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Graue Schatten in Köln

von Torben Stamm (Autor:in)
351 Seiten
Reihe: Armin-Kern-Tetralogie, Band 1

Zusammenfassung

Urban Fantasy aus der Rheinmetropole: Als man Armin Kern den Job seines verstorbenen Bruders Norik anbietet, sich um die Systemsicherheit eines multinationalen Konzerns zu kümmern, ist er erstaunt. Nicht nur, weil er selbst vollkommen talentfrei in diesen Dingen ist, sondern auch, weil Norik eigentlich studierter Historiker und kein Informatiker war. Als Armin herausfindet, dass hinter der menschlichen auch noch eine magische Welt existiert, muss er sein Weltbild neu ordnen. Gleichzeitig versuchen die Grauen Schatten, Armins neu entdeckte Welt an sich zu reißen und zu zerstören.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum

Texte und Bildmaterialien Copyright © by Torben Stamm

Im Sundern 47

48431 Rheine

torben.stamm@posteo.de

Covergestaltung: Tim Rybus

Alle Rechte vorbehalten.

Die Kiste unter der Erde

Zuspätkommen ist immer scheiße.

Zumindest als Deutscher: Andere Nationen haben da nicht so die Probleme mit. Die Italiener haben die sprichwörtliche südeuropäische Ruhe, die Franzosen genießen das Leben und die Anarchie im Straßenverkehr… Und die Engländer? Die sind sowieso eine Stunde später dran, haben also aufgrund ihrer geographischen Lage einen natürlichen Puffer.

Deutsche hingegen neigen dazu, Uhrzeiten nicht als groben Rahmen oder Richtschnur, sondern verbindliche Größen anzusehen: Ein Zug fährt 600 km quer durchs Land und kommt 3 Minuten zu spät: Skandal!

Armin Kern empfand ein gewisses Gefühl der Scham, als er die Tür aufstieß und atemlos den Saal betrat.

Zuspätkommen: Schlecht.

Zu einer Beerdigung zu spät kommen: Super schlecht und moralisch verwerflich (Und das, obwohl die Deutschen in ihrer Geschichte die allgemeinen moralischen Parameter nicht gerade hochgehängt haben).

Zu spät zur Beerdigung des eigenen Bruders kommen: Man kann sich der bösen Blicke gewiss sein.

Hier lag das nächste Problem: Wenn die Kirche, in die man atemlos zu spät reinstolpert, gut gefüllt ist, wird der eine oder andere einem einen vernichtenden Blick zuwerfen.

Wenn man selbst aber 50% der erwarteten Gäste darstellt, muss man sich um die bösen Blicke zwar keine Sorgen machen, aber die moralische Problematik potenziert sich exponentiell…und wird nur dadurch getoppt, dass die anderen 50% der Besucher (also eigentlich der Besucher) in Form von Yusuf Ates in der ersten Reihe sitzt und man selbst folglich 100% der christlichen Trauergemeinde darstellt.

Armin atmete tief durch: Er hatte sich fest vorgenommen pünktlich zu sein. Er war kein ignoranter Mensch, dem die Beerdigung seines Bruders egal war. Auch wenn er mit Norik nicht viel zu tun hatte.

Armin wusste: Das ist dein Bruder, da musst du hingehen – und zwar pünktlich.

Er war also extra früh aufgestanden, hatte sogar abends schon alle Sachen rausgelegt. Dabei hatte er sich zu seiner eigenen Umsicht beglückwünscht, denn es war nicht so einfach gewesen, zwei passende schwarze Socken zu finden: Eine Klippe erfolgreich umschifft.

Aber dann hatte heute alles länger gedauert. Er konnte noch nicht einmal sagen, was genau es gewesen war. Es war nichts dazwischengekommen.

Er hatte auch nicht getrödelt.

Es war einfach passiert.

Dieses „einfach passiert“ passierte Armin ständig: Er kam zu spät, vergaß Dinge oder brachte sie durcheinander. Seine Eltern (zu deren Beerdigung er dank Norik pünktlich gekommen war) hatten während der Schulzeit Zustände bekommen und ihn auf diverse Störungen testen lassen, bis ein Arzt ihnen eines Tages die einfache Wahrheit klargemacht hatte: „Ihr Sohn ist ein Schussel.“

Enttarnt.

Keine Gegenargumente möglich – keine Medikamente erhältlich.

Jetzt hastete Armin durch den Mittelgang der kleinen Kapelle, dem bestimmt tadelnden Blick des Pfarrers ausweichend.

Bloß nicht hinsehen!

Er ließ sich neben Yusuf fallen, der nur: „Alter!“, zischte und für das Sprechen im Ghetto-Slang einen bösen Blick von der Kanzel erntete.

Armin atmete tief durch.

Jetzt war er da.

Kirchen und Kapellen faszinierten ihn. Hatten sie schon immer. Weniger wegen der baulichen Kunst oder der mehr oder weniger kunstvollen Schmuckarbeiten.

Armin ging es um die Atmosphäre: Immer wenn er eine Kirche oder einen anderen sakralen Bau betrat, kam es Armin so vor, als würde er in einen Schwamm hineinlaufen. Es herrschte eine tiefe Ruhe, die in seinen Körper eindrang und ein Gefühl von Geborgenheit weckte.

Es war ein paar Grad kühler als draußen (derzeit im Frühjahr kein Problem).

Die Zeit schien langsamer zu vergehen…

Was sie natürlich nicht tat. Dieser Gedanke machte Armin wieder schmerzlich bewusst, was er sich heute geleistet hatte. Er sah auf seine Uhr: 35 Minuten! Wahrscheinlich ist gleich schon alles vorbei.

Er warf Yusuf einen Blick zu, den dieser registrierte, aber bewusst ignorierte: Armin kannte Yusuf schon seit der Grundschule. Sie waren praktisch Brüder, wobei Yusuf die Rolle des intelligenten, organisierten großen Bruders übernahm.

Armin sah sich um.

Überrascht kniff er die Augen zusammen: In der letzten Bankreihe saß eine blonde Frau, die er beim hastigen Betreten der Kirche nicht bemerkt hatte. Sie war vollkommen in schwarz gekleidet und somit offensichtlich nicht zufällig hier.

Er versuchte, ihr Gesicht zu erkennen, aber die Frau schaute konsequent auf ihre Füße.

Oder ihr Handy. Die Hände waren durch die davorstehende Bank nicht zu erkennen.

Wenn sie auf ihr Handy schaute, hatte sie Armins Verspätung vielleicht gar nicht bemerkt, und wenn doch, konnte sie ihm nicht wirklich böse sein, wo sie selbst doch das Datenvolumen ihres Internetanbieters malträtierte.

Hoffentlich guckt sie auf ihr Handy!

Yusuf stieß ihn in die Seite. Armin wandte den Kopf wieder nach vorne und lächelte den Pfarrer schuldbewusst an. Der klappte seinen kleinen Aktenordner zu, in dem er die Predigtunterlagen abgeheftet hatte und strebte würdevoll dem Mittelgang zu. Orgelmusik donnerte in Moll von der Empore nieder und verlieh dem Augenblick eine erhabene Spur von Depressivität.

Armin wusste, dass jetzt der unvermeidliche Moment gekommen war.

Er musste sich den Sarg ansehen.

Er hatte es bisher vermieden, hatte dieses Symbol des Todes und des Unumgänglichen nicht sehen wollen.

Der Sarg war groß, wuchtig, aus dunklem Holz. Vier Männer positionierten sich an seinen Ecken: Die Sargträger, die das Bestattungsunternehmen gegen eine kleine Servicepauschale stellte.

Armin erhob sich und folgte dem Sarg, nachdem ihn dieser passiert hatte.

Sein Blick suchte die geheimnisvolle Frau, aber ohne Erfolg: Sie musste die Kirche in dem Moment verlassen haben, als der Pfarrer seine Unterlagen zuklappte.

Die kleine Prozession (Ab wie vielen Menschen spricht man von Prozession?) verließ die Kirche. Als sie unter freiem Himmel waren, fragte Yusuf leise: „Wo warst du?“

„Sorry, ich weiß auch nicht. Ich bin extra früh aufgestanden, aber…“

„Er war dein Bruder!“

„Ich weiß, was er war. Ich kenne ihn schon eine ganze Weile.“

Armin ärgerte sich, auch wenn er natürlich wusste, warum Yusuf so genervt war: Armin kam ständig zu spät und meistens musste Yusuf es ausbanden. Sie führten gemeinsam ein kleines IT-Unternehmen, wobei „Unternehmen“ vielleicht ein irreführender Begriff für ihren Broterwerb war: Sie unterhielten einen kleinen Raum auf der Rückseite einer Dönerbude, wo sie Rechner reparierten. Ihr Kundenstamm rekrutierten sie fast ausschließlich durch den Besitzer der Dönerbude, Herr Durmus, der eine klischeemäßig riesige Familie und an Yusuf und Armin einen Narren gefressen hatte: „Silicon Valley!“, rief er ihnen immer begeistert zu, sobald er sie sah. Er war der Meinung, der kleine Raum sei sowas wie eine Garage im Silicon Valley und irgendwann würden die Leute zu seiner Dönerbude pilgern, um die heilige Halle der Tech-Welt zu besichtigen - und natürlich würden sie alle bei ihm Mittag essen. Bis es aber soweit war, kümmerten sich Yusuf und Armin um die fehlerhaften Drucker der Familie Durmus und da diese so riesig war und Herr Durmus nur eine geringe Miete verlangte, kamen sie einigermaßen über die Runden, auch wenn sie es sich nicht leisten konnten, Bioprodukte zu kaufen oder sich sonst wie gesund zu ernähren. Allerdings hätte gesunde Ernährung auch im Widerspruch zu ihrem Geschäftsstandort gestanden, wie Yusuf einmal resigniert festgestellt hatte.

Die „Prozession“ hatte ihr Ziel erreicht. Der Pfarrer sprach die letzten Worte, die Armin kaum wahrnahm, weil er auf das Loch in der Erde starrte, in dem gerade der Sarg versenkt worden war.

Jeder kommt mal in so ein Loch. Egal was du leistest oder verbrichst, du landest im Loch. Der Tod als Gleichmacher, vielleicht der einzig wahre Kommunist.

Armin nahm das Schüppchen und warf etwas Erde auf den Sarg: Ein Geräusch, bei dem er innerlich zusammenzuckte, auch wenn es nicht laut war. Aber die Erde auf dem Holz hatte eine inhaltliche Grausamkeit: ICH BEGRABE DICH JETZT.

„Es tut mir leid“, sagte Armin dem Pfarrer, nachdem der offizielle Teil vorbei war und sie auf dem Weg beieinander standen. „Mir fällt es immer schwer mit der Pünktlichkeit. Ich habe alles versucht, aber…“

Der Pfarrer nickte nur: „Meine Herren“, sagte er und wandte sich ab.

War das christliche Nächstenliebe? Armin war sich nicht sicher, hatte aber eine Ahnung davon, wie die Antwort lauten könnte.

„Wollen wir?“, fragte Yusuf.

„Klar.“ Sie gingen schweigend den Weg entlang zum Parkplatz. Armin hatte einen Tisch in einer Pizzeria bestellt, wo der „Leichenschmaus“ stattfinden sollte. „Hast du die Frau gesehen?“, fragte er, bevor jeder in sein Auto stieg.
„Welche Frau?“

„Die Frau in der Kirche.“
Yusuf verzog das Gesicht: „Ich habe keine Frau gesehen. Nur einen Pfarrer, der den Türken in der ersten Reihe böse angestarrt hat.“
„Was?“, fragte Armin erstaunt. „Letzte Reihe. Blond, schwarze Klamotten.“

„Sicher?“

„Natürlich!“, gab Armin verärgert zurück. „Ich weiß doch wohl, was ich gesehen habe.“

„Na ja, beim Reingehen war sie nicht da, beim Rausgehen auch nicht… Und am Grab selbst habe ich sie auch nicht gesehen. Von daher bin ich mir nicht sicher, was du gesehen hast.“

Armin zuckte mit den Schultern: „Gut, wie du meinst. Wir sehen uns.“

Er stieg in den Wagen und schloss die Tür.

Die beiden Wagen fuhren vom Parkplatz.

Die Sonne schien auf die Bäume, die den Parkplatz umgaben. Alte Eichen, die schon manche Träne hatten fließen sehen.

Ein Schatten löste sich von einem der Bäume. Er schien den Wagen einen Moment nachzublicken, dann eilte er einem unbekannten Ziel entgegen.

***

Armin hatte die Pizzeria aus keinem besonderen Grund ausgewählt, etwa, dass er mit Norik oft hier gewesen wäre oder so. Vielmehr war ihm einfach nichts Anderes eingefallen. Hinzu kam, dass er die Tradition des Leichenschmauses generell in Abrede stellte. Allein den Namen fand er schon sehr irreführend und er wunderte sich, dass noch kein Beauftragter für gewaltfreie Sprache sich dieses Missstandes angenommen hatte.

Oder ein Vegetarier, Veganer oder Fruktarier, falls es sowas denn gab.

Nachdem sie sehr kreativ eine Thunfisch- und eine Salamipizza nebst zwei schwarzen Softdrinks bestellt hatten, fiel die Anspannung langsam von Armin ab. Er löste seine Krawatte und öffnete den obersten Knopf seines Hemdes.

„Und wie geht es dir jetzt?“, fragte Yusuf. Er wusste, dass Armin kein schlechtes, aber auch kein enges Verhältnis zu seinem Bruder gehabt hatte. Die beiden hatten sich alle paar Monate gegenseitig angerufen oder eine SMS geschrieben.

Das war schon in der Schule so gewesen: Norik war vier Jahre älter und hatte, was vollkommen normal war, kein Interesse daran, sich mit seinem kleinen Bruder abzugeben. Freundlicherweise verzichtete er aber auf die Große-Bruder-Tradition, Armin zu quälen, zu ignorieren oder sonst wie abzuwerten.

Armin war da.

Das war OK.

Und fertig.

Als Armin Yusuf von Noriks Tod berichtet hatte, war Armin sehr kühl gewesen. Man hätte auch auf den Gedanken kommen können, Norik sei einfach ein ehemaliger Kumpel gewesen, den man seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Allerdings gehörte Armin auch nicht zu den Leuten, die ihre Gefühle nach außen trugen. Selbst Yusuf gegenüber behielt er sein innerstes Innenleben lieber für sich.

„Na ja“, sagte Armin. „Es ist schon…traurig. Ich meine, er war mein Bruder und alles, was ich an Familie noch hatte.“ Armins Eltern waren vor einigen Jahren verstorben: Er bei einem Autounfall und sie wenige Wochen später an gebrochenem Herzen.

Zumindest sagten das ihre Freunde, von denen sich sehr schnell niemand mehr meldete.

Armin wusste, dass seine Mutter Krebs gehabt hatte und in Behandlung war. Nachdem sein Vater gestorben war, hatte sie nicht mehr die Kraft, zum Arzt zu gehen.

Vielleicht hatten die Freunde also Recht.

„Mhmmm“, machte Yusuf. „Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?“

„Das letzte Mal habe ich ihn heute gesehen. Ein weiteres Mal wird es wohl nicht geben.“ Armin rang sich ein Lächeln ab: „Ich weiß, was du meinst“, sagte er schnell. „Das war an Weihnachten. Bin vorbeigefahren und habe ihm sein Geschenk gebracht.“ Sein Blick wanderte in die Vergangenheit, jene Zeit, die definiert, was wir heute sind: „Ich habe es ihm an der Tür in die Hand gedrückt. Er hat noch gefragt, ob ich nicht reinkommen wolle, aber ich hatte keine Lust und habe so getan, als hätten wir im Geschäft noch viel zu tun.“ Er schüttelte den Kopf und damit den Gedanken ab: „Na ja.“

Der Kellner kam und brachte das Essen.

„Was steht heute noch im Geschäft an?“, fragte Armin, um das Thema zu wechseln: Scheiß Leichenschmaus-Tradition. Im Internet stand, sie solle dazu dienen, sich nochmal über den Verstorbenen auszutauschen. Nette Geschichte, Anekdoten…

Der Verfasser ging offensichtlich davon aus, dass man mit dem Verstorbenen irgendwie dicke war und was zu erzählen hätte.

Da stand aber nicht, was man machen soll, wenn man ihn quasi nicht kannte.

„Na ja, ich muss einen Laptop zusammenschrauben“, sagte Yusuf gelangweilt. Er hatte Informatik studiert, mit den besten Noten abgeschlossen und wofür?

Nach hunderten von Bewerbungen kam er zu dem Schluss, dass niemand einen Yusuf wollte. Er hatte sich den Spaß gemacht, einer Firma seine Bewerbung unter dem Namen Armin Kern zu schicken. Die Firma hatte ihn sofort eingeladen. Yusuf hatte überlegt, ob er sie irgendwie verklagen sollte, aber was hatte er davon? Yusuf war kein Name, mit dem man in der heutigen Zeit etwas reißen konnte. Die Leute hatten Angst, schmissen in einer auf Individualität und Selbstverwirklichung getrimmten Welt alle in eine Schublade.

Also hatte sich Yusuf mit Armin zusammengetan, der von dem ganzen Mist leidlich was verstand, und sich „selbstständig“ gemacht. Sein Vater war begeistert/entsetzt gewesen. Die Bandbreite hatte von „Deutscher Unternehmergeist! Sehr gut!“ bis „Und dafür hast du studiert?“ gereicht.

„Hab ich irgendwas zu tun?“, wollte Armin wissen und riss Yusuf aus seinen Gedanken. Der schüttelte den Kopf: „Ich glaube nicht. Willst du denn heute noch reinkommen? Wenn du möchtest, kannst du dir etwas Zeit für dich nehmen.“

Armin lächelte: Yusuf war ein sehr sachlicher Mensch.

Mathematiker!

Aber er hatte eine sehr empathische Seele, auch wenn er es damit manchmal etwas übertrieb. Nehir, Yusufs Zwillingsschwester, machte sich deswegen immer über ihren Bruder lustig.

„Nein, danke. Ich denke, ich fahre nach dem Essen nochmal zum Grab, aber dann werde ich ins Geschäft kommen.“

Yusuf biss sich auf die Unterlippe.

„Was ist?“, fragte Armin. Er kannte Yusuf und wusste, wann ihm noch was auf der Seele brannte.

„Meine Eltern…“, sagte Yusuf. Armin verdrehte die Augen.

„Ja, sie wollen, dass du heute Abend zum Essen kommst.“

„Warum das denn?“, fragte Armin. Er mochte Yusufs Eltern, aber sie waren…intensiv.

„Meine Mutter meint, du hättest bestimmt keinen Kopf, dich ums Essen zu kümmern und deswegen möchte sie dich versorgen. Wenn du heute kommst und sie sieht, dass du nicht verhungerst, ist das vielleicht…taktisch…keine so blöde Entscheidung.“

„Und dein Vater?“

„Der findet, es gehört sich.“

Armin grinste: „Dann habe ich wohl keine Chance. Ich denke, um sechs?“

Yusuf nickte.

***

Als Armin das Grab seines Bruders erreichte, war er nicht allein.

Die blonde Frau in Schwarz stand am Grab.

Als Armin auf sie zutrat, wischte sie sich mit der Hand schnell über die Augen, aber da diese aufgequollen waren, war es offensichtlich, dass es nicht nur eine flüchtige Träne gewesen war, die der Wind ihr entlockt hatte.

Wie lange ist sie schon hier?

Der Gottesdienst war längst vorbei - Armin hatte eine Pizza in der Zwischenzeit verdrückt.

War die Frau die ganze Zeit über hier gewesen?

„Guten Tag“, sagte Armin freundlich. Er streckte der Dame die Hand entgegen. Sie ignorierte sie und nickte stattdessen nur.

„Ich habe Sie im Gottesdienst gesehen. Darf ich Sie fragen, woher Sie meinen Bruder kannten?“

Die Frau runzelte die Stirn: Sie hatte harte blaue Augen und eine scharf geschnittene Nase: „Nein, das dürfen Sie nicht“, sagte sie und schob sich an Armin vorbei.

„Aber…“, stammelte der und sah ihr nach, wie sie zügig dem Ausgang entgegenstrebte.

Sollte er ihr nachlaufen? Aber war es in Ordnung, einer fremden, verweinten Frau auf dem Friedhof nachzulaufen?

Armin beschloss, dass er für heute schon genug Regeln des guten Anstands verletzt hatte, und wandte sich dem Grabstein zu.

Auf dem stand der Name seines Bruders. Bei diesem Anblick umschloss eine kalte Faust sein Herz und er spürte tiefe, ehrliche Trauer.

Das boomende Geschäft

Armin betrat den Hinterhof der Dönerbude und schob die alte Tür auf, an der ein notdürftiges Schild auf das hier betriebene Gewerbe hinwies.

Bevor er hergekommen war, hatte er sich zuhause noch schnell umgezogen.

Natürlich gab es keine Kleiderordnung. Aber man musste der Fairness halber sagen, dass die Leute ein bestimmtes Bild von Computer-Menschen hatten.

Zunächst hat der typische Nerd einen dicken Bauch, weil er nur am PC sitzt und die einzigen Kalorien dabei verbrennt, neue Chips zu holen oder dem Pizza-Lieferanten die Tür zu öffnen.

Bauch: Fehlanzeige. Armin war dürr. Sehr dürr – und das ohne Sport.

Dann trägt der typische Nerd natürlich eine Rahmenbrille. Das war bei manchen Leuten ohnehin in (zum Beispiel Hipstern), aber „leider“ verfügte Armin über eine exzellente Sehkraft.

Dann die Kleidung: Da Nerds niemals unter Leute gehen, tragen sie abgeranzte Klamotten und riechen natürlich auch ein bisschen.

Da ging was!

Zum „Firmenportfolio“ gehörten auch Hausbesuche und Armin hatte die traurige/befremdliche Erfahrung gemacht, dass er als IT-Fachkraft nicht ernst genommen wurde, wenn er in einer ordentlichen Hose mit Hemd und Sakko vor der Tür stand. Die Leute dachten dann, er würde ihnen einen Bausparvertrag verkaufen wollen. Nachdem er ein paar sehr frustrierende Erfahrungen dieser Art gemacht hatte (einige Leute hatten die Tür einfach wieder geschlossen), hatte er sich also ein paar Cordhosen, bunte T-Shirts und eine Hipster-Brille mit Fensterglas gekauft und siehe da: Die Leute öffneten die Tür und konnten ihn sofort zuordnen: „Sie kommen wegen des Internets? Endlich!“

Yusuf weigerte sich, seine Kleidung den Bedürfnissen anzupassen, aber er weigerte sich auch, Hausbesuche zu machen, da die Leute ihn auch so erst gar nicht reinließen.

Armin war froh, dass Yusuf Hausbesuche für sich ausklammerte, denn die paar Mal, wo er es versucht hatte, hatte er tagelang über Diskriminierung und Klage einreichen schwadroniert, was bei allem Verständnis doch irgendwie anstrengend war, denn heute fühlt sich ja jeder irgendwie diskriminiert – sogar die Mobber.

Jetzt saß sein Kollege vor einem Rechner und hämmerte Zahlencodes in die Tastatur. Armin war bei weitem nicht so clever wie Yusuf, wenn es ums Programmieren ging, es war aber auch kein Neuland für ihn, wie für andere Leute.

Er ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder und schaltete seinen Laptop ein. Yusuf hasste es, dass Armin einen Laptop benutzte. Er hielt es für unästhetisch.

Sie arbeiteten eine Weile schweigend.

Gut: Yusuf arbeitete (zumindest sah es danach aus).

Armin checkte seine Mails: Nichts.

Also: Das Internet nach interessanten Videos durchsuchen und weiterleiten.

Es klopfte an der Tür.

Yusuf und Armin warfen sich erstaunte Blicke zu: Normalerweise wurden sie angerufen - von verzweifelten alten Leuten, deren Enkel oder Kinder sie unbedachterweise mit einem verwirrenden Geschenk bedacht hatten.

Oder es klopfte an der anderen Tür, die, die zur Dönerbude führte, und Herr Durmus stellte ihnen strahlend einen seiner Verwandten vor, der ein unüberbrückbares Problem mit dem Internet oder Drucker hatte.

„Ja?“, rief Armin fragend.

Die Tür öffnete sich.

Armin und Yusuf erhoben sich, sobald sie die Person sahen, die den Raum betrat.

Der Mann war bestimmt an die zwei Meter hoch, gebaut wie ein Schrank, mittellange, hellblonde Haare und einen Vollbart der gleichen Farbe. Er trug einen alten schwarzen Rucksack über der Schulter, der so winzig wie der Turnbeutel eines Viertklässlers wirkte.

Armin wusste nicht warum, aber er war sich ziemlich sicher, dass der Kerl aus Norwegen oder Schweden kam und seine Vorfahren arme Mönche mit einem Drachenboot überfallen hatten, nachdem sie zu viel Met getrunken hatten.

„Guten Tag“, sagte der Besucher. Seine Stimme war fest und selbstsicher.

„Hallo“, erwiderte Armin den Gruß, wobei seine Stimme nicht ganz so sicher klang, und ging vorsichtig auf den Hünen zu, um ihm die Hand entgegenzustrecken.

Der Mann ergriff sie.

Was sagt ein Händedruck über einen Menschen aus?

Lasch = Weichei?

Fest = Harter Hund?

Wenn diese Zuordnung stimmte, war dieser Kerl hier ein Kampfhund ohne Maulkorb.

„Mein Name ist Svenson. Ich habe ein Problem mit meinem Computer.“ Er deutete mit dem Daumen auf seinen Rucksack. „Bin ich hier richtig?“

Armin nickte: „Natürlich! Computer! Wir kennen uns aus. Was ist denn das Problem?“
„Sind Sie Armin Kern?“

Armin sah Yusuf verwirrt an: „Ja, das bin ich.“ Leugnen sinnlos.

„Sie wurden mir empfohlen. Ich möchte, dass Sie sich darum kümmern.“ Er warf Yusuf einen abschätzigen Blick zu.

„OK... Kommen Sie doch bitte und zeigen Sie mir das Gerät.“

Er ging mit Svenson zu seinem Schreibtisch und zog einen alten Klappstuhl heran (Er klickte auch unauffällig das Fenster mit einem Pandavideo weg und hoffte, der breite Kerl würde nichts merken.). Svenson musterte den Stuhl kurz: Entweder, er überlegte, ob das Armins Ernst war oder ob der Stuhl seine Muskelmasse aushalten würde (Oder, was die Pandas auf dem Bildschirm sollten.)

Er setzte sich. Armin tat es ihm gleich.

Svenson entnahm seinem Rucksack einen alten, ramponiert wirkenden Laptop und stellte ihn auf dem Schreibtisch ab.

„Ich habe mein Passwort vergessen. Ich lege ziemlich viel Wert auf Sicherheit und habe mir damals ein paar Sicherheitshürden einbauen lassen, die es jetzt kompliziert machen.“
„Warum gehen Sie nicht zu der Person, die die Hürden eingebaut hat?“

„Pleite.“

Armin nickte wissend: „Ja, das passiert in der Branche oft. Die Leute kaufen heute lieber direkt einen neuen Rechner, statt ihren alten reparieren zu lassen.“ Er lächelte Svenson an, der keine Miene verzog.

„Gut. Ich gucke mir das an und melde mich.“

„Ich brauche den Rechner in 48 Stunden.“

„Das könnte schwierig werden.“

Svenson griff in seine Hosentasche und kramte einen Zettel mit einer Telefonnummer hervor: „Hören Sie: Ich brauche den Rechner. Ich gebe Ihnen 12000 Euro, wenn Sie ihn mir in 48 Stunden abliefern. Pro Stunde, die Sie länger brauchen, ziehe ich 1000 Euro von Ihrer Prämie ab. Wenn das Geld aufgebraucht ist, komme ich vorbei und hole ihn ab.“

„Das ist…“

„Das ist fair und Sie werden es machen.“ Er sah Armin durchdringend an. „Und nur Sie werden den Computer anfassen. Wenn Ihr Kumpel das Teil anpackt, bekomme ich das raus. Und wenn ich es rausbekomme, kriegen Sie Ärger. Und zwar handfesten. Klar?“

Armin schluckte: „Alles klar. Machen wir.“

Svenson stand auf: „Nicht wir. Sie! Rufen Sie an, wenn der Rechner läuft. Egal, wie spät es ist. Auch mitten in der Nacht.“

Nachdem er den Laden verlassen hatte, legte Yusuf los: „Was ist das denn für ein Arschloch? Warum soll ich seinen Laptop nicht anfassen? Hat der was gegen Ausländer? Ist er doch selbst, so wie der aussieht! Scheiß Nazi! Die hätten den auch sonstwo hingesteckt.“

„Die Nazis hatten nichts gegen Skandinavier.“

„Was?“

„Ja, habe ich mal gelesen, aber eigentlich habe ich keine Lust, mich mit dir jetzt über hohlen Rassismus und sonst was zu streiten. Der Kerl ist ein Freak, das stimmt, aber wenn ich das hinbekomme, kriegen wir so viel Kohle, dass wir im Sommer wegfliegen können.“

Yusuf schnaufte und wandte sich beleidigt seinem Bildschirm zu.

Armin öffnete den Laptop und schaltete den Rechner ein.

Das System fuhr hoch, dann war Schluss: Der Bildschirm war schwarz.

„Geben Sie bitte das Passwort ein!“, forderte eine grüne Box ihn auf.

„Mhmmm“, machte Armin und legte die Stirn in Falten.

Deutsches Klischee

Armin und Yusuf trafen sich vor dem Haus von Yusufs Eltern.

„Bist du irgendwie weitergekommen?“, wollte Yusuf wissen.

„Nein. Das Ding ist total bombensicher. Keine Ahnung.“ Armin war sich ziemlich sicher, ein zufriedenes Lächeln über Yusufs Gesicht huschen zu sehen, aber bevor er etwas sagen konnte, wurde die Haustür aufgerissen und Hacer Ates, Yusufs Mutter, strahlte sie an: „Da seid ihr ja! Wie schön euch zu sehen.“ Sie drückte erst Yusuf, dann Armin an ihre Brust: „Armer Junge“, sagte sie und tätschelte Armins Kopf.

Hacer Ates war eine herzliche, leicht korpulente Frau, die vor Mitgefühl und Liebe ständig überzulaufen schien. In dieser Hinsicht war sie das genaue Gegenteil ihres Mannes, der nun ebenfalls zur Haustür kam.

„Es ist drei Minuten vor sechs. Sehr früh. Nicht sehr höflich“, konstatierte er und sah demonstrativ auf seine Uhr. Yusuf verdrehte die Augen.

Ajub Ates war 65 Jahre alt und definitiv überintegriert. Als er mit seiner Frau vor endlosen Jahren nach Deutschland kam, gab er an der Grenze seine kulturelle Identität ab und trainierte sich jedes deutsche Klischee an, das auf der Welt über dieses befremdliche Völkchen kursierte.

Er…

… war pünktlich, und zwar auf die Minute! Zu früh war genauso schlimm wie zu spät.

…hatte sich zum Leidweisen seiner Frau geweigert, eine Großfamilie zu gründen.

…flog gerne nach Mallorca, um Urlaub zu machen!

„Kommt rein!“, rief Frau Ates und zog Armin und Yusuf ins Esszimmer, wo sie sich an den gedeckten Tisch setzten.

Herr Ates setzte sich würdevoll ans Kopfende: „Armin, mein Beileid zu deinem Verlust. Es tut mir wirklich leid.“

„Danke“, sagte Armin und nickte höflich.

Das Essen bestand aus Kartoffeln, Rindfleisch und Möhren. Als alle aßen, räusperte sich Yusufs Mutter: „Es gibt eine Neuigkeit“, verkündete sie.

„Hacer, bitte!“, intervenierte ihr Mann, aber seine Frau ließ sich nicht abhalten.

„Yusuf… Ich habe lange darüber nachgedacht und ich bin zu der Entscheidung gekommen, dass ich in meinem Leben etwas verändern muss. Ich finde es wichtig, dass du als mein Sohn es von mir hörst. Ich sage dir aber auch, dass ich mich nicht umstimmen lasse.“

Yusuf legte Messer und Gabel beiseite: „Äh“, machte er.

„Sehr intelligent. Haben wir dir dafür die Uni bezahlt?“, meckerte sein Vater.

„Ajub, sei freundlich!“, schimpfte Hacer. „Also: Ich habe beschlossen, zum Judentum zu konvertieren.“

Schweigen.

Schweigen.

Armin hatte aufgehört zu kauen. Hatte er sich verhört?

„Was sagst du dazu?“, fragte Hacer ihren Sohn begeistert.

„Äh, hast du dir das gut überlegt?“

„Aber natürlich! Es gibt keinerlei Probleme. Ich muss auch weiter mit dem Schwein und so aufpassen, dein Vater und ich kommen uns beim Essen also nicht in die Quere.“

„Aber das ist doch nicht der einzige Grund, oder? Ich meine, wieso kommst du auf die Idee, deine Religion aufzugeben?“

Hacer seufzte: „Ich möchte eine neue spirituelle Erfahrung machen. Mich verändern, den Horizont erweitern.“

Ajub schüttelte den Kopf: „Aber dafür deinen Glauben verraten?“

„Das ist kein Verrat! Und das weißt du genau!“

Als Armin und Yusuf nach dem Essen an der Straße vor ihren Autos standen, stöhnte Yusuf: „Was sagst du dazu?“

„Wozu genau meinst du? Deine Familie redet immer sehr viel.“

„Du weißt doch genau, was ich meine. Die neueste Idee meiner Mutter.“

Armin grinste: „Na ja. Warte mal ab. Sie hatte schon mehrere seltsame Ideen und die Hälfte davon hat sie ganz schnell wieder vergessen.“

„Aber die andere Hälfte hat sie durchgezogen. Scheiße! Wir werden doch jetzt schon als Deutsche nicht ernst genommen und das, obwohl ich hier geboren bin. Und es gibt immer noch total viele Idioten, die was gegen Juden haben. Und sie will beides sein?“

Armin schüttelte den Kopf: „Ich denke nicht, dass das ein Problem ist. Und im Grunde bist du grade ein riesiger Rassist.“

„Ich?“ Yusuf starrte ihn entsetzt an.

„Klar. Du redest heute den ganzen Tag von Nazis, Diskriminierung, Türken, jetzt Juden und was passiert, wenn man beides vermischt…“

„Aber doch nur, weil ich damit konfrontiert werde! Ich bin das Opfer!“
Armin schnaufte: „Also im Moment bist du gar nichts. Nur ein armer Kerl, der von seiner Mutter mit der Idee konfrontiert wurde, dass sie ihre Religion ändern möchte. Ein Wunsch, den man haben darf und der alltäglich ist. Keiner hat damit ein Problem. Nur du, und das, weil du in rassischen Kategorien denkst.“

„Meine Fresse, ich fahre jetzt nach Hause“, maulte Yusuf und zog seinen Autoschlüssel aus der Hosentasche.

„Mach das. Wir sehen uns morgen.“

Nachtschicht

Während Armin nach Hause fuhr, spürte er, dass ihn nichts dorthin zog.

Er wollte nicht im Bett liegen und die Augen schließen.

Er wollte nicht vor seinem inneren Auge den Sarg seines Bruders sehen, wie er in einem dunklen Loch verschwand, oder hören, wie die Erde auf das Holz des Deckels prasselte.

Er setzte den Blinker und fuhr stattdessen zum Geschäft. Er hatte eine Dead-Line.

Blödes Wort, Dead-Line, gerade heute.

Besser: Er hatte eine Frist, die er einhalten musste.

Er parkte den Wagen am Straßenrand. Nachdem er den dunklen Hof überquert hatte, schloss er die Tür auf und schaltete das Licht ein.

Die Räumlichkeiten wirkten tagsüber schon trostlos, aber es war immer wieder erstaunlich, was das Fehlen von Tageslicht ausmachte.

„Passend“, seufzte Armin leise und setzte sich an seinen Schreibtisch.

Eigentlich hatte er sich sein Leben anders vorgestellt.

Mehr…Glanz!

Mehr Bedeutung.

Vielleicht auch mehr Würde.

Er schaltete den Laptop von Svenson ein und fing an, verschiedene Code-Folgen einzugeben, von denen er sich einen Effekt erhoffte.

Während er tippte, spürte er, wie sein Körper sich entspannte.

Er war allein.

Es war leise.

Nur das Tippen seiner Finger auf der Tastatur. Seine Finger spulten die Codes automatisch ab. Er musste nicht viel Denken.

Alles Standard.

Garantiert sinnlos.

Er wusste: Diesen Code würde er bestimmt nicht knacken. Aber er hatte die Hoffnung, dass er vielleicht etwas Kohle abgreifen konnte, wenn Svenson merkte, dass er sich Mühe gab.

Oder dass der ihn einfach nicht verprügelte, wenn er zwangläufig scheiterte.

Allerdings war er mit seinem Latein ziemlich schnell am Ende. Wenn er wenigstens Yusuf hätte fragen können.

Warum tat er es nicht einfach? Wie sollte Svenson es erfahren? Allerdings sagte ein unbestimmtes Gefühl Armin, dass mit dem Mann nicht zu scherzen war und ein „Betrug“ nicht infrage kam.

Er starrte auf dem Bildschirm.

Resigniert.

Leerer Kopf.

Schwere Hände.

Seine Augen fielen halb zu.

Der Tag war hart gewesen.

Schwierig.

Intensiv.

Er schloss die Augen, spürte, wie Ruhe ihn umfing. Sein Puls fuhr weiter runter. Die dreitausend Gedanken in seinem Kopf kamen zwar nicht zur Ruhe, aber er beachtete sie nicht weiter.

Sie flogen einfach vorbei.

Dann zeichnete sich in seinem Verstand etwas ab. Etwas…

Armins Finger begannen zu tippen. Buchstabe – Buchstabe – Zahl – Raute (oder modern Hashtag) – Zahl.

Er öffnete die Augen, betrachtete die Sternchen, die für das Passwort standen, und drückte auf ENTER.

Der Computer piepste.

Der Bildschirm veränderte sich: Der Desktop baute sich auf. Hintergrundbild: Ein Wikinger.

„Scheiße“, sagte Armin erstaunt. Er hatte es geschafft.

Aber wie? Er wusste es nicht.

Er griff zu seinem Handy und kramte den Zettel mit der Telefonnummer von Svenson hervor. Der ging sofort ran – als hätte er gewusst, dass Armin soweit war.

„Ja?“, fragte der Nordmann.

„Hier Kern. Ihr Laptop ist fertig.“

„Gut. Bitte ändern Sie das Passwort in TEST. Alles großgeschrieben, OK?“

„Gerne. Kommen Sie morgen vorbei und…“
„Nein!“

Armin war verwirrt.

„Bringen Sie ihn mir ins Büro. Leiter-Straße 8. Neun Uhr. Melden Sie sich an der Rezeption.“

Armin schnappte sich einen Stift und notierte sich Adresse und Uhrzeit: „Natürlich, das kann ich gerne…“

Aufgelegt.

Armin runzelte die Stirn: „Sehr freundlich“, brummte er.

Vor-Ort-Service

Als Armin am nächsten Morgen erwachte, konnte er noch immer nicht fassen, dass es ihm tatsächlich gelungen war, den PC zu knacken.

Er hatte Yusuf eine Nachricht geschrieben, die der aber ignorierte: Armin sah, dass er sie gelesen hatte, aber er konnte sich vorstellen, dass Yusuf enttäuscht war, dass Armin ohne seine Hilfe klargekommen war. Insgeheim hatte er wahrscheinlich gehofft, dass Svenson ihn doch um Hilfe bitten würde.

Na ja, da konnte Armin auch nichts dran ändern.

Er stieg im Badezimmer unter die Dusche und ließ das heiße Wasser seinen Nacken einweichen.

Anschließend setzte er sich mit einer Tasse Kaffee an den alten Küchentisch und überflog mit seinem Handy die Nachrichten.

Immer das Gleiche: Überall auf der Welt regierten entweder Egomanen oder Leute, die lieber moderierten als Partei zu ergreifen. Dass die Leute keine Lust mehr hatten, konturlosen Politikern zu folgen, denen es nur darum ging, gewählt zu werden, damit sie ihren Job behielten und sie eine Grundlage hatten, später in den Vorstand irgendeines DAX-Unternehmens zu wechseln, war verständlich.

Allerdings wandte sich Armin deswegen nicht von der Politik ab, sondern ging im Gegensatz zu anderen Leuten weiter wählen und verzichtete auch auf eine Protestwahl, bei der Leute Stimmen und Diäten erhielten, ohne eine wirkliche Lösung parat zu haben.

Dann lieber moderierende Politiker ohne Vision.

Er sah auf seine Smartwatch am Handgelenk: Verdammt! Er hätte schon seit zehn Minuten im Auto sitzen müssen!

Er sprang auf, schnappte sich seine Tasche mit Svensons Laptop und verließ die Wohnung. Als er schon auf der Treppe war, rannte er wieder zurück, um die Haustür abzuschließen.

Er spurtete die Treppen hinunter und sprang in seinen Wagen. Nachdem er die Adresse ins Navi eingegeben hatte, setzte er den Blinker und begann die quälende Fahrt durch den Kölner Verkehr, der sich nicht zähfließend, sondern betonartig vor sich hin walzte.

„Sie haben Ihren Zielort erreicht.“

Armin sah verwundert aus dem Fenster.

Er hatte mit einem Bürogebäude gerechnet, aber nicht mit sowas: Der riesige Firmenkomplex bestand offensichtlich zu 99% aus Glas.

Armin suchte einen Parkplatz.

Blick zur Uhr: 25 Minuten Verspätung. Mist!

Wenigstens war das hier keine Beerdigung.

Als er die Eingangshalle betrat, fragte er sich, was für eine Firma das hier wohl war. Firmenschild: Fehlanzeige.

Auf jeden Fall sah alles sehr edel und elegant aus. Er sah an sich hinunter: Seine Nerd-Kleidung passte vielleicht zu Hausbesuchen bei alten Leuten, aber in diesem Setting wirkte seine braune Cordhose absolut deplatziert. Zum Glück hatte er wenigstens auf die falsche Brille verzichtet. Die hatte er gestern auch nicht getragen und Svenson würde ihn für noch dümmer halten, als er es bestimmt ohnehin schon tat, wenn er jetzt mit einer Brille auftauchte.

Er steuerte auf eine Rezeption zu, hinter der eine professionell-freundliche junge Dame ihm ein freundliches Lächeln schenkte und seine Aufmachung ausblendete: „Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie.

„Ja, guten Tag. Mein Name ist Kern. Ich habe einen Termin mit Herrn Svenson.“

Die Dame tippte auf einem Computer herum: „Mhmmm, da scheint ein Missverständnis vorzuliegen.“

„Bitte?“

„Herr Svenson hat für halb zehn keinen Termin eingetragen.“

Armin lächelte verlegen: „Ich hätte bereits um neun da sein sollen. Der Verkehr, wissen Sie?“

Die Dame warf ihm einen kurzen Blick zu, der eine tadelnde Nuance aufwies: „Ah, ja. Bitte, nehmen Sie doch Platz. Ich werde für Sie anrufen.“

Sie wies auf einen Bereich an der Westseite der Halle, wo schwere Ledersessel standen.

„Danke“, sagte Armin und nahm in der Sitzecke Platz. Er schaute auf seine Uhr: Yusuf hatte noch immer nicht geschrieben.

Es dauerte eine geschlagene Stunde, bis die junge Dame an Armin herantrat: „Herr Svenson hat nun Zeit für Sie“, sagte sie. „Bitte nehmen Sie den linken Aufzug.“

„Und wo soll ich hinfahren?“

„Ich habe den Aufzug entsprechend eingestellt.“

„Sie haben was?“

Die Dame lächelte: „Jeder Mitarbeiter hat eine Karte. Er zieht sie im Fahrstuhl durch einen Leser und dann fährt der Aufzug zu der entsprechenden Etage. Oder zur Kantine, dafür gibt es einen Sonderknopf.“

Armin nickte: Sehr sicher.

„Bevor Sie zu ihm fahren, bräuchte ich noch Ihr Handy.“

„Mein Handy?“

„So lauten die Vorschriften.“ Sie deutete auf sein Handgelenk: „Und die Uhr. Smartwatches sind ebenfalls verboten.“

Armin händigte ihr beides aus.

„Sie bekommen alles wieder, wenn Sie nachher gehen.“

Armin ging zum Aufzug und stieg ein:

Gläserne Kabine.

Grelles Licht.

Blanke Stahlkabel.

Wohlfühlfaktor: Null!

Als der Fahrstuhl anfuhr, blieb Armins Bauch für eine Zehntelsekunde im Erdgeschoss, während der Rest seines Körpers schon in der dritten Etage angekommen war.

Als der Aufzug abbremste und die Türen auseinander glitten, stand Svenson vor ihm.

„Hallo“, sagte Armin. „Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe.“

Svenson nickte, drehte sich um und ging den Gang entlang.

Armin starrte auf den sich entfernenden breiten Rücken und kam zu dem Schluss, dass er dem Hünen wohl folgen sollte.

Er lief dem Wikinger mehrere Flure hinterher, die mit schwerem Teppich ausgelegt waren, die jedes Geräusch schluckten.

Als würde man in einem Vakuum rennen.

Schließlich blieb Svenson vor einer Tür stehen, klopfte und wartete.

„Herein!“

Svenson öffnete die Tür und betrat den Raum.

Armin folgte ihm, auch wenn er sich nicht wohl fühlte. Aber dieser Zustand war heute offensichtlich der Normalfall und vermittelte daher fast schon so etwas wie Sicherheit.

Das Büro, das sie betraten, war (natürlich) mit einer riesigen Glaswand versehen, durch die man einen Luxus-Ausblick auf Köln hatte. Armin hätte gerne sein Handy gezückt und ein Foto gemacht, aber weder trug er es bei sich, noch ließ die Situation das Schießen von Souvenirs zu.

Vor der Glasfront stand ein riesiger, gläserner Schreibtisch. Armin stellte es sich surreal vor, auf einer solchen Unterlage etwas zu schreiben: Als würde man dauernd auf seinen Knien rummalen.

Hinter dem Schreibtisch saß ein würdevoller, schlanker Mann mittleren Alters mit einem grauen Vollbart. Seine Augen waren ambivalent. Sie strahlten zwar eine enorme Ruhe aus, aber da war noch was: Ein schwelendes Feuer, das darauf lauerte hervorzubrechen.

Als Svenson und Armin den Raum betraten, erhob der Mann sich langsam. Er umrundete den Schreibtisch und schüttelte Armin die Hand, während er Svenson kurz zunickte.

„Guten Morgen, schön, dass Sie es einrichten konnten. Die Wartezeit tut mir sehr leid. Ich hasse Unpünktlichkeit, daher ist es mir sehr peinlich, dass Sie so lange warten mussten.“ Armin lächelte verlegen: Das war eine sehr subtile Weise darauf hinzuweisen, dass er zu spät gewesen war. Gleichzeitig fragte er sich, warum er mit diesem Mann sprach, wo er doch Svenson nur den Laptop zurückbringen wollte/sollte. Der schien den wichtigen Computer aber vergessen zu haben.

„Mein Name ist Lothar Huker. Ich bin Abteilungsleiter und habe Herrn Sivertsen gebeten, Ihnen einen gewissen Auftrag zukommen zu lassen.“

Armin sah verwirrt zu dem Mann, den er bisher nur unter dem Namen Svenson kennengelernt hatte.

Der breite Schrank verzog keine Miene. Er hatte sich neben der Tür positioniert, was mehr als passiv-aggressiv wirkte.

„Ich denke, ich muss Ihnen ein paar Dinge erklären. Aber so etwas macht man doch viel leichter im Sitzen. Also...“ Er wies auf einen Leder-/Metallstuhl, wie er häufiger in Arztpraxen stand. Armin fühlte sich, als wäre er beim Zahnarzt zu einer Wurzelbehandlung erschienen und die Schwester hatte ihm gerade mitgeteilt, dass leider die Betäubungsspritzen aus wären.

Die Sache war definitiv seltsam.

Er nahm Platz, während Huker seinen Schreibtisch umkreiste und selbst in einem großen Bürostuhl Platz nahm.

„Also: Was wissen Sie über diese Firma?“, begann er und lächelte neugierig.

Armin zuckte mit den Schultern: „Also, wenn ich ehrlich sein soll…“

„Ich bitte darum!“

„Eigentlich nichts. In der Halle habe ich noch nicht einmal ein Firmenschild gesehen. Sie scheinen sehr viel Wert auf Sicherheit zu legen. Keine Handys, programmierte Aufzüge...“

„Sehr gut. Ich sehe, Sie können gut beobachten und sind in der Lage, die korrekten Schlüsse zu ziehen.“ Er lehnte sich zurück: „Allerdings gibt es da noch einige Lücken, denke ich. Wenn Sie mir nur eine Frage stellen könnten, welche wäre das?“

Das war nicht schwierig: Was soll das alles? Aber Armin war klar, dass er sie so nicht stellen konnte.

„Warum haben Sie Ihren Mitarbeiter unter einem falschen Namen zu mir geschickt?“

Huker nickte: „Naheliegend. Ich habe ihn unter falschen Namen zu Ihnen geschickt, weil wir Sie einem Test unterzogen haben. Falls Sie versagt hätten, wäre es Ihnen unmöglich gewesen, Kontakt zu uns aufzunehmen. Verstehen Sie das bitte nicht falsch, aber unser Unternehmen ist auf Erfolg ausgerichtet.“

„Und was ist das für ein Unternehmen?“

„Das ist schon die zweite Frage.“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung: „Aber macht nichts. Sie haben den Test bestanden und verdienen ein paar Antworten. Also: Unsere Firma heißt Octo-Concilio. Wir sind auf IT-Beratung spezialisiert, haben aber ein gemischtes Portfolio, um uns gegen die branchenüblichen Schwankungen abzusichern. Im Gegensatz zu Ihnen beraten wir international operierende Firmen und keine Privatkunden.“

Armin fühlte sich sowohl ertappt als auch abgewertet: Na klasse!

„Wir haben vor Kurzem einen Mitarbeiter verloren und müssen seine Stelle neu besetzen. Er hat sich um sicherheitsrelevante Fragen gekümmert. Unsere interne Verteidigungsstrategie sozusagen.“

„OK.“

„Und wir haben uns dazu entschlossen, Ihnen diesen Job anzubieten.“
Armin schluckte. Das lief aber vollkommen anders als erwartet: Eigentlich wollte er nur einen Laptop loswerden, das Geld einsacken und dann irgendwo einen All-Inclusive-Urlaub klarmachen. Cocktails, bunte Schirmchen, All-You-Can-Eat-Buffets, davon vielleicht Durchfall… Das Übliche halt.

Aber ein Jobangebot?

„Ich kann verstehen, dass Sie überrascht sind. Aber ich denke, der Job würde Sie reizen.“

„Ich fühle mich sehr geschmeichelt“, begann Armin, „aber ich weiß nicht, ob ich der Richtige für einen solchen Job bin. Systemsicherheit ist ein komplexes Feld, gerade für Firmen, und Sie haben eben selbst gesagt, dass ich und mein Geschäftspartner mehr im privaten Sektor arbeiten.“

Huker lächelte: „Das haben Sie schön ausgedrückt. Das Angebot gilt natürlich auch für Ihren Kollegen. Aber bevor Sie sich entscheiden, gibt es einen Faktor, den Sie berücksichtigen sollten.“

Armin war klar, dass er ablehnen würde. Er wollte nicht mit Leuten zusammenarbeiten und von ihnen wirtschaftlich abhängig sein, die noch nicht einmal bei ihrem Namen ehrlich waren.

Huker sah Armin in die Augen: „Die Person, die den Posten vorher innegehabt hat, war Ihr Bruder Norik Kern.“

Armin öffnete den Mund, seine Lippen wollten Sätze formen, seine Zunge sie unterstützen, aber sein Hirn lieferte keine vernünftigen Informationen, die sprachlich hätten umgesetzt werden können: „Ähmmm, äh…!“ Diese Laute spiegelten ziemlich genau wider, was in seinem Hirn vor sich ging.

„Ich sehe, Sie sind überrascht. Das wundert mich nicht. Ich weiß, dass Sie und Ihr Bruder kein enges Verhältnis hatten. Eher etwas oberflächlich.“ Er hob eine Hand: „Kein Vorwurf. Sie haben viel gearbeitet und Ihr Bruder ebenfalls. Aber jetzt ist er leider von uns gegangen.“ Huker sah plötzlich sehr traurig aus: „Er fehlt uns allen sehr.“

Armin fand einen sinnvollen Gedanken: „Und warum waren Sie dann nicht bei seiner Beerdigung?“

Er hörte, wie Sivertsen hinter ihm schnaubte.

„Sie haben Recht. Ich sitze hier, sage Ihr Bruder fehlt uns. Aber wir hatten nicht mal den Anstand, ihm die letzte Ehre zu erweisen. Bin ich also ein Lügner?“ Huker strich sich durch den Bart. „Ich denke nicht. Fakt ist, dass Ihr Bruder der Architekt unseres Sicherheitssystems war. Er wurde von uns allen hochgeachtet und von den Leuten, die er abwehrte, gefürchtet. Verbrecher, die unsere Daten stehlen wollen. Als die Nachricht seines Todes bei uns wie eine Bombe einschlug, hat das leider gewisse Hebel in Bewegung gesetzt. Wir hatten alle Hände voll zu tun, unser System sauber und dicht zu halten.“ Er schüttelte den Kopf: „Es gab einige Leute, die geglaubt haben, ohne Ihren Bruder würde unser System zusammenbrechen. Deswegen konnten wir nicht an der Zeremonie teilnehmen. Aber das sagt nichts über die Trauer, die wir empfinden. Wissen Sie, wie viele Leute bei Beerdigungen sind, denen der Verstorbene egal ist? Ich frage Sie also: Wer trauert ehrlicher: Der, der körperlich am Grab präsent ist, aber mit den Gedanken ganz woanders? Oder ist es derjenige, der abends im Sessel alleine weint, wo ihn keiner sieht?“

Armin schluckte erneut. Natürlich kannte er die Antwort.

„Also“, fuhr Huker mit fester Stimme fort. „Wir bieten Ihnen eine unbefristete Stelle ohne Probezeit an. Nach Abzug der Steuern erhalten sie rund 5000 Euro im Monat. Ihr Kollege kann zu den gleichen Konditionen anfangen, wenn er möchte – aber nur, wenn Sie auch anfangen. Für ihn alleine gilt das Angebot nicht.“

Armin wurde schwindelig: Soviel Geld! „Ich denke“, sagte er, „dass ich das mit Yusuf, also mit Herrn Ates, besprechen muss.“

„Nein, das geht nicht.“

„Bitte?“

„Dieses Angebot gilt nur jetzt. Wenn Sie sich jetzt nicht entscheiden und durch die Tür gehen, ist es hinfällig und wird nie wieder erneuert. Das ist Ihre Chance. Entweder, Sie entscheiden sich, die Arbeit Ihres Bruders fortzusetzen, oder Sie erklären weiterhin alten Leuten, dass man Drucker an den Strom anschließen muss, damit sie funktionieren. Oder, dass es kein Wifi-Kabel gibt. Ihre Entscheidung. Aber Sie müssen sie jetzt treffen.“

Armin ließ sich im Stuhl zurückfallen.

War er vorhin noch mental bei einer Wurzelbehandlung gewesen, fühlte er sich jetzt eher wie ein Reh, das in die Lichter des LKWs schaut und sich fragt, was das wohl für Sterne sind.

Er war genauso ratlos, ahnungslos und in die Enge getrieben…

Habe ich überhaupt eine Alternative? Und was ist mit Yusuf? Kann ich so über seinen Kopf hinweg entscheiden?

Sivertsen hinter ihm schnaubte ungeduldig.

„Äh“, machte Armin und ärgerte sich über sich selbst.

„Haben Sie noch eine Frage?“

Eine? Tausende! Aber eine bestimmte drängte sich auf: „Warum ich?“

„Das“, sagte Huker, „ist eine Frage, die sich jeder stellt, oder? Wenn Sie einen Platten haben, wenn Sie einen Schnupfen kriegen… Warum ich? Meistens fragt man sich das aber, wenn etwas Schlechtes passiert ist. Bei etwas Positivem sagt sich jeder: Weil ich der Beste bin! Ich verdiene es! Die Tatsache, dass Sie diese Frage stellen, zeigt mir, dass Sie dem Angebot nicht trauen. Es ist zu gut, korrekt?“

Armin nickte.

„Nun, ich will Sie nicht anlügen. Sie werden hier mehr arbeiten müssen, als jemals zuvor. Sie müssen sich voll reinknien, das bedeutet auch Stress am Wochenende. Oder nachts. Das Geld mag Ihnen jetzt viel vorkommen, aber es ist im Grunde nur ein sehr geringes Schmerzensgeld. Und in dem Vertrag, den Sie unterschreiben würden, ist festgelegt, dass Sie auf jede Form von Kündigungsschutz verzichten. Wenn Sie also unsere Erwartungen nicht erfüllen, sage ich Auf Wiedersehen und zwei Minuten später sind sie weg und damit auch vergessen. Zumindest was uns anbelangt.“ Er leckte sich über die Lippen: „Wir sind kein Wohltätigkeitsunternehmen. Wir sind profitorientiert. Das ist eine kapitalistische Welt und wenn wir die Regeln nicht verstehen würden, würden wir nicht in diesem Glaskasten sitzen, sondern im Hinterhof einer Dönerbude.“

Armin zuckte zusammen: Der Mann war sowohl weise als auch subtil in seinen Beleidigungen. Und treffsicher.

Huker sah auf seine Uhr: „Also: Ich habe noch Termine. Ich gebe Ihnen eine Minute. Dann würde ich Sie bitten zu gehen.“

Armins Gedanken rasten, während sein Verstand versuchte, alle Seiten des Problems zu erfassen:

Geld.

Arbeit.

Sicherheit.

Huker.

Falsche Namen.

Verlogenheit.

Erfolg.

„Noch dreißig Sekunden.“

Kündigung.

Hamsterrad.

Yusuf.

Dönerbude.

„Zehn.“

Dann blitzte ein Gedanke auf – und damit stand die Antwort fest: „Ich mache es“, sagte Armin ruhig und mit mehr Selbstsicherheit, als er empfand. Huker nickte. Er hatte natürlich gewusst, dass Armin sich so entscheiden würde, und das nicht wegen des Geldes. Der Grund für diese Entscheidung war einfach: Norik Kern.

„Sehr schön“, sagte Huker. „Das freut mich. Teilen Sie Herrn Ates doch bitte unser Angebot mit. Er soll sich bis Morgen entscheiden. Guten Tag.“

Huker zog eine Aktenmappe heran und schlug sie auf.

Armin rutschte kurz verlegen auf seinem Stuhl herum, dann stand er auf.

Das Gespräch war definitiv beendet.

***

„Bist du dir sicher, dass er für den Job der Richtige ist?“ Huker sah Sivertsen unsicher an. Er galt zwar als hochintelligent und hatte durch ein bewegtes Leben einen gewissen Grad an Weisheit erworben, aber die Leute vergaßen schnell, dass er dadurch das Wissen der Welt nicht gepachtet hatte. Auch er konnte sich irren.

Er wusste das – vielleicht war dieses Wissen die einzig wahre Weisheit, die er erworben hatte: Die Kenntnis der eigenen Fehlbarkeit.

Erlung Sivertsen nahm auf dem Stuhl Platz, auf dem kurz zuvor noch Armin gesessen hatte: „Ich habe ihn überprüft. Er besitzt alle Voraussetzungen, Norik zu ersetzen.“

Huker schüttelte den Kopf: „Norik hatte nicht nur eine große Gabe, sondern auch den unbedingten Willen, diese Gabe für das Richtige einzusetzen. Er ist nicht zu ersetzen.“ Er seufzte: „Ich hätte wahrscheinlich jemand anderes ausgewählt. Aber ich vertraue deinem Urteil.“

***

Armin traf sich abends auf der Zülpicher in einer Cocktail-Bar mit Yusuf. Er nippte an seinem Whiskey-Sour und beobachtete das Gesicht seines besten Freundes, den er gerade auf den neuesten Stand gebracht hatte und dem die Gesichtszüge ebenso entglitten wie manchem C-Promi die verbale Beherrschung, wenn er nicht mehr auf den allgemeinen Klatsch-Seiten zu finden war.

„Du bist darauf eingegangen? Dir ist schon klar, dass diese…Firma… nicht sauber gespielt hat?“

„Ja“, stimmte Armin zu und stellte das Glas mit großer Sorgfalt ab – hauptsächlich, um Zeit zu schinden. „Aber ich weiß nicht… Da hat Norik gearbeitet. Weißt du, mir ist die letzten Tage bewusst geworden, wie wenig ich eigentlich über ihn weiß: Eigentlich so gut wie nichts. Wir haben uns total auseinandergelebt. Allein die Frau am Grab!“

„Die du gesehen haben willst.“

„Ich bilde mir doch sowas nicht ein! Wer war sie? Ich weiß nicht mal, ob er eine Freundin hatte. Das ist doch einfach nur traurig.“

Yusuf nickte. Da konnte er nichts gegen sagen. „Aber ist das ein Grund, sich denen so auszuliefern? Ich meine, wir wissen nichts über die Firma.“ Er tippte auf seinem Smartphone herum, das vor ihm lag. „Die haben nicht mal eine Homepage. Berater für international operierende Firmen? Im IT-Bereich? Und dann keine Homepage? Armin, du weißt selbst, dass das stinkt.“

Natürlich wusste Armin das. Er war zwar verpeilt und einfach gestrickt, aber bestimmt kein Idiot.

„Außerdem“, fuhr Yusuf fort und ihm war anzumerken, dass ihm das Kommende sehr unangenehm war, „bist du bei allem Respekt nicht gerade ein Genie bei der Arbeit. Und das sage ich als jemand, der die Freude hat, dich jeden Tag beobachten zu dürfen.“

„Eher zu müssen, meinst du wohl.“ Armin war Yusuf nicht böse. Natürlich war er kein Genie. Das hatte Huker ja selbst gesagt, indem er sich über ihr Geschäft lustig gemacht hatte. „Das stimmt alles und ich stimme dir zu. Aber ich habe den Job trotzdem angenommen. Und wenn ich in zwei Monaten rausfliege, habe ich 10000 Euro verdient und wir machen da weiter, wo wir jetzt aufgehört haben. Das Geschäft können wir weiter mieten und gut ist. Ich möchte nur wissen, ob du dabei bist!“

Yusuf hielt den Eistee in der Hand, den er bestellt hatte. Er lehnte Alkohol nicht aus religiösen Gründen ab, wie die meisten Leute zunächst glaubten, sondern einfach, weil Alkohol schlecht fürs Hirn war. Er hatte zwar genügend Hirnzellen, um sich täglich volllaufen lassen zu können (ganz im Unterschied zu vielen Leuten, die das tatsächlich taten), aber er konnte keinen Gefallen daran finden.

Er kaute auf seiner Unterlippe herum, dann trank er das Glas leer.

„Also?“, fragte Armin. Es war ihm extremst wichtig, dass sein bester Freund dabei war.

„Scheiße, natürlich bin ich dabei. Aber ich bin nicht begeistert.“

Aus einer Nische, nur zwei Tische weiter, löste sich ein Schatten und glitt langsam Richtung Ausgang. Ohne von irgendwem bemerkt zu werden, huschte er an der Wand entlang, verschmolz immer wieder mit der Umwelt und war kurz darauf in der Nacht verschwunden.

Er hatte gehört, was er hören musste.

Der erste Tag

Da Armin auf gar keinen Fall an seinem ersten Arbeitstag zu spät kommen wollte, griff er auf einen bewährten Trick zurück: Er ließ sich von Yusuf abholen. Aufgrund seiner strengen Erziehung in Sachen Pünktlichkeit konnte der gar nicht anders, als mit so viel Puffer bei Armin aufzuschlagen, dass sie sogar fünf Minuten vor der verabredeten Zeit bei der jungen Dame an der Rezeption ihres neuen Arbeitsgebers standen, wobei es gut war, dass Herr Ates nichts von dieser Form der Unpünktlichkeit wusste. Seinem Sohn war der Einfluss des Vaters deutlich anzumerken: Wäre es nach ihm gegangen, hätten sie noch ein paar Minuten im Auto gewartet.

„Ah, Herr Kern und Herr Ates“, begrüßte die junge Dame Armin und Yusuf, als sie auf die Rezeption zugingen. Sie zog eine Schublade auf und entnahm ihr zwei Karten.

„Ihre Aufzugskarten. Sie sind bereits programmiert. Die Büronummer steht ebenfalls auf der Karte: Herr Kern, Sie haben das Büro mit der Nummer X72, Herr Ates, Sie F57.“ Sie händigte den beiden jungen Männern die Karten aus. „Dann benötige ich Ihre Handys, Smartwatches, Tablets, Laptops und Ähnliches.“

Armin und Yusuf händigten ihr ihre Handys und Armins Uhr aus.

„Danke“, sagte sie. „Herr Kern, Sie nehmen bitte den linken Aufzug, Herr Ates, Sie den zweiten von rechts.“ Sie zeigte auf die acht Aufzüge an der anderen Seite der Halle.

„Arbeiten wir nicht in der gleichen Abteilung?“, fragte Armin vorsichtig. Die Dame lächelte: „Da darf ich Ihnen nichts zu sagen. Man hat mich angewiesen, Ihnen die entsprechenden Räumlichkeiten zuzuteilen. Anweisung von Herrn Huker. Wenn Irritationen bestehen, können Sie sich gerne von Ihrem Büro aus mit ihm in Verbindung setzen, wobei er heute einen sehr vollen Terminplan hat und ich nicht weiß, ob er sich um Ihr Anliegen wird kümmern können.“

Armin wandte sich an Yusuf und sah ihn fragend an: Was jetzt?

Yusufs Blick machte deutlich, was er dachte: Dieser Job war deine Idee und ich habe dir gesagt, es ist eine von den Beschissenen!

Armin wandte sich wieder an die Dame, die lächelnd wartete: „Können Sie ihn nicht von hier aus anrufen?“

„Kann ich, ja.“

„Würden Sie das dann bitte machen?“

„Nein! Ich habe die Anweisung, Ihnen die Karten zu geben und zu genau diesen Aufzügen zu schicken. Für den Fall, dass sich Fragen ergeben sollten, habe ich ebenfalls die Anweisung, Sie auf die Möglichkeit hinzuweisen, vom Büro aus Kontakt mit ihm aufzunehmen - und dass er wahrscheinlich keine Zeit für Sie hat.“

Armin nickte: „Gut, OK. Danke.“ Er drehte sich zu Yusuf um: „Na dann…“

Sie gingen zu den Fahrstühlen und blieben stehen. Armin sagte: „Ich versuche, Huker anzurufen und das zu klären. Sollen wir zusammen Mittag essen?“

„Wenn das geht.“

„Ich habe beim ersten Mal gehört, man kann mit den Aufzügen zu seinem Büro und in die Kantine fahren. Sagen wir… ein Uhr?“

„OK.“ Yusuf drehte sich um und ging zu seinem Fahrstuhl.

Armin sah ihm nach: Er wusste, dass Yusuf mit seiner Skepsis nicht ganz Unrecht hatte. Diese ganze Sache war nicht nur ein bisschen seltsam, sondern total verdreht und irgendwie auch… verlogen.

Aber jetzt war er hier und er beschloss, zumindest etwas Geld zu verdienen.

Als die Fahrstuhltüren nach einer kurzen, schnellen Fahrt aufglitten, lag ein langer, breiter Flur vor ihm, der mit einem dicken Teppich ausgelegt war. Von dem Gang gingen in regelmäßigen Abständen Büros ab.

Armin trat aus dem Fahrstuhl und sofort schlossen sich die Türen wieder hinter ihm.

Vor seinen Augen spielte sich das blanke Chaos ab: Aus den Büros kam Gebrüll, Leute rannten hin und her. Ein Mann rannte einer Frau hinterher, warum auch immer.

„Wo bin ich denn hier gelandet?“, flüsterte er fassungslos.

Die Szenerie wirkte surreal.

Vorsichtig ging Armin den Gang entlang, wobei er versuchte, mit niemandem zu kollidieren.

Er sah auf ein Schild neben der ersten Bürotür: X60. Kein Name. Nur eine Nummer. Moderne Personalführung schließt ein gewisses (also absolutes Maß) an Anonymität mit ein. Das macht das Kündigen leichter oder vielmehr die „Gewinnoptimierung“.

Er ging zügig den Gang entlang. Nicht, weil er unbedingt arbeiten wollte, sondern weil er aus diesem Chaos rauswollte. Der Lärm schwoll immer weiter an und legte sich auf seine Brust. Ein Gefühl der Enge befiel ihn. Überall Gesichter, Schreie, Rufe.

X65 – er ging immer schneller.

X70 – fast rannte er schon!

X72: Er öffnete die Tür und betrat sein neues Büro. Allerdings nahm er es erst nicht wahr, sondern schloss sofort die Tür hinter sich und lehnte den Kopf an die Tür.

Sein Puls war auf 180.

Er schwitzte.

Nachdem er einen Augenblick gewartet hatte, damit sein Puls sich normalisieren konnte, drehte er sich um, um sein Büro in Augenschein zu nehmen.

Der dominierende Werkstoff war zu seiner großen Überraschung…Glas. Allerdings bestand der Schreibtisch primär aus Metall, das zu rosten schien.

Vintage trifft Kunst.

Auf dem Schreibtisch selbst lag ein Laptop, daneben stand ein großes Telefon.

Die Aussicht aus der Fensterfront: Spektakulär. Der Dom, die Stadt.

Er war relativ weit oben.

Er stellte sich ans Fenster und ließ den Moment auf sich wirken.

„Ich finde, die Aussicht ist das Beste an unserem Job,“ sagte eine Stimme hinter ihm. Armin zuckte zusammen und drehte sich um: Lothar Huker stand hinter ihm und schloss die Tür so leise, wie er sie geöffnet hatte.

„Ich hoffe, Ihr Büro sagt Ihnen zu.“

„Es ist…spektakulär.“ Armin nutzte die Gelegenheit, Huker hier zu haben, wo der doch angeblich den Kalender voll hatte: „Ich bin allerdings davon ausgegangen, ich würde mit Herrn Ates zusammenarbeiten.“

Huker lächelte – das tat er offensichtlich ständig. Armin merkte, wie ihm dieses Lächeln langsam auf die Nerven ging.

„Das habe ich mir gedacht. Aber es ist so, dass wir seine Fähigkeiten an anderer Stelle benötigen.“

„Und welche?“

„Das wird er Ihnen in der Mittagspause sicher selbst sagen.“

„Woher…“

„Ich das weiß?“ Wieder lächelte er. Ätzend.

„Sie sind Freunde. Natürlich treffen sie sich bei der ersten Gelegenheit, um Ihre Erfahrungen auszutauschen. Das zu erraten hat nichts…Magisches.“

Armin nickte. Er war zwar nicht zufrieden, aber was hatte er erwartet? Es war sein erster Tag in dieser Firma, von der er immer noch nicht wusste, was sie genau tat und was seine Aufgabe dabei war.

„Warum haben Sie eigentlich keine Homepage?“, fragte er unvermittelt.

„Sie haben versucht, sich im Internet über uns zu informieren?“ Jetzt lächelt er also nicht nur dauernd, sondern fasst auch noch Offensichtliches zusammen.

„Na ja, ich kannte meinen neuen Arbeitgeber noch nicht und wollte vorbereitet sein.“

„Das kann ich nachvollziehen. Wir haben keine Homepage, da wir Wert auf eine persönliche Kunden-Akquise legen. Wenn wir im Internet unser Tätigkeitsfeld vorstellen, stellt dies automatisch eine Begrenzung dar. Aber wir möchten unseren Kunden umfänglich zur Verfügung stehen, verstehen Sie? Wir verstehen unsere Arbeit…ganzheitlich.“

Eigentlich verstand Armin das… nicht: „Aber man muss doch irgendwo eine Grenze ziehen oder einen Schwerpunkt setzen.“

„Ja? Der Meinung bin ich nicht. Ich finde, man spricht mit einem Kunden oder Klienten, hört sich an, was er möchte und schaut dann, ob man ihm helfen kann. Ich finde, es wäre sehr vermessen, sämtliche Szenarien aufzulisten, in denen wir helfen können.“

„Und wie bekommen Sie dann Ihre Kunden?“

„Wir sind auf diesem Sektor schon sehr lange aktiv. Wir haben einen Ruf, sozusagen. Und der ist nicht nur positiv, sondern in unserem Falle Gold wert.“

Etwas überheblich – oder einfach nur realistisch?

„Ich sehe, Sie haben einen wachen Geist! Sie werden hier gut zurechtkommen.“

„Das wäre meine nächste Frage“, sagte Armin unsicher. „Was genau soll ich denn jetzt eigentlich machen?“

Huker deutete auf den Laptop: „Bis zur Mittagspause haben Sie die Aufgabe, Ihren Rechner einzurichten.“

Armin sah ihn irritiert an: „Das wird ja nicht so lange dauern.“ Er wollte auf seine Uhr schauen, aber leider befand sich diese an der Rezeption.

„Sie sollten sich mit der Zeit eine mechanische Uhr zulegen. Automatik oder Handaufzug.“ Er zog seinen Hemdsärmel zurück und deutete auf eine Stahluhr mit schwarzem Zahlenkranz: „Schlicht, aber robust.“

Armin nickte: „OK, werde ich mir merken. Aber was mache ich dann? Wenn der Laptop eingerichtet ist?“

„Sie denken, Sie sind damit nicht ausgelastet?“

„Äh, nein.“

„Gut, dann machen wir es so: Wenn Sie Ihren Rechner nicht bis zur Mittagspause um ein Uhr eingerichtet haben, ist Ihr erster Tag bei uns automatisch Ihr letzter.“

Armins Mund klappte auf.

„Gucken Sie nicht so erstaunt. Ich habe gesagt, wir geben uns nur mit den Besten zufrieden. Also…“ Er drehte sich um und ließ Armin stehen.

Es dauerte eine Weile, bis Armin sich gefasst hatte.

Wenn ich den Laptop nicht einrichte, werde ich gefeuert? Das ist doch lächerlich!

Woher weiß Huker eigentlich, dass ich mich mit Yusuf um eins treffe? Ist das Gebäude verwanzt? Oder hat er einfach nur geraten? Oder sich die Zeit aufgrund seiner großen, großen Weisheit korrekt erschlossen?

Armin schüttelte den Kopf und setzte sich an seinen Schreibtisch. Er zog den Laptop heran, klappte ihn auf und drückte auf ON.

Nichts.

Ein rotes Lämpchen an der vorderen Front leuchtete kurz auf.

Akku leer.

Armin schaute unter den Schreibtisch: Kein Netzteil.

Er öffnete die drei Schubladen des Schreibtisches: Leer.

Also gut: Huker stellte ihm einen Laptop ohne Netzteil und leerem Akku hin. Bestimmt ein Test oder Schikane. Deswegen auch die Drohung mit der Kündigung.

Er stand auf und ging zur Tür. Er würde sich einfach das Netzteil von irgendwem ausleihen. Sich ins Chaos stürzen. Wahrscheinlich bestand darin der Test: Im Chaos etwas erreichen! Zeigen, dass man mit Druck umgehen kann!

Er atmete tief durch, dann öffnete er die Tür und trat entschlossen auf den Gang.

Er erstarrte.

Sah sich um.

War fassungslos.

Wo vorhin noch Anarchie und Chaos geherrscht hatten, war in kürzester Zeit Ruhe eingekehrt.

Eine Stille, die sehr tief ging.

Totenstille, schoss es Armin durch den Kopf.

Alle Türen waren geschlossen.

Kein Blatt Papier lag auf dem Boden.

Keine Rufe, keine Schreie, kein Telefonklingeln.

Nicht einmal ein Murmeln war zu hören.

Er ging unsicher den Gang entlang und blieb vor einer Tür stehen: X65.

Unsicher klopfte er an.

Keine Reaktion. Er drückte die Klinke runter.

Abgeschlossen.

„Mhmmm“, machte Armin. Er starrte auf die verschlossene Tür, als würde sie ihr Geheimnis preisgeben, wenn er nur ganz fest daran glaubte.

Tat sie natürlich nicht.

Er ging zur nächsten Tür.

Klopfen.

Keine Reaktion.

Klinke drücken.

Abgeschlossen.

„Ja ist es denn…“, schimpfte Armin leise und wandte sich der nächsten Tür zu.

Nach mehreren Minuten kam er zu der Erkenntnis: Alle Büros waren verschlossen, kein Lebenszeichen auszumachen.

Er ging in sein Büro zurück und stellte sich ans Fenster.

„Also gut“, sagte er zu sich selbst. „Der Akku ist leer, ich habe kein Netzteil. Ich bin auf der scheiß Etage komplett allein. Ich komme mit dem Fahrstuhl nirgendwo hin. Außer in die Kantine und in die Lobby…“ Vielleicht gab es an der Rezeption ein Ladegerät? Aber bestimmt hatte die Dame Anweisung, ihm nicht zu helfen. „Und wo sind alle hin?“, überlegte er weiter. Hatte man die Etage extra für ihn geräumt? Als Test? Oder saßen alle in ihrem Büro und unterdrückten ein Lachen? Gehörte das Chaos am Anfang vielleicht auch schon zu diesem Test?

Sein Blick blieb am Dom hängen. Jetzt hatte er auf einmal wirklich Stress und ein echtes Problem. Er war isoliert, allein. Er musste den Rechner ans Laufen kriegen. Es musste einen Trick geben – und er würde ihn finden.

Entschlossen setzte er sich an den Schreibtisch und drehte den Laptop um. Er entriegelte den Akku, schob ihn heraus und sah sich die Kontaktstellen an.

Schade: Sie schienen intakt zu sein. Er hatte gehofft, sie wären vielleicht abgeklebt worden. Er schob den Akku wieder in den Laptop und versuchte sein Glück erneut, indem er ON drückte.

Ohne Erfolg.

„Mhmmm.“ Er trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte herum. Sein Blick fiel auf das Telefon.

Er könnte jemanden anrufen.

Aber wen?

Er kannte keine Telefonnummern auswendig. Das war total überflüssig. Man hatte sein Handy und da stand alles drin. Außerdem konnte er sich auch kein Ladegerät liefern lassen.

Er könnte Huker anrufen oder den internen technischen Support. Aber auch die Nummern kannte er nicht. Oder er wählte irgendeine Nummer und holte sich dann halt da das Gerät.

Er ließ sich in den Stuhl zurückfallen: Geht auch nicht. Da komme ich ja mit meiner Karte nicht hin! Verdammte Scheiße!

Unmotiviert drückte er auf dem ON-Schalter herum.

Einmal.

Zehnmal.

Hielt den Knopf gedrückt.

Drückte ganz schnell.

Das Ergebnis war phänomenal: Es tat sich nichts.

„Scheiße“, verbalisierte Armin seine Gefühle und Gedanken und ließ sich in seinem Stuhl zurücksinken. Eine Erkenntnis breitete sich in ihm aus, während er die Augen schloss: Er konnte den Rechner nicht einschalten. Es war unmöglich. Wenn er Glück hatte, würde Huker ihn vielleicht anteilig für die paar Stunden bezahlen, die er hier verbracht hatte. Viel konnte das allerdings nicht sein.

Mit der Erkenntnis kam auch die Ruhe und Gelassenheit zurück. Armins Körper hörte auf, Stress-Schweiß zu produzieren, sein Puls beruhigte sich, das permanente Rauschen in seinem Kopf wich einer tiefen Stille.

Einer Stille wie auf dem Flur, nur friedlicher.

Armin lächelte: Eine interessante Erfahrung.

Unbewusst wanderte seine Hand zum Laptop und legte sich auf den ON-Knopf. Er wusste, dass der Rechner nicht arbeiten würde. Aber es war ihm egal.

Vielleicht gab es sogar eine Lösung, aber Armin war nicht gewillt, sich zum Affen zu machen. Wenn sich alle Leute in ihren Büros versteckten und Huker sowas abzog… Menschenführung bewies das nicht. Aber er verspürte weder Verbitterung noch Zorn.

Es war einfache, ehrliche Gelassenheit.

Er drückte auf den Knopf.

Als Armin hörte, wie der Lüfter des Rechners zu arbeiten begann, musste er lachen.

Das ist doch lächerlich! Wieso läuft das scheiß Ding denn jetzt? Gibt es einen Zähler und man muss fünfzig Mal drücken, bis das Ding angeht? Oder besonders zärtlich sein?

Er öffnete die Augen und sah den Bildschirm, auf dem ein Balken den Fortschritt visualisierte.

„Unfassbar“, sagte Armin.

Das Telefon klingelte. Armin nahm den Hörer ab: „Ja?“, fragte er.

„Hier Huker. Wie ich sehe, haben Sie den Rechner hochfahren können. Ich freue mich, Sie auch morgen hier begrüßen zu dürfen. Sivertsen wird sich nach der Mittagspause mit Ihnen treffen und mit Ihnen die näheren Einzelheiten Ihrer Tätigkeit bei uns erläutern.“

***

Als Armin mit dem Aufzug zur Kantine fuhr (dafür gab es einen gesonderten Knopf mit einer Tasse), fühlte er sich kraftlos.

Er hatte heute unterm Strich nichts Handfestes geschafft (außer seinen Job zu retten) und das Stresslevel, das Huker und seine Leute aufgebaut hatten, war… „ziemlich“ hoch gewesen. Armin lief eine Gänsehaut über den Rücken: Auf dem Weg zum Aufzug war er wieder über den Gang gegangen.

Der Gang, auf dem erst das blanke Chaos geherrscht und der sich dann innerhalb von kürzester Zeit in einen Schlauch der verschlossenen Türen verwandelt hatte. Armin war davon ausgegangen, dass die Bewohner der Büros sich einfach eingeschlossen hatten. Als er zum Aufzug ging, war er – gelinde gesagt – entsetzt gewesen, dass alle Bürotüren offen standen - und vollkommen leer waren.

Keine Tische.

Keine Papiere.

Keine Stühle.

Keine Menschenseele.

Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis er sich von diesem Schock zwar nicht erholt, aber wenigstens seine Handlungsfähigkeit wiedererlangt hatte.

„Du bist wieder zu spät“, stellte Yusuf folglich vollkommen korrekt fest, als Armin den Eingang der Kantine erreichte, eine anonyme, große Tür.

„Ja, tut mir leid. Aber diesmal bin ich wirklich unschuldig.“

„Das sagst du immer.“

„Aber diesmal stimmt es.

„Hast du sonst gelogen?“
Armin verdrehte die Augen. Yusuf hatte schlechte Laune, da half meistens nur Essen. Und Zeit.

Sie betraten die Kantine in Erwartung der üblichen Theke, hinter der mehr oder weniger freundliche Leute liebevoll die Teller vollklatschten.

Fehlanzeige.

Die „Kantine“ stellte sich als modernes, schickes Restaurant heraus. Leise Jazz-Musik verbreitete ein angenehmes Flair.

„Bitte, für zwei Personen?“, fragte ein junger Kellner und führte Armin und Yusuf zu einem kleinen Tisch. Die beiden nahmen sprachlos Platz, während der Kellner ihnen „die Tageskarte mit den Getränkeempfehlungen“ in die Hand drückte.

Nachdem er verschwunden war, fragte Yusuf sprachlos: „Das ist doch nicht die Kantine, oder?“

„Scheint so.“

„Aber…“ Yusuf sah in die Karte. „Das ist echtes Essen. Und da stehen keine Preise.“

Der Kellner kam zu ihrem Tisch: „Haben die Herren gewählt?“

„Äh“, machte Yusuf vorsichtig. „Können Sie mir vielleicht sagen, was die einzelnen Gerichte kosten?“

Der Kellner lächelte: „Sie sind neu?“

„Ja.“

„Die Speisen bezahlt die Firma. Betrachten Sie unser Angebot als gehobenes All-You-Can-Eat-Buffet.“ Er setzte eine verschwörerische Miene auf: „Aber bitte sagen Sie das nicht weiter, sonst bekomme ich Ärger mit meinem Chef.“

Nachdem der Kellner mit den Bestellungen verschwunden war, platzte Armin heraus: „War es bei dir auch so abgefahren?“

Yusuf rümpfte die Nase: „Ja! Total. Ich habe den Vormittag damit verbracht, in einem alten Archiv Akten zu sortieren. Und der ganze Scheiß war auf Latein, ich habe also nichts verstanden und nur Buchstabenketten verglichen. Voll geil! Cooler IT-Job!“

Armin riss die Augen auf: „Du hast Akten sortiert?“ Er konnte es nicht fassen. Yusuf war der Freak von ihnen beiden. Armin hätte verstanden, wenn es genau umgekehrt gewesen wäre: Yusuf im Büro, er im Keller. Wäre ihm sogar lieber gewesen.

„Und was war bei dir so abgefahren?“
Armin setzte seinen Freund ins Bild. Während er berichtete, machte sich eine sorgenvolle Miene auf dessen Gesicht breit. Als Armin mit seinem Bericht fertig war, sah er seinen Freund erwartungsvoll an: „Was hältst du davon?“, fragte er ungeduldig.

„Was ich davon halte? Ich denke, ich bin in meiner ursprünglichen Ansicht ziemlich bestärkt worden. Dieser ganze Job ist nicht sauber. Was soll das? Und was ist das für ein Trick, dass der Laptop doch angeht? Remote-Zugriff? Erst machen sie dich fertig und wenn du resignierst, retten sie dich? Um dann sofort anzurufen?“ Er schüttelte den Kopf: „Das ist nicht gut, Mann. Ich habe da ein ganz schlechtes Gefühl bei der Sache. Und das sage ich nicht, weil mir das Sonnenlicht im Keller fehlt. Oder frische Luft. Oder Menschen.“

„Ich weiß nicht. Ich soll mich heute Nachmittag mit Sivertsen treffen. Er wird mir sagen, was ich in Zukunft hier machen soll.“

„Dann bin ich mal gespannt, was du heute Abend erzählst.“

Nachdem sie das Essen beendet hatten, gingen sie zu den Aufzügen. Yusuf stieg als Erstes in seine gläserne Kapsel: „Bis später“, sagte er, zog seine Karte durch den Schlitz und der Fahrstuhl schloss sich.

Während Armin auf einen Fahrstuhl wartete, der ihn zu dem unheimlichen Gang bringen würde, sah er sich um.

Und dann sah er sie.

Die Frau vom Friedhof.

Sie ging mit mehreren anderen Leuten in die Kantine. Sie trug wieder schwarz, aber diesmal kein depressiv-schwarz, sondern elegant-schwarz.

Armin überlegte, ob er zu ihr gehen sollte, aber eine innere Stimme hielt ihn davon ab.

Er arbeitete jetzt hier.

Er würde morgen wieder hier essen – und sich einfach später mit Yusuf treffen.

***

Armin war gerade im Büro angekommen und hatte hinter seinem Schreibtisch Platz genommen, als Sivertsen das Büro betrat. Der große Mann nickte und sagte: „Hallo.“ Er nahm auf einem Besucherstuhl Platz und legte die Beine übereinander. In seinen breiten Armen hielt er einen großen, dicken Briefumschlag aus braunem Papier.

„Hallo“, sagte Armin. Er war noch etwas verwirrt: Die anderen Büros auf dem Gang waren eben nicht mehr leer gewesen. Vielmehr hatte ein gesittetes Betriebsklima geherrscht: Ein paar Türen waren angelehnt, man hörte Leute leise telefonieren. Armin hatte sogar den Mann gesehen, der vorhin irgendwem hinterhergerannt war. Jetzt war der Mann mit einem Aktenordner in einem Büro verschwunden und hatte Armin freundlich gegrüßt.

Mit Namen!

„Haben Sie sich eingelebt?“, fragte Sivertsen und musterte Armin eingehend.

„Es geht“, gestand Armin. „Ich versuche noch hinter die Nutzung der anderen Büros in diesem Gang zu kommen. Können Sie mir da vielleicht weiterhelfen?“

Sivertsens Mund deutete kurz ein Lächeln an, aber dann hatte sich der Nordmann wieder unter Kontrolle und diesen emotionalen Ausnahmezustand niedergerungen: „Also gut“, sagte er. „Ich habe den Auftrag, Ihnen ein paar Informationen zu Ihrem Tätigkeitsfeld hier mitzuteilen. So ruhig wie heute Morgen wird es nicht immer zugehen.“

Klasse! Armin hatte sich vorhin in der Toilette schnell unter den Armen gewaschen, weil der Stress-Schweiß ein paar Geruchsspuren hinterlassen hatte.

„Ihr Aufgabenfeld stellt die Verteidigung gegen Hacker-Angriffe von außen dar. Damit Sie aber voll einsteigen können, müssen Sie sich mit unserem Sicherheitssystem vertraut machen.“ Er warf den dicken Umschlag auf den Tisch, der mit einem lauten Knall aufschlug. Armin zuckte zusammen und ärgerte sich: Ich muss cooler werden!

„Da drin befinden sich alle Informationen, die Sie brauchen.“

Armin langte nach dem Umschlag und öffnete ihn vorsichtig: Seine Verwunderung war nicht gering, als er ein dickes, in braunes Leder gebundenes Buch hervorzog: „Was ist das?“

„Habe ich doch gesagt“, gab Sivertsen verärgert zurück. „Das sind alle Informationen über unser Sicherheitssystem.“

„Das ist ein Buch.“

„Korrekt.“

„Aber… Ich habe einen Laptop. Macht es nicht Sinn, mir das System in Echt anzusehen?“

Sivertsen verdrehte die Augen: „Unser System ist sehr komplex. Es ist nicht so einfach zu verstehen. Und übrigens hat ein Buch in Papierform den Vorteil, dass man es nicht hacken kann. Sehr praktisch, wenn es um die Abwehr von Hackern geht, oder?“

Armin konnte der Logik leider nicht widersprechen.

„Gut, dann sehe ich mir das Buch und das System mal an“, sagte er – auch wenn er nicht vorhatte, diesen elenden Schinken jemals aufzuschlagen.

„Nein, das wird anders laufen“, sagte Sivertsen streng. „Sie werden das Buch lesen und es dann auswendig lernen. Und zwar in zwei Tagen. Dann werden Sie bei Huker und mir erscheinen und wir werden Ihr Wissen einem Test unterziehen. Hiervon hängt dann ab, ob Sie eine Zukunft in der Firma haben.“

Armin stöhnte: „Echt? Wieder ein Test? Wird das nicht irgendwann langweilig?“

Sivertsen erhob sich: „Herr Kern“, sagte er gedehnt. „Sie wollen für die Sicherheit unseres Systems verantwortlich sein. Darin unterstütze ich Sie. Aber wenn man eine Burg verteidigen will, muss man alle Gänge kennen, oder? Und um sie kennenzulernen, rennt man nicht einfach so drauflos, sondern folgt einem Plan. Und dass Sie diesen Plan genau kennen, erwarten wir von Ihnen. Ist das zu viel verlangt?“

„Nein“, sagte Armin zerknirscht. „Natürlich nicht.“
„Gut. Sie haben zwei Tage Zeit. Ich denke, es ist überflüssig zu erwähnen, dass dieses Buch Ihr Büro nicht verlassen darf. Man könnte Sie überfallen und es stehlen.“

Scheiße, dachte Armin. Ich soll das alles hier lernen? Das wird niemals klappen.

Sivertsen nickte ihm kurz zu und ging zur Tür. Er war schon halb draußen, als Armin noch eine Frage einfiel: „Moment“, rief er. Sivertsen blieb stehen und drehte sich um.

„Wie viele Leute arbeiten an dieser Abwehr?“

„Die Abteilung hat nur aus einem einzigen Mann bestanden. Er hat das System ausgearbeitet und kannte jeden Winkel und jede Nische.“

Ein Mann?“

„Genau.“

Armin biss sich auf die Unterlippe: „Und dieser Mann… Er war…“

„Ihr Bruder. Norik Kern war unsere Abteilung gegen Hacker-Angriffe. Mit seinem Tod ist unsere gesamte Sicherheitsabteilung für diesen Bereich ausgefallen. Sie verstehen also, dass wir alle derzeit etwas nervös sind und ein großes Interesse daran haben, dass Sie möglichst schnell voll einsatzfähig sind. Guten Tag.“

***

Nachdem Sivertsen gegangen war, saß Armin am Schreibtisch und betrachtete das Buch.

Mein Bruder hat das System aufgebaut! Und alles in diesem Buch zusammengetragen.

Als Armin mit der Hand über das Leder strich, wurde ihm klar, dass er in genau diesem Moment seinem Bruder sehr nahe war.

Vielleicht saß er sogar in demselben Büro wie er früher.

Arbeitete an der gleichen Sache.

Mit dem gleichen Buch.

Und er würde es schaffen.

Nachdenklich schlug er das Buch auf und blätterte durch die ersten Seiten.

Codes.

Berechnungen.

Schaltpläne.

Diagramme.

„Oh Mann“, seufzte Armin. Ihm dämmerten zwei Dinge:

Erstens: Er würde das hier niemals auswendig lernen. Und zweitens: Er war sich nicht einmal sicher, ob er es überhaupt verstand. Vor allem, wenn er mit dem Buch alleine weggeschlossen in diesem Glaskäfig saß, dessen Umgebung sich dauernd zu verändern schien.

Er brauchte Hilfe. Und zwar ganz dringend.

Anstatt das Buch durchzugehen und die Berechnungen nachzuvollziehen, begann Armins Hirn eine andere Berechnung durchzuführen: Eine Nutzen-Risiko-Analyse.

***

„Ich werde sowas von kündigen, sage ich dir! Das ist total diskriminierend! Der Türke sitzt um Keller und sortiert Akten, während die herrschende Klasse oben… Was tut? Was machst du eigentlich den ganzen Tag?“

Yusuf kochte vor Wut. Sie hatten sich in ihrer „Firma“ getroffen und aßen an ihren Schreibtischen Pizza – was Herr Durmus nicht wissen durfte. Er wäre ehrlich traurig gewesen, weil sie sich etwas von außerhalb geholt hatten.

„Ich soll mich um die Hacker-Abwehr kümmern.“

„Na, das hat wenigstens was mit Computern zu tun! Weißt du, was nichts mit Computern zu tun hat? Wenn man mit einem Füller auf Karteikarten Buchtitel schreibt! Ich meine mit einem Füller! Wo leben wir denn? Oder vielmehr wann? Diese Firma ist alles, aber keine IT-Firma.“

Armin runzelte die Stirn: „Also meine Aufgabe hat auch nicht gerade viel mit Computern oder Praxis zu tun.“

„Du hast einen Laptop, oder?“

„Ja.“

„TADA! Wir haben einen Gewinner. Ich habe Löschpapier! Damit die Tinte nicht verschmiert. Und soll ich dir was sagen: Ich glaube, es ist denen total egal, was ich mache. Ich habe mich heute Nachmittag in meinen Stuhl gesetzt und geschlafen. Ich glaube, als Nächstes lege ich mich auf den Tisch. Der ist mit Leder bezogen, ist bestimmt bequem.“

„Also jetzt übertreibst du aber.“

„Nein. Willst du wissen, wie viele Menschen ich gesehen habe?“

„Also eigentlich…“

„Ich weiß dein Interesse sehr zu schätzen! Deswegen will ich es dir gerne sagen: Keinen Menschen und ein Fossil, das bestimmt schon den ersten Dinosaurier mit Namen kannte. Verdammt, das ist kein echter Job!“
„Jetzt halt mal die Luft an! Ich muss dir was sagen!“ Armin konnte dieses Gemecker nicht mehr ertragen. Auch wenn es Yusuf nicht gerne hörte: Er war genau wie sein Vater. So sehr, wie er sich beschwerte, meckerte und maulte… Wenn er nicht schon einen deutschen Pass hätte, würde er ihn allein dafür bekommen, dass er sich nachhaltig darüber aufregen konnte, dass er fürs Nichtstun einen Haufen Kohle bekam.

„Was ist denn?“, maulte Yusuf jetzt.

Armin griff unter seinen Schreibtisch, wo die Tasche stand, die er mit ins Büro genommen hatte. Er zögerte kurz, dann öffnete er sie und nahm ein Buch heraus.

„Geil“, sagte Yusuf. „Ein altes Buch. Hast du mir nicht zugehört? Ich kann diese Scheiße echt nicht mehr sehen.“

„Das ist das Sicherheitssystem.“

„Was?“

Armin seufzte: „Hier drin steht alles über das Sicherheitssystem unserer neuen Firma – zumindest hat man mir das gesagt. Ich soll den Mist in zwei Tagen auswendig lernen, dabei verstehe ich das alles noch nicht mal. Kannst du es dir mal ansehen?“

Yusuf runzelte die Stirn, stand auf und nahm sich das Buch. Er setzte sich auf Armins Schreibtisch und schlug das Buch wahllos auf.

Armin beobachtete Yusufs Gesicht. War sein Kumpel erst noch sichtlich genervt gewesen, zeichnete sich erst Interesse, dann Verwunderung und dann blankes Erstaunen ab. Er blätterte hektisch nach vorne, dann wieder nach hinten.

„Und?“, fragte Armin ungeduldig.

Yusuf reagierte nicht. Er war absolut in die Lektüre des Buches versunken.

„Hallo?“, rief Armin. Yusuf zuckte hoch. „Was?“, fragte er verärgert.

„Kannst du damit was anfangen?“
Yusuf schüttelte den Kopf: „Du hast echt nicht kapiert, was das hier ist, oder?“
„Nein, sonst hätte ich es nicht rausgeschmuggelt und würde mich deiner Bescheidenheit anvertrauen.“

„Blödmann.“ Yusuf schlug das Buch zu und hielt es hoch: „Das hier ist genial. Der beste Schutz, den sie sich ausdenken konnten.“

„Wieso?“

Yusuf dachte kurz nach, dann sagte er: „Hacker nutzen Schwachstellen in einem Sicherheitsnetz oder Betriebssystem, um einzubrechen.“

„Ich weiß. Das ist sogar mir klar.“

„Ich bin beeindruckt. Die Sache ist“, fuhr Yusuf fort, „dass wenn die meisten Firmen eine bestimmte Software für ihre Systemsicherheit nutzen, natürlich auch mehr Hacker nach Schwachstellen in dieser Software suchen.“

„Logisch.“

„Deswegen hat unser lieber Arbeitgeber etwas Geniales gemacht: Er hat ein eigenes Betriebssystem geschrieben, für das er offensichtlich jede Anwendung, jedes Programm eigens entwickeln musste – und hat. Für einen Hacker ist es somit sehr schwierig einzudringen, da er keine Erfahrungswerte aus anderen Angriffen hat. Außerdem muss man überlegen, ob sich die Arbeit überhaupt lohnt: Wenn er ein Hintertürchen in einem Betriebssystem findet, das alle Menschen nutzen, kann er in jeden Rechner eindringen. Wenn er aber hier“, er tippte auf das Buch, „ein Hintertürchen findet, kommt er in eine Firma, mehr nicht.“

Armin nickte: Klang logisch. Die Firma arbeitete mit einem eigenen Betriebssystem, um ihre Sicherheit zu erhöhen: „Aber“, überlegte er, „wenn das die Sicherheit steigert, wieso machen das nicht alle Firmen?“

„Weil das unfassbar teuer und unwirtschaftlich ist: Überleg mal, wie schwierig es ist, einen Mac in eine Firma einzubinden, wo alle Windows benutzen. Und soweit ich das hier sehe“, er blätterte durch das Buch, „ist der technische Unterschied zu den gängigen Systemen noch sehr viel größer… Ich frage mich, wie die mit Kunden interagieren.“ Er schüttelte den Kopf: „Es macht aus Sicherheitsgründen natürlich Sinn, aber wenn man alle anderen Faktoren berücksichtigt, ist es unsinnig. Vor allem hat der, der das hier geschrieben hat, echt einige freakige Sachen eingebaut.“

„Tja“, sagte Armin. „Das war Norik.“

***

Als Armin abends im Bett lag, konnte er nicht in den Schlaf finden. Zu viele Gedanken kreisten in seinem Kopf umher.

Wenn er die Augen schloss, sah er seinen Bruder.

Wer bist du? Oder, wer warst du?

Norik war schon immer der Cleverere gewesen. Ein richtiges Genie, und das meinte Armin ohne jeden Neid: Norik fiel eben alles leicht.

Schule? Kein Problem!

Universität? Aber locker!

Auch wenn die Uni nichts mit seinem Job zu tun gehabt hatte…

Armin selbst war ein schlechter Schüler gewesen, der immer darum kämpfen musste, zum Mittelfeld zu gehören. Diesen Kampf hatte er leider das ein oder andere Mal verloren, weswegen sich seine Schulzeit unfreiwillig verlängert hatte.

Damals war Armin noch neidisch gewesen. Allerdings nicht, weil Norik alles so leichtfiel, sondern weil ihr Vater sich mehr um Norik kümmerte als um Armin. Sie saßen stundenlang in Vaters Arbeitszimmer und diskutierten über irgendwelche Dinge, die Armin niemals verstanden hätte – zumindest ging er davon aus. Tatsächlich hörten sie nämlich immer auf zu reden, wenn er sich zu ihnen setzte.

Armin hatte das damals sehr verletzt. Seine Mutter hatte das gespürt und sich mehr um Armin gekümmert. Er hatte sich dann zwar manchmal wie ein Muttersöhnchen gefühlt, aber er liebte seine Mutter und genoss die Aufmerksamkeit – die einzige, die er kriegen konnte.

Sein Blick wanderte an die Zimmerdecke, ohne sie in der Dunkelheit sehen zu können. Er seufzte und stand auf.

Er tapste durch den Flur ins Wohnzimmer, wo er vor einem kleinen Schränkchen in der Ecke niederkniete und die Schublade aufzog.

Er entnahm der Schublade einen Umschlag und wog ihn in der Hand.

Den Brief hatte er vorhin in der Post gefunden. Er hatte erfühlt, was sich darin befand, und ihn weggelegt.

Der Brief kam vom Nachlassverwalter.

Norik hatte sowas! Einen Nachlassverwalter!

Man konnte fühlen, dass der Umschlag einen Schlüssel enthielt.

Für die Wohnung.

Eigentlich hatte Armin nicht damit gerechnet, so schnell Zutritt zur Wohnung seines Bruders zu erhalten, aber wahrscheinlich hatte Norik sich auch darum Gedanken gemacht.

Würde zu ihm passen.

Armin hatte den Besuch der Wohnung aufschieben wollen. Aber je mehr er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass er diesen Besuch nicht aufschieben durfte. Nicht, wenn er Antworten wollte.

Der Telefonanruf

Yusuf war gerade auf dem Weg nach Hause, als sein Handy brummte. Er drückte auf den Knopf der Freisprechanlage und sagte: „Ja?“

„Yusuf?“, fragte eine Frauenstimme.
„Ja! Wer ist da?“

„Wenn Dad das hört, wie du dich am Telefon meldest, kriegst du einen Einlauf.“

Yusuf verdrehte die Augen: Ihr Vater war sehr konservativ und deutscher als so mancher Deutscher. Für seine Kinder war das nicht immer einfach gewesen und sie hatten recht unterschiedliche Arten gehabt, mit dieser Macke umzugehen: Yusuf war nett, freundlich und angepasst, auch wenn er sich dauernd diskriminiert fühlte. Aber er dachte sich lieber seinen Teil.

Seine Zwillingschwester Nehir war da anders: Sie tat nichts lieber, als ihrem Vater mitzuteilen, dass er sich lächerlich machte. Yusuf fand es manchmal peinlich, wie viel Mühe sie sich dabei gab.

„Hast du das von Mum gehört? Sie will jetzt Jüdin werden!“, fragte Nehir aufgeregt.

„Ich weiß. Hat sie mir auch schon erzählt. An dem Abend, als ich mit Armin nach der Beerdigung von Norik bei ihnen war.“

Nehir stöhnte: „Boah, die sind manchmal echt peinlich. Wie geht es Armin?“

Yusuf war sich nicht so sicher: „Ich glaube, es arbeitet mächtig in ihm. Er hatte nicht viel Kontakt zu seinem Bruder und er merkt jetzt, dass…“

„Jaja. Ihr redet wahnsinnig viel über eure Gefühle. Der nächste Knaller unserer Familie wird sein, dass du dich outest und Armin heiratest.“ Sie lachte: „Mum würde es lieben und Dad überlegen, ob es typisch deutsch ist, Schwulen gegenüber tolerant zu sein.“

„Ich glaube nicht, dass Deutsche prinzipiell tolerant gegenüber Schwulen sind.“

„Echt? Das fällt dir dazu ein, wenn ich sage, dass du schwul bist? Dass die Deutschen da nicht so entspannt sind?“

Yusuf ärgerte sich: Nehir schaffte es immer wieder, ihm Sachen in den Mund zu legen und ihn blöd aussehen zu lassen. Deswegen war sie als Anwältin auch so erfolgreich.

„Warum rufst du an?“, fragte Yusuf.

„Ha! Habe ich einen Nerv getroffen? Oder warum lenkst du vom Thema ab?“
„Nein. Ich komme gleich nur an einer Stelle vorbei, wo ich grundsätzlich keinen Empfang habe.“

Nehr lachte: „ACH SO! Na gut: Ich finde, Mum macht sich mit ihrer Idee lächerlich. Auf mich hört sie nicht, aber vielleicht solltest du nochmal mit ihr reden.“

„Ne, das denke ich nicht. Sie ist eine erwachsene Frau und kann ihre eigenen Entscheidungen treffen.“

Nehirs Stimme klang plötzlich besorgt: „Yusuf, unsere Eltern sind sich voll am Streiten wegen dem Scheiß! Mum meinte, Dad hätte letzte Nacht sogar im Wohnzimmer geschlafen. Sie reden kaum noch miteinander.“

Yusuf war erstaunt: „Warum das denn?“

„Keine Ahnung. Aber anscheinend hat Mum ihn nicht in ihre Überlegungen einbezogen und damit seine Gefühle verletzt. Und deswegen rufe ich dich an: Du redest ja mit Armin auch dauernd über deine und seine und von sonst wem seine Gefühle. Da kannst du ja mal mit den beiden quatschen und das klären.“

Yusuf verdrehte die Augen: Genau sowas hatte ihm noch gefehlt. Als wenn er sonst keine Probleme hätte, für die er nichts konnte. Jetzt musste er auch noch Probleme lösen, die seine Eltern sich selbst eingebrockt hatten und die sie innerhalb von fünf Minuten klären könnten, wenn sie nicht so stur wären.

Und zwar beide.

„Ich guck, was ich machen kann“, sagte Yusuf.

„Sehr gut. So, ich muss weiter. Wir hören uns.“

Tag 1 des Lernens

Armin saß hinter seinem Schreibtisch und arbeitete sich durch das Buch, wobei die Arbeit so war wie die Arbeit eines Abgeordneten im EU-Parlament: Langsam, wenig effektiv und überbezahlt.

Er seufzte und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Dann griff er zum Telefon und wählte die Nummer von Sivertsen. Die Durchwahl war auf der ersten Seite des Buches handschriftlich notiert worden.

Es dauerte eine Weile, dann ging der Nordmann ran. Bestimmt hatte er ein Telefon aus Stahl, damit er es nicht kaputt machte.

„Ja?“, fragte er. „Was wollen Sie, Kern?“

Da hatte wohl einer ein paar Nummern im Telefon eingespeichert.

„Ich habe angefangen, mich mit dem System vertraut zu machen“, begann Armin, kam aber nicht weit. Sivertsen unterbrach ihn: „Ich hoffe, Sie haben nicht nur damit angefangen, sondern sind schon ein gutes Stück weiter. Ansonsten wird das mit Ihrem Verbleib hier nichts.“

„Warum müssen Sie mir bei jeder Gelegenheit sagen, dass ich vielleicht meinen Job verliere?“ Armin war „etwas“ genervt – und sich des Ernstes der Lage durchaus bewusst. Er konnte also auf Magengeschwür-erzeugende Erinnerungen verzichten.

„Das gehört zur Firmenpolitik.“

„Es gehört zur Firmenpolitik, unnötig unhöflich zu sein?“

„Das gehört zum Auswahlverfahren.“

„Aber ich wurde eingestellt. Die Auswahl findet normalerweise vor der Einstellung statt, das alles ist also überflüssig.“

Sivertsen schnaubte: „Sie sind ein Klugscheißer, genau wie Ihr Bruder. Also, was wollen Sie?“

Armin freute sich, eine intelligente Frage zu haben. Ob er die Antwort verstehen würde, stand auf einem anderen Blatt, aber dafür hatte er ja Yusuf: „Sie verwenden ein ganz eigenes Betriebssystem für die Firma?“

„Korrekt.“

„Das ist ein ziemlicher Aufwand.“

„Korrekt.“

Armin verdrehte die Augen: „Sie haben gesagt, dass die Firma Unternehmen weltweit berät. In was für Fragen genau? Ich meine, was sind das für Beratungen, die ein solches Sicherheitsniveau erfordern?“
Sivertsen am anderen Ende der Leitung schwieg.

„Hallo?“, fragte Armin. „Sind Sie noch da?“

„Ja!“, bellte der Nordmann ungehalten zurück. „Natürlich bin ich noch da, wo sollte ich denn sonst sein? Ich habe mich nur gerade gefragt, warum Sie sich mit nicht relevanten Fragen beschäftigen und damit Ihre Zeit verschwenden – und sogar meine!“

„Aber…“

„Nein, nichts aber. Ihr Job wird es sein, unser System zu schützen. Das hat nichts mit dem zu tun, was unsere Kunden uns anvertrauen. Das ist für Sie irrelevant. Ich sage jetzt nicht Auf Wiedersehen oder Wiederhören, weil ich genau DAS NICHT möchte.“

Damit legte er auf.

Armin starrte auf den Hörer: Man wird ja wohl mal fragen dürfen, was ich beschützen soll!

Er legte auf und wandte sich seufzend wieder dem Buch zu.

***

Während des Essens mit Yusuf (sie hatten sich später getroffen als beim letzten Mal und Armin hatte sich zu seinem ehrlichen Bedauern etwas verspätet), hielt Armin nach der unbekannten Frau Ausschau, die er erst am Grab und dann in dieser Luxus-Kantine gesehen hatte.

„Was suchst du?“, fragte Yusuf, während er sich die Gabel mit Rosmarin-Kartoffeln in den Mund schob.

„Die Frau vom Grab. Ich habe sie gestern hier gesehen.“

Yusuf verzog das Gesicht, sagte aber nichts. Er war über sein bisheriges Tagwerk so erfreut wie über Herpes an Karneval. Nicht, dass Yusuf jemals Karneval feiern würde. Er hielt Karneval für das, was es war: Ein Grund zum Poppen und Saufen. Das war ja soweit in Ordnung, aber warum musste man sich dafür verkleiden und warum mussten das alle Bewohner der Stadt gleichzeitig tun – unter dem Deckmäntelchen der Tradition und Kultur? Was er allerdings gut fand, waren die Reportagen über Rettungshelfer beim Karneval, die Besoffene auflasen oder kotzenden Leuten Wasserflaschen in die Hände drückten. Armin hatte immer das Gefühl, Yusuf sah sich diese Sendung nicht aus Interesse, sondern aus Schadenfreude an.

„Und was, wenn sie auftaucht?“, wollte Yusuf wissen. „Willst du ihr wieder nachrennen?“

„Ich bin ihr nicht hinterhergerannt.“

„Nein. Aber jetzt lauerst du ihr auf.“
„Ich lauer ihr nicht auf.“
Yusuf schüttelte den Kopf: „Wenn du die jetzt suchst, mussten wir uns bestimmt wegen der später treffen. Ist sie…attraktiv?“

„Darum geht es nicht“, sagte Armin. „Ich will wissen, was sie mit meinem Bruder zu schaffen hatte.“

„Sie ist also scharf“, stellte Yusuf fest und trank einen Schluck Eistee. „Und deswegen langweile ich mich im Keller noch länger zu Tode. Toll!“

„Dafür kannst du auch früher gehen.“

„Ein Hoch darauf.“

Armin wandte sich seinem Essen zu. Aus den Augenwinkeln suchte er weiter den Saal ab, ohne allerdings fündig zu werden.

***

Es war kurz vor fünf, als Armin an der Wohnungstür seines Bruders stand. Eigentumswohnung in Lindenthal. Es gab billigere Viertel.

Er öffnete vorsichtig die Tür und betrat den Flur.

Parkettboden.

Auf Hochglanz poliert – natürlich: Norik war immer sehr ordentlich gewesen. Eine Garderobe an der linken Seite, ein paar Jacken und Mäntel, die schon geraumer Zeit nicht mehr getragen worden waren und wohl auch so schnell keinen neuen Träger finden würden.

Armin schloss die Tür hinter sich und atmete die Luft ein. Es war kühl in der Wohnung, die Luft roch schal. Man merkte, dass schon seit einiger Zeit niemand mehr gelüftet hatte.

Auch wenn Armin in unregelmäßigen Abständen hier gewesen war, fühlte er sich auf distanzierte Art und Weise fehl am Platz und…fremd.

Ich habe hier nichts zu suchen.

Doch, natürlich schon: Er suchte Antworten und er musste sich mit dem Nachlass seines Bruders auseinandersetzen.

Soweit er verstanden hatte, würde er die Wohnung erben. Aber würde er hier wohnen können? Er schob den Gedanken von sich. Es reichte schon, dass er Noriks Job übernommen hatte. Jetzt auch noch seine Wohnung? Das war, als würde man das Leben von jemandem stehlen. In die Haut eines anderen schlüpfen.

Den man noch nicht mal kannte – aber machte es das nicht leichter?

Eines hatte Armin die letzten Tage sehr deutlich gespürt: Es gab viele Menschen auf der Welt, die mehr über seinen eigenen Bruder wussten als er selbst. Und das setzte ihm am meisten zu. Ihre abgekühlte Beziehung war ihm noch nie so deutlich vor Augen geführt worden.

Er ging in den ersten Raum, der rechts vom Flur abzweigte: Die Küche.

Alles Edelstahl. Teuer. Sauber. Verdorrte Kräuter auf der Fensterbank. Armin wusste gar nicht, dass Norik gerne gekocht hatte. War ihm bei seinen Stippvisiten nie aufgefallen. Meistens war er an der Tür hängen geblieben oder maximal ins Wohnzimmer vorgedrungen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739487670
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (März)
Schlagworte
Urban Historisch Spannend Köln Fluch Fantasy

Autor

  • Torben Stamm (Autor:in)

Torben Stamm schreibt in seiner Freizeit gerne Krimis, Thriller und Fantasy!
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Titel: Graue Schatten in Köln