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Für eine Nacht und einen Kuss

von Andrea Ego (Autor:in)
50 Seiten

Zusammenfassung

Nach einem Schicksalsschlag will Mia das Leben in vollen Zügen geniessen. Wohin es sie auch verschlägt, sucht sie stets Erlebnisse, die sie erfüllen und ihr Herz zum Tanzen bringen. Gegen Ende ihres Sommerjobs trifft sie ausgerechnet auf Christian, der als Gründer eines IT-Start-ups einen Erfolg nach dem anderen feiert und kaum eine Minute Freizeit zur Verfügung hat. Fasziniert voneinander verbringen sie eine Nacht unter freiem Himmel und verlieren sich aus den Augen, doch vergessen kann sie ihn nicht.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Eins

Ich schloss die Augen und sog die Spätsommerluft tief in meine Lunge. Sie roch nach warmer Erde und unter meinen Füssen brechenden Tannennadeln. Die Sonnenstrahlen fielen auf mein Gesicht, die Äste über meinem Kopf spielten damit und malten bizarre Muster auf meine Haut und den Waldboden.

Meine Schultern entspannten sich, ich atmete befreiter. Ein paar Minuten hatte ich noch, bis ich wieder umkehren und zur Arbeit gehen musste. Die Stunde direkt nach dem Mittagsandrang war herrlich.

Ich setzte mich auf den Baumstumpf, den ich vor Wochen als meinen Sitzplatz auserkoren hatte. Er strahlte die Wärme des Tages aus, die den Hochsommer trotz der erhöhten Lage in den Bergen spürbar machte. Ich liess den Labrador-Mischling Rudolf von der Leine. Ohne zu zögern, sprang der betagte Hund auf den kristallklaren See zu, um ein paar Schlucke zu trinken und sich mit den Vorderpfoten ins kühle Nass zu stellen. Der See mass kaum zweihundert Meter im Durchmesser, doch sein hellblaues Wasser und die unberührte Natur rundherum zogen mich jeden Tag aufs Neue in ihren Bann.

Ich liebte meinen Platz.

Gedankenverloren beobachtete ich den Rüden, wie er die Libellen in ihrem Flug fixierte. Einmal sah es ganz danach aus, als wollte er einer nachspringen, aber er erinnerte sich noch früh genug an seine müden Gelenke. Ein Lächeln huschte mir übers Gesicht.

Nur noch ein paar Minuten, ehe mich der Stress der Welt wieder begrüsste. Nur wenige Schritte, die mich von all den Touristen trennten, die bald ihren Kaffee mit Kuchen bestellten, ein Eis für ihre Kinder, den warmen Apfelkuchen mit Vanillecreme, für den sogar ich eine besondere Schwäche hatte. Die Spaziergänge mit dem Hund meiner Chefin waren der Ausgleich, den ich brauchte. Jeden Nachmittag nach dem grössten Mittagsrummel kamen wir hierher, egal, ob die Sonne schien oder der Regen in Bindfäden aus dem Himmel schoss.

»Rudolf, komm her, mein Junge!« Der braune Rüde sah mich mit seinen treuen, schwarzen Augen an, zögerte einen Moment, trottete dann aber friedlich zu mir. Ich wuschelte ihm durch das struppige Fell. »Wir müssen los.«

Ich erhob mich, klopfte mir den Rock sauber und machte mich auf den Rückweg. Mein Blick folgte dem Ufer, bis er an einer Gestalt unter der mächtigen Tanne hängen blieb. Rudolf und ich versteckten uns dort, wenn der Regen kein Einsehen mit uns haben wollte.

Der Mann sass in einem Campingstuhl, einen Laptop auf dem Schoss. Mit schnellen Fingern hackte er auf die Tastatur ein, als wäre sie eine Zwiebel, die er in winzige Stücke hauen musste.

Ich schmunzelte. »Soll ich ein Hackbrett bringen?«, rief ich ihm zu.

Er drehte sich zu mir um, als hätte ich ihn erschrocken, dann eroberte ein geschäftiges Lächeln sein Gesicht. Geduldig wartete er, bis ich in Hörweite stehen blieb. »Gern. Wenn Sie denn gut spielen können.« Ein Zwinkern erhellte seine Augen. Von den kastanienbraunen Haaren wagte sich kein einziges an einen falschen Platz, die Lippen waren schmal und der Kiefer breit.

Ich stemmte die Hände in die Hüften und nickte ihm zu. »Ihre Tastatur hört sich auch nicht gerade sehr musikalisch an.«

»Oh, musikalisch bin ich nicht.« Offensichtlich hatte er ein Einsehen mit mir und klappte den Laptop zu. »Aber das muss ich auch nicht sein, dafür gibt es ja Noten. Man weiss, wie lange ein Ton sein muss, wie er klingen soll. Das ist wie beim Kochen. Ein halbes Kilo Mehl, drei Eier … Alles ist definiert.«

»Ist das nicht eine traurige Denkweise?«, entfuhr es mir, ohne dass ich es geplant hatte. Der Mann kam mir bekannt vor, vermutlich hatte er schon etwas bei mir be­stellt. Aber am Bergkiosk kamen und gingen so viele Leute, dass ich mir unmöglich alle Gesichter merken konnte.

Der Gedanke an die Arbeit erinnerte mich daran, dass sich Kinder auf ein Eis und ihre Eltern sich auf ihren Espresso freuten. Ich warf einen Blick in die Richtung, in der die dunkle Holzhütte mit einfacher Küche und winzigen Räumen lag. Meine Chefin wartete auf mich und wahrscheinlich noch sehnlicher auf Rudolf.

»Es ist unsere Zeit«, antwortete er mechanisch lächelnd auf meine Frage. »Um sechs stehen wir auf, duschen, lassen die Maschine unseren ersten Kaffee machen. Wir nehmen den Bus, fahren ins Büro, arbeiten, essen, arbeiten. Gehen nach Hause und warten, bis wir ins Bett fallen.«

Mit jedem seiner Worte wurde mir schwerer ums Herz. Ich schluckte den Kloss in meinem Hals hinunter, darauf hoffend, dass er sich schnell wieder verzog. Auch ich hatte einmal in dieser Maschinerie gelebt, es war noch gar nicht so lange her. Aber jetzt …

Ganz leicht schüttelte ich den Kopf und zwang mich zum fröhlichsten Lächeln, das ich auf meine Lippen zu locken vermochte. »Gegessen habe ich, jetzt will gearbeitet werden«, erwiderte ich als Anspielung auf seine Aussage. Ich nickte ihm knapp zu und verliess die Tanne und den Ort der Ruhe fluchtartig.

Ich wollte nicht wieder daran erinnert werden.

***

»Gern mit Sahne?«, fragte ich das Mädchen, das mich mit grossen Augen hinter der dicken Brille anstarrte, als wäre ich der Erzengel Gabriel höchstpersönlich. Ich wusste nicht so recht, ob sie die Augen wirklich so weit aufgerissen hatte oder ob die Gläser ihren Beitrag dazu leisteten.

Das Zahnspangenlächeln verbreiterte sich zu einem Strahlen. »Au ja!«

Ob ihrer Freude musste ich innerlich lachen. Ich wollte das Mädchen nicht verunsichern, also behielt ich meine Freude für mich, spritzte extra viel Sahne darauf und erntete noch einen begeisterten Blick aus grossen, glänzenden Augen.

Die Mutter bezahlte für das Eis und die Cola. Ich sah dem Mädchen zu, wie sie ihren Eisbecher an der Seite ihrer lächelnden Mutter balancierte und an ihren Tisch brachte.

»Da haben Sie ihr aber eine Freude gemacht«, durchbrach eine tiefe Stimme meine Gedanken.

Ich räusperte mich und wandte mich dem nächsten Gast zu. Nur noch wenige Minuten, dann war es fünf Uhr, und ich hatte Feierabend. Da ich hinter dem Mädchen und ihrer Mutter niemanden gesehen hatte, rechnete ich nicht mit weiteren Gästen. Viele waren bereits auf dem Heimweg oder luden die Wanderschuhe in ihre Autos, um in die Täler und ihre Wohnungen zu hetzen, damit sie morgen in ihren Büros arbeiten gehen konnten.

Der Mann von heute Nachmittag blickte mich fröhlich an, unter dem Arm trug er seinen Laptop und einen Thermobecher. Mit dem Zahnspangenstrahlen vor meinem inneren Auge lachte ich auf.

»Wow!«

Erschrocken hielt ich inne. »Was wow?«

»So ein Lachen habe ich schon lange nicht mehr gehört.« Der fremde Mann senkte den Blick und starrte auf seine Hände.

Ich sah ihn einen Moment überrumpelt an, dann wagte sich ein Lächeln auf meine Lippen. »Danke schön.« Ich freute mich wirklich über das Kompliment. Jedenfalls hoffte ich, dass es eines war. »Möchten Sie etwas trinken? Oder ein Dessert vielleicht?«

Überrascht sah er auf, blinzelte, lächelte. Er entspannte sich zusehends, die Schultern lockerten sich. »Einen Kaffee, bitte.«

Ich wandte mich unserer uralten Maschine zu, die aber den herrlichsten Kaffee brühte, den ich kannte. Eigentlich war ich keine Kaffeetante, aber bei diesem Duft konnte nicht einmal ich widerstehen.

»Mit Zucker oder Milch?«

»Ach herrje, Milch und Zucker.« Mit einem gespielten Kopfschütteln zog er seinen flach gesessenen Geldbeutel aus der Hosentasche. »Nein, der Kaffee bleibt brav, wie er ist: schwarz.« Er zwinkerte mir zu, scheinbar wieder ganz der Alte.

»Das geht aufs Haus«, winkte ich ab.

Er hielt in der Bewegung inne und zog die Augenbrauen hoch. »Für ein Kompliment rücken Sie einen Kaffee raus?«

Ich hielt seinem Blick stand, stützte mich mit den Armen auf die Arbeitsplatte zwischen uns und liess mir einen Moment Zeit mit der Antwort. »Sie tun mir leid. Sie müssen so viel arbeiten.« Ich gab mir Mühe, den Stachel in den Worten mit einem Lächeln abzustumpfen.

Der fremde Mann, der mir so gar nicht mehr fremd vorkam, sah auf die Uhr, tat überrascht und schlürfte eiligst einen Schluck Kaffee. »Tut mir leid, ich muss …« Er wandte sich halb ab, drehte sich mit einem Lachen wieder mir zu und trank nun ganz in Ruhe einen Schluck Kaffee. »Sie sind auch am Arbeiten.«

»Noch eine Minute.«

Er legte den Kopf schief. »Sie zählen also jede Minute, die Sie arbeiten?«

Ich nickte und versuchte, die finsteren Gedanken zu vertreiben, aber das war gar nicht so einfach. Jedes Mal, wenn ich an den Herbst damals dachte, an meine Einstellung zum Arbeiten … Ich hatte eine Kehrtwende gemacht. »Das Leben ist zu kurz, um die wenige Zeit, die es uns bietet, nur mit Arbeit zu verschwenden«, erwiderte ich knapp und beugte mich nach vorn, um die Fensterscheiben mit den rot-weiss-karierten Vorhängen zuzuziehen. Ich war sowieso schon spät dran.

Er stoppte die Scheibe mühelos mit einer Hand. »Ein Vorschlag: Ich schreibe noch kurz zwei E-Mails und lade Sie dann zum Abendessen ein.«

Ich starrte ihn an, völlig überrumpelt von seinem Vorschlag. Nein, es war eine Einladung. Eine Einladung. Wie lange war es her, seit mich jemand eingeladen hatte?

Ich schluckte und setzte ein möglichst überzeugtes Lächeln auf. »Gegenvorschlag: Sie lassen das Teil da ausgeschaltet«, entgegnete ich mit einem bezeichnenden Blick zum Laptop, »und ich suche in der Küche ein paar Knabbereien zusammen, und wir gehen zum See.«

Er wirkte etwas überfordert, vielleicht auch verwirrt, nickte dann aber. »Okay. Ich muss nur noch schnell …« Er hob die Tasse mit seinem leckeren Kaffee.

»Nein, nicht schnell. In Ruhe.« Ich schloss das Fenster endgültig, durch das wir unsere Gäste bedienten, und verfluchte mich gleichzeitig. Ich musste seine Tasse ja noch zurücknehmen und in den Geschirrspüler stellen.

Zwei

Ich vergrub meine Finger im Kies. Die Sonne schien an einer Felsnase vorbei. Bald würde sie hinter der nächsten Felsspitze untergehen und das enge, kaum bekannte Tal der Nacht überlassen. Das Schauspiel kannte ich inzwischen gut. Jeden Abend genoss ich es, wenn ich Zeit dazu fand.

»Wunderschön.« Der Fremde lag auf der Decke, die er aus seinem Wagen hervorgezaubert hatte. Als Kissen hatte er das eine Ende mehrmals gefaltet, sodass sich die kleinen spitzen Steine nicht in seinen Kopf bohrten. Ein Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen – eines, das von ganzem Herzen kam.

Ich wandte den Blick von ihm ab. Die letzte Stunde hatten wir geschwiegen, doch es hatte sich richtig angefühlt. Irgendwie. Aber irgendwie wollte ich auch mehr von ihm erfahren als nur Haar- und Augenfarbe.

Ich verabschiedete die letzten Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht, als ein merklich kühlerer Wind durch mein Haar fuhr. »Ich komme jeden Abend hierher, wenn die Zeit es zulässt. Manchmal nehme ich auch einen Schlafsack mit.«

Ich spürte seinen überraschten Blick auf meinem Gesicht. »Und dann bleibst du die ganze Nacht?«

»Es ist so herrlich.« Ich wandte mich ihm zu, versuchte abzuschätzen, was er davon hielt. »Entspannend. Alle arbeiten und fallen am Abend müde ins Bett. Aber ich will leben.«

Er lachte in sich hinein, sah kurz weg. »Tun wir das nicht alle?«

Ich zog die Beine in den Schneidersitz, legte die Hände hinein und liess einen Stein von der einen Hand in die andere und wieder zurück rollen. »Leben oder leben wollen?«

Er holte tief Luft, als wollte er etwas sagen, liess sie jedoch langsam entweichen. »Leben. Wir atmen, essen, schlafen, wir freuen uns, lachen, backen Kuchen und naschen davon, obwohl unser Bauch schon dick genug ist.« Er klatschte sich bezeichnend auf den Bauch, den ich aber als schön flach einschätzte.

Ich senkte den Blick auf meine Hände. »Und wenn das ganze Leben nur aus Arbeit besteht?«, fragte ich leise, aber mein Herz klopfte laut. All das, was ich vergessen wollte, was ich ihm versprochen hatte, kam wieder in mir hoch.

»Was ist denn deine Definition von Leben

Wie ein zurückgehaltenes, herzloses Lachen stiess ich die Luft aus. »Leben ist …« Ich kam ins Stocken. Noch nicht einmal einen ganzen Satz hatte ich geschafft, obwohl für mich klar war, was Leben war. Lachen, sich freuen, das tun, was einem das Herz sagte. Träumen, ohne sich an Richtlinien zu halten. Zu fliegen, ohne zu fallen. Aber das hörte sich alles zu abgedroschen an. Es war nicht das, was in meinem Herzen Leben bedeutete. »Leben ist, keine Angst zu haben. Wenn du jetzt, in diesem Moment, sterben würdest, ohne es zu bereuen.« In mir wirbelte alles durcheinander, was ich die letzten Monate zu verdrängen versucht hatte. Ich holte tief Luft, um meine eigenen Gedanken zu vertreiben.

Er musterte mich intensiv. Trotz der einbrechenden Dunkelheit war mir, als könnte ich seine Augen glänzen sehen.

»Und?«

»Was und?«

»Lebst du?« Er zögerte. »Was würdest du bereuen, wenn du jetzt sterben würdest?«

»Was für eine Frage!« Ich lachte in mich hinein. »Ich würde ganz viel bereuen. Aber keine wichtigen Sachen, die ich wirklich schade finde.«

Er stützte sich auf die Unterarme und sah auf den See hinaus, dessen sanfte Wellen das kühle Mondlicht spiegelten. »Was möchtest du denn nicht bereuen?«

Ich seufzte leise, als ich seinen musternden Blick auf meinem Gesicht spürte. Es fühlte sich merkwürdig an, nach all der Zeit wieder so angesehen zu werden, so durchschauend. »Nicht spontan gelebt zu haben.« Ich legte den Kopf auf meine Knie und erwiderte seinen Blick. »Meist sind es doch unsere spontanen Entscheidungen, die wir am meisten schätzen, die uns am meisten Spass machen und an die wir uns am längsten erinnern.«

Er nickte nachdenklich, den Mund zu etwas zwischen einem Grinsen und einem bitteren Ausdruck verzogen. »Oder die wir am meisten bereuen. Ich sitze hier mit einer unbekannten Frau, obwohl ich noch zwanzig E-Mails beantworten und drei Telefonate tätigen müsste – mindestens.«

Ich lachte leise. »Aber würdest du es nicht mehr bereuen, wenn du den Sonnenuntergang nicht gesehen, die frische Luft nicht geatmet hättest?« Er blickte mich leicht verwirrt an, sodass ich kicherte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739479002
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (März)
Schlagworte
Hoffnung Liebesgeschichte Kurzgeschichte Arbeitstier Work-Life-Balance Weltenbummlerin Wohlfühlbuch Liebesroman Liebe

Autor

  • Andrea Ego (Autor:in)

Die Autorin Andrea Ego entdeckte schon in ihrer frühesten Schulzeit Bücher für sich. Das Abtauchen in fremde Welten hat sie von Beginn weg fasziniert. In ihrer Jugendzeit hat sie mit dem Schreiben begonnen und seither hat es sie nie mehr so richtig losgelassen. Andrea liebt neben dem Schreiben ihre Familie über alles, die Schweizer Berge, Schokolade, ihren Garten und das Fotografieren.
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Titel: Für eine Nacht und einen Kuss