungen Mannes.

Seine nächsten Worte trafen sie wie Peitschenhiebe und öffneten ihr zumindest zum Teil die Augen. »Du wolltest ja nicht hören! Renan von Govil wartet auf dich. Wie deutlich sollte ich es noch sagen?« Er kam mit langen Schritten auf sie zu und packte sie am Handgelenk.

»Lass mich los! Wie kannst du es wagen?« Auch das allzu schwächlich. Dass Luvon ihr nicht länger gehorchte, hatte er doch deutlich genug gemacht. Aber in ihrer plötzlich auflodernden Furcht konnte Yeva an nichts anderes als den Affront denken, dass ein weit unter ihr stehender Mann sie festhielt – und ihr wehtat!

»Halt die Klappe. Ich kann dich auch niederschlagen, wenn du Zicken machst.«

Diese Drohung von einem Mann, der sie unter Einsatz seines Lebens zu schützen hatte, verschlug Yeva den Atem. Sein Griff war grob und viel zu fest. Sie versuchte vergebens, sich loszureißen.

Sie trat ihm gegen das Schienbein, und als er ausholte, um sie zu ohrfeigen oder wirklich bewusstlos zu schlagen, duckte sie sich und biss in die Hand, die ihren Arm so fest umspannte.

Luvon stieß einen Fluch aus, schüttelte Yeva und wollte bestimmt eine Beleidigung ausspucken, als er erstarrte und über Yevas Schulter stierte.

Er schluckte krampfhaft. Sein Kehlkopf tanzte in seinem Hals. Die Augen weiteten sich, bis sie aus den Höhlen zu treten drohten.

Yeva nutzte die Gelegenheit, ihm erneut vor das Schienbein zu treten. Sie krümmte die Finger und wollte ihrem angeblich so treuen Leibwächter die Fingernägel durch das Gesicht ziehen, als eine braune Hand an ihrem Kopf vorbeischoss und sich wie eine Stahlklammer um Luvons Kehle legte.

Ein tiefes Knurren – keine erboste Katze mehr, ein riesiges Raubtier, das direkt vor dem Kehlbiss stand – erklang hinter ihr und füllte ihre Wirbelsäule mit Eiseskälte. Yeva bekam keine Luft mehr. Alles in ihr erstarrte vor Entsetzen, Schrecken … und Erleichterung.

Luvon gab ein ersticktes Röcheln von sich und ließ Yevas Arm endlich los.

Sie sprang einen Schritt zur Seite, um zwischen den beiden Männern fortzukommen. Ihre Beine wollten sie kaum noch tragen. Ihr Herz raste ganz oben in ihrer Kehle und schnürte ihr die Luft ab.

Das Dolchheft ragte immer noch aus Ariz‘ Brust. In dem maskenartigen Gesicht stand blanke Mordlust. In den Augen brannte grünes Feuer.

Luvons Gesicht verfärbte sich bereits bläulich. Er hielt die Hände in Ariz’ Handgelenk verkrallt und konnte diese braune Hand doch nicht von seiner Kehle reißen. Unter den starken Fingern bildeten sich dunkelviolette Schatten.

Yeva holte hechelnd Luft und nahm all ihren Mut zusammen, bevor sie die Hand ausstreckte und auf Ariz’ Oberarm legte.

Er wandte den Kopf und starrte sie an.

»Ich habe Fragen an ihn«, sagte sie mühsam beherrscht. Sie hatte tausend Fragen, doch sie musste sich anstrengen, auch nur eine einzige zu erhaschen, die sie Luvon stellen wollte. Es war so wichtig, doch ihr Verstand befand sich in vollkommenem Aufruhr. Sie wollte weglaufen und sich verstecken. Nicht hier bleiben und Fragen stellen, deren Antworten sie nicht hören wollte. Ariz machte ihr entsetzliche Angst.

Sie war sich nicht sicher, ob sie wirklich eine Reaktion und Gehorsam von ihm erwartete. Immerhin war er soeben von Luvon abgestochen worden. Konnten Tote Wut und Lust auf Rache empfinden? Wenn ja, dann standen Yevas Aussichten schlecht, auch nur eine einzige Frage an einen lebenden Luvon zu richten.

Ariz knurrte leise, wobei er zum ersten Mal die Zähne entblößte – ebenmäßig, erdbraun verfärbt. Die glitzernden Augen verengten sich einen Herzschlag lang, dann ließ der Hüne Luvon ohne Vorwarnung los.

Der Leibwächter ging aufkeuchend zu Boden. Bevor er sich auch nur regen konnte, stellte Ariz ihm einen Fuß auf den Brustkorb und zog das Schwert, dessen Spitze nach einem sehr knappen Bogen genau vor dem Gesicht des jungen Mannes verharrte.

Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte diese Präzision Yeva fasziniert. Jetzt stand sie nur still da, fühlte das sanfte Vibrieren von Ariz’ Muskeln durch den Rüstungsärmel.

Luvon lag zitternd still. Viel Luft konnte er durch seine malträtierte Kehle nicht bekommen. Jeder Finger des toten Hünen zeichnete sich als blauroter Schatten an seinem Hals ab.

Yeva wagte nicht, die Hand von Ariz’ Arm zu nehmen. Trotzdem trat sie einen winzigen Schritt vor. »Ich höre.«

Luvon starrte sie an, als hätte er nicht richtig gehört. Dann verzog ein hässliches Grinsen sein Gesicht.

Götter, sie hatte gedacht, dass sie sich in sein Lächeln verliebt hätte. Aber diese Grimasse hatte nichts mit jenem ersten, jungenhaften Lächeln mehr gemein.

Sie wollte wissen, was diesen Mann so korrumpiert hatte. Warum er einen Wunsch Renans höher einstufte als die erklärte Absicht seiner rechtmäßigen Königin, nach Tuvone heimzukehren. Warum er den Wächter Belrams angegriffen hatte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739443287
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Februar)
Schlagworte
Treue Krieger Kampf Heroic Verrat Held Romance Liebe Königin Romanze Fantasy

Autor

  • Tanja Rast (Autor:in)

Geboren 1968 als echte Kieler Sprotte im nördlichsten Bundesland, wohne ich mit vielen Tieren auf dem Land. Nun habe ich neben meinen bisherigen und zukünftigen Verlagsveröffentlichungen das Abenteuer Selfpublishing für mich entdeckt. Ich schreibe Fantasy in allen möglichen Richtungen: Urban, Geistergeschichten, Gay Romance und Heroic Romance („Schmachten & Schlachten“, wie ich dieses Subgenre mit einem Augenzwinkern nenne) und noch viel mehr.
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Titel: Ariz