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Madeiraschweigen

Comissário Avilas dritter Fall

von Joyce Summer (Autor:in)
340 Seiten
Reihe: Ein Madeira Krimi, Band 3

Zusammenfassung

WER SCHÖN SEIN WILL, MUSS LEIDEN Madeiras Damen sind glücklich. Endlich gibt es eine Schönheitsfarm nur für sie. Auch Leticia Avila und ihre Freundin Inês zieht es sofort in den Tempel der Schönheit. Mit Schlammpackungen, Peelings und Massagen lassen es sich die beiden gut gehen. Dann aber machen sie die Bekanntschaft der unangenehmen Journalistin Sofia Lima, die auf den Spuren Kaiserin Sisis die Insel und das Personal der Schönheitsfarm in Unruhe versetzt. Comissário Avila passt derweil auf seine kleine Tochter auf und denkt darüber nach, seine Arbeit im Polizeipräsidium zugunsten seiner Familie zu reduzieren. Doch als ein paar Tage später die abgetrennte Hand der Journalistin und kurz danach ihre Leiche auf dem Gelände eines ehemaligen Nonnenklosters gefunden wird, muss er sich entscheiden: Will er weiter den Hausmann geben oder sein Team rund um Subcomissário Vasconcellos unterstützen – vor allem, da Avila den Hauptverdächtigen besser kennt, als ihm lieb ist. Der gemütliche Avila ermittelt wieder auf Madeira. Der besondere Portugal Krimi mit Inselfeeling für alle Liebhaber von Regionalkrimis aus südlichen Ländern.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Personenverzeichnis

Hier finden sich die Hauptcharaktere der Geschichte:

Brigada de homicídios und weitere Polizei

Comissário Fernando Avila – leitet die Abteilung »Brigada de homicídios« und kämpft sonst mit seiner neuen Rolle eines frischgebackenen Vaters.

Subcomissário Ernesto Vasconcellos – seine rechte Hand mit einer Schwäche für die Frauenwelt, Spitzname »Belmiro«.

Aspirante a Oficial Filipe Baroso – jüngstes Mitglied im Team.

André Lobo – Director de Departemento, Chef von Avila und seinem Team, wird auch »der Wolf« genannt.

Doutora Katia Souza – zuständige Gerichtsmedizinerin und Patentante von Vasconcellos.

Sargento Manuel (Manel) Fonseca – Hundeführer und Herrchen von Galina.

Intendente Costa – der prinzipientreue neue Chef der Polícia de trânsito, der Verkehrspolizei. 

Weitere Personen:

Leticia Avila – Ehefrau von Avila, Katalanin und Mutter.

Inês Lobo – Ehefrau von Avilas Chef und Leticias beste Freundin.

Romario Palmeiro – Inhaber von Palmer’s Winery und Hotelier.

Aleen Lamont – Besitzerin einer Orchideenzucht und Vermieterin von Vasconcellos.

Nuno – Aleen Lamonts alter Gärtner und Pflanzenexperte.

Carlos Santos – Müllmann, Gärtner und Mann für alles in Garajau, Freund von Avila.

Sofia Lima – Journalistin und Gast in der Quinta da beleza.

Isabel Delgado – Inhaberin von Quinta da beleza.

Clara Pinto – Kosmetikerin von Quinta da beleza.

Dunja – Kosmetikerin von Quinta da beleza.

Abadessa Benedita – ehemalige Äbtissin des Klosters Mosteiro de Santa Maria-a-Velha.

Jaimy Dias – Bruder von Clara Pinto.

Engenheiro José Cunha – zuständig für die Wasserversorgung rund um Camacha.

1893:

Baroness Anna Concini – Hofdame.

Gräfin Janka Mikes – Hofdame.

Gräfin von Hohenems

Constantin Christomanos – Griechischlehrer.

Gabriella Andrade – Großmutter von Aleen Lamont.

PROLOG

Mit einem gurgelnden zornigen Plätschern brach sich das klare Wasser an dem Unrat, der es auf seinem üblichen Weg hinderte. Auf der Suche nach einem neuen Bett hinunter ins Tal sickerte das kühle Nass der Levada in den Boden.

»Krxxxx.«

Die Spitze der gebogenen kleinen Harke kratzte über den unebenen Stein des Wasserkanals. José verursachte dieses Geräusch ein unangenehmes Kribbeln auf der Kopfhaut.

Merda, Mist. Warum tue ich das hier eigentlich? Wo sind diese verdammten Levaderos? Wieso mache ich hier ihre Arbeit?, schimpfte er vor sich hin. Er griff in seine Hosentasche, um sein telemóvel, sein Mobiltelefon, herauszuholen. Mitten in der Bewegung hielt er inne. Bolas, oh nein. Das Ding liegt immer noch zu Hause auf dem Nachttisch. Wie oft will ich heute noch darauf reinfallen? 

Ich hätte im Bett bleiben sollen, wünschte er sich, um sich gleich darauf zu korrigieren. Nein, doch besser nicht, denn zu Hause war auch seine Frau und der wollte er im Moment lieber nicht begegnen. Sie hatte ihm heute Morgen eine Riesenszene gemacht, weil er am Abend davor mal wieder mit den Jungs in der Bar Camarão ein paar Poncha zu viel gehabt hatte. Wieso konnte sie ihm nicht den kleinsten Spaß gönnen? Sie hatte ja keine Ahnung, wie stressig seine Tage waren. 

Von morgens bis abends war er unterwegs, um dafür zu sorgen, dass die Bauern in Camacha und Umgebung ihr Wasserstündchen bekamen. Gerade in diesem Sommer, in dem die heißen Winde der Sahara viel früher als sonst eingesetzt hatten, hing alles von seiner Arbeit ab. Und jetzt das hier. Als er heute Morgen von Palheiro Ferreiro zur Levada dos Tornos lief, hatte er schon geahnt, dass etwas nicht in Ordnung war. Die Levada war komplett trockengefallen. Sofort hatte er zu seinem telemóvel greifen wollen, nur um festzustellen, dass es nicht in seiner Hosentasche steckte. Fluchend machte er sich an den Aufstieg in Richtung Pico Alpires. Wenn er Glück hatte, hatte einer der Bauern schon das fehlende Wasser bemerkt und Pascoal, den Vorarbeiter der Levaderos, angerufen. Aber wahrscheinlich klingelte gerade bei ihm zu Hause sein Telefon Sturm und sein Weib würde heute Abend noch mehr Grund für schlechte Laune haben. Er folgte der Levada um eine Biegung und sah schon von Weitem Senhora Baroso auf sich zu humpeln. Die alte Frau hatte an der Levada eine Parzelle gepachtet, um mit Salat und anderem Gemüse ihre kleine Rente aufzubessern.

»Engenheiro, ich habe schon versucht, Sie zu erreichen! Meu deus, mein Gott, es ist eine Katastrophe, das Wasser ist weg!« Sie deutete auf ihr Feld. »Sehen Sie, wie welk mein Salat aussieht? Wenn er heute nichts zu trinken bekommt, habe ich nichts, was ich am Freitag auf dem Mercado dos Lavradores in Funchal verkaufen kann.« Sie schaute ihn mit zusammengekniffenen Augen an, als ob er schuld an der leeren Levada war.

»Senhora Baroso, ich werde gleich nach dem Rechten sehen! Es wird irgendwo Steinschlag gegeben haben und die Levada weiter oberhalb verstopft haben. Haben Sie vielleicht schon versucht, Pascoal zu erreichen?«, setzte er nach.

»Aber Sie haben uns doch gesagt, wir sollen Sie anrufen, wenn das Wasser nicht kommt, Engenheiro«, erwiderte die Alte. »Gilt das jetzt etwa nicht mehr?«

»Desculpe, Entschuldigung. Sie haben alles richtig gemacht. Ich versichere Ihnen, Sie bekommen Ihr Wasser.« Mit einem kurzen Kopfnicken verabschiedete er sich und stapfte leise vor sich hin schimpfend die Levada hoch.

Senhora Baroso blieb nicht die Einzige, die ihm an diesem Morgen Vorwürfe machte. Sein Weg entlang der Levada glich einem Spießrutenlauf vorbei an den wartenden Bauern. Erleichtert atmete er auf, als der Lauf der Levada die Felder verließ und durch ein Stück Lorbeerwald emporstieg. Immer noch war kein Wasser in dem kleinen Kanal. Die Ursache musste weiter oben liegen. Demnächst musste die Abzweigung der Levada da Serra do Faial kommen. Ob sie auch betroffen war? Er ging um die nächste Biegung, vorbei an einem blühenden roten Fingerhut, für dessen Schönheit er aber heute keinen Blick übrig hatte. Da sah er es. Es war kurz hinter der Gabelung. Vor dem Gitter, das Zweige und Blätter abfangen sollte und so den Levaderos die Arbeit erleichterte, hatte sich ein größerer Haufen gebildet. Die Levada hatte sich davor so aufgestaut, dass sie bereits über ihr etwa achtzig Zentimeter tiefes Bett floss. Vorsichtig beugte er sich über den Wasserlauf, um das Geröll näher in Augenschein zu nehmen. Es half nichts, er musste versuchen, mit seinen Mitteln das Hindernis zu beseitigen. Wenn er jetzt loszog, um Pascoal zu erreichen, würde zu viel Zeit vergehen und die aufgebrachten Bauern am Ende noch seinen Chef anrufen. Fluchend zog er seine Schuhe aus, krempelte die Hose hoch und stieg in den gestauten Teil der Levada. Caramba, verdammt, das Wasser ist scheißkalt. Er zog die aus einer Zinke bestehende gebogene Harke aus seinem Hosenbund, mit der er normalerweise die kleinen Steine an den Abzweigungen der Levada zu den Feldern forträumte, um die Bewässerung zu regulieren. Etwas Besseres hatte er nicht. Mit dem Zinken pulte er abgestorbene Äste und abgeknickte Farnzweige aus dem Geröll. Das tote Holz und die Zweige warf er im hohen Bogen in Richtung der Lorbeerbäume. Immer noch machte das Wasser keine Anstalten, auf der anderen Seite durch das Gitter zu fließen. Wieder bohrte er die Harke in das Geröll und etwas Größeres löste sich. Das musste der Übeltäter sein. Er griff ins Wasser. Seine Hände umschlossen etwas Weiches, was sich irgendwie klebrig anfühlte. Que diabo …? Was zum Teufel? Fassungslos starrte er auf den Gegenstand, den er eben herausgeholt hatte: eine Hand mit abgeplatztem Nagellack. An der Stelle, an der einmal ein weiblicher Arm gewesen war, war nur noch ein ausgefranster Stummel. Mit einem Schrei ließ er die Hand wieder in die aufgestaute Levada fallen. Platschend tauchte sie in das klare, kalte Wasser ein. 

 

Drei Tage vor dem Fund

»Fühl mal meine Haut.« Leticia Avila streckte ihrer Freundin Inês die rechte Hand entgegen.

»Wie die Haut von eurer kleinen Felia! Was hast du für eine Behandlung machen lassen? Das brauche ich auch!«

»Ich habe ein Meersalzhandpeeling gehabt mit einer anschließenden Algenmaske. Verrate es Fernando nicht, aber ich habe mir gleich einen großen Tiegel von dem Peeling für zu Hause gekauft. Sündhaft teuer, aber ich kann mich nicht erinnern, schon einmal so weiche Hände gehabt zu haben.«

»Du brauchst dich vor deinem Mann doch nicht zu rechtfertigen! Schließlich hast du das letzte Jahr doch damit verbracht, dich um Felia zu kümmern. Es wird Zeit, dass du dir auch mal etwas gönnst.« Inês schüttelte den Kopf.

»Ich weiß, aber ich habe schon ein schlechtes Gewissen, weil dieses Wochenende so viel kostet. Dafür hätten Fernando, Felia und ich auch zu meiner Mutter nach Barcelona fliegen können.«

»Hättest du dich dabei entspannt? Fernando wäre doch die meiste Zeit von seiner Schwiegermutter genervt gewesen und du hättest dich dabei aufgerieben, zwischen den beiden zu vermitteln.«

»So schlimm ist das Verhältnis der beiden gar nicht«, protestierte Leticia. Insgeheim musste sie ihrer Freundin aber recht geben. Der letzte Besuch ihrer Mutter Sabrina bei ihnen in Garajau war eine Katastrophe gewesen. Fernando hatte sich am Ende sogar freiwillig beim Wolf, seinem Chef, gemeldet, um alte ungelöste Fälle zu bearbeiten. Nur, um Sabrinas spitzer Zunge und ständiger Kritik an seinen Vaterqualitäten zu entgehen.

»Ach, ist das so?« Inês musterte sie und zog dabei ihre frisch gezupften Augenbrauen hoch. »André hat mir erzählt, dass Fernando bei ihm im Büro war und um Arbeit gebeten hat.« Leticia seufzte. Ihrer Freundin konnte sie nichts vormachen. Das lag nicht nur an Inês’ wachem Verstand, sondern ebenso an der Tatsache, dass ihr Mann André Lobo, genannt »der Wolf«, Fernandos Chef bei der Mordkommission war.

»Hast du mitbekommen, was vorhin oben auf der Empore vor den Behandlungsräumen los war?«, wechselte Leticia schnell das Thema. »Ich dachte, es würde gleich Tote geben, so laut hat diese Journalistin herumgeschrien. Leider konnte ich nicht genau verstehen, worum es ging.«

»Oh, das kann ich dir sagen.« Inês schaute kurz über die Schulter, um zu prüfen, ob sie auch alleine im Aufenthaltsbereich der Schönheitsfarm waren, der im offenen ebenerdigen Bereich des Gebäudes lag. Hier trafen sich die ausschließlich weiblichen Gäste zwischen ihren Anwendungen zu Kräuter- oder Entschlackungstees oder um ihre Mahlzeiten einzunehmen. »Sofia Lima ist nicht besonders glücklich mit dem Ergebnis von Claras Behandlung.«

»Du meinst aber nicht das Permanent-Make-up, von dem sie uns heute Morgen am Frühstückstisch so ausführlich erzählt hat? Das täte mir wirklich leid.« Leticia kicherte. Schadenfreude war normalerweise nicht ihr Ding. Aber in diesem Fall … Der einzige Wermutstropfen an dem Aufenthalt hier war die Tatsache, dass man ihnen Sofia Lima an den Tisch gesetzt hatte und sie jetzt bei jeder Mahlzeit die endlosen Tiraden der Lissabonnerin ertragen mussten. Im Vertrauen hatte sie ihren Tischnachbarinnen erzählt, dass sie Journalistin war. Genau genommen sogar Investigativjournalistin, die quasi Hand in Hand mit der Polizei arbeitete und viele Fälle im Alleingang gelöst hatte. Gerade jetzt wäre sie wieder an einer Geschichte dran. Bei jeder Mahlzeit die gleiche Leier. Zum Glück schien es aber im echten Leben mit ihrer Spürnase nicht so weit her zu sein, da sie nicht herausgefunden hatte, dass sie mit den Ehefrauen der beiden wichtigsten Männer der madeirensischen Mordkommission an einem Tisch saß.

Inês stimmte in Leticias Lachen ein.

»Oh doch, und ich muss gestehen, es tut mir gar nicht leid. Wenn ich es richtig verstanden habe, hat Clara die Form der tätowierten Augenbrauen anders ausgeführt als abgesprochen. Ich habe nur gehört, dass Sofia beklagte, sie müsse jetzt mit einem Ausdruck ständiger Überraschung herumlaufen.«

»Ich freue mich schon, nachher bei Tisch das Ergebnis zu begutachten.«

Inês wurde wieder ernst. »Mir tut es für Clara leid. Sofia hat damit gedroht, sie zu verklagen. Sie meinte, das grenze schon an Körperverletzung, so wie sie jetzt verunstaltet ist.«

»Arme Clara. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die hier auf der Farm nicht gegen solche Fälle versichert sind. Isabel Delgado macht auf mich den Eindruck einer klugen Geschäftsfrau. Die wird damit umgehen können.«

»Hauptsache, sie entlässt Clara nicht. Das Mädchen hat göttliche Hände. Ich hatte vorhin eine Fußreflexzonenmassage bei ihr. So entspannt war ich noch nie.«

Zwei Stunden später konnten die Freundinnen beim Abendessen das Ergebnis der Tätowierung begutachten.

»Haben Sie gesehen, was diese kleine Schlampe mit mir gemacht hat?«, begann Sofia Lima sofort das Gespräch, kaum das Leticia und Inês Platz genommen hatten.

Am liebsten hätte Leticia so getan, als ob sie keine Veränderung feststellen könnte. Tatsächlich aber bewirkten die hoch aufgemalten Augenbrauen einen erstaunten Ausdruck auf den verhärmten Gesichtszügen der älteren Frau. Allerdings fand Leticia, dass sie dadurch freundlicher aussah als vorher.

»Ich finde, es steht Ihnen gut. Es macht Ihr Gesicht weicher«, erwiderte sie vorsichtig.

»Aldrabona! Blödsinn! Ich sehe aus wie eine aufgeschreckte Kuh!«

»Wenn Clara die Augenbrauen ein wenig breiter zieht und nach unten hin ausfüllt …«, versuchte Inês, die Wogen zu glätten.

»Sie glauben doch nicht, dass ich diese unfähige Person noch einmal an mein Gesicht lasse?«, unterbrach Sofia sie. »Nein, wenn ich mit der fertig bin, kann sie sich einen neuen Job suchen. Besser noch, sie wird das letzte Mal als Kosmetikerin gearbeitet haben. Gleich am Montag werde ich meinen Anwalt anrufen.« Zur Bestätigung zeigte sie den beiden einen Eintrag in ihrem Terminkalender, den sie ständig mit sich herumschleppte, um sich Dinge zu notieren. Dort stand das Wort »Advogado« in Großbuchstaben und war dick unterstrichen.

»Aber damit würden Sie das Leben des Mädchens ruinieren. Gestern Abend waren Sie voll des Lobes, vergessen Sie das nicht. Schließlich hat sie Ihnen so schöne Fingernägel gemacht.« Leticia deutete auf die langen Fingernägel der Journalistin, die mit weiß-rosa Blütenblättern und Strasselementen verziert waren. Sofia hatte ihnen gestern noch versichert, dass Clara tatsächlich keine vorgefertigten Schablonen benutzt hatte, sondern jeden einzelnen Nagel wie ein Gemälde gestaltet hatte.

»Mir doch egal. Das Ergebnis heute zählt und das ist eine Katastrophe. In Lissabon würde so jemand wie diese Clara schon lange nicht mehr arbeiten. Ich sehe die Schlagzeile bereits vor mir: ›Frau auf Schönheitsfarm entstellt‹.«

Leticia merkte, wie sie langsam sauer wurde. Diese Journalistin war furchtbar.

»Ich denke, Sie übertreiben. Wie Inês schon sagte, ein paar kleine Korrekturen und es ist in Ordnung.«

Die Lima stand abrupt auf. Der Stuhl erzeugte ein lautes, quietschendes Geräusch auf den Terrakottafliesen und die Gespräche an den anderen Tischen verstummten.

»Da bin ich aber anderer Meinung! Sie Madereinser stecken alle unter einer Decke! Aber Sie werden noch sehen. Ich lasse mich nicht mundtot machen!« Sie stürmte mit hocherhobenem Kopf aus dem Raum in Richtung des linken Flurtraktes, in dem die Zimmer der Gäste untergebracht waren. Kurze Zeit später verließ sie, den Kopf mit einem bunten Schal verhüllt, die Farm.

»Das ist ja furchtbar. Wenn die Lima einen Artikel über diesen Vorfall schreibt, werden der Quinta da beleza die Gäste ausbleiben. Wer weiß, was für einen Schmutz sie sich ausdenkt. Die Frau hat die ganzen letzten Tage hier ständig herumgeschnüffelt und rumgemäkelt. Jetzt sieht es tatsächlich so aus, als ob sie etwas gefunden hat, um die Quinta schlecht zu machen. Ich mag keine Journalisten!«, stellte Leticia fest.

»Meine Damen, es tut mir so leid, dass Ihr Aufenthalt durch diesen kleinen Vorfall ebenfalls gestört wird. Darf ich Ihnen als Entschädigung eine Packung von unserem wunderbaren Entschlackungstee schenken?« Isabel Delgado war unbemerkt an ihren Tisch getreten.

Leticia wollte sofort ablehnen, aber ein schmerzhafter Tritt ihrer Freundin unter dem Tisch hielt sie zurück. Inês nickte begeistert.

»Ja? Wunderbar, ich bin gleich wieder bei Ihnen.« Isabel verschwand mit wiegendem Schritt in ihr Büro.

»Inês, das sollten wir nicht machen! Hast du nicht gesehen, was so eine Packung kostet?«

»Natürlich habe ich das. Der Tee kostet fünfundsechzig Euro. Aber ich bin mir sehr sicher, dass dies nicht der Einkaufspreis ist. Vielleicht hat Isabel sogar Muster von der Firma bekommen und die gibt sie jetzt nur an uns weiter. Außerdem überlege ich schon seit gestern, ob ich diese Entschlackungskur auch zu Hause fortführen sollte. Ein paar Kilo weniger wären nicht schlecht.« Inês kniff sich in ihren Bauch, der sich im Sitzen in einer kleinen Falte über den Hosenbund schob.

Fünf Minuten später kam Isabel mit zwei Packungen des teuren Tees in ihren sorgfältig manikürten Händen zurück. Ein kurzer Blick von Leticia auf die Verpackung bestätigte Inês’ Annahme. Não vender, nicht zu verkaufen, stand auf dem Karton. 

»Ich versichere Ihnen, wir kümmern uns um Senhora Lima, damit sie diesen Aufenthalt doch noch in guter Erinnerung behält«, meinte die junge Chefin und schob sich eine Strähne, die sich aus ihrem sorgfältig gesteckten Dutt gelöst hatte, hinter das linke Ohr. »Clara ist am Boden zerstört und wir besprechen gerade im Team, wie wir das Ergebnis der Behandlung verbessern können.«

»Es tut uns wirklich leid für Sie«, beeilte sich Inês zu sagen, während sie eine der Packungen in ihre wie immer prall gefüllte Handtasche stopfte. »Wir fühlen uns sehr wohl in der Quinta da beleza und haben auch vor, in unserem Golfklub kräftig für Sie zu werben. Es gibt nicht viele solcher Häuser hier auf Madeira, wo man als Frau sich ungestört verwöhnen und ausspannen kann.«

»Vielen Dank, dass Sie für uns Werbung machen wollen.« Isabel klatschte in die Hände. »Wir sind nach der Eröffnung vor drei Monaten noch dabei, uns hier zu etablieren. Ich glaube, Sie sind die ersten Madeirenser, die hier zu Gast sind. Bisher waren es fast ausschließlich Damen vom Festland oder Touristinnen.«

»Sie sollten versuchen, bei den englisch-stämmigen Expats Interesse zu wecken. Die Briten, die nach Madeira ausgewandert sind, sind meist sehr gut situiert und die Damen können Sie bestimmt für diesen kleinen Luxus hier begeistern.«

»Inês hat recht. Sie sollten sich zunächst auf die Zugewanderten konzentrieren«, bestätigte Leticia ihre Freundin. Im Stillen dachte sie: Wenn ich vorher gewusst hätte, wie teuer so ein verlängertes Wochenende wird, hätte ich Inês’ Vorschlag nicht angenommen. Allzu oft werde ich mir so eine Extravaganz auch nicht leisten können. So wird es den meisten hier auf der Insel gehen. Nicht jeder hat so viel Geld wie Inês und der Wolf zur Verfügung. 

»Das ist eine sehr gute Idee! Um auf Ihren Golfklub zurückzukommen: Darf ich Ihnen ein paar Flyer zur Auslage für den Klub mitgeben? Ich würde sie Ihnen auf Ihre Zimmer legen lassen.« Sie blickte die beiden Damen dankbar an. Wie schon die letzten Tage fiel Leticia dabei wieder die ungewöhnliche Augenfarbe der jungen Frau auf. Es war fast veilchenblau. Irgendwo hatte sie einmal gelesen, dass Elisabeth Taylor ebenfalls veilchenfarbene Augen gehabt haben sollte, hatte das aber immer für ein Märchen gehalten.

»Siehst du, ich sagte doch, diese Isabel ist eine tüchtige Geschäftsfrau«, meinte Inês, als sie wieder mit Leticia alleine am Tisch saß. »Schau dich doch um, wie sie dieses Hotel innerhalb von einem halben Jahr komplett umgebaut und zu dieser Luxusfarm geformt hat. Ich kenne einige Schönheitsfarmen auf dem Festland. Dahinter muss sich diese wirklich nicht verstecken.«

»Woher diese junge Frau wohl das Geld hat? Denkst du, es gibt noch ein paar reiche Investoren im Hintergrund?«, wollte Leticia wissen.

»Wir werden es bald erfahren. Auf dieser Insel ist kein Geheimnis lange sicher.«

Garajau, Bar Camarão, ebenfalls drei Tage früher, 17:03

»Urso, lass das!« Avila beugte sich zu seinem Hund, der mitten auf der überdachten Terrasse saß, den Kopf im Nacken, und heulte.

»Wie ich sehe, bist du mit deiner kleinen Bagage hier.« Ana kam aus dem Lokal und stellte Avila eine Schale mit Tremoços hin. Sofort hörte Urso auf zu heulen und schnupperte an ihren Beinen. Es könnte ja sein, dass sich dort eine Leckerei für ihn versteckte.

Die Kellnerin tätschelte Ursos Kopf. »Für dich habe ich auch gleich etwas, mein Schöner. Wir haben in der Küche ein paar Chouriços. Der Koch merkt gar nicht, wenn ich ihm eine für dich stibitze. Aber zuerst lasse ich mir von deinem Herrchen erklären, was es mit dem Heulen auf sich hat.« 

»Frag mich nicht, Ana. Seit ein paar Wochen hat er diese Marotte. Sobald ein Auto mit Sirene vorbeikommt, setzt er sich hin und spielt den Wolf, der den Mond anheult. Es macht mich wahnsinnig.«

»Vielleicht hat er sich das bei Galina abgeschaut?«

»Bei Fonsecas ausgebildetem Polizeihund? Die würde im Dienst sogar still liegen bleiben, wenn ihr ein Hase über die Schnauze springt. Nein, auf die Idee ist Urso von ganz alleine gekommen. Gott sei Dank scheint es Felia nicht aufzuregen. Sie schläft wie ein Stein.« Er deutete auf den Buggy, den er in die Ecke der Terrasse geschoben hatte. Felias Kopf war auf die Brust gesunken und der kleine Stoffhase, den sie kurz vorher noch fest umklammert hatte, war zur Seite gerutscht.

»Lass mich mal eure kleine Schönheit sehen.« Ana ging zum Buggy. Felia hob den Kopf und blickte sie aus großen Augen an. »Von wegen Schlafen! Dein Mädchen bekommt alles mit!« Sie strich der Kleinen mit dem Finger leicht über die Wange. »Darf ich sie hochnehmen?« Als Avila nickte, schnallte sie Felia los und nahm sie vorsichtig auf den Arm. »Was für eine weiche Haut! Dazu dieser Babygeruch. Ach, Babys riechen so gut.« Ana setzte Felia auf ihre Hüfte, was mit einem erfreuten Quieken erwidert wurde. »Sie ist schon ganz schön groß geworden. Wie alt ist sie jetzt?«

»Übernächste Woche wird sie ein Jahr«, verkündete Avila und streckte die Brust vor.

»Läuft sie schon?«

»Nein, da lässt sie sich Zeit. Sie kann aber schon alleine aufrecht sitzen und sie liebt es, wenn man sie an beiden Händen festhält und sie mit den Beinen hüpfen lässt.« Das ließ sich Ana nicht zweimal sagen und probierte mit Felia dieses Kunststück aus. Die beiden hatten gerade ein paar Meter zurückgelegt, als das Quietschen einer Mülltonne Carlos, Avilas besten Freund, ankündigte.

»Boa tarde«, grüßte der Müllmann, nachdem er die Tonne links neben dem Eingang auf der Straße geparkt hatte. Wie immer hatte er dabei bedacht, sie so hinzustellen, dass sie keinen der Fußgänger oder Gäste behinderte.

Ana schnallte die protestierende Felia wieder im Buggy fest und drückte ihr den Stoffhasen in den Arm.

»Zwei Caneca für euch? Oder wollt ihr Poncha?«

»Für mich heute kein Poncha, Ana. Und bitte nur ein Fläschchen Bier«, winkte Avila ab.

»Du willst deine Tochter heute Abend wohl nicht mit einer Alkoholfahne ins Bett bringen«, neckte ihn Ana. »Für dich auch nur eine Garaffa, Carlos?« Er nickte kurz und sie verschwand im Inneren der Bar.

Avila wendete sich an Carlos, der sich schweigend einen Stuhl herangezogen hatte und auf den Tisch starrte.

»Ist alles in Ordnung bei dir, meu amigo, mein Freund? Du bist so still.«

Carlos schreckte aus seinen Gedanken auf. Er fuhr sich durch die Haare und ein leichtes Lächeln ging über sein Gesicht.

»Viel zu tun.« Avila wusste, dass Carlos mehrere kleine Jobs parallel hatte und gut beschäftigt war. Mal passte er auf die Häuser der viel reisenden Bewohner von Garajau auf, dann wieder verdiente er sich Geld mit Hausmeistertätigkeiten in Hotels oder Apartmentanlagen hinzu. Normalerweise strahlte der Müllmann dabei Ruhe aus und vergaß nie, die Schönheit der Welt um sich herum zu genießen. Aber heute war es anders. Carlos’ graue Haare waren ungekämmt und standen ihm in Wirbeln vom Kopf ab. Das sonst immer saubere und gebügelte weiße T-Shirt unter seiner Latzhose war zerknittert und wies Schmutzränder am Hals auf. Unter den Augen hatten sich Tränensäcke gebildet.

Carlos bemerkte die vorsichtige Musterung durch seinen Freund und hob abwehrend beide Hände.

»Mach dir keine Sorgen, Fernando. Jetzt, wo ich hier bei dir sitze, ist alles gut. Erzähl mal, hast du etwas von Leticia gehört? Und vor allem, wie fühlt es sich an, so als Strohwitwer mit Kind alleine zu Hause? Kommt ihr klar?«

»Wir verstehen uns prächtig! Außerdem hat Leticia dafür gesorgt, dass ich nicht groß nachdenken muss. Die ganze Kühltruhe ist voll mit Vorgekochtem. Sowohl für Felia als auch für mich. Alles mit kleinen Zettelchen versehen, sodass ich uns jeden Tag mithilfe des Ofens oder der Mikrowelle ein Festmahl zubereiten kann.« Avila lachte leise, als er sich die lange Liste vor Augen führte, die Leticia ihm an den Kühlschrank gehängt hatte. Dort war für ihre gesamte Abwesenheit minutiös aufgeschrieben worden, was er zu beachten hatte. Auch an die Telefonnummern des Kinderarztes und des Tierarztes hatte sie gedacht. Meine Leticia, was wäre ich nur ohne sie, sinnierte er.

»Du hast eine wunderbare Frau«, durchbrach Carlos seine Gedanken. »Andere Männer haben mit den Frauen nicht so viel Glück wie du.«

Gerade wollte Avila nachfragen, ob sein Freund an jemand Bestimmtes dachte, als Ana mit ihrem Bier erschien.

»Saúde. Lasst es euch schmecken.« Sie stellte zwei Flaschen eisgekühltes Coral vor die Freunde. »Braucht ihr ein Glas?«

»Ist doch schon im Glas«, kam Avilas üblicher Spruch an der Stelle, bevor er die beschlagene Flasche zum Mund führte. Ana lachte und verschwand.

»Und wie gefällt es den beiden Damen auf der Schönheitsfarm?«, wollte Carlos wissen.

»Sie sind begeistert. Wahrscheinlich werde ich Leticia gar nicht wiedererkennen, wenn sie am Mittwoch wiederkommt.«

»Deinen Kontostand wahrscheinlich auch nicht«, lachte Carlos.

»Du hast recht. Es ist teuer. Aber ich wollte, dass Leticia sich etwas Gutes tut. Die letzten Monate waren sehr anstrengend für sie. Du weißt ja, wie katastrophal das Wochenende im Februar war.«

»Hat sie Folgeschäden von der Vergiftung?«

»Nein, es ist alles gut gegangen. Aber nur, weil der Wolf und Palmeiro so geistesgegenwärtig waren. Wenn sie mit mir alleine gewesen wäre, wäre sie jetzt tot.« Avila schluckte.

»Ich erinnere, dass du in der Nacht einem Mörder bei schwerstem Sturm und Unwetter hinterhergelaufen bist, nur um deine Tochter zu retten. Du musst dir wirklich keine Vorwürfe machen!«

»Für meine Familie würde ich alles opfern, auch mein Leben. Du verstehst das vielleicht nicht.«

»Sei dir versichert, ich verstehe das …« Carlos’ Stimme brach und er nahm einen großen Schluck Bier.

»Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?« Avila überlegte, wie wenig Einzelheiten er von dem Leben seines Freundes kannte. Hatten sie je über Carlos’ Familie geredet? Hier auf Madeira wohnte der Müllmann allein. Wie der Comissário kam auch Carlos vom Festland. Allerdings lebte er bereits auf Madeira, als Avila 2008 auf die Insel zwangsversetzt wurde. Mehr Einzelheiten wusste Avila nicht. Immer, wenn er versucht hatte, etwas mehr über das Vorleben seines Freundes zu erfahren, hatte dieser abgeblockt.

»Es wird alles gut«, kam wieder eine ausweichende Antwort.

Avila beschloss, nicht weiter nachzufragen. Sein Freund hatte ein Recht darauf, seine Gedanken für sich zu behalten. Wenn Leticia oder Inês hier wären, würden sie anfangen zu bohren. Aber wir Männer tun so etwas nicht.  

»Wie wäre es doch noch mit einem Poncha? Das Bier war so klein, ich könnte noch einen vertragen, bevor ich nach Hause gehe«, wechselte er zu einem unverfänglicheren Thema.

Carlos schüttelte den Kopf.

»Es tut mir leid, aber heute Abend habe ich nicht so viel Zeit. Ich muss gleich los.« Er leerte seine Flasche und schob den Stuhl zurück.

Avila war etwas überrascht über den plötzlichen Aufbruch, beschloss aber, noch eine Weile den lauen Abend zu genießen. Er holte sich die aktuelle Ausgabe der Diário de Notícias vom Nachbartisch und begann zu lesen.

Die Tageszeitung war voll mit Berichten über das anstehende Weinfest, die berühmte »Festa do Vinho«. Ab Ende August würde wieder Ausnahmezustand in Funchal und in Câmara de Lobos herrschen, wenn die Weinbauern traditionell die Weinernte feierten.

Avila stöhnte. Gerade hatten sie die Rali Vinho da Madeira hinter sich gebracht, bei der die Rennfahrer wie die Verrückten über die Insel rasten, und jetzt gab es schon das nächste Fest. In dieser Zeit, mit dem Auto nach Funchal zur Arbeit zu fahren, würde wieder fürchterlich werden. Schade, dass Vasconcellos jetzt direkt in der Hauptstadt auf der Orchideenfarm wohnte. Es war so praktisch gewesen, als dieser ihn jeden Morgen auf seinem Weg von Camacha in Garajau am Kreisel neben der Tankstelle aufgelesen hatte. Aber vielleicht reduziert sich mein Parkplatzproblem ja bald, dachte Avila. Mal sehen, was Leticia von der Idee hält. Wir müssten uns etwas einschränken, aber es könnte funktionieren. 

Nach einer halben Stunde war die dünne Zeitung ausgelesen und Avila begab sich entlang der Hauptstraße zurück nach Hause. Spontan hielt er noch bei der Pastelaria, um sich zwei noch warme Queijadas einpacken zu lassen. Die Frischkäsetörtchen würde er nachher beim Bier auf seiner Terrasse genießen. Als er den leichten Anstieg der kleinen Seitenstraße zu ihrem Haus hoch ächzte, hatte er kurz ein schlechtes Gewissen, dass er wieder schwach geworden war. Wieso eigentlich?, dachte er. So wie Leticia am Telefon klingt, wird sie ab der nächsten Woche wieder diäten wollen. Irgendein Idiot hat ihr auf der Farm den Unsinn in den Kopf gesetzt, dass sie zu dick ist. Das heißt dann auch für mich, dass ich kürzertreten muss. Leticia wird keine große Lust haben, mit knurrendem Magen für mich zu kochen. 

Zu Hause angekommen, brachte er Felia sofort zu Bett. Sie war schon in der Bar eingeschlafen und er musste das kleine Bündel nur noch vorsichtig aus dem Karren heben und in ihr Gitterbettchen legen. Er verzichtete auf das Windelwechseln und den Schlafanzug für die Kleine, um sie nicht zu wecken. Gut, dass Leticia das nicht sah. Aber solange sie nicht da war, hatten Felia und er eigene Regeln. Leise platzierte er das Babyfon neben dem schlafenden Kind und ging hinunter zur Küche.

Dort holte er sich ein eiskaltes Coral aus dem Kühlschrank und legte die beiden lauwarmen Törtchen auf einen Teller. Er schaffte es gerade noch ins Wohnzimmer, bevor das Telefon klingelte. Das musste Leticia sein, die sich versichern wollte, dass alles in Ordnung war.

»Cara minha, ich habe mir schon gedacht, dass du das bist«, nahm Avila nach einem kurzen Blick auf das Display den Anruf entgegen.

»Ist alles okay bei euch? Ich habe schon vor einer halben Stunde angerufen, da war aber niemand da.«

»Wir haben noch einen kleinen Abendspaziergang gemacht. Es gibt nichts, worüber du dir Sorgen machen musst.«

»Lass mich raten, dieser Spaziergang hat dich auf direktem Wege in die Bar geführt. Du weißt doch, was ich davon halte, wenn du Felia dorthin mitnimmst!«

»Wir haben uns ein stilles Plätzchen gesucht«, beschwichtige Avila. »Ana findet übrigens, dass Felia schon sehr groß geworden ist.«

»Ich vermisse euch.« So schnell, wie sich Leticia aufgeregt hatte, war ihr Zorn wieder verflogen.

»Wir vermissen dich auch, cara minha. Hast du denn keine gute Zeit?«, setzte Avila nach. Bei dem Geld, das er für diesen Urlaub ausgab, musste sie ihm wenigstens den Gefallen tun, es zu genießen.

»Doch, doch, die Quinta ist wunderbar. Die Menschen hier sind allerliebst und es ist schön, sich verwöhnen zu lassen.«

»Und diese Journalistin, die dich und Inês so nervt? Ist sie jetzt freundlicher?«

»Im Gegenteil.« Leticia erzählte Avila von den Vorfällen des Tages. »Zum Glück ist sie heute Abend außer Haus zu einer Verabredung. Derjenige tut mir jetzt schon leid, bei der Laune, die sie heute verbreitet hat. Inês und ich sind ernsthaft am Überlegen, ob wir Isabel bitten, uns an einen anderen Tisch zu setzen.«

»Das solltet ihr tun. Es kann doch nicht sein, dass euch diese Frau den gesamten Urlaub mit ihren Launen verdirbt!«, bestärkte Avila sie. Beide ahnten noch nicht, dass diese Maßnahme nicht mehr notwendig sein würde.

 

 

 

 

23. Dezember 1893

»Heute früh nichts geschossen. Fahre Abends auf das Dampfschiff und pirsche noch morgen früh und Abend, worauf ich nach Buda-Pest reise. Wetter bessert sich. Es geht mir sehr gut. Bin hier nicht zum Schreiben gekommen. Auf baldiges Wiedersehen.«

(Telegramm Kaiser Franz Josef von Österreich an die Kaiserin)

»Eure Ma…«

»Wie sollen Sie mich nennen, meine Liebe?«

Baroness Anna Concini biss sich auf die Zunge. Es war richtig, dass sie schon hier an Bord der »Greif« die korrekte Anrede übte. Die anderen Hofdamen waren schon länger im Dienst und den im Ausland bevorzugten Titel bereits von vielen Reisen gewöhnt.

»Ich meine, Eure Durchlaucht. Ist das Wasser zu Eurer Zufriedenheit temperiert?«

»Es muss noch kälter sein. Sind Sie sicher, dass Sie die sieben Grad eingehalten haben? Es kommt mir zu warm vor. Ich musste heute Morgen auf der Waage sehen, dass es fast 98,4 Pfund waren. Holen Sie mir noch mehr Eis!«

Anna rief nach einem der Diener und bat ihn, noch weitere Eiswürfel für das Badewasser zu holen. Als sie die Würfel in die Wanne gleiten ließ, lief es ihr kalt den Rücken herunter. Das konnte doch nicht gesund sein? Wieso diese Sorge um das Gewicht? Sie sah nur, wie schmal und verloren die hochgeborene Dame in dem Badezuber wirkte.

»Der Kapitän meinte, es käme von Norden Wind auf und zu unserer Sicherheit müsste er die Maschinen wieder starten. Würden Eure Durchlaucht das Bad unter diesen Umständen beenden wollen?«

»Gut, bringen Sie mir meinen Morgenmantel. Hat der Kapitän Ihnen gesagt, wann wir Madeira erreichen?«

»Der Wind soll sehr günstig aus Nordosten blasen. Unter Segeln können wir es bis heute Nachmittag schaffen, meinte er.«

»Das sind doch gute Nachrichten. Sagen Sie bitte der Coiffeurin, dass sie sich bereithalten möge.« Sie richtete die schmale Gestalt zu ihrer vollen Größe auf. Dabei überragte sie die zierliche Gräfin um fast einen Kopf. »Ich möchte, dass wir gleich an Land gehen können, sobald wir angelegt haben. Ich muss mir dringend die Beine vertreten.«

Drei Stunden später sahen sie die steilen Hänge der Vulkaninsel vor sich. Kaum war die Jacht in Sichtweite des sonnengelb strahlenden Forts São Tiago, ertönten Kanonenschüsse. 

»Was hat das zu bedeuten? Wie kommen die Menschen darauf, eine Gräfin von Hohenems mit Salutschüssen zu begrüßen?«

Anna merkte, wie ihr unter dem strengen Blick ihrer Herrin der Schweiß trotz des kühlen Fahrtwindes den Rücken herunterlief.

»Ich versichere Euch, Eure Durchlaucht, dass niemand von der Besatzung oder eine von uns Euren Besuch angekündigt hat.«

»Ist schon gut, mein Kind. Wahrscheinlich müsste ich ein anderes Schiff als dieses benutzen, um wirklich unerkannt zu bleiben. Es wäre auch zu schön gewesen. Bitte sagen Sie den anderen Damen und dem Griechen Bescheid, dass sie sich für den Landgang bereithalten sollen.«

Eine Stunde später betrat Anna, die junge Baroness aus Südtirol, zum ersten Mal die berühmte Blumeninsel. Auf der Promenade warteten mehrere Ochsenkarren auf ihre Ankunft und die Möglichkeit, die Neuankömmlinge durch Funchal zu fahren.

»Wir brauchen die Karren nicht!«, beschloss die Gräfin von Hohenems. »Auf, auf, ich möchte heute noch hoch nach Monte.« Mit weit ausladenden Schritten führte sie die kleine Gesellschaft, die neben drei Hofdamen noch aus dem Griechischlehrer Constantin Christomanos bestand, an in Richtung der Kathedrale Sé. 

»Lassen Sie uns zunächst schauen, ob die Confiserie noch existiert, in der ich vor fast dreißig Jahren diese köstliche Marmelade gefunden habe! Natürlich gibt es die Süßigkeit morgen in der Frühe nur, wenn wir heute noch einen gehörigen Marsch zurücklegen.« Keine zehn Minuten später betraten sie den kleinen Laden in der Rua das Pretas mit der himmelblauen Fassade, auf der in schwarzer Schreibschrift »Confeitaria Felisberta« stand.

Die junge Verkäuferin begrüßte sie höflich.

»Boa tarde, minhas Senhoras. Guten Tag, meine Damen. Womit kann ich Ihnen dienen?«

Die Gräfin von Hohenems trat an den gläsernen Tresen und klappte den schwarzen, filigranen Spitzenfächer zu, hinter dem sie ihr Gesicht versteckt hatte.

»Haben Sie noch die berühmte Marmelade, die es vor dreißig Jahren bei Ihnen zu kaufen gab?«

»Sie meinen sicher unsere Feigenmarmelade nach dem Rezept von Senhora Felisberta?«

»Genau die«, bestätigte die Gräfin. »Baroness, sind Sie so lieb und kaufen mir zwei Gläser?« Sie klappte ihren schwarzen Fächer wieder auf und rauschte mit wiegendem Schritt zur Tür hinaus.

Anna, die sich gar nicht an den Auslagen sattsehen konnte und gerne noch ein Stück von dem berühmten Honigkuchen probierte hätte, zahlte schnell und lief hinterher. Zwar hatte sie ihre Stellung erst kurz, aber bereits verstanden, dass ihre Herrin eine Getriebene war und sich nie lange an einem Ort aufhielt.

Auf der Straße drehte sie sich um. Wo waren die anderen? Ein Junge mit zwei Milchkannen, die er an einem Stock über seinen Schultern balancierte, sah ihre Verzweiflung. Mit einem kurzen Nicken des Kopfes deutete er nach rechts.

»À direita, Senhorita.«

Dankbar stürzte Anna die Straße herunter. Hinter der nächsten Biegung rannte sie beinahe Christomanos um, der mit weit aufgerissenen Augen den Ausführungen der Herrin folgte. Der junge Grieche hatte sich, wie gewöhnlich, großzügig mit Parfüm besprüht. Anna wartete nur darauf, dass er deswegen wieder einen Tadel einstecken würde. Es war bekannt, dass die hochgeborene Dame zwar Stunden mit Schönheitsritualen verbrachte, aber es hasste, wenn Menschen in ihrer Umgebung zu stark parfümiert waren.

»Baroness, da sind Sie ja! Sehen Sie, was ich gefunden habe. Ein eiserner Nagel, wenn das nicht Glück bedeutet! Wahrlich, das können wir in diesen Zeiten gebrauchen.« Die Gräfin steckte den Nagel in das kleine schwarze Spitzensäckchen, das sie um ihr Handgelenk trug. »Geschwind, wenn wir uns beeilen, können wir in einer Stunde oben in Monte sein.«

 

Quinta da beleza, zwei Tage vor dem Fund, 08:41

»Ich habe es gleich gewusst! Diese Frau hat kein Benehmen! Hast du mitbekommen, wie sie die letzten Tage überall herumgeschnüffelt hat? Ich habe sie vorgestern direkt vor der Privatwohnung der Chefin angetroffen. Gut möglich, dass sie sogar drin war. Als ich sie zur Rede stellte, behauptete sie frech, sie hätte sich verlaufen. Dass ich nicht lache!«

»Zumindest hätte ich erwartet, dass ihr Geld wichtig ist und sie keinen teuren Termin schwänzt. Die Chefin wird nicht begeistert sein. Ich habe schon alles für die Cellulite-Behandlung vorbereitet. Wenn ich jetzt das Salzpeeling und die aufgewärmte Mineralienpackung in den Ausfluss spüle, gibt es Ärger.«

Durch die nicht ganz geschlossene Tür hörte Leticia, wie sich ihre Kosmetikerin Dunja mit einer ihrer Kolleginnen unterhielt. Am liebsten hätte sie laut gerufen: »Gebt die warme Mineralienpackung mir!«

In einem Anfall von Wahnsinn, wie sie jetzt fand, hatte sie sich von Inês zu der Cooling-Behandlung überreden lassen. Ihre Beine waren mit kalten, nassen Stoffbinden, die zuvor in eine Mischung aus Kampfer und Menthol getaucht worden waren, umwickelt. Seit einer Viertelstunde fror sie so erbärmlich, dass ihre Zähne angefangen hatten aufeinanderzuschlagen. Sehnsüchtig dachte sie an die gestrige Moorpackung zurück: Das schöne Gefühl, als die Wärme langsam über den Rücken in alle Glieder sackte. Sie seufzte leise. Sofort steckte Dunja ihren Kopf durch den Türspalt. Der süßliche Geruch ihres Parfüms wehte hinein.

»Dona Leticia? Ist alles in Ordnung?«, wollte sie wissen.

»Wie lange muss ich noch?«, presste Leticia zwischen ihren Lippen hervor.

»Eigentlich noch zehn Minuten. Wenn Sie wollen, können wir die Behandlung gerne abbrechen. Sie ist dann aber nicht so wirkungsvoll …« Den Rest des Satzes ließ Dunja ausklingen.

»Ich schaffe das schon«, beeilte sich Leticia zu sagen. Sie meinte, im Ton der Kosmetikerin einen leichten Vorwurf gehört zu haben. Ich bin so dumm, dachte sie, als sie wieder alleine war. Wieso habe ich mir von Inês den Floh ins Ohr setzen lassen, dass ich dringend abnehmen sollte? Hat sich Fernando schon einmal wegen meiner Kurven beschwert? Andererseits, wenn ich mir hier die Damen aus Lissabon und Porto so ansehe … Ich muss langsam anfangen, etwas zu tun. Jünger werde ich auch nicht. 

Sie biss die Zähne zusammen und fixierte die Decke. Zu allem Überfluss bewirkten die sphärischen Klänge, die die Kosmetikerin als beruhigende Musik eingestellt hatte, dass sich ihre Blase meldete. Wieso muss so eine Entspannungsmusik immer das Tropfen oder Plätschern von Wasser enthalten? Als Dunja nach zehn Minuten das Zimmer betrat, war Leticia völlig am Ende. Sie hatte das Gefühl, die ganze Erholung der letzten zwei Tage sei verpufft. Sobald die junge Frau die Beine entwickelt hatte, griff Leticia zu ihrem Bademantel und machte sich auf den Weg zu den Toiletten, auf der anderen Seite der Empore.

Glücklich und deutlich entspannter verließ sie ein paar Minuten später die Örtlichkeiten. Ihr Blick fiel durch das große Panoramafenster, an dem sie vorbei musste, um zurück zu den Behandlungszimmern zu gelangen. Unten im Garten sah sie Clara mit einem bulligen Mann im Gespräch. Die junge Kosmetikerin fuchtelte wild mit den Armen. Gehörte der bullige Typ zu den Angestellten? Neugierig blieb Leticia stehen und beobachtete das ungleiche Paar. Clara mit ihrem perfekt frisierten Pagenkopf, die schmale Gestalt eingehüllt in den rosafarbenen Kittel der Schönheitsfarm, den alle Kosmetikerinnen trugen. Der Bulle mit einem weißen Muskelshirt, aus dem tätowierte, sehr kräftige Oberarme ragten. Überhaupt machte der Mann einen ungepflegten Eindruck. Die halblangen Haare fielen ihm in strähnigen Locken über die Stirn. Ob die junge Frau Hilfe brauchte? Leticia sah noch genauer hin. Nein, es wirkte eher so, als ob Clara ihm eine Standpauke hielt. Mit leicht gesenktem Kopf hörte er zu und nickte immer nur kurz. Eine Hand legte sich auf Leticias Schulter. Sie zuckte zusammen und drehte sich um.

»Dona Leticia, ich warte schon auf Sie! Die Behandlung ist doch noch nicht abgeschlossen.« Dunja blickte sie vorwurfsvoll aus sorgfältig geschminkten Augen an. »Was machen Sie denn hier?« Sie versuchte, über Leticias Schulter hinunter in den Garten zu schauen.

Schnell deutete Leticia auf das große Meerwasseraquarium, das als Raumteiler zwischen dem Wartebereich und den Behandlungsräumen aufgebaut war. Zwischen bunt angestrahlten Korallen wiegten purpurfarbene und weiß-schimmernde Seeanemonen ihre Tentakeln wie kleine Finger im Wasser. Ein schöner Anblick, aber Leticia wunderte sich, dass das Aquarium überhaupt keine Fische zu enthalten schien. Sie wendete sich ab und blickte zu Dunja.

»Ich wollte nur kurz auf die Toilette, bin aber dann bei diesem Anblick hängen geblieben. Gibt es denn gar keine Fische in dem Aquarium?«

Dunja schnaubte.

»Das Aquarium können Sie sich auch später noch ansehen. Das läuft nicht weg. Mit etwas Ruhe entdecken Sie vielleicht dann die Fische.« Der strenge Ton der Kosmetikerin erinnerte Leticia an ihre alte Lehrerin. Fehlte nur noch, dass Dunja ihr gleich eine Strafarbeit aufbrummte. »Sie sollten schleunigst zurück in den Behandlungsraum, Dona Leticia. Ich möchte noch die Lotion mit Meeresalgen auftragen. Sie wirkt wunderbar entschlackend.«

»Wärmt das auch?«, fragte Leticia. Sie hatte immer noch Gänsehaut auf dem ganzen Körper.

»Nein, aber das soll es auch nicht. Wir wollen, dass der Fettstoffwechsel angekurbelt wird, damit alles schön straff wird.« Die etwa fünfzehn Jahre jüngere Kosmetikerin, deren lange, schlanke Beine in engen weißen Hosen unter dem kurzen rosafarbenen Kittel hervorlugten, musterte Leticia von oben bis unten. Diese kam sich in dem Moment vor wie ein Nilpferd, das vor einem arabischen Vollblüter stand. Mit gesenktem Kopf folgte sie Dunja, um den Rest der Behandlung über sich ergehen zu lassen.

Als sie ein paar Stunden später zum kargen Mittagessen auf Inês traf, fror sie immer noch. Und das, trotzdem sie sich unter den Bademantel, in dem die meisten Frauen den ganzen Tag herumliefen, eine lange Jogginghose und einen dicken Baumwollpulli gezogen hatte. Über die Füße hatte sie zusätzlich Wollsocken gestülpt, bevor sie wieder in die Frottee-Pantoffeln geschlüpft war.

Bevor Inês sich neben sie auf den Stuhl sinken ließ, blickte sie sich um.

»Sofia ist immer noch nicht da? Was haben wir für ein Glück! Wahrscheinlich hat sie sich gestern in Funchal die Kante gegeben und liegt jetzt mit einem Kater im Bett. Aber was ist denn mit dir los?« Inês hatte erst jetzt die Aufmachung ihrer Freundin wahrgenommen. »Ist dir etwa kalt?«

»Ich hatte heute Morgen die Cooling-Behandlung«, versuchte Leticia, ihre Kleiderwahl zu erklären.

»Das soll ganz hervorragend sein, habe ich mir sagen lassen!«

»Mag ja sein, aber mir wird einfach nicht warm«, maulte Leticia.

»Sério? Wirklich? Draußen sind es doch fast dreißig Grad!« Inês griff nach Leticias Hand, um sie zu tätscheln. Mit einem kleinen Schrei zog sie ihre Hände zurück. »Du bist ja wirklich eiskalt! Weißt du was, wir bitten Isabel, uns heute Nachmittag die Sauna anzustellen. Ich habe nur noch eine Behandlung direkt nach dem Mittagessen und den Rest des Tages frei.«

»Boa ideia! Gute Idee! Das machen wir.« Mit neuem Elan griff Leticia zu ihrer Gabel, um die kleine Portion Salat, die ihr Mahl darstellte, aufzuspießen. Wenn es wenigstens eine warme Fleisch- oder Fischbeilage geben würde …

»Entschuldigen Sie, meine Damen, dass ich unterbreche. Haben Sie zufällig Senhora Lima gesehen?« Isabel Delgado stand am Tisch. Heute wirkte sie auf Leticia nicht so makellos wie die Tage zuvor. Einige Strähnen waren ihr aus ihrer Hochsteckfrisur gerutscht und hingen nun rechts und links von ihrem schmalen Gesicht herunter. Die Augen waren leicht geschwollen und das Make-up war verschmiert. Hatte sie etwa geweint?

»Nein, seit gestern Abend nicht mehr«, beantwortete Inês die Frage. »Heute Morgen haben wir noch gedacht, dass sie das Frühstück verschlafen hat und direkt zu ihren Behandlungen gegangen ist.« Ihre Annahme einer betrunkenen Sofia im Bett ließ sie bei ihrer Antwort aus.

»Nein, leider ist Senhora Lima auch nicht zu ihren Behandlungen erschienen. Sie hat sie auch nicht abgesagt.«

Leticia erinnerte sich an das Gespräch der beiden Kosmetikerinnen heute Morgen. Sie hatten also von Sofia geredet.

»Vielleicht sollten wir bei ihr klopfen und prüfen, ob es ihr auch gut geht?«, schlug sie vor.

»Sie haben recht, Dona Leticia! Würden Sie beide mitkommen? Schließlich kennen Sie Senhora Lima durch ihre gemeinsamen Mahlzeiten am besten.« Isabel drehte sich um und ging zu dem Trakt mit den Wohneinheiten für die Gäste. Leticia und Inês folgten ihr.

»Desculpe, Entschuldigung. Senhora Lima? Você está bem? Sind Sie in Ordnung?«

Sie horchten. Keine Antwort, im Zimmer war es still.

»Das gefällt mir nicht.« Leticia sah vor ihrem inneren Auge eine bewusstlose Sofia auf einem zerwühlten Bett. Hätten sie schon viel früher nach der Journalistin schauen sollen?

»Meine Damen, ich schließe jetzt auf. Ich denke, das ist auch in Ihrem Sinne?« Isabel holte den Generalschlüssel aus der Gesäßtasche ihrer engen Jeans und öffnete die Tür.

Neugierig steckten die drei Frauen ihren Kopf durch die Tür.

»Caramba! Verdammt! Das darf doch nicht wahr sein!« Isabel betrat das verlassene Zimmer und öffnete den Kleiderschrank. Eine Handvoll leerer Bügel, ein Ersatzkissen und eine Plastiktüte für den Wäscheservice war alles, was sie dort fanden.

»Sie ist abgereist!«, stellte Leticia überrascht fest.

»Und das, ohne ihre Rechnung zu bezahlen«, ergänzte Isabel. Auf ihrer glatten Stirn hatte sich eine tiefe Zornesfalte eingegraben.

»Wir sind doch auf einer Insel. Es sollte kein Problem sein, Sofia Lima ausfindig zu machen. Soll ich meinem Mann Bescheid geben?« Inês griff nach ihrem Mobiltelefon.

»Não, obrigada. Nein, danke. Die Polizei hier auf der Quinta wäre sehr schlechte Publicity für mein Haus. Wie sieht es denn aus, wenn ich dem Geld meiner Kunden hinterherlaufen muss?« Isabel schüttelte heftig den Kopf, sodass sich noch mehr Strähnen lösten. »Ich werde die Rechnung an Senhora Limas Heimatadresse in Lissabon schicken. Wenn sie die auch nicht bezahlt, leite ich die nächsten Schritte ein. Für solche Dinge habe ich eine Versicherung, die werde ich gleich mal kontaktieren. Machen Sie sich keine Sorgen um mich, meine Damen. Sofia Lima wird mir nichts schuldig bleiben.« 

Garajau, einen Tag vor dem Fund, 10:23

»Parada! Stop! Urso, hör endlich mit diesem verdammten Heulen auf! Hier ist doch nichts los. Nur der Tunnel und durch den sind wir gefühlt schon tausend Mal gefahren!«

Avila beobachtete durch den Rückspiegel seinen Hund, der unruhig im Kofferraum hin und her lief und dabei abwechselnd heulte und jaulte.

Felia ergänzte dieses Konzert mit durchdringendem Gekreische. Avilas Kopf dröhnte. Waren denn hier alle verrückt geworden?

»Urso, SITZ!«, schrie er. Der Labrador schaute überrascht auf, ließ sich dann aber niederplumpsen. Auch Felia hörte auf zu kreischen. Kurz wollte er aufatmen, da ließ seine Tochter ein lautes Heulen vom Rücksitz erklingen. Sofort stimmte Urso mit ein.

»Querida, Schätzchen. Es ist alles in Ordnung. Dein Papa ist nicht böse!« Hilflos versuchte er, seine Tochter zu trösten und dabei keinen Unfall zu bauen. Die Kurven der Straße waren steil und eng und wenn er jetzt nicht aufpasste, würde es ein Unglück geben. »Wir sind gleich da. Und dann schauen wir uns zusammen die schöne Levada an!« Vasconcellos hatte ihm den Tipp mit der Levada da Serra do Faial gegeben. Diese lag südwestlich von Camacha und war sehr ebenerdig. Der Weg war relativ breit und Avila hoffte, den leichtgängigen neuen Buggy seiner Tochter dort einfach schieben zu können. Urso würde er die meiste Zeit nebenher ohne Leine laufen lassen können. Jetzt müsste gleich die enge Rechtskurve mit der kleinen Wendemöglichkeit zur linken Hand kommen, von der Ernesto gesprochen hatte. Da vorne war sie. Avila war es nicht ganz geheuer, hier in der Kurve zu drehen, aber es ging besser als erwartet. Er fuhr an der Einstiegsstelle der Levada vorbei und parkte das Auto auf der rechten Seite bergab. Jetzt kam der Moment, der ihm bevorstand. Er musste Urso an die Leine nehmen und mit Buggy und Hund ein Stück auf der Straße hochgehen. Wenn jetzt jemand von oben in voller Fahrt angeschossen kam und nicht auswich? Er merkte, wie ihm der Schweiß den Rücken herunterlief. Avila hob die Kofferraumklappe nur einen Spalt. Sofort zeigte sich die helle Schnauze des Retrievers.

»Nein, noch nicht Urso!« Er tastete durch die schmale Öffnung der Klappe nach dem Hundegeschirr und klinkte die Leine in die Öse am Rücken ein. Erst dann öffnete er den Kofferraum komplett. Nur einen Moment später merkte er, dass das ein taktischer Fehler gewesen war. Mit einem aufgeregten Hund an der Leine den neuen Buggy auseinanderzuklappen und Felia sicher hineinzusetzen, war fast unmöglich. Zweimal riss Urso den Buggy um, zum Glück jedes Mal, bevor Avila Felia hineinsetzen konnte. Wahrscheinlich hätte ich doch besser den alten sperrigen Kinderwagen genommen, anstatt dieses neue Teil, schimpfte er mit sich. Aber ich Idiot wollte ja unbedingt die schwergängigen Räder vermeiden und stattdessen mit der leichten neuen Sportkarre durch die Gegend fahren. Was mache ich, wenn die Karre mit Felia umfällt? Sein T-Shirt klebte mittlerweile vor Anstrengung und Stress an seinem Rücken. Kurz überlegte er, ob er nicht Tochter, Hund und den verflixten Buggy wieder ins Auto verfrachten sollte. Aber als es ihm endlich gelang, Felia im Buggy festzuschnallen, hörte Urso wie durch ein Wunder auf zu ziehen. Stattdessen beschnupperte der Hund vorsichtig Felias Hände, die sie ihm entgegenstreckte.

»Wirst du dich jetzt benehmen?«, fragte Avila und strich Urso über den Kopf. »Nur ein Stückchen die Straße rauf und du darfst frei laufen.« Als hätte der Hund ihn verstanden, verlief der kurze Weg bis zur Levada ohne weitere Störungen. Avila atmete erleichtert auf, als er den erdigen Boden des Levadapfades unter den Füßen hatte.

Er klinkte die Leine aus und ließ den Retriever die Gegend erkunden. Besonders schien Urso die Levada zu gefallen, die nur wenig Wasser führte. Kopfüber hängte er sich über den steinernen Rand und versuchte, in den künstlichen kleinen Fluss zu gelangen.

»Meinst du, das ist eine gute Idee?«, fragte Avila seinen Hund. »Wie soll ich dich da wieder herausbekommen?« Bevor er hinlangen und den Retriever am Geschirr packen konnte, war es schon passiert. Mit einem lauten Platsch ließ sich Urso in die Levada fallen.

Womit habe ich das nur verdient?, haderte Avila mit seinem Schicksal. Er blickte über den Rand. Ein nasser Retriever sah zu ihm empor und lachte ihn an. Ja, der Hund lachte. Anders konnte Avila diese halb geöffnete Schnauze mit dem breiten, fast menschlichen Grinsen nicht umschreiben. Was für ein verrücktes Tier!

Die nächsten dreihundert Meter watete Urso neben Avila her durch die Levada. Zu Avilas Glück wurde sie flacher und am Ende gelangte der Hund, nach zwei Fehlversuchen, ohne Hilfe wieder auf den Waldboden. Langsam konnte sich der Comissário mit dem kleinen Ausflug anfreunden. Das Schaukeln über den unebenen Boden hatte zudem eine beruhigende Wirkung auf seine Tochter. Ihr Köpfchen hing schräg zur Seite und die Augen waren geschlossen. Er atmete tief ein und nahm jetzt die Gerüche des Waldes in sich auf. Es roch nach Eukalyptus, gepaart mit dem Duft von feuchtem Holz. Hier im Wald war es nicht so trocken wie unten in Garajau, wo die Blumen in den Gärten im Moment nur durch reichliches Wässern überlebten.

»Ist es nicht schön hier?«, fragte Avila seinen Hund. »Und so ohne Menschen! In Rabaçal könnten wir jetzt wahrscheinlich nicht treten vor Touristen. Dieses Eckchen haben sie wohl noch nicht entdeckt. Zugegeben, ist natürlich auch nicht so spannend wie da oben auf der Hochebene. Und Wasserfälle sehe ich auch nicht. Aber mir gefällt es!« Er bückte sich und pflückte eine kleine Blumendolde von einem großen Busch, der zwischen Farn und jungen Lorbeerbäumen blühte. In einem Anflug von Übermut steckte er sich die aus vielen kleinen weißen Blüten bestehende Blume hinters Ohr. Leise vor sich hin pfeifend ging er weiter. Kurz danach tauchten ein paar Häuser auf der linken Seite der Levada auf und vorsichtshalber nahm er Urso an die Leine. Bestimmt gab es hier Katzen und er hatte keine Lust, dass der Jagdtrieb seinen Hund packte. Tatsächlich tauchten hinter einigen Autowracks, die neben der Levada standen, zwei Katzen auf, die den Retriever kritisch aus der Entfernung musterten. Ich sollte den Kollegen von der Polícia de Segurança Pública Bescheid sagen, überlegte sich Avila. Es kann doch nicht sein, dass hier alte Autos vor sich hin gammeln. Wer weiß, was für ein Dreck in den Boden sickert. In sicherer Entfernung ließ er Urso wieder von der Leine. Dieser feierte seine wiedergewonnene Freiheit, indem er laut bellend um die nächste Ecke verschwand.

Gerade hatte Avila die kleine Siedlung hinter sich gelassen, als auf der rechten Seite ein mit Kopfsteinpflaster bedeckter Weg die Levada kreuzte, der sich nach unten in Richtung Tal in einer schmalen, betonierten Zufahrtsstraße fortsetzte. Eine von Brombeeren überwucherte Mauer ließ keinen raschen Blick auf das Grundstück rechts dahinter zu. Die Einfahrt wurde von einer verrosteten Kette versperrt. Diese hing zwischen zwei großen steinernen Säulen, die auch schon bessere Zeiten gesehen hatten. Ein Teil der Sockel war weggebrochen und der eine Pfeiler stand so schräg, dass Avila befürchtete, er würde demnächst umkippen. An der Kette hing ein dreckig-weißes Schild.

»Entrada proibida! Zutritt verboten«, las er. Laut rief er nach Urso, aber von dem Retriever fehlte jede Spur. Wenn ich Pech habe, ist mein blöder Hund genau dorthin verschwunden. Er rief ein weiteres Mal und horchte. Ein Rascheln. Das musste Urso sein. Avila trat näher, um einen Blick hinter die Mauer zu werfen. Ein wilder, ungepflegter Park breitete sich vor ihm aus. Der gepflasterte Weg wand sich zwischen halbhohen Bäumen, deren herabhängende Äste Avila entfernt an Trauerweiden erinnerten, die er in seiner Zeit in Münster kennengelernt hatte. Zwischen den Bäumen wucherten Farne und riesige bunte Sträucher von Bougainvillea. Er rief lauter. Da, ein Bellen. Urso war also im Park. Gerade wollte er sich umdrehen und Felia aus dem Wagen nehmen, um mit ihr über die Kette zu steigen, als er eine Bewegung zwischen zwei der Büsche wahrnahm.

»Urso, komm sofort her«, rief er. Ein weiteres Bellen. Aber da war noch etwas.

»Ist da jemand?« Das Bellen von Urso wurde lauter. Avila zurrte an dem Sicherheitsgurt von Felias Wagen. Er musste sehen, was da los war. Wieder rief er nach seinem Hund. Endlich konnte er den Gurt lösen. Er nahm die freudig quietschende Felia auf den Arm und stieg vorsichtig über die etwa ein Meter hohe Kette. Jetzt bloß nicht mit dem Kind hinfallen. Langsam ging er in Richtung des Bellens. Glücklich war er über die Situation nicht. Er, ein Comissário, beging hier Hausfriedensbruch. Als er um eine besonders große purpurrot strahlende Bougainvillea herumging, sah er Urso endlich. Und nicht nur den. Vor dem freudig bellenden Retriever kniete Carlos und versuchte, den Hund zu beruhigen.

»Was machst du denn hier? Du hast mir einen richtigen Schreck eingejagt«, wollte Avila von seinem Freund wissen.

Langsam richtete Carlos sich auf.

»Ich suche hier …«, setzte Carlos mit einer Erklärung an, während er sich den Staub von seiner blauen Latzhose klopfte. Mitten in der Bewegung hielt er inne und musterte Avila scharf. Mit drei schnellen Schritten schoss er auf Avila zu. Überrascht duckte der Comissário sich. Wollte Carlos ihn schlagen?

»Nimm Felia runter, sofort!« Völlig perplex gehorchte Avila und setzte Felia auf den Boden. Carlos beugte sich über ihn und zog mit einem Taschentuch den Zweig mit den weißen Blüten hinter seinem Ohr hervor. »Hast du gesehen, ob Felia an den Blüten war?«

»Nein, ich glaube nicht. Wieso fragst du?« Avila, verwirrt über Carlos’ Verhalten, blickte von seiner Tochter zu den Blüten in dem Taschentuch und wieder zurück.

»Vorsichtshalber sollten wir ihre Hände waschen. Pass auf, dass sie sie nicht in den Mund nimmt. Ich laufe schnell zu der Levada und mache mein Halstuch nass.« Carlos rannte aus der Einfahrt. Kurze Zeit später kam er wieder und begann Felia vorsichtig zuerst das Gesicht, dann die Hände und die Arme abzuwischen.

»Erklärst du mir mal, was das alles soll?«

»Weißt du denn nicht, was du dir da für eine Blüte hinters Ohr gesteckt hast? Das ist ein Nachtschattengewächs. Die meisten davon sind sehr giftig! Auch dieses!«

»Oh Gott, das wusste ich nicht!«

»Du musst dringend etwas über Madeiras Flora lernen, mein Freund. Unsere Wälder und Gärten sind voll mit giftigen Pflanzen. Besonders hier wimmelt es von regelrechten Killergewächsen«, mahnte Carlos ihn.

»Wieso ausgerechnet hier?«, wollte Avila wissen.

»Dies ist das Gelände von einem ehemaligen Kloster. Es wurde vor ein paar Monaten aufgegeben. Die Nonnen haben sich über Jahrhunderte mit der Wirkung von Pflanzen beschäftigt. Als Vater von einem kleinen Kind und als Hundehalter solltest du mehr über Pflanzen und ihre Giftigkeit wissen.« Carlos schaute seinen Freund streng an.

»Leticia ist diejenige von uns, die sich damit auskennt. Sie hat auch den Oleander aus unserem Garten entfernt.«

»Du hast eine kluge Frau. Aber das hilft dir nicht, wenn du mit deinem Kind und deinem Hund hier oben unterwegs bist. Ich werde dir gleich heute Abend eines meiner Pflanzenbücher vorbeibringen.«

Nach dieser Episode war Avila die Lust auf weiteres Spazierengehen vergangen und er verabschiedete sich von seinem Freund, um mit Felia und Urso zum Auto zurückzukehren. Erst als er zu Hause die Tür aufschloss, fiel ihm ein, dass Carlos ihm gar nicht erzählt hatte, was er in dem gesperrten Park gemacht hatte.

Polizeipräsidium, Funchal, 25.08.2014 08:23

»Caramba, das darf doch nicht wahr sein!« Schimpfend wendete Avila seine Familienkutsche in der kleinen Sackgasse, direkt hinter dem Polizeipräsidium. Normalerweise fand er um diese Zeit fast immer ein Plätzchen, wo er zumindest für eine Stunde den Wagen kostenlos abstellen konnte. Aber nein, es war alles vollgeparkt. Im Schritttempo bog er in die Rua Miguel Carvalhal und hielt Ausschau. Hinter ihm fing ein Fahrer an zu hupen. Er blickte in den Rückspiegel. Bestimmt ein Tourist, dachte er beim Blick auf das Nummernschild. Man sollte doch meinen, dass die im Urlaub etwas Zeit haben. Genervt lenkte er den Wagen auf einen freien Platz neben einer Einfahrt. Das Heck ragte halb über den Parkplatz hinaus. Das muss reichen, beschloss er. Mit etwas gutem Willen kann man ohne Probleme raus. Außerdem sind Felia und ich ja nur kurz im Präsidium. Einmal nach dem Rechten schauen. 

Seit gestern langweilte er sich furchtbar zu Hause. Es wurde Zeit, dass Leticia wieder kam. Vor lauter Verzweiflung hatte er angefangen, die Bücher im Wohnzimmer alphabetisch und nach Themen zu sortieren. Als nächstes Projekt wollte er sich der Programmierung des Fernsehers widmen. Ihn nervte es, dass die Programme willkürlich verteilt waren. Auch hier würde eine Sortierung nach Alphabet sicher Wunder wirken. Bevor er sich aber dieser Aufgabe heute Nachmittag zuwendete, war er auf die Idee gekommen, in Funchal bei den Kollegen vorbeizuschauen. Vielleicht konnte er sie sogar überreden, mit ihm noch einen Galão und einen Bica im Mercearia de Mécia in der Rua dos Aranhas zu nehmen. Bei dem Gedanken an die leckeren Pãos de Deus lief ihm das Wasser im Munde zusammen. 

Mit Felia auf dem Arm stieg er die große graue Steintreppe des Präsidiums hinauf. Bevor er endlich das Gemeinschaftsbüro von Vasconcellos und Baroso auf dem Flur der Mordkommission betrat, hatte gefühlt jeder weibliche Polizist einmal über Felias Wange gestrichen. Zum Glück ertrug seine Tochter diese Sympathiebekundungen ohne Klagen.

»Bon dia! Guten Morgen!« Überrascht schaute sein Aspirante Baroso hinter dem wie immer unaufgeräumten Schreibtisch hervor.

»Comissário!« Der junge Polizist sprang auf. Fast erwartete Avila, dass der Aspirante vor ihm salutierte.

»Ist schon gut, Baroso. Setz dich. Ich bin privat hier, kein Grund, Aufhebens um mich zu machen«, brummte er. Er blickte sich um. »Wo ist Ernesto? Lässt er dich etwa alleine?«

Baroso fuhr sich durch die Haare.

»Der Subcomissário muss jeden Moment hier sein. Darf ich Ihnen vielleicht einen Kaffee anbieten?«

»Wenn Kaffee, dann sollten wir die Espressomaschine bei mir im Büro nutzen. Das Gebräu aus dem Kaffeeautomaten auf dem Flur bekomme ich nicht herunter. Wie wäre es, du passt kurz auf Felia auf und ich mache uns einen Bica? Oder ist dir ein Espresso zu stark? Ich mache dir auch gerne einen Chinesa mit Milch.«

»Ein kleiner Schwarzer wäre wunderbar, vielen Dank, Comissário«, strahlte Baroso. Er streckte die Arme aus, um Avila seine Tochter abzunehmen.

Vor sich hin pfeifend schloss Avila sein Büro auf und steuerte auf die silberne Kaffeemaschine zu. Er vergewisserte sich, dass noch genug Kaffeebohnen im Mahlwerk waren, und stellte eine von den kleinen Espressotassen unter den Ausguss. Kurze Zeit später erfüllte der Geruch von frisch gebrühtem Kaffee den Raum. Mit zwei dunkelbraunen Espressi machte er sich auf den Weg zurück in das Büro seiner Mitarbeiter. Dort hatte sich mittlerweile auch Vasconcellos eingefunden. Er krabbelte, mit einer lachenden Felia auf dem Rücken, auf allen vieren durch das Büro. Baroso ging neben dem seltsamen Gespann her und passte auf, dass Felia nicht herunterfiel.

»Ich glaube, wenn der Wolf sieht, wie wir euch von der Arbeit abhalten, gibt er mir für die nächsten Tage Hausverbot«, bemerkte Avila und stellte die Tassen auf Barosos Schreibtisch. »Möchtest du auch einen, Ernesto?«

»Não, obrigado. Nein, danke.«

Barosos Telefon klingelte. Mit einer kurzen Entschuldigung nahm er den Hörer ab.

»Tou? Ja bitte?« Die Gesichtsfarbe des Sargentos wechselte zu einem gesunden Rot. »Avó, Großmutter. Ich habe dir doch gesagt, du sollst mich nicht im Büro anrufen! … Das Wasser ist nicht da? Und wie soll ich dir da helfen? … Was? Eine Hand? Un momento, einen Moment.« Er hielt den Hörer zu und wandte sich an seine beiden Vorgesetzten. »Desculpe, Entschuldigung. Ich habe gerade erfahren, dass in der Levada dos Tornos eine abgetrennte weibliche Hand gefunden wurde.« 

»Levada dos Tornos? Wo soll das sein?«

»Unterhalb von Camacha. Genauer gesagt beim Vale Paraíso. Meine Großmutter hat dort ein kleines Feld. Durch die Hand war anscheinend die Levada verstopft. Sie hat dem Engenheiro angeboten, uns anzurufen, weil der kein Telefon dabei hat.«

»Eine abgetrennte Hand? Das muss aber kein Fall für die Mordkommission sein«, meinte Avila. Zumindest hoffte er das nicht. Jetzt, in seiner Abwesenheit.

»Wollen wir erst einmal im Krankenhaus in Funchal nachfragen, ob dort eine Patientin ihre Hand vermisst?«, fragte Vasconcellos. »Es ist doch gerade ruhig, da schadet es doch nichts, einen Ausflug ins Hinterland zu machen, oder?« Vorsichtig hob er die protestierende Felia von seinem Rücken und richtete sich auf. »Baroso, frag deine Großmutter, wo genau wir sie und den Engenheiro treffen können. Ich rufe Dona Katia an. Sie wird feststellen können, ob die Hand von einer toten oder lebenden Person stammt.« Er griff zum Telefon auf seinem Schreibtisch.

»Soll ich noch Sargento Fonseca Bescheid sagen, Subcomissário? Vielleicht macht es Sinn, einen Spürhund mitzunehmen?«

»Gute Idee, Baroso. Mach das!«

Avila schluckte. Auf einmal fühlte er sich außen vor. Wie gerne wäre er jetzt mitgegangen und hätte den möglichen Tatort inspiziert. Gott, ich vermisse diese Arbeit. Soll ich wirklich meine Stunden reduzieren? Das hieße wahrscheinlich auch, dass ich die Leitung der Mordkommission an Ernesto abgeben muss und zum Schreibtischtäter werde. Will ich das? 

»Fernando? Tudo bem? Ist alles gut? Baroso und ich müssen los. Soll ich heute oder morgen Abend auf ein Coral vorbeikommen?« Ernesto blickte ihn mit schief geneigtem Kopf an.

»Sim, está tudo bem! Ja, es wäre nett, wenn du vorbeikommst. Leticia ist erst am Mittwoch wieder da.«

»Alles klar! Bis spätestens morgen!«

Die Tür ging hinter den beiden zu. Avila und Felia waren alleine im Büro.

»Wollen wir nach Hause, querida? Wir bringen noch schnell die Tassen in mein Büro und dann fahren wir.«

Noch nicht einmal fünf Minuten später war Avila mit Felia auf der Rua Miguel Carvalhal. Dort vorn war die Einfahrt, vor der er seine Familienkutsche gezwängt hatte. Aber das konnte doch nicht sein? Wo zum Teufel war sein Auto? Vorsichtshalber ging er die Straße einmal hoch und runter. Hatte er sich vertan? Nein, kein Auto. Wütend stapfte er zurück ins Präsidium. Dabei überlegte er. Konnte jemand den Wagen gestohlen haben? Vielleicht hatte er den Schlüssel stecken lassen und so einen Gelegenheitsdieb eingeladen? Er griff in seine Hosentasche. Nein, er konnte den Schlüsselanhänger, einen kleinen Flaschenöffner, spüren. Also aufgebrochen und kurzgeschlossen. Das war verrückt. Wer wollte seinen zerbeulten alten Wagen stehlen? Das ergab doch keinen Sinn?

»Beatriz, haben Sie eine Idee, was mit meinem Wagen passiert sein könnte? Gab es in letzter Zeit Autodiebstähle hier in der Nähe? Ich hatte ihn in der Rua Miguel Carvalhal geparkt und jetzt ist er verschwunden«, fragte er die junge Sargenta, die vorne am Eingangstresen Dienst hatte.

»In der Rua Migual Carvalhal? Hatten Sie einen regulären Parkplatz?« Ihre Stimme nahm einen besorgten Ton an.

Avila neigte den Kopf hin und her. »Im weitesten Sinne ja. Vielleicht war mein Auto etwas zu groß.«

»Oh je, Sie sind heute schon der zweite, Comissário!«, klagte Beatriz. »Die Stadt spielt eine Woche vor dem Festa do Vinho verrückt. Es gab doch nach dem Verkehrschaos bei der Rali do Vinho die Order vom Präsidenten, keine Verkehrsbehinderungen mehr zu dulden. Der neue Intendente von der Abteilung ›Polícia de trânsito‹ hat das wörtlich genommen und schleppt seit Tagen jeden Falschparker ab. Ich befürchte, es hat auch Sie erwischt.«

»Merda, Mist! Wie soll ich ohne Auto mit Felia nach Hause kommen?«

»Sie wohnen doch in Garajau, richtig? Nehmen Sie doch den Bus über die Via rapido. Der fährt gleich hier um die Ecke ab. Ich telefoniere herum und mit etwas Glück finde ich Ihr Auto. Haben Sie ein Kennzeichen für mich?« Sie zückte einen Kugelschreiber.

Avilas Stimmung war im Keller. Bus fahren? Es gab wenig, was er mehr hasste. Sich mit Felia in eine der engen Reihen klemmen? Seitdem er in Garajau lebte, hatte er nur ein einziges Mal den Bus zur Arbeit genommen. Schon die Gerüche in den alten Automobilen verursachten ihm Magenschmerzen.

»Wie heißt der neue Chef der Polícia de trânsito? Dem Mann möchte ich gerne mal einen Besuch abstatten!«, schimpfte er laut.

»Sein Name ist Costa. Aber seien Sie vorsichtig, Comissário. Unter uns, er ist kein wirklich netter Mensch und ich habe gehört, er soll sehr nachtragend sein.«

»Was will er mir denn antun?«

»Sie abschleppen lassen?«, ertönte die dunkle Stimme seines Chefs hinter ihm.

Avila zuckte zusammen. Er hatte nicht mitbekommen, dass der Wolf das Präsidium betreten hatte.

»Das hat dieser Mistkerl bereits getan!«

Lobo klopfte ihm auf die Schulter.

»Es bringt gar nichts, sich aufzuregen, mein lieber Fernando. Ich bin mir sicher, dass Beatriz Ihren Wagen auftreibt.«

Avila seufzte.

»Sie haben wahrscheinlich recht. Es nützt nichts, Felia und ich werden jetzt den Bus nehmen.«

»Den Bus?« Die wölfischen Augenbrauen schossen in die Höhe. »Wer nimmt denn den Bus? Nein, wenn Sie mögen, kann ich Sie schnell mit der Kleinen nach Hause fahren. Wir beiden Strohwitwer müssen uns doch helfen, jetzt wo unsere Frauen nicht da sind.« Er zwinkerte Avila zu.

Dieser war hin- und hergerissen. Sollte er höflich ablehnen? Seitdem er vor einem halben Jahr an diesem schrecklichen Wochenende mit seinem Chef notgedrungen auf Mörderjagd gegangen war, hatte er einige gute Seiten an dem Wolf entdeckt. So schlimm würde die noch nicht mal halbstündige Fahrt schon nicht werden, versicherte er sich und nickte.

»Obrigado, vielen Dank, André. Aber nur, wenn es keine Mühe macht!«

»Papperlapapp. Beatriz, sind Sie so lieb und kümmern sich um das Auto von dem Comissário? Schicken Sie einen Sargento los, er soll den Wagen nach Garajau bringen. Kommen Sie, Fernando? Mein Mercedes steht in der Tiefgarage.« 

Natürlich steht sein Auto in der Tiefgarage. Was muss ich tun, damit ich dort auch einen Parkplatz bekomme?, überlegte Fernando und folgte seinem Chef die Treppe zur Garage hinunter. 

 

25. Dezember 1893

»Nur der aufreibende Hunger, den Du mit Fasten bestrafst, statt ihn wie andere vernünftige Menschen zu stillen, stimmt mich traurig, doch da ist Hopfen und Malz verloren, und so wollen wir über dieses Kapitel schweigen.«

Franz Josef an Elisabeth

»Geht es nicht etwas schneller?« Der schwarze Fächer wurde ungeduldig auf und zu geklappt. Die schlanke, wie immer in Schwarz gekleidete Gestalt reckte sich und blickte sich nach ihren Begleitern um.

Der Griechischlehrer hatte schon eine halbe Stunde vorher aufhören müssen, aus Homer zu zitieren. Schwer atmend stützte sich die kleine, verwachsene Gestalt auf seinen Spazierstock.

»Sind wir bald da?«, wollte er wissen, den Blick besorgt auf den immer noch ansteigenden Weg vor sich gerichtet.

Er tat Anna leid. Für ihn mit seiner Behinderung musste es noch anstrengender sein. Auch sie hatte mit Kurzatmigkeit zu kämpfen. Aber zumindest forderte ihre Herrin bei dem mittlerweile drei Stunden dauernden Weg zur Quinta do Palheiro Ferreiro nicht von ihr, dass sie die ganze Zeit Homer zitieren musste. Sie musste nur zusammen mit den anderen beiden Hofdamen Schritt halten. Das war ebenfalls nicht einfach und höchstwahrscheinlich würde sie heute Abend auf der »Greif« wieder in einen tiefen, traumlosen Schlaf fallen.

»Reißen Sie sich zusammen, Christomanos. Sobald wir die Quinta erreicht haben, dürfen Sie sich ausruhen. Aber beim Abstieg erwarte ich nachher, dass Sie mir noch einmal die letzte Passage der Ilias vortragen, damit ich sie übersetzen kann. Und bitte ohne Ihr ständiges Schnaufen. Das stört meine Konzentration schon sehr!« Sie stieß mit ihrem schwarzen Schirm zweimal auf dem Boden auf und erneut ging es mit langen Schritten den Berg hoch.

Nach einer weiteren Stunde erreichten sie endlich das Anwesen der Familie Blandy. Die ausladende verwinkelte Quinta thronte über dem größten Garten, den Anna je gesehen hatte. Blumen und Bäume so weit sie schauen konnte. Viele Gewächse waren in geometrische Formen gestutzt worden, sodass die Grünanlage noch verzauberter wirkte. Anna kam sich vor wie Alice. Genauso musste sich das Mädchen gefühlt haben, als es ins Wunderland kam. Beinahe erwartete sie, gleich zu einer Teegesellschaft mit einem Hasen und einem Hutmacher gebeten zu werden. Sie musste lachen. Meine Fantasie geht mit mir durch. Ich brauche dringend etwas zu essen und zu trinken. 

»Geht es Ihnen gut, mein Kind?« Der schwarze Fächer tippte auf ihre Schulter. Sie drehte sich um.

»Der Garten erinnerte mich nur an eine Szene aus einem Kinderbuch, aus dem meine Mutter mir vorzulesen pflegte«, sprudelte es aus ihr heraus. »Es geht um ein Mädchen im Wunderland.« Erschreckt riss sie die Augen auf. Hatte sie das wirklich gerade gesagt?

Die Andeutung eines Lächelns glitt über die verhärmten Züge und Anna konnte die einstige Schönheit kurz erahnen.

»Ich glaube, ich kenne dieses Buch. Rudolf, mein Sohn, war ganz begeistert davon. Dann wollen wir doch nach der grinsenden Katze Ausschau halten …« Mit schnellem Schritt nahm die hohe Frau die Steinstufen empor zur Quinta. Ein älterer Herr mit sorgsam gestutztem grauem Bart erschien auf den obersten Stufen. Er begrüßte seinen Besuch mit einer tiefen Verbeugung.

»Ich freue mich sehr, dass Ihr mir die Freude bereitet, mein Gast auf der Quinta zu sein. Wenn es Euch genehm ist, habe ich eine kleine Erfrischung im Garten zubereiten lassen, Eure Maj…«

Der Fächer erhob sich mahnend.

»Vielen Dank, Herr Blandy. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie meinen Besuch etwas diskret behandeln würden. Bitte sprechen Sie mich mit Gräfin von Hohenems an. Bevor wir uns erfrischen, möchte ich unbedingt eine Führung durch Ihren Garten haben. Schon in Wien habe ich von Ihrer wunderbaren Kameliensammlung gehört. Ist es die richtige Zeit, um sie in Blüte zu erleben?«

Wieder verneigte sich der Herr und wies in Richtung Garten. »Ganz wie Ihr wünscht, Eure Durchlaucht. Ihr habt tatsächlich Glück. Die ersten Kamelien stehen schon in Blüte. Ich hoffe, dass Euch der Anblick erfreuen wird.« Höflich bot er seinem Gast den Arm an. Anna fragte sich, wie oft er wohl so hohen Besuch bekäme. Er strahlte eine große Ruhe und Selbstsicherheit aus. Sein herrschaftlicher Gast schien ihn in keiner Weise aufzuregen. Auch nicht der ungewohnte Wunsch der Anrede. Wahrscheinlich war er es sogar gewohnt, dass prominente Gäste der Insel seinen Garten besichtigten. Der Rest der Gesellschaft blieb unschlüssig auf den Steinstufen stehen, während er sich mit der Gräfin in Richtung Garten wandte.

»Ich glaube, nicht jeder meiner Begleiter teilt heute meine Begeisterung für Ihren Garten«, bemerkte die Gräfin kritisch. »Nur meine Baroness hat den Zauber dieses Ortes erfasst. Daher soll sie uns begleiten. Christomanos? Bitte sorgen Sie dafür, dass meine anderen Damen sich etwas ausruhen und erfrischen. Wir stoßen dann später zu Ihnen.« Anna meinte, einen mühsam unterdrückten Freudenschrei von dem jungen Mann zu hören, als er mit den beiden anderen Hofdamen ins Innere der Quinta verschwand.

Nach einer Stunde, in der ihr Gastgeber sich als blumenkundiger Führer erwiesen hatte, kamen auch die Gräfin und die Baroness in den Genuss der kleinen Erfrischung. Die Gräfin ließ sich sogar dazu überreden, mehrere der angebotenen Gebäckstücke zu probieren. Wie immer aß sie aber nur ein paar Bissen mit dem Hinweis darauf, dass sie auf ihre Figur achten müsse. Kurz befürchtete Anna, dass John Blandy widersprechen würde mit dem Blick auf die schmale Gestalt seines Gastes. Aber egal welcher Gedanke durch den Kopf des Schotten ging, er nickte nur höflich und ließ der Gräfin ihren Willen.

Zum Abschied fragte er: »Wie lange gedenkt Ihr, auf Madeira zu bleiben, Eure Durchlaucht? Ich könnte mir vorstellen, dass es Mitte Januar noch mehr hier im Garten zu sehen gibt. Es wäre mir eine sehr große Ehre, wenn Ihr dann einen weiteren Besuch erwägen würdet.«

»Meine zukünftigen Reisepläne sind bisher nicht fixiert. Sollte ich im Januar noch hier sein, komme ich gerne auf Ihr Angebot zurück, mein Herr. Jetzt müssen wir leider los, da wir heute in der Quinta do Monte für einen weiteren Besuch erwartet werden.«

»Ihr wollen jetzt noch nach Monte? Ich stelle Euch gerne eine Kutsche zur Verfügung. Die kann Euch zumindest einen Großteil des Weges bringen.«

»Nach dieser ausgiebigen Erfrischung tut es uns allen gut, uns zu bewegen«, widersprach ihm die Gräfin und scheuchte ihre Gesellschaft zum Aufbruch.

Bevor sie verschwanden, nahm der alte Blandy Anna beiseite.

»Baroness, bitte lassen Sie mich zum Abschied noch etwas sagen.« Er schaute der großen schlanken Gestalt hinterher, die sich bereits wieder mit weiten federnden Schritten entfernte. »Bitte passen Sie gut auf Ihre Herrin auf. Es scheint mir doch etwas viel, was sie sich zumutet. Vielleicht würde ihr eine Einkehr zur Besinnung und Ruhe guttun? Hier in der Nähe, unterhalb von Camacha, gibt es ein Nonnenkloster, Mosteiro de Santa Maria-a-Velha. Es hat ebenfalls einen wunderbaren Garten voller Bougainvillea in allen nur vorstellbaren Farben. Und erst der Kräutergarten! Voller endemischer Arten, die es nur auf Madeira gibt. Vielleicht sogar nur noch in diesem Kräutergarten, der seit über hundert Jahren von den Nonnen gehütet wird. Sie sind sehr freundliche Damen aus bestem Hause und nehmen es mir altem Mann auch nicht übel, wenn ich ab und zu durch den Klostergarten wandle. Mit etwas Glück findet der unruhige Geist Ihrer Herrin dort die notwendige Ruhe und vielleicht ein kleines Kräuterlein, was ihrer Seele guttut.«

Irgendwo in der Nähe von Camacha, 25.08.2014 10:37

»Wo genau muss ich jetzt hin?« Vasconcellos blickte Baroso an.

»Fahr hier vorne links ab, die 205 in Richtung Palheiro Ferreiro. Dann gibt es eine kleine Straße hoch in Richtung der Levada da Serra do Faial. Von da müssen wir nur noch ein paar Hundert Meter entlang der Levada laufen«, dirigierte der Aspirante ihn. 

»Woher kennst du dich so gut aus?«, wollte Fonseca wissen, der auf der Rückbank Platz genommen hatte.

Baroso wurde rot. »Meine avó hat ein kleines Feld an der Levada dos Tornos. Nach der Arbeit fahre ich öfter hin, um ihr zu helfen.«

»Deine Großmutter? So jung bist du?«, wollte Fonseca wissen. »Ich kann mich an meine kaum noch erinnern.« Barosos Gesichtsfarbe wurde noch dunkler.

Vasconcellos sprang seinem Aspirante bei.

»Lass mal, Manel. Wir können froh sein, dass Senhora Baroso so geistesgegenwärtig war und uns gleich angerufen hat. Wenn der Engenheiro auf die Idee gekommen wäre, zunächst die Bombeiros zu rufen, wer weiß, was da oben jetzt los wäre.«

»Ich dachte, du hast nichts gegen die Bombeiros? Vor allem nichts gegen eine gewisse energiegeladene mit kurzen braunen Haaren?« Fonseca warf Vasconcellos über den Rückspiegel ein breites Grinsen zu. »Oder soll ich das so verstehen, dass ich jetzt endlich mal bei Cristina anklopfen darf?«

»Untersteh dich!« Der Wagen machte einen leichten Schwenker.

»Na, na, Ernesto. Ich wusste gar nicht, dass du so ein Sensibelchen bist. Mach dir mal keine Sorgen, die Freundin eines Freundes ist tabu«, brummte Fonseca versöhnlich. Um sofort nachzusetzen: »Nicht, dass ich keine Chance bei deiner Amazone hätte. Ich spüre da schon gewisse Schwingungen.«

Bevor Vasconcellos auf diese Provokation eingehen konnte, unterbrach Baroso das Geplänkel.

»Dort vorne, hart rechts in die schmale Straße den Berg hoch.« Zwei Minuten später parkte Vasconcellos das Polizeiauto. Aus dem kleinen Anhänger erklang ein heiseres Bellen.

»Galina! Aus!«, kam die kurze Anweisung von Fonseca. Sofort erstarb jeder Laut des Hundes.

Fernandos Urso würde jetzt wahrscheinlich anfangen zu jaulen oder ein anderes Theater veranstalten, überlegte Vasconcellos, als Fonseca seinen Belgischen Schäferhund aus der Hundebox holte. Galina fing sofort an zu schnüffeln, verhielt sich ansonsten völlig ruhig. 

»Meinst du, Doutora Souza ist schon da?« Fonseca schaute sich um.

»Ich habe mit ihr vereinbart, dass wir sie rufen, sobald wir uns einen Überblick verschafft haben.«

»Sie hat keine Sorge, dass wir die Spuren verwischen?« Fonseca kratzte sich am Kopf. Sein erstes Zusammentreffen mit der Gerichtsmedizinerin vor einem halben Jahr war nicht so harmonisch verlaufen. Vor allem die Möglichkeit, dass ein Hund ihren Tatort verunreinigen könnte, war nicht auf Begeisterung bei der Doutora gestoßen.

»Ich habe ihr nicht erzählt, dass ich dich dabeihabe, Manel.« Lachend klopfte Vasconcellos Fonseca auf die Schulter. »Dann hätte sie sicher nicht so cool reagiert und stünde da vorne schon mit weißen Overalls und Schuhüberziehern für uns und deinen Hund.«

Baroso kicherte leise, wurde aber sofort wieder ernst, als er einen scharfen Blick von Fonseca kassierte.

»Wir müssen den Kopfsteinpflasterweg hoch und dann ist da auch schon die Levada«, beeilte er sich zu sagen.

Im Gänsemarsch gingen die drei in Richtung des Fundortes. Schon von Weitem konnten sie eine Menschenansammlung entdecken.

»Merda, verdammter Mist«, schimpfte Vasconcellos. »Haben wir diesem Engenheiro denn nicht gesagt, er soll niemanden heranlassen? Und wo ist die verdammte Spusi?« Er hatte die Spurensicherung noch im Büro benachrichtigt, aber nirgendwo war die Truppe in Weiß zu sehen.

»Soll ich vorangehen? So ein Polizeihund bewirkt manchmal Wunder«, bot Fonseca an. Tatsächlich fegte Galina fast bildlich die Menschen von dem Levadapfad. Sie drückten sich an die linke Seite, gefährlich nah an den Abhang oder sprangen über die Levada, um auf der gegenüberliegenden schmalen Mauer der Levada in Richtung des Berges Halt zu finden. Kurze Zeit später standen die Polizisten vor einem stämmigen, schon etwas älteren Mann. Das Hemd hing ihm halb aus der Hose und er wischte sich fast ununterbrochen mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Dankbar sah er sie an.

»Sind Sie von der Segurança? Ich weiß gar nicht mehr, wie ich diese Menge in Schach halten soll. Ständig versuchen sie, einen Blick auf diese fürchterliche Hand zu werfen. Wenn Senhora Baroso nicht die andere Seite absichern würde, wüsste ich nicht, was ich getan hätte.«

»Sind Sie Engenheiro José Cunha?«, vergewisserte sich Vasconcellos.

»Ja, der bin ich.« Ein erneutes Wischen über die Stirn, die nur noch von wenigen Haaren notdürftig bedeckt wurde. »Ich bin der, der die Hand entdeckt hat. Da vorne liegt sie.« Mit einer kurzen Kopfbewegung wies er hinter sich, vermied es aber, in die Richtung zu gucken.

»Senhoras e Senhores«, wandte sich Vasconcellos an die Menschenmenge, die sich hinten ihm, Fonseca und Baroso wieder geschlossen hatte. Aufgeregte Gesichter blickten ihn an. »Ich möchte Sie bitten, meinem Aspirante Ihre Personalien zu geben und die Information, seit wann Sie hier auf der Levada sind.« Vasconcellos hoffte so, Schaulustige und potenzielle Zeugen voneinander trennen zu können. Er beugte sich zu dem Aspirante und flüsterte ihm ins Ohr: »Mach so viele Fotos wie möglich von den Leuten, vor allem, falls sich jetzt jemand von der Gruppe entfernt.« Solange sie nicht wussten, ob es sich um einen Unfall oder einen Mord handelte, mussten sie an alles denken. Letztendlich bestand bei einem Mord auch die Möglichkeit, dass der Mörder sich unter die Schaulustigen gemischt hatte. »Vamos, gehen wir.« Er drehte sich zu dem Engenheiro um.

»Muss ich denn mitkommen? Vielleicht braucht Ihr Aspirante hier Hilfe?« Der ältere Mann verzog das Gesicht.

»Perdão, es tut mir leid. Ich brauche Sie, um mir einen genauen Eindruck der Auffindungssituation zu machen. Das heißt, ich muss wissen, wo genau Sie waren, als Sie die Hand gefunden haben.« Fast musste Vasconcellos den widerstrebenden Mann hinter sich herziehen. »Aber zuerst, wo ist die Hand?« 

»Da vorne liegt sie.« Der Engenheiro deutete in Richtung einer Abzweigung in der Levada.

»Sie liegt im Wasser?« Vasconcellos beschleunigte seine Schritte.

»Natürlich tut sie das. Keine zehn Pferde hätten mich dazu gebracht, das Ding da rauszuholen«, schnaubte der andere beleidigt.

»Aber Sie haben es immerhin genau genug gesehen, um zu wissen, dass es sich um eine Frauenhand handelt, né? Nicht wahr?«

»Ich habe sie aus der Levada gefischt, weil das Wasser gestaut war. Konnte ja nicht ahnen, dass es ein Stück von einem Menschen ist. Das können Sie glauben, ich habe mich ziemlich erschreckt, als ich sie hochgehoben habe.«

»Ist schon gut«, beruhigte Vasconcellos ihn. »Wo genau standen Sie, als Sie sie gefunden haben, und wo lag die Hand?«

»Ich stand knöcheltief in der Levada und habe versucht, mit diesem Haken das Gestrüpp vor dem Gitter herauszuholen, damit das Wasser wieder läuft. Und da war sie dann.«

»Direkt vor dem Gitter?« Vasconcellos beugte sich über den Rand. Die Hand war durch die Strömung wieder an das Gitter geschwemmt worden und trieb nun, Handfläche nach oben, in einem Gewirr aus abgebrochenen Zweigen.

»Sollen wir das Ding aus dem Wasser holen?« Neugierig schaute Fonseca auf die leise in der Strömung wippende Hand.

»Keine gute Idee. Dona Katia reißt uns den Kopf ab. Ich rufe sie an.« Vasconcellos zog sein Mobiltelefon aus der hinteren Hosentasche.

Nach einer halben Stunde war endlich auch die Spurensicherung vor Ort. Die Laune der Neuankömmlinge war im Keller, weil sie nicht wie Vasconcellos einen ortskundigen Beifahrer gehabt hatten. So hatte das Team seine gesamte Ausrüstung von der fast zwei Kilometer entfernten Stelle, an der die Levada die ER 203 kreuzte, schleppen müssen.

»Das nächste Mal sucht ihr euch einen besseren Platz für eure Leichenteile aus«, maulte der gut genährte Chef der Spurensicherung und stellte den Metallkoffer mit einem Teil der Geräte ab. Sein junger Assistent, der einen noch größeren Koffer schleppte, stöhnte nur leise.

»Bevor Sie anfangen, meine Herren, lassen Sie mich erst einmal einen Blick auf diese ominöse Hand werfen«, erklang die kehlige Stimme der Doutora hinter ihnen. Ruhig schob sie Vasconcellos und Fonseca zur Seite und schaute in die Levada. »Können Sie bitte ein Foto aus diesem Winkel machen?«, wies sie den Assistenten der Spurensicherung an. »Wurde die Hand in der Levada gefunden oder hat unser Finder sie hineinfallen lassen?«

»Beides«, meinte Vasconcellos trocken. »Er hat sie in einem Gestrüpp aus Zweigen und Blättern vor dem Gitter in der Levada gefunden, sie hochgehoben, erkannt, was er da hatte, und wieder fallen lassen.«

»Alles klar«, nickte Souza. »Das reicht mir erst einmal. Ihr könnt die Hand jetzt herausholen, Männer. Vergesst bitte nicht, die Wassertemperatur zu messen.«

Mit einem kurzen Nicken forderte der beleibte Chef der Spusi seinen Assistenten auf, in die Levada zu steigen. Kurze Zeit später lag die Hand mit der Handfläche nach unten auf einem weißen Tuch neben der Levada.

Sofort war Vasconcellos klar, warum der Engenheiro von einer Frauenhand gesprochen hatte. Die Fingernägel waren lang, spitz zugefeilt und mit einem Muster aus weiß-rosa Blütenblättern verziert.

 

Garajau, 25.08.2014 13:18

»Wenn du nicht sofort aufhörst, an der Leine zu ziehen, bringe ich dich nach Hause und sperre dich ins Badezimmer!« Urso, der die letzten Minuten versucht hatte, Avila mit dem Stuhl, um dessen Bein die Leine gewickelt war, über die Terrasse der Pasteleria zu ziehen, hielt kurz inne. Er wedelte mit dem Schwanz und schaute sein Herrchen erwartungsvoll an.

Wahrscheinlich denkt er jetzt, dass ich ihm gerade angeboten habe, sich einmal durch die Kuchenauslage zu fressen, dachte Avila. »Zucker ist nichts für dich, mein Hund.« Er tätschelte den Kopf des Retrievers. »Wenn wir nachher zu Hause sind, habe ich ein schönes Schweineohr für dich.« Im Stillen ärgerte er sich, dass er das Ohr nicht mit in die kleine Pasteleria gebracht hatte. Hier in Garajau kannten sie ihn und es hätte sich bestimmt niemand daran gestört.

»Möchten Sie noch einen Galão, Comissário? Oder kann ich Ihnen noch etwas anderes bringen?«, rief ihm die Bedienung vom Tresen her zu.

Sehnsüchtig blickte Avila in Richtung der Auslage, die gerade eben mit frischen Natas und Queijadas gefüllt wurde. Die Haare an seinen Armen stellten sich bei dem Gedanken an ofenwarme Frischkäsetörtchen vor Wonne auf. Leticia wird mit mir schimpfen, wenn sie sieht, wie die Hosen wieder kneifen, ermahnte er sich. Aber sie ist erst übermorgen wieder da. Wenn ich mich morgen zusammenreiße, kann ich mir heute noch was gönnen. Ein lauter Seufzer, der kurz danach in ein halblautes Jammern überging, durchbrach seine Gedanken. Die letzte halbe Stunde hatte Felia friedlich im Buggy geschlafen, obwohl direkt vor dem Café auf dem Parkplatz ein reges Kommen und Gehen herrschte. Auch der Durchgangsverkehr auf der Hauptstraße hatte den Schlaf seiner Tochter nicht unterbrechen können. Wenn ich Glück habe, heißt das nur, dass sie gleich Hunger bekommt. Wenn ich Pech habe, müssen wir demnächst Windeln wechseln. Noch ein Grund, schnell ein Törtchen zu essen.  

»Obrigado, danke. Ich nehme gerne noch ein Queijada!«, rief er in den Laden, bevor er seine Tochter aus der Karre nahm. Felia schaute ihn aus großen Augen an. Vorsichtig hob er sie in Richtung seiner Nase. Aleluia, Gott sei Dank! Keine Geruchsbombe strömte aus dem Höschen. »Hast du Hunger? Oder langweilst du dich nur?«, versuchte er, den Grund für die Unmutsbekundungen auszuloten. Er bückte sich und holte die prall gefüllte Babytasche aus der Ablage des Buggys. Das Jammern wurde lauter. »Un momento, einen Moment. Ich habe es gleich!« Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er in der Tasche nach dem Fläschchen suchte. Er wusste genau, dass er es eingepackt hatte. Wo war es nur. Endlich. Die kleinen Hände seiner Tochter umklammerten die kleine Flasche, während sie anfing zu trinken.

»Ihre Tochter ist so süß!« Die Kellnerin stellte den Teller mit seiner kleinen Sünde vor ihm ab. »Wo ist denn Ihre Frau? Ich habe sie schon ein paar Tage nicht beim Einkaufen gesehen. Normalerweise treffen wir uns immer am Stand von der Bäuerin vorm Pingo Doce, um frische Tremoços zu kaufen. Sie macht einfach die besten eingelegten Lupinenkerne hier in der Gegend!«

»Meine Frau ist für ein paar Tage mit ihrer Freundin in der Quinta da beleza«, erklärte Avila.

»Ist das die neue Schönheitsfarm? Ich habe schon so viel davon gehört. Angeblich bewirken sie dort wahre Wunder. Nicht, dass Ihre schöne Frau das nötig hätte«, fügte die Bedienung schnell hinzu. »Wie nett von Ihnen, Ihrer Frau so eine Auszeit zu gönnen. Es ist bestimmt nicht einfach mit Kind und Hund alleine zu Hause, Comissário!«

»Ich komme zurecht.« Avila wollte nicht zugeben, dass er sich die letzten Tage nach seinem Büro zurückgesehnt hatte. Auch dort war er durch die Arbeit ereignisgesteuert. Aber es gab längst nicht so viele Morde auf Madeira wie Felia ihn mit ihren Bedürfnissen bei Tag und leider auch immer wieder bei Nacht auf Trab hielt. Dazu noch Urso, der auch seine Anforderungen an ihn stellte. Schließlich wollte er ja nicht, dass sein Hund wie viele der Nachbarhunde sein Geschäft im Garten verrichtete. Auch die Unart einiger Bewohner, das Tor aufzulassen und die Viecher herumstreunen zu lassen, kam für Avila nicht infrage. Ständig musste man aufpassen, nicht in die Hinterlassenschaften zu treten. Während seiner Zeit in Münster hatte Avila die schwarzen kleinen Plastikbeutel als ständigen Begleiter der Hundebesitzer kennengelernt. Die gab es dort kostenlos überall zum Mitnehmen. Seine Hamburger Freunde Ben und Pauline versorgten ihn jetzt regelmäßig mit Tütenpaketen. Zu seiner Freude war Pauline seit einiger Zeit dazu übergegangen, nicht nur für Urso die schwarzen Tüten, sondern für ihn auch noch echtes Lübecker Marzipan in die halbjährlichen Carepakete zu packen.

»Kommen Ihre Mitarbeiter denn ohne Sie zurecht?«, wollte die Kellnerin wissen. »Ich habe gehört, dass heute Morgen eine Leiche nicht weit von Camacha gefunden wurde. Furchtbar, es ist ja gar nicht weit von hier! Womöglich kennt man die Tote.« Sie strich sich über die nackten Oberarme.

Wieder einmal wunderte sich Avila, wie schnell sich Neuigkeiten auf der Insel herumsprachen. Hieß das, dass Vasconcellos und die anderen jetzt auch den Körper zu der Hand gefunden hatten? Es konnte doch nicht sein, dass die Kellnerin mehr wusste als er, der Leiter der Mordkommission. Da war es auch egal, dass er gerade Urlaub hatte. Hoffentlich kam Vasconcellos heute Abend vorbei und erzählte ihm mehr über den Stand der Ermittlungen. Eine kleine Stimme in seinem Kopf meldete sich: »Gewöhn dich schon einmal dran, Comissário. So wird deine Zukunft aussehen, wenn du nicht mehr voll arbeitest. Willst du das wirklich?«

Funchal, Gerichtsmedizin, 25.08.2014 19:02

»Viel kann ich dir noch nicht sagen, Ernesto.« Doutora Souza reichte Vasconcellos zwei Blätter. »Ich befürchte, es wird kaum mehr werden, bis ihr nicht den Rest der Leiche gefunden habt.«

»Aber wir sprechen von einer Leiche?«

»Ja, das kann ich mit Bestimmtheit sagen. Die Hand wurde post mortem abgetrennt. Allerdings gehe ich anhand der Verletzungen am Armstumpf davon aus, dass es nicht mit einem Werkzeug geschah. Die Hand wurde abgerissen. Vermutlich durch einen oder mehrere Hunde. Es sind Spuren von Tierfraß zu sehen.«

»Und die Todesursache?«

»Was erwartest du von mir? Wenn eure Leiche erwürgt oder erschlagen wurde, soll ich das an der Hand sehen? Aber ich habe Gewebeproben genommen und diese für ein toxikologisches Gutachten eingeschickt. Bis wir das Ergebnis haben, wird es aber bestimmt zwei Wochen dauern. Ich kann dir nur den Rat geben, mir so schnell wie möglich den Rest der Leiche auf den Tisch zu legen.«

»Besondere Merkmale, irgendetwas?« Vasconcellos wünschte, Avila wäre hier. Bestimmt könnte sein Chef mit seiner Erfahrung mehr aus diesem Minimum an Informationen machen.

»Ich habe eine DNA-Analyse durchgeführt. Es handelt sich um eine Frau. Durch die mitochondriale DNA habe ich den biogeografischen …«

»Dona Katia, bitte« unterbrach Vasconcellos sie. »Ich bin ein Laie. Was für eine Analyse?« Vasconcellos mochte seine Patin, aber er fand es anstrengend, wenn sie in ihr »Medizinerlatein« verfiel.

»Desculpe, entschuldige. Ich habe versucht, anhand der Proben festzustellen, welchen ethnischen und geografischen Hintergrund die Leiche hat. Danach handelt es sich um eine Frau aus Südeuropa. Ich hoffe, ich kann es noch weiter eingrenzen. Im Moment gehe ich nach dem Abgleich mit genealogischen Datenbanken davon aus, dass sie von der Iberischen Halbinsel stammt.«

»Es ist aber möglich, dass sie mittlerweile auf Madeira lebt und keine Touristin ist, né?«

»Ja, das ist möglich. Die Fingernägel hast du sicher bemerkt? Wenn ihr Glück habt, hat sie sich die Nägel auf Madeira machen lassen. Vielleicht ist das ein Ansatz?«

Vasconcellos nickte.

»Baroso ist schon dran. Er klappert mit den Fotos gerade die Kosmetikstudios in Funchal ab. Ein Sargento prüft die aktuellen Vermisstenmeldungen. Bisher gibt es keinen Treffer.«

»Leider ist die Bestimmung des Todeszeitpunktes durch die Umstände sehr schwierig. Das Wasser hat gerade einmal 9,4 Grad Celsius in der Levada gehabt. Auf Extremitäten haben wir im Normalfall durch die geringe Blutdichte nur eine geringe Ausbildung von Totenflecken. Dementsprechend vermute ich, dass die Leiche mehr als zwölf Stunden gelegen hat, bevor die Hand abgetrennt wurde. Eine Besiedlung der Hand durch Mikroorganismen ist geringfügig vorhanden. Aber aufgrund der Wasserlagerung ist es mir nicht möglich, anhand des Entwicklungsstadiums auf einen Todeszeitpunkt rückzuschließen. Es tut mir leid, dass ich nicht mehr für dich habe.« Sie kniff leicht den Mund zusammen und schüttelte den Kopf. »Ich nehme an, die Fingerabdrücke haben auch kein Ergebnis geliefert?«

»Nein, sie tauchen in keiner Datei auf. Baroso hat sie auch zu Interpol geschickt. Sie sind nicht im System.«

»Dann heißt es jetzt wohl für dich, viele Steine umzudrehen und zu suchen. Wieso war eigentlich dieser Fonseca noch nicht hier und hat sich eine Riechprobe für den Hund abgeholt? Sein Spürhund müsste doch den Körper zu der Hand damit finden können.«

»Tja, das habe ich auch gedacht. Aber es verhält sich mit den Hunden anders.« Vasconcellos schüttelte den Kopf.

»Wieso? Ich dachte, Hunde können so toll riechen?«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752102321
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juli)
Schlagworte
Regiokrimi Insel Sisi Regiokrimi Regiokrimi Südeuropa Strandlektüre Mord Krimi Portugiesischer Mord Madeira Krimi Portugal Humor Historisch Ermittler Thriller Spannung

Autor

  • Joyce Summer (Autor:in)

Joyce Summer lebt ihren Traum mit Krimis, die in sonnigen Urlaubsorten spielen. Politik und Intrigen kennt sie nach jahrelanger Arbeit als Projektmanagerin in Banken und Großkonzernen zur Genüge: Da fiel es Joyce Summer nicht schwer, dieses Leben hinter sich zu lassen und mit Papier und Feder auf Mörderjagd zu gehen. Die Fälle der Hamburger Autorin spielen nicht im kühlen Norden, sondern in warmen und speziell ausgesuchten Urlaubsregionen, die die Autorin durch lange Aufenthalte gut kennt.
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Titel: Madeiraschweigen