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Der Träger der Botschaft

von Torben Stamm (Autor:in)
329 Seiten
Reihe: Armin-Kern-Tetralogie, Band 2

Zusammenfassung

Armin Kern ist zurück – aber ratlos wie zuvor. Sein bester Freund Yusuf entfremdet sich immer mehr von ihm und plötzlich steht ein Unbekannter vor der Tür und will, dass Armin ihn begleitet. Was steckt dahinter? Ein neuer, perfider Plan von Vilgot? Und dann gibt es auch noch die Wächter des Manifestes, die den Verlust des Buches persönlich nehmen – und dabei nicht nur Armin und Yusuf gefährlich werden…

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum

Texte und Bildmaterialien Copyright © by Torben Stamm

Im Sundern 47

48431 Rheine

torben.stamm@posteo.de

Covergestaltung: Tim Rybus

Alle Rechte vorbehalten.

Prolog

Sein Blick schweifte zu der Stadt hinüber, deren Silhouette sich schwach durch den Nebel abzeichnete. Noch durfte er sie nicht betreten, noch durfte er nicht den Platz einnehmen, der ihm rechtmäßig zustand. Aber es würde nicht mehr lange dauern. Man hielt ihn für ein Werkzeug, je nach Sichtweise vielleicht sogar ein Werkzeug des Bösen, aber: Sie irrten sich – sie irrten sich alle! Er war kein Werkzeug, er war weder Hammer noch Amboss.

Er war derjenige, der alles überblickte, der alles wusste und der am Ende bekommen würde, was ihm zustand.

Yusuf

Yusuf saß im Büro der Firmenzentrale von Octo Concilio und starrte auf seinen Schreibtisch. Da dieser aus Glas bestand, starrte er im Grunde auf seine Oberschenkel, aber das fiel ihm nicht auf. Sein Blick war nicht auf die äußere Welt gerichtet, sondern vielmehr auf sein Inneres konzentriert und was er dort sah, gefiel ihm nicht.

Nach der großen Konfrontation mit Vilgot vor einigen Wochen hatte es „Umstrukturierungen“ gegeben, wie sie jeder große und kleine Betrieb kannte: Schreibtische waren verschoben worden, Leute hatten entweder neue Aufgaben erhalten oder waren versetzt worden, was meistens mit einer Art Degradierung einherging. Yusuf hatte überrascht festgestellt, dass auch in der magischen Welt ähnlich hart durchgegriffen wurde wie in der menschlichen. Er war davon ausgegangen, dass es so etwas wie „Solidarität“ geben würde, allerdings fragte er sich inzwischen, wie er auf diese Idee gekommen war. Immerhin gingen die Menschen ja auch nicht sonderlich solidarisch miteinander um und zu ihnen gehörte das Adjektiv menschlich.

Sein Blick wanderte zum Fenster und der eigentlich wunderschönen Aussicht, die aber durch den Nebel getrübt wurde, der sich heute Morgen nach Köln geschlichen hatte und die Flexibilität der Stadtbewohner auf eine harte Probe stellte. Im Radio hatte Yusuf bereits von mehreren Auffahrunfällen gehört, außerdem berichteten Reporter von einem „gesteigerten Aggressionspotential unter den Pendlern“.

Aber der Nebel war es nicht, der Yusuf aufs Gemüt schlug.

Es war vielmehr der Stand der Dinge.

Im Rahmen der Umstrukturierungen hatte sich auch sein Schreibtisch verlagert und zwar aus dem Keller hoch in Armins ehemaliges Büro. Er hatte aber nicht nur Armins Büro, sondern auch seinen Job übernommen, sprich, er war für das IT-Sicherheitsnetz der Firma zuständig, eine Aufgabe, die er erst angenommen hatte, nachdem man ihm versichert hatte, dass Armin nicht gefeuert werden würde.

Armin arbeitete jetzt als Analyst für spezielle Aufgaben, unterstand direkt den hohen Tieren und war dadurch quasi aus Yusufs Alltag verschwunden. Dies war etwas, was Yusuf nicht verstand, da ihre konkreten Aufgaben direkt miteinander zusammenhingen: Armin sollte Vilgot und Megan finden. Ursprünglich hatte es andere Pläne gegeben, aber Europa hatte entschieden, dass Armin sich ohnehin auf nichts anderes würde konzentrieren können, als jene Personen zu jagen, die für den Tod seiner zwei Brüder direkt verantwortlich waren. Yusuf sollte herausfinden, was mit dem Buch geschehen war, der Grundlage der magischen Gemeinschaft, hinter dem Vilgot her war und von dem jede Spur fehlte.

Das hat zwar mit der IT-Sicherheit nur indirekt zu tun, aber gut.

Auch wenn die Aufgaben der beiden Freunde unterschiedliche Schwerpunkte hatten, waren Armin und Yusuf davon ausgegangen, dass sie wie bisher eng zusammenarbeiten würden. Europa hatte ihnen erklärt, im Sinne einer „dezentralisierten Ermittlungsstrategie“ sei es aber sinnvoller, wenn sie getrennt ermitteln würden, sprich: „Wir gehen das gleiche Problem von unterschiedlichen Seiten an.“ Das konnte man machen, allerdings arbeiteten ja nicht nur Armin und Yusuf an diesem Fall, man hätte also auch eine dezentralisierte Strategie verfolgen können, ohne sie als Ermittlungsteam auseinanderzureißen.

Außer, Europa und Huker wollten genau das: Armin und Yusuf trennen.

Aber warum?

Yusuf hatte schon öfters über diese Frage nachgedacht, war aber nie weitergekommen. Ihm erschien das einfach nur unsinnig.

Er riss sich von der getrübten Aussicht und seinen getrübten Gedanken los und versuchte, sich auf seine konkrete Aufgabe zu konzentrieren: Er würde sich gleich mit Huker treffen, dem er direkt unterstellt war. In gewisser Weise war Yusuf inzwischen zu Hukers rechten Hand mutiert. Huker war ein strenger, logisch denkender Mann und er schätzte Yusufs analytische Fähigkeiten.

Inzwischen. Das war auch mal anders.

Zu Beginn jeder Woche trafen sie sich, um den aktuellen Sachstand zusammenzufassen. Diese Treffen dienten dazu sicherzustellen, dass alle aus Hukers Abteilung auf einem Stand waren, allerdings waren die Treffen in letzter Zeit „etwas“ überflüssig geworden, denn es gab keine Neuigkeiten, von denen man hätte berichten können.

Yusuf bewegte die Maus seines Rechners und der schwarze Bildschirm erwachte. Es erstaunte Yusuf immer wieder, dass dieser Vorgang – das Aktivieren eines Computers – ein magischer Akt war.

Er öffnete die Präsentation der Vorwoche und begann, einige Sätze umzuformulieren, die Reihenfolge der Folien zu verändern und Farben abzuwandeln.

Mehr Neues gab es nicht.

Und weil es nichts Neues gab, benutzte er auch eine Präsentation, nach dem guten alten Motto: Wenn du keine Ahnung hast, mach ne Präsi draus.

Europa

Was hat er uns nur angetan, dachte Europa, als er seinen Platz an der langen Tafel einnahm, an welcher die Reste des ehemals so mächtigen Rates zusammengekommen waren.

Vilgot hatte Asien, Nordamerika, Afrika und letztlich auch den Präsidenten getötet, wobei der durch die Hand seiner Helferin gefallen war: Megan. Bei dem Gedanken an sie spürte Europa jedes Mal eine Mischung aus Enttäuschung, Schmerz und Wut. Letztere vor allem auf sich selbst, weil er sich so hatte täuschen lassen... er nicht gemerkt hatte, dass sie ein doppeltes Spiel trieb – ein tödliches Spiel, das die gesamte magische Welt zu verschlingen drohte.

Antarktika eröffnete die Sitzung, indem er sich von seinem Platz erhob und sagte: „Schön, dass wir heute hier zusammenkommen, auch wenn der Anlass alles andere als erfreulich ist.“

Antarktika führte die Geschäfte der magischen Gemeinschaft. Europa bewunderte ihn und war froh, dass ein solch intelligenter und besonnener Mann ihrem Gremium vorstand.

Allerdings nur übergangsweise.

Alle wünschten sich, dass Antarktika den Vorsitz dauerhaft übernahm, aber dafür musste er vom Rat gewählt werden und dieser war noch nicht beschlussfähig. Es fehlten drei Mitglieder, um eine Präsidentschaftswahl durchführen zu können.

Drei Ratsherren, schoss es Europa durch den Kopf. Wann hat es so was schon einmal gegeben? Ihm war kein Zeitpunkt bekannt, zu dem die magische Gemeinschaft derart geschwächt gewesen wäre.

„Wir sind zusammengekommen“, sagte Antarktika mit ruhiger Stimme, „um die Schritte zu besprechen, die notwendig sind, damit dieses Gremium wieder voll handlungsfähig ist. Vilgot ist untergetaucht und wir wissen nicht, wo er sich aufhält. Er könnte überall sein. Klar ist aber, dass er keine Ruhe geben wird, bis er unsere Gemeinschaft entweder zerstört hat“, er unterstrich seine Worte durch eine kurze Pause, „oder selbst tot ist.“ Antarktikas Blick verfinsterte sich: „All unsere Kräfte zielen darauf ab, dass unsere Gemeinschaft weiter fortbesteht. Aber dafür brauchen wir den Rat, wir brauchen einen Vorsitzenden, der ihm vorsteht und ihn anführt.“

Die Ratsherren hingen an seinen Lippen. Europa staunte nicht zum ersten Mal über die natürliche Autorität dieses Mannes, dem er selbst überallhin folgen würde.

„Also“, fuhr Antarktika fort und in seiner Stimme schwang weniger Pathos mit als zuvor, „wie ist der aktuelle Stand in den vakanten Regionen?“

Europa erhob sich. Er galt als engster Vertrauter Antarktikas. Entsprechend fiel ihm die Rolle zu, bei Besprechungen dieser Art aktuelle Situationen zusammenzufassen: „Die Wahl in Afrika ist nicht kompliziert. Es gibt einen Kandidaten.“ Antarktika nickte. Europa fuhr fort: „In Asien und Nordamerika hingegen zeichnen sich Probleme ab. In beiden Regionen gibt es mehrere Bewerber. Es wird Vorwahlen geben müssen.“

Vorwahlen waren zwar theoretisch möglich, in der Realität aber eine seltene Ausnahme: In der Regel fand die Wahl zwischen zwei Kandidaten statt. Gab es mehr als zwei Bewerber, wurden in einer Vorwahl die Kandidaten für die Stichwahl ermittelt. Die Idee dahinter war, dass der Amtsträger über eine möglichst breite Zustimmung verfügen sollte.

„Mehr als zwei Bewerber?“, fragte Antarktika.

„Ja“, sagte Europa kopfnickend. Natürlich war Antarktika über die besonderen Umstände der beiden Wahlen bereits im Vorfeld informiert worden. Bei dieser Sitzung hier ging es aber darum, die Situation mit allen Ratsherren zu diskutieren und ihnen ihre Verantwortung noch einmal bewusst zu machen. Vilgot hatte durch seinen Angriff auf den Rat nicht nur dessen Mitgliederzahl, sondern auch sein Selbstbewusstsein massiv unterminiert.

„In beiden Regionen gibt es neben Bewerbern mit einer moderaten, ausgleichenden Einstellung auch solche, die dem Solum-Lager zuzuordnen sind.“

Europa beobachtete seine Kollegen und sah zufrieden, dass sie alle gleich reagierten: Besorgt. Ihnen war der Ernst der Lage bewusst.

Die Solum-Bewegung leitete sich vom lateinischen Wort solum ab, also allein. Der Rat war ein Gremium, das keine Länder und Nationen kannte, sondern wo große Regionen gemeinsam einen Vertreter entsandten, der gleichberechtigt und im gegenseitigen Respekt mit den Vertretern anderer Regionen Lösungen für Konflikte suchte und fand.

Die Solum-Bewegung lehnte dieses Konzept ab: Für ihre Anhänger war der Rat eine Plattform, um sich auszutauschen, aber nicht, um bindende Einigungen zu erzielen. Für sie stand der Vorteil des eigenen Gebietes im Vordergrund. Solche Vertreter hatte es ab dem Moment gegeben, in dem der Rat gegründet worden war, und Europa wusste, sowohl aus Büchern als auch aus eigener Erfahrung, dass es immer wieder Phasen gegeben hatte, in denen die Solisten, wie man sie halb scherzhaft, halb abwertend auch nannte, mal mehr, mal weniger Einfluss gehabt hatten. In den vergangenen Jahrzehnten hatten sich die moderaten Kräfte durchgesetzt und die Geschicke der Gemeinschaft so gelenkt, dass es keine größeren Konflikte gegeben hatte.

„Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Vertreter der Solum-Bewegung bei den Vorwahlen durchsetzt?“, fragte Australien. In seiner Stimme schwang nicht nur Besorgnis, sondern auch eine Spur Trotz mit.

„Das ist schwierig zu sagen“, gab Europa zu. „Tatsächlich könnte es sein, dass bei beiden Abschluss-Wahlen ein Solist unter den Kandidaten ist.“

Australien nickte düster.

Europa stand im Anschluss an die Sitzung mit Südamerika zusammen, als Antarktika auf ihn zutrat und bedeutete, ihm zu folgen. Europa verabschiedete sich von seinem Gesprächspartner und folgte Antarktika, der den Sitzungssaal bereits verlassen hatte und langsam den Gang entlang in Richtung Ausgang schritt.

„Ja?“, fragte Europa.

„Ich denke, Sie haben vorhin untertrieben.“

„Wie meinen Sie das?“

Antarktika blieb stehen und sah Europa mit seinem durchdringenden Blick an: „Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Solist bei den beiden Vorwahlen durchsetzen kann?“

Europa seufzte: „Es besteht die Möglichkeit, dass die Leute sich von ihren Parolen nicht blenden lassen.“

Antarktika schüttelte den Kopf: „Nein. Wir beide wissen, dass die Leute Angst haben und ihr Vertrauen in unsere Macht erschüttert wurde. Vilgot hat mit seinen brutalen Morden gezeigt, wie mächtig er ist – und wie ohnmächtig wir es waren.“ Seine Stimme zitterte vor unterdrücktem Zorn: „Die Leute haben Angst und wenn jemand Angst hat, schottet er sich ab. Wir dürfen das nicht zulassen.“

Europa nickte zustimmend.

„Ich möchte“, kam Antarktika zu seinem Anliegen, „dass Sie sowohl nach Nordamerika als auch nach Asien reisen, um die Vorwahlen zu beobachten. Ich weiß, wir haben alle möglichen Informationen über die Bewerber, aber darum geht es mir nicht. Ich möchte, dass Sie sich vor Ort ein Bild machen: Was denken die Menschen? Wie ist die Stimmung, das Klima? Besteht wirklich die Gefahr, dass der Zusammenhalt innerhalb des Rates schwinden könnte, weil einzelne Vertreter nur auf ihre eigenen Interessen achten?“

Europa nickte: „Natürlich.“

„Ich möchte, dass Sie mir regelmäßig Bericht erstatten. Und reisen Sie allein, möglichst unauffällig. Keine offiziellen Besuche, keine Protokolle. Das würde nur den Eindruck erwecken, wir wären besorgt.“

Was wir auch sind, dachte Europa und er sah Antarktika an, dass er genau das Gleiche dachte.

„Ich hätte auch noch ein Anliegen“, sagte Europa. Er wusste, dass dieser Punkt heikel war, aber er hatte lange mit Huker diskutiert und sie waren sich einig gewesen, dass es keine Alternative gab.

Yusuf

Yusuf hatte Huker am Anfang nicht leiden können – und das seiner Meinung nach aus gutem Grund: Huker hatte Armin und Yusuf spüren lassen, wie wenig er von ihnen hielt. Außerdem war Huker durch und durch Soldat/General – eine Berufsgruppe, die Yusuf aus Prinzip ablehnte.

Inzwischen hatte er seine Meinung bezüglich Huker wenn schon nicht geändert, so doch korrigiert: Huker war zwar Soldat, aber er war kein Kriegstreiber, ganz im Gegenteil. Außerdem musste Yusuf Huker zugestehen, dass er selbst und Armin mehr als einmal gegen direkte Dienstanweisungen verstoßen hatten – welcher Vorgesetzte mochte es, wenn seine Untergebenen das taten?

Yusuf klopfte an Hukers Bürotür, wo das Meeting stattfinden sollte. Eine feste Stimme rief: „Herein!“, und Yusuf folgte der Aufforderung.

Er war überrascht, Huker alleine anzutreffen. Normalerweise waren sie ungefähr fünf Leute: Huker, Yusuf und ein paar Referenten, die ständig wechselten.

„Ah, Herr Ates“, sagte Huker freundlich. „Setzen Sie sich.“

Er bemerkte Yusufs irritierten Gesichtsausdruck und bemerkte: „Ich möchte alleine mit Ihnen sprechen.“ Indem er das Offensichtliche aussprach, wollte er Yusuf wohl das beklemmende Gefühl nehmen, das sich in dessen Brust breitmachte, allerdings gelang ihm das nicht.

Ganz im Gegenteil.

Huker bemerkte den Laptop, den Yusuf unter seinen Arm geklemmt hatte und den er nun noch fester an sich drückte: „Den brauchen Sie nicht.“ Er zog eine Augenbraue hoch: „Ich denke, Sie haben ebenso wenig Neues herausgefunden wie alle anderen auch.“

Yusuf wurde heiß vor Scham und er hoffte inständig, dass er nicht rot anlief. Er nahm auf einem Stuhl Platz.

„Also“, begann Huker. „Als ich unser Treffen vor ein paar Tagen vorbereitet habe, musste ich feststellen, dass es nichts Neues gibt. Dann bin ich die Protokolle der letzten Wochen durchgegangen und habe gesehen, dass wir nicht nur gefühlt, sondern ganz real seit langer Zeit auf der Stelle treten.“

Yusuf dachte an seine liebe Mühe mit der Präsentation, enthielt sich aber jedes Kommentars. Er blickte Huker aufmerksam an: Worauf willst du hinaus?

„Sie fragen sich sicher, worauf ich hinauswill“, sagte Huker und bemerkte amüsiert, wie der junge Mann zusammenzuckte. „Ich denke, wir müssen den Ermittlungsansatz ändern.“

„Und wie?“

„Bisher haben wir hier gesessen und uns darüber Gedanken gemacht, was passiert ist. Alles von Köln aus, alles nur in der Theorie.“

Yusuf nickte leicht.

„Wir versuchen herauszufinden, was mit dem Manifest geschehen ist, aber wir haben uns seinen letzten verbürgten Aufenthaltsort nicht angesehen.“

Huker sprach damit aus, was regelmäßig zu hitzigen, aber einseitigen Diskussionen geführt hatte: Die Sicherheitskräfte, die das Buch in Italien beschützt hatten/ beschützt haben sollten, weigerten sich, ihnen Zutritt zu gewähren. Sie bildeten eine unabhängige Einheit, die nicht dem Rat unterstand, sondern lediglich dem Vorsitzenden. Da es derzeit aber keinen Vorsitzenden gab, sondern nur einen Stellvertreter, und die Sicherheitskräfte sich in ihrer Ehre „etwas“ gekränkt fühlten, hatte Antarktika es bisher vorgezogen, seine Autorität nicht auf die Probe zu stellen.

„Gestern hat es ein Treffen des Rates gegeben – oder vielmehr ein Treffen der Überreste des Rates.“ Wut schwang in Hukers Stimme mit. „Europa hat mit Antarktika über unser Anliegen gesprochen, das Castel del Monte in Augenschein nehmen zu dürfen.“

Yusuf spürte, wie die Nervosität in ihm zunahm: Endlich! Endlich kommt Bewegung in die Sache!

„Natürlich ist die Sache heikel. Wenn die Wächter sich weigern, uns Zutritt zu gewähren, bedeutet das, dass sie Antarktika nicht anerkennen und somit würde seine und letztlich auch die Position des Rates weiter geschwächt werden.“

Das stimmt. Es ist ein Risiko, diesen Schritt zu gehen, aber was wären die Alternativen? Man kann doch kein Verbrechen aufklären, wenn man nie am Tatort war. Das sagt einem der gesunde Menschenverstand! Aber Yusuf wusste, dass er es hier in erster Linie nicht mit Menschen, sondern mit Magiern zu tun hatte, und die tickten halt anders.

„Antarktika hat schließlich zugestimmt.“ Huker machte eine kurze Pause und nickte zufrieden: „Die Wächter stimmen einer externen Untersuchung zu, sind aber nicht erfreut. Allerdings gehen sie davon aus, dass Antarktika der nächste Vorsitzende wird – und dann würden sie ihm ohnehin gehorchen müssen.“

Yusuf nickte: „Also dürfen wir endlich zum Tatort?“

„Wenn es einer ist – ja! Allerdings haben uns die Wächter Auflagen gemacht.“
War ja klar.

„Es darf nur ein Mann hin. Er darf kein Ratsherr sein und der Besuch muss in sein ordinäres Aufgabenfeld fallen.“

„Was?“

„Wir können keinen… Spurensicherer hinschicken, auch wenn das sinnvoll wäre, weil ein Spurensicherer normalerweise nichts in dieser Anlage zu suchen hat.“

„Ah. OK.“ Zusätzlich zur Nervosität machte sich langsam auch ein Gefühl der Beklemmung in Yusuf breit.

„Wir möchten, dass Sie nach Italien fahren“, stellte Huker klar.

„Ich?“

„Ja: Sie sind kein Ratsherr und Sie sind für das Sicherheitsnetzwerk unserer Gemeinschaft verantwortlich. Sie haben fachlich jedes Recht, sich im Castel aufzuhalten.“

„Aber…“

„Ich weiß, das kommt unerwartet und ist eine riesige Verantwortung.“

Wird nicht besser, wenn du das auch noch betonst.

„Aber wir sind uns einig, dass Sie genau der Richtige sind.“

„Was ist mit Armin?“

„Er ist nicht mehr ordinär mit Sicherheitsfragen betraut. Er ist Analyst für spezielle Aufgaben - und hat gerade einen anderen Arbeitsschwerpunkt.“

Yusuf starrte Huker an: Damit hatte er nicht gerechnet. Er hatte darauf gehofft, dass Bewegung in die Sache kommen würde. Aber dass es so viel Bewegung sein würde, dass er nach Italien reisen sollte, hatte er nicht erwartet.

Die Familie

Nehir öffnete die Haustür, wobei sie die Augen verdrehte, etwas, womit Yusuf nicht nur gerechnet, sondern wovon er fest ausgegangen war.

„Hi“, sagte er und nahm seine Schwester in den Arm.

„Ja, toll, dass du auch da bist.“

Er ist pünktlich“, kam es aus dem Hintergrund und Nehir verdrehte erneut die Augen, was ihr Vater aber nicht sehen konnte.

„Ich war doch nur fünf Minuten zu früh“, nörgelte sie. Ajub Ates betrat den Flur und sah seine Tochter streng an: „Zu früh ist auch unpünktlich.“

Yusuf schloss die Tür hinter sich und sah sich suchend nach seiner Mutter um. Wenn sein Vater und seine Schwester miteinander diskutierten, war es entweder gut, wenn Hacer Ates dabei war, um ausgleichend einwirken zu können, oder man selbst suchte schnell das Weite. Nehir und Ajub Ates waren sich einfach zu ähnlich, um einen Streit vernünftig austragen zu können, vor allem, wenn es um etwas so Unsinniges wie gerade ging.

„Ich gucke mal, ob Mama in der Küche Hilfe braucht“, sagte er und ging eilig in die Küche.

„Lass mich nur im Stich, du Waschlappen!“, schimpfte Nehir und warf Yusufs Rücken einen bösen Blick zu, den der zwar nicht sehen, sehr wohl aber spüren konnte.

„Red nicht so mit deinem Bruder! Ihr müsst euch lieb haben! Wenn wir mal nicht mehr sind, habt ihr nur einander!“

„Er hat doch noch Armin!“

Die Antwort seines Vaters hörte Yusuf nicht. Er hatte die Küche betreten und die Tür hinter sich zugezogen.

„Na, zeigt Nehir wieder, dass sie ein genauso großer Sturkopf ist wie ihr Vater, indem sie versucht, genau das zu vertuschen?“, fragte Hacer und rührte in einem großen Topf etwas um. Yusuf stöhnte: „Ja, als wenn es sonst keine Probleme auf der Welt gäbe.“ Er ging zu seiner Mutter, umarmte sie kurz und drückte ihr einen flüchten Begrüßungskuss auf die Wange. Er wollte sich hinsetzen, aber seine Mutter hielt ihn an der Schulter fest und betrachtete ihn eingehend: „Yusuf, du siehst nicht gut aus.“

„Danke.“

„Du siehst wirklich nicht gut aus.“

„Du wiederholst dich.“

„Man könnte fast sagen“, und jetzt senkte sie ihre Stimme, damit ihr Mann sie nicht hören konnte, „dass du absolut scheiße aussiehst.“

Yusuf entzog sich des mütterlichen Klammergriffs und ließ sich auf seinen Stuhl sacken: „Ich habe viel zu tun.“

„Die Arbeit?“

„Ja. Ich arbeite da an so einem Projekt und… Na ja, wir stecken halt fest und heute war ich bei meinem Chef und er hat mich dazu verdonnert, eine nervige Analyse durchzuführen.“

Hacer rührte wieder das Essen im Topf um: „Mhmmm. Macht dir die Arbeit keinen Spaß?“
„Doch. Sie wird gut bezahlt.“

„Das habe ich nicht gefragt, oder?“

Stimmt. Tatsächlich konnte sich Yusuf aber nicht daran erinnern, jemals bei der Arbeit glücklich gewesen zu sein. Im Grunde genommen war er immer unzufrieden gewesen: Bei seiner Arbeit mit Armin in Durmus Hinterzimmer, weil sie nichts verdient hatten, und jetzt, weil… Weil ich Geheimnisse vor meinem besten Freund haben muss, den ich kaum noch sehe.

Die Tür wurde aufgestoßen und Nehir stürmte herein, ihr Vater dicht hinter ihr: „Das kann doch nicht dein Ernst sein!“, rief Ajub empört. „Also… Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll!“

Hacer warf Yusuf einen resignierenden Blick zu, dann wandte sie sich an ihren Mann: „Nimmst du bitte Teller aus dem Schrank und deckst den Tisch?“

„Hacer! Hat Nehir dir erzählt, dass…“

„Nein, aber das wird sie noch. Außer, sie hat es sich nur ausgedacht, um dich zu provozieren.“

Nehir sah flüchtig auf den Fußboden und Yusuf musste grinsen.

„Und du holst Besteck und hilfst deinem Vater!“, befahl ihre Mutter Nehir. „Und dabei will ich keine Diskussionen mehr hören, ist das klar?“

Die beiden grummelten etwas, wagten aber nicht, Hacer zu widersprechen. Nicht, weil sie so eine brachiale Autorität darstellen würde, sondern einfach, weil sie froh waren, irgendwie aus dieser sinnlosen Streitspirale rauszukommen, ohne verloren zu haben.

„Was gibt es denn?“, fragte Yusuf und reckte den Hals, wodurch er aber auch nichts erkennen konnte.

„Erbsensuppe. Hat dein Vater sich gewünscht.“

„Aha“, machte Yusuf.

„Ich freue mich immer wieder, für meine Familie kochen zu dürfen. Und jetzt mach dich nützlich und schneide das Brot.“

Armin

Armin wälzte sich auf den Rücken und starrte an die Decke, auch wenn er sie nicht sehen konnte. Sein Blick wanderte zu seinem Handgelenk, an dem eine stabile Taucheruhr strahlend die Uhrzeit anzeigte: Zwei Uhr nachts.

Scheiße, dachte er genervt und rollte sich auf die Seite, in der Hoffnung, in dieser Position vielleicht Schlaf zu finden, eine Prozedur, die er bereits seit mehreren Stunden praktizierte. Würde er einen Fitness-Tracker tragen, hätte er sein persönliches Bewegungsziel wahrscheinlich schon längst übertroffen.

Nach weiteren zehn Minuten schnaufte er, warf die Decke zurück und stieg aus dem Bett. Vorsichtig ging er durch den Raum, tastete nach der Tür und öffnete sie. Im Wohnungsflur schaltete er das Licht ein.

Blinzelnd blickte er in die Wohnung, die einst seinem Bruder Norik gehört hatte. Nach dessen Tod hatte er sie geerbt und obwohl er sich eine Zeit lang geziert hatte, war er schließlich doch eingezogen.

Der ausschlaggebende Grund war der Raum gewesen, den er als Schlafzimmer nutzte, der den Namen aber nicht verdiente, weil Armin keinen Schlaf fand: Norik hatte einen Faradayschen Käfig in seiner Wohnung eingerichtet, in dem man von sämtlichen Funkstrahlen abgeschirmt wurde – ein Panikraum gegen Magie. Ursprünglich war der Raum leer gewesen und Armin hatte noch immer keine Ahnung, wofür Norik ihn genau eingerichtet hatte, aber inzwischen hatte er ihn mit einem Bett ausgestattet und nutzte ihn als Schlafzimmer. Die Tatsache, dass der Raum über keinerlei Fenster verfügte, kam seiner neuen Funktion grundsätzlich entgegen.

Armin schlurfte missmutig in die Küche, öffnete den Kühlschrank und nahm eine Flasche Bier heraus. Er ging ins Wohnzimmer, öffnete die Flasche und ließ sich aufs Sofa fallen.

Fernseher an.

Zappen.

Kein Wunder, dass alle Leute Geld für Streaming-Dienste ausgeben, dachte er und nahm sich vor, sich diesen Leuten anzuschließen.

Er nuckelte an seiner Bierflasche und seine Gedanken schweiften ab.

Seit Vilgots Frontalangriff auf den Rat hatte er versucht, den Mistkerl zu finden. Er hatte magische Signaturen gesucht, sich durch Archivmaterial gewühlt und jeden befragt, der vielleicht etwas wissen könnte.

Ergebnis: Keine Erkenntnisse.

Vilgot war offiziell das Primärziel. Alles konzentrierte sich auf ihn. Aber Armins persönliche Zielformulierung wich ein wenig von dieser offiziellen Vorgabe ab: Er wollte Megan finden. Er wollte sie finden und dann…

Dieses und dann machte ihm Angst. Seit er wusste, dass er Magie ausüben konnte, hatte er mehrfach die Kontrolle verloren, hatte sich in seine Wut hineingesteigert und war dabei weiter gegangen, als er für möglich gehalten hätte. Er zuckte bei dem Gedanken an seinen Kampf gegen die Ordensmänner auf dem Friedhof zusammen. Noch immer wusste er nicht, ob er sie getötet hatte. Praktisch machte das keinen Unterschied: Vilgot hatte den gesamten Orden ausgelöscht, nachdem er ihn nicht mehr gebraucht hatte.

Aber trotzdem: Bin ich ein Mörder? Ist es möglich, dass ich mich so sehr in meine Wut reinsteigern kann, dass ich töte? Was wird passieren, wenn ich Megan finde?

Er spürte, wie Hass in ihm aufstieg und seine Kehle zuzog, wenn er an die hübsche Megan dachte. Jene Megan, mit der Norik zusammen gewesen war und die mit ihm in dieser Wohnung gelebt hatte. Vielleicht hatte sie auf dem gleichen Sofa gesessen wie Armin jetzt, als sie den Plan schmiedete, Norik zu töten, ihren Freund, der sie liebte und der ihr vertraut hatte.

Zumindest ging Armin davon aus, dass Norik so für sie empfunden hatte. Beschwören könnte er es nicht. Die beiden Brüder hatten sich nicht nahegestanden, hatten sie noch nie. Norik hatte, das wusste Armin inzwischen, von Anfang an über die magische Welt Bescheid gewusst, Armin war außen vor geblieben – weil seine Mutter es so gewollt hatte.

Um ihn zu schützen, weil sie bereits einen Sohn im Kampf verloren hatte.

Marcus, von dem Armin erst jetzt erfahren hatte.

Yusuf hatte ihn aufgestöbert und bei dem Versuch, etwas herauszufinden, sein Leben riskiert.

Armin hatte inzwischen jenem Haus/jener Villa einen Besuch abgestattet, wo Yusuf einer Person begegnet war, die wahrscheinlich Vilgot war.

Das Haus war leer gewesen – vollkommen.

Keine Bücher, keine Tücher, nichts. Armin hatte jede Etage abgesucht, hatte sich Zentimeter für Zentimeter durch das Anwesen gearbeitet.

Ohne Erfolg.

Hat meine Mutter mir mit dieser Geheimnistuerei einen Gefallen getan? Was wäre gewesen, wenn ich wie Norik über alles Bescheid gewusst hätte? Vielleicht hätten wir uns dann nähergestanden. Vielleicht hätte ich gemerkt, was mit Megan los war – und Norik hätte nicht sterben müssen.

Armin schüttelte den Gedanken ab: Wenn er ihn konsequent zuende dachte, wäre seine Mutter mit Schuld am Tod seines Bruders gewesen und das war Blödsinn.

Aber trotzdem… Es war ja nicht nur so, dass Armin sich von seinem Bruder entfremdet hatte. Er hatte auch von Marcus Existenz gar nichts gewusst.

Er schaltete den Fernseher ab und warf die Fernbedienung neben sich. Dann leerte er sein Bier und stand auf, um sich eine neue Flasche zu holen. Auf dem Weg zur Küche ging er am Fenster vorbei und warf einen Blick auf die ruhige Straße: Auch wenn er sich in Köln befand, wälzten sich zu dieser Uhrzeit keine Blechlawinen mehr durch die Stadt und verstopften ihre Arterien.

Hinzu kam, dass es regnete.

Armin lehnte sich an die Wand neben dem Fenster und seufzte.

Ein Mann ging den Bürgersteig auf der gegenüberliegenden Straßenseite entlang. Er trug einen langen, schwarzen Mantel und einen altmodischen Hut mit breiter Krempe. In einem Comic würde das Wasser zentimeterhoch in der Krempe stehen und bei jedem Schritt etwas überschwappen. Die Hände hatte er tief in den Jackentaschen vergraben.

Wenigstens bleibt er einigermaßen trocken. Vielleicht sollte ich mir auch so einen Hut besorgen, dachte Armin und wollte gerade seinen Beobachtungsposten verlassen, als der Mann genau unter der Laterne stehenblieb, die Armins Wohnung gegenüber lag.

Langsam hob er den Kopf, so, als würde er Armin direkt ansehen. Aus unerfindlichen Gründen trug er eine Sonnenbrille.

Armin machte unwillkürlich einen Schritt zurück und kniff die Augen zusammen.

Wer ist das?, fragte er sich und jeder Muskel seines Körpers spannte sich an.

Das Gesicht des Mannes wurde durch den hochgeschlagenen Mantelkragen und den Hut abgeschirmt, sodass Armin nichts erkennen konnte: Nicht mal, ob du wirklich ein Kerl bist oder nur so tust. Ein neuer Gedanke zuckte durch Armins Hirn: Bist du überhaupt ein Mensch?

Der Mann nahm langsam die rechte Hand aus der Manteltasche und tippte sich grüßend mit zwei Fingern an die Krempe.

„Scheiße“, sagte Armin. Der meint mich.

Erst jetzt wurde Armin bewusst, dass er in seiner hell erleuchteten Wohnung vor dem Fenster wie auf dem Präsentierteller stand. Hastig spurtete er durchs Zimmer und schaltete das Licht aus. Dann schob er sich vorsichtig wieder in Richtung Fenster, wobei ihm sein Herz bis zum Hals schlug.

Als er vorsichtig auf die Straße spähte, war der Mann verschwunden.

Armins Blick suchte hektisch die Straße ab, aber nirgends war ein Mann mit breitkrempigen Hut zu erkennen.

„Scheiße“, wiederholte Armin und sein Blick wanderte auf die leere Flasche Bier in seiner Hand: Du musst echt schlafen, riet er sich selbst.

Bevor er in seinen magischen Panikraum ging, kontrollierte er die Haustür: Abgeschlossen.

Auf ein zweites Bier verzichtete er.

Yusuf

Yusuf hasste Italien schon jetzt: Es war heiß, alle hatten gute Laune und jeder umarmte sein Gegenüber, auch wenn er es nicht kannte. Offensichtlich entging den Italienern, wie eklig es war, sich dauernd schwitzend zu betatschen.

Um das Castel del Monte im Süden Italiens zu erreichen, musste Yusuf über den Flughafen von Bari reisen, der Hauptstadt der Region Apulien. Der Flughafen selbst lag allerdings acht Kilometer nordwestlich von Bari. Yusuf fand den Flughafen niedlich: Im Internet hatte er gelesen, dass 2017 ungefähr 4,5 Millionen Passagiere hier abgefertigt worden wären: Nichts im Vergleich zu Köln, dachte er stolz bei sich.

Wenn er zu sich ehrlich war, wusste Yusuf allerdings, dass Italien nichts für seinen Unmut konnte. Dieses wunderschöne Land fiel seiner „guten“ Laune nur zum Opfer, weil er diese Mission ätzend fand:

Er durfte Armin nichts von seiner Reise erzählen.

Er hatte sofort am nächsten Tag nach dem Meeting abreisen müssen.

Er trug die ganze Verantwortung für diese Untersuchung.

Die Wächter hatten keinen Bock auf ihn. Vorteil hierbei: Sie würden ihn nicht umarmen – oder erst recht.

Nachdem er seinen Koffer vom Band genommen und mit den übrigen Reisenden den Sicherheitsbereich verlassen hatte, überschritt er jene Schwelle, an der sich Anreisende mit Empfangskomitees vermischen durften.

Yusufs Empfangskomitee bestand aus einem grauhaarigen Mann mit 3-Tage-Bart und deutlichem Bauchansatz.

„Signore Ates!“, rief er begeistert, sobald er Yusuf erblickte, und stürmte auf ihn zu, als wäre er sein Liebhaber, und presste seinen schweißnassen Körper an Yusuf.

„Hallo“, sagte Yusuf und war froh, als der Mann ihn losließ.

Der grauhaarige Knuddler stellte sich als Nevio Riva vor. Er war Yusufs Kontaktperson – was wohl ein anderes Wort für Babysitter war.

„Kommen Sie mit“, strahlte der Italiener. „Mein Auto steht draußen!“

Wo auch sonst?

Als Yusuf den Wagen sah, stellte er sich spontan die Frage nach der Verkehrstüchtigkeit: Der alte Wagen war früher bestimmt einmal strahlend rot gewesen, inzwischen ging die Farbe aber eher ins Rostrot über und es stand außer Frage, dass er nicht gerade klimaschonend war.

„Ist er nicht schön?“, fragte Riva, der Yusufs offenstehenden Mund falsch interpretierte.

„Der Wagen liegt mir wirklich am Herzen“, erzählte Riva, während er den Wagen aufschloss (mit einem Schlüssel, keiner Fernbedienung) und den Kofferraum quietschend öffnete. „Er ist der erste Wagen, den ich mir gekauft habe. Von meinem ersten Gehalt. Das war 1982. Ein bisschen ärgere ich mich, dass ich nicht zwei Jahre älter bin, dann hätte ich einen der ersten gehabt, die gibt es nämlich erst seit 1980, wissen Sie?“ Yusuf quetschte seine Tasche in den Kofferraum.

„Wegen unserer Sache bin ich ständig unterwegs gewesen. Überall in Italien, Europa…“ Er deutete mit beiden Händen auf sein Herz: „Das war nicht immer leicht. Ich meine, ein Mann braucht ein Zuhause, oder?“

Yusuf nickte, auch wenn er nicht verstand.

„Ich komme aus Turin, verstehen Sie?“

Nein. „Ich denke, schon“, sagte Yusuf zögerlich. Riva grinste: „Sie haben keine Ahnung, was ich meine, oder?“

„Nicht wirklich.“

„Der Wagen wurde in Turin gebaut.“

Yusuf nickte: „Und deswegen erinnert er Sie immer an Ihre Heimat, wenn Sie unterwegs sind?“

„Genau! Das, und weil mein Papa auch da gearbeitet hat. Und mein Opa! Wir sind alle ganz verrückt nach unseren Autos.“

Ist mir noch nicht aufgefallen.

Sie stiegen in das viel besungene Auto und Riva ließ den Motor an. Dabei deutete er auf seine Ohren und lächelte verzückt. Natürlich war ihm klar, dass der Junge seine Begeisterung nicht teilte, aber das war ihm egal: Wenn du jemandem dein Leben verdankst..., dachte er und ihm lief ein leichter Schauer den Rücken hinab. Er widerstand dem Impuls, sich zu schütteln und konzentrierte sich stattdessen auf das Brummen des Motors, welches ihn immer beruhigte.

„Gut, dass wir uns endlich den Tatort ansehen können“, sagte Yusuf und verhinderte damit endgültig das Aufkommen trüber Gedanken.

„Ich würde es nicht Tatort nennen.“ Rivas Stimme klang nun ernst.

„Warum nicht?“

„Wegen der Wächter. Sie nehmen das alles sehr persönlich.“

„Aber es ist doch ein Tatort, oder?“

Riva verzog das Gesicht: „Ehrlich gesagt, wissen wir das doch gar nicht, oder?“

„Na ja: Die Truhe war im Castel. In der Truhe hätte das Buch sein sollen – war es aber nicht…“

„Und warum glauben Sie, das Buch müsse unbedingt hier in Italien gestohlen worden sein? Wieso nicht in Köln?“

„Na ja, es war die höchste Sicherheitsstufe und…“

Riva schüttelte den Kopf: „Das ist kein Grund. Vielleicht für Sie und Ihre Leute in Köln. Bestimmt sogar: Sie haben darauf aufgepasst! Aber das Gleiche sagen die Wächter auch und glauben Sie mir, es gibt nirgends höhere Sicherheitsvorkehrungen als hier.“

„Warum hat man die Truhe dann verlegt?“
„Ich weiß es nicht – aber war es nicht so, dass Vilgot als Sivertsen die Sicherheitsprotokolle verändert und so dafür gesorgt hat, dass das Manifest und alle Ratsherren nach Köln gekommen sind?“

Yusuf spürte, wie er rot wurde: Der ist gut informiert, dachte er. Woher weiß er das alles?

Riva fuhr fort: „Angenommen, die Truhe wäre hiergeblieben – Vilgot wäre nicht rangekommen. Das ist inzwischen klar.“ Er machte eine Pause: „Und jetzt kommen Sie, sprechen von einem Tatort und schieben damit rein sprachlich schon die Schuld auf die Wächter. Und das, obwohl der Rat und alle seine Mitarbeiter Vilgot in jederlei Hinsicht auf den Leim gegangen sind. Mit dem Ergebnis, dass der Rat nur noch ein trauriger Haufen ist.“

Yusuf starrte aus dem Fenster: „Sie arbeiten auch für den Rat, oder?“

„Natürlich. Aber es geht nicht um mich. Es geht um Sie und die Wächter, denn sie werden morgen aufeinandertreffen. Die Wächter geben dem Rat und den Kölner Sicherheitskräften die Schuld am Verschwinden des Buches – und Sie offensichtlich den Wächtern. Ich bin kein Experte in Psychologie, aber ich halte das für eine denkbar ungünstige Ausgangslage, wenn man darauf angewiesen ist zusammenzuarbeiten, um den gefährlichsten Gegner zu bekämpfen, mit dem wir es jemals zu tun hatten.“

Er hat Recht, dachte Yusuf. Eine absolut korrekte Analyse. „Also“, fragte er daher, „was wäre Ihr Vorschlag?“

„Demut und Kooperation. Vielleicht sogar Demut zur Kooperation.“

Leichter gesagt als getan – weißt du, was ich für einen Druck habe?

„Sie haben zwei Optionen“, erklärte Riva. „Sie können hingehen und den Ratsvertreter raushängen lassen, der sich mit Gewalt Zugang zum Castel verschafft hat.“ Yusuf wollte protestieren, aber Riva ließ ihn nicht zu Wort kommen: „Natürlich nicht mit körperlicher Gewalt. Aber Antarktika musste die Muskeln spielen lassen, was sehr riskant war. Die Tatsache, dass die Wächter sich darauf eingelassen haben, zeigt meiner Meinung nach, dass sie grundsätzlich bereit sind, zu kooperieren. Aber nur, wenn man sie ernst nimmt – und das fängt bei der Sprache an. Sprache repräsentiert unsere innere Haltung.“

Scheiße, nicht nur Psychologe, sondern auch Philosoph.

„Also: Option eins ist Konfrontation. Was wäre die zweite Variante?“, fragte Yusuf.

„Habe ich doch schon gesagt“, gab Riva ärgerlich zurück. „Kooperativ sein und etwas Demut zeigen. Sie wissen nicht, was passiert ist, und genau das würde ich auch sagen. Denn die Wächter wissen es auch nicht. Da haben sie etwas gemeinsam – wie übrigens das Interesse daran, das Manifest wiederzubeschaffen. Damit hätten wir schon zwei Gemeinsamkeiten. Für den Anfang ein guter gemeinsamer Nenner.“

Den Rest der Fahrt schwiegen sie. Yusuf dachte über Rivas Worte nach – und, was das für ein Kerl war.

Bari zählte zu den wichtigsten Universitätsstädten des Landes. Yusuf verdrehte innerlich die Augen, als er das Wort Universität auf einem der Straßenschilder las – davon hatte er zuletzt zu viel gehört. Da er aber gerade einen Vortrag über Demut und Kooperation über sich hatte ergehen lassen müssen, dem er nichts entgegensetzen konnte, behielt er sein Stöhnen für sich und war angemessen beeindruckt von der Stadt.

Sie hielten vor einem kleinen, weißen und unscheinbaren Haus mit grünen Türen, grünen Fensterläden und einem winzigen Balkon, der zur Straße zeigte.

„Gut“, sagte Riva. „Dann ruhen Sie sich mal aus. Ich komme morgen vorbei und hole Sie ab.“

***

Am nächsten Morgen wartete Yusuf bereits vor dem Haus, als Riva ihn abholte. Er stieg zu ihm in den Wagen und begrüßte ihn.

„Dann wollen wir mal“, sagte Riva und fädelte sich in den Verkehr ein.

Sie fuhren auf eine Kreuzung zu, an der ein Schild rechts den Weg zum Castel wies. Riva setzte den Blinker und bog links ab.

„Hey“, sagte Yusuf alarmiert. „Wir müssen in die andere Richtung.“

„Warum?“
„Weil es da zur Burg geht.“

„Stimmt. Da geht es zur Burg. Aber da wollen wir nicht hin. Verdammt!“ Mit einer plötzlichen Bewegung schoss Rivas rechter Arm hoch und schlug mit aller Kraft auf die Armatur vor Yusufs Beifahrersitz.

„Was soll das?“, kreischte Yusuf.

„Spinne!“, brüllte Riva, sah auf die Innenfläche seiner Hand und stellte beruhigt fest, dass er das verdammte Biest erwischt hatte.

Yusuf starrte den Mann an, enthielt sich aber eines Kommentars über Demut und so. Dann zwang er sich, aus dem Fenster zu schauen und wartete ein paar Minuten, eher er fragte: „Wo fahren wir hin?“

„Dorthin, wo das Buch aufbewahrt wurde.“
„Also zur Burg.“

„Nein: Da war es mal. Aber wie sollen wir dort einen Hochsicherheitsbereich einrichten, wenn überall dauernd Touristen rumrennen und Fotos machen? Können Sie mir das erklären?“

Natürlich konnte Yusuf das nicht und er ärgerte sich, dass er so naiv gewesen war.

„Und wo war das Buch dann?“

„Das werden Sie gleich sehr schnell merken.“

Es dauerte tatsächlich noch zehn Minuten, als Yusuf erstaunt ausrief: „Fahren wir zum Flughafen?“

„Ja.“

„Fliegen wir woanders hin?“

„Nein.“
„Was wollen wir dann da?“
„Die Anlage besichtigen, wo das Buch versteckt worden ist.“
Riva warf Yusuf einen flüchtigen Seitenblick zu und ihm war anzusehen, dass er diesen Moment sichtlich genoss: „Also gut, ich erkläre es Ihnen: Die Anlage, die zum Schutz des Manifestes gebaut wurde, ist die massivste Sicherheitseinrichtung, die es jemals gegeben hat. Nicht nur baulich, sondern vor allem wegen des hohen Magieaufkommens. Können Sie mir soweit folgen?“

„Ja.“

„Sie wissen ja sicherlich, dass Magie eine Signatur hinterlässt. Wie soll man dann eine magische Hochsicherheitsanlage bauen, deren genauer Standort gleichzeitig geheim bleibt?“

„Aber was hat das mit einem Flughafen zu tun?“

Riva seufzte: „Flughäfen sind durch und durch magische Orte. Das Fliegen galt lange als der Inbegriff der Magie. Früher konnten nur Magier und Hexen fliegen, heute können die Menschen es auch – mithilfe von Flugzeugen.“

„Wollen Sie damit sagen, dass Flugzeuge und so auch nur… ein magisches Produkt sind?“

„Exakt. Deswegen ist jeder Flughafen so was wie ein magischer Hotspot. Alles, was dort passiert, geschieht nur aufgrund von Magie. Können Sie sich einen besseren Ort vorstellen, um das Manifest zu verstecken, als einen Ort, wo Magie sowieso geballt auftritt?“

Yusuf schüttelte den Kopf: „Das ist… logisch.“

„Genau“, sagte Riva zufrieden. „Absolut logisch.“

Yusuf verzog das Gesicht: „Warum sind wir dann nicht gestern direkt zu der Anlage gefahren? Oder gegangen. Wir waren doch schon da!“
„Stimmt. Hätten wir machen können. Aber erinnern Sie sich an unsere Fahrt?“

Wie sollte ich die so schnell vergessen? „Ja.“

„Ich denke, es war ganz gut, dass wir dieses Gespräch geführt haben. Ich wollte Sie für die spezielle Situation sensibilisieren. Außerdem ist man morgens fitter, als wenn man aus dem Flugzeug fällt und dann sofort Höchstleistungen erbringen soll. Ihr Job ist ja nicht gerade einfach.“

Der hat bestimmt Psychologie studiert. Oder ist Sozialarbeiter. Auf jeden Fall was mit Gefühlen oder so.

Sie erreichten den Flughafen und Riva stelle den Wagen auf exakt dem Parkplatz ab, von dem aus sie gestern in die Stadt gefahren waren. Yusuf enthielt sich jedes Kommentars. Stattdessen ärgerte er sich einmal mehr über seine Naivität: Natürlich sind Flughäfen magisch! Wieso bin ich da nicht selbst drauf gekommen?

Sie stiegen aus und betraten die Haupthalle. Riva marschierte zielsicher auf eine Tür zu, auf der „Zutritt nur für Personal“ stand. Neben der Tür war ein kleiner Scanner angebracht, auf den er seinen Finger legte. Es piepste und Yusuf konnte hören, wie sich ein Riegel elektronisch/magisch umlegte.

Riva stieß die Tür auf: Vor ihnen lag ein kurzer Gang, an dessen Ende sich eine Treppe befand. Bevor man diese hinabsteigen konnte, musste man durch eine Schleuse, die aus zwei Glastüren bestand. Hinter der zweiten Glastür stand ein Mann. Yusuf blickte in sein Gesicht und erstarrte.

Europa

Als Europa das Flugzeug in Dallas verließ, musste er bei dem Gedanken daran lächeln, wie angenehm das Fliegen inzwischen geworden war. Früher hatten sie Besen und andere Gegenstände benutzen müssen. Wenn es regnete, waren sie nass geworden und er konnte sich an mehrere ernsthafte Erkältungen erinnern, die er sich bei diesen Gelegenheiten zugezogen hatte, vor allem auf Langstreckenflügen. Bei solchen Reisen war es auch immer wieder vorgekommen, dass einzelne Magier verunglückt waren, gerade Anfänger, die zum ersten Mal von Europa nach Amerika reisten und sich verirrten oder ihre Kräfte überschätzten.

Das Fliegen mit einem Flugzeug hingegen war sehr angenehm und beinhaltete den für einen Mann seines Alters notwendigen Luxus, schlafen zu können. Von einem Besen wäre er inzwischen sicher runtergefallen.

Nachdem er den Sicherheitsbereich hinter sich gelassen hatte, verließ er das Gebäude und trat auf die Straße hinaus: Dallas war der Hauptsitz des Rates in Nordamerika. Zahlreiche IT-Firmen hatten hier ihren Hauptsitz – eine Tatsache, die Eingeweihte nicht überraschen konnte.

Antarktika hatte ihn gebeten, sich einen Eindruck vom Wahlkampf zu verschaffen. Der Wunsch war verständlich, zeigte aber auch, wie ernst die Lage war. Wenn die Solisten im Rat wieder an Einfluss gewinnen würden, würde das die Rückkehr einer Zeit einläuten, von der Europa gehofft hatte, sie längst hinter sich gelassen zu haben. Er war alt – und deswegen kannte er auch noch die Konflikte, die egoistischen Bestrebungen entsprungen waren.

Eine schwarze Limousine hielt lautlos vor ihm. Der Fahrer, ein junger Mann in dunklem Anzug, sprang aus dem Wagen und eilte um das Fahrzeug, um Europa die Tür zu öffnen und anschließend sein Gepäck im Kofferraum zu verstauen.

„Danke“, sagte Europa und machte es sich in dem ledernen Sitz bequem.

Der Fahrer fuhr los. Die Geräusche der Stadt wurden durch die dicke Panzerung des Wagens fast vollständig geschluckt – den Rest absorbierte ein kleiner, aber feiner magischer Kniff.

Das Treffen mit Isaac Walker, einem der moderaten Kandidaten für den Ratsposten, sollte im 14. Stock eines Hochhauses am Rande der Stadt stattfinden.

Walker war Ende dreißig, intelligent, modern und offen. Europa hatte ihn schon öfters getroffen und wenn er ehrlich war, konnte er ihn nicht leiden, weil er ihm zu glatt war. Ein paar Ecken, ein paar Kanten… So was war Europa wichtig. Walker hingegen hatte teure Privatschulen besucht, die jede Unebenheit seiner Persönlichkeit abgeschliffen hatten. Sein ganzes Leben hatte der Vorbereitung auf diesen Job gedient. Sein Großvater war ebenfalls Ratsherr gewesen, auch wenn die Amtszeit nur sehr kurz gewesen war, da der gute alte Walker gesundheitliche Probleme und eine Schwäche für teuren Whiskey gehabt hatte.

Walker war der Favorit des Rates – wenn auch nicht Europas persönlicher Favorit. Aber von den zwei moderaten Kandidaten, die sich zur Wahl stellten, galt er als aussichtreicher und das war es, worum es ging: Den Einfluss der Solisten möglichst gering zu halten.

Der Wagen fuhr die Zufahrt zur Tiefgarage des Hochhauses hinab. Geschickt steuerte der Fahrer den Wagen durch die enge Zufahrt, die von einem massiven Tor gesichert wurde, das wie von Zauberhand hochglitt, sobald der Wagen sich näherte.

***

Isaac Walker war nervös. Er saß in einem mittelgroßen Konferenzraum, den man ihnen für dieses Treffen zur Verfügung gestellt hatte. Er sah sich missmutig um: Die Einrichtung war nicht billig, aber er war Besseres gewohnt. Tatsächlich hielt er das Treffen für überflüssig und eher kontraproduktiv: Seine solistische Konkurrentin, Ava Lloyd, versuchte gegen ihn Stimmung zu machen, indem sie dauernd betonte, dass er ein Kandidat des Establishments sei, der politischen Elite. Natürlich hatte sie damit Recht. Isaac konnte es nicht abstreiten, deswegen versuchte er, diese Vorwürfe wegzulächeln und sich auf Inhalte zu konzentrieren.

Das Treffen hier aber war eine echte Gefahr! Natürlich sollte es geheim bleiben – deswegen waren sie ja in dieser… Absteige. Aber was war schon geheim? Wenn rauskam, dass er versuchte sich heimlich mit einem Ratsherrn zu treffen, würde Lloyd das gegen ihn verwenden: „Schaut ihn euch an: Europa kommt und trifft sich heimlich mit ihm? Was haben sie besprochen? Ich kann es euch sagen: Sie haben einen Deal gemacht! Europa ist die rechte Hand von Antarktika – und der will Präsident werden. Deswegen hilft er Walker, Ratsherr zu werden, damit der dann für ihn stimmt! Die wollen unter sich bleiben! Aber nicht mit mir! Wählt mich, und ich mache Schluss mit diesen Hinterzimmer-Deals!“

Die Leute würden es schlucken – und irgendwie stimmte es ja auch. Natürlich war er ein Mann des Rates, natürlich würde er für Antarktika stimmen. Was war falsch daran? Er bewunderte den Mann! Europa weniger, den hielt er für alt und verbraucht: Vielleicht kann ich ihn beerben. Wenn ich einmal im Rat bin, werde ich mich für den Präsidenten unentbehrlich machen. Isaacs Traum war es, selbst einmal Präsident zu werden. Aber dafür musste er erst mal Ratsherr werden.

Missmutig sah er auf seine Uhr: Wo bleibt der Alte?

***

Europa betrat den Konferenzraum, den man ihnen für dieses informelle Treffen zur Verfügung gestellt hatte, und fühlte sich von der unverhältnismäßig teuren Einrichtung abgestoßen. Seiner Meinung nach sollte man sich auf die Funktionalität konzentrieren, aber das sah man in vielen Ecken der Welt anders.

Walker wartete bereits auf ihn. Der junge Mann war aufgesprungen, sobald man Europa die Tür geöffnet hatte.

„Guten Tag“, sagte Walker und setzte ein freundliches Lächeln auf. Europa erkannte sofort, dass das Lächeln nicht ehrlich war. Walker gehörte zur politischen Klasse und er wusste, wie und wann man Lächeln musste, auch wenn ihm nicht danach war.

Die beiden Männer gaben sich die Hand, dann setzten sie sich einander gegenüber.

„Wie ist die Lage?“, kam Europa direkt zur Sache. Dieses Treffen war ein Pflichttermin. Die eigentlichen Informationen versprach er sich von anderen Treffen. Treffen mit Freunden, die noch Kontakt zu normalen Menschen hatten und nicht in ihrem goldenen Turm lebten. Leute, deren Karrieren nicht mit dem Durchtrennen der Nabelschnur begonnen hatten – und pränatal bis ins letzte Detail geplant worden waren.

„Soweit gut. Wir liegen vorne“, sagte Walker und klang zufrieden. „Ich denke, wir werden es schaffen. Aber wir müssen aufpassen. Ava Lloyd kommt bei den Leuten gut an. Sie ist jung, hübsch und intelligent. Eine seltene Mischung.“

Er grinste, ließ es aber, als er merkte, dass Europa diese Form des Witzes offensichtlich ablehnte. Er fuhr betont sachlich fort: „Sie verfügt über große Geldmittel.“

„Woher kommt das Geld?“

„Das wissen wir nicht“, gab Walker zu. „Unsere Leute versuchen noch, es herauszufinden, aber wer auch immer das Geld zur Verfügung stellt, gibt sich große Mühe, im Hintergrund zu bleiben.“

Europa spürte ein unangenehmes Ziehen in der Magengegend: Jemand, der im Hintergrund agiert? Das ist nie gut.

„Wie sehen Ihre nächsten Schritte aus?“, wollte Europa wissen. Während Walker sein vorbereitetes Statement abspulte, klinkte sich Europa aus. Seine Gedanken kreisten um jenen Mann, der im Hintergrund aktiv war. Der unerkannt bleiben wollte: Ist es paranoid, wenn ich denke, dass dieser Mann Vilgot ist?, fragte er sich, schüttelte aber unbewusst den Kopf.

„Was ist? Sind Sie nicht einverstanden?“, fragte Walker irritiert.

„Was?“ Europa sah den Mann verwirrt an. Dann wurde ihm klar, was Walker meinte, und schüttelte wieder den Kopf: „Nein, alles gut. Erzählen Sie bitte weiter. Wirklich, sehr interessant das alles.“

Walker fuhr fort, auch wenn er sich nicht mehr sicher war, ob er wirklich die volle Unterstützung des Rates genoss.

Armin

Armin saß müde am Küchentisch und blies über den Kaffeebecher, den er mit beiden Händen umklammert hielt.

Was für eine beschissene Nacht – und der Tag wird auch nicht besser.

Er nippte am Kaffee und sein Blick richtete sich auf seine innere Leinwand, wo sich die Ereignisse der vergangenen Nacht wie ein schlechter Film wiederholten. Leider ließ sich dieser Film nicht wie bei einem Streaming-Dienst so einfach unterbrechen.

Er hatte im Bett gelegen und wieder keinen Schlaf gefunden. Seine Gedanken fuhren Achterbahn: Was auch sonst?

In letzter Zeit konnte er nicht schlafen. Wenn er die Augen schloss, beschwor seine geschundene Seele Bilder herauf, die er nicht ertragen konnte.

Norik.

Marcus.

Vilgot.

Megan.

Tote Ratsherren.

Platzende Kehlen.

Der Graue Orden.

Und als emotionaler Soundtrack das Gefühl der absoluten Isolation.

Isolation.

Einsamkeit.

Hoffnungslosigkeit – der Dreiklang seines Lebens.

Er hatte den Sekundenzeiger seiner Armbanduhr beobachtet, wie er Stück für Stück seine Lebenszeit wegtickte. Schließlich war Armin aufgestanden – aber diesmal nicht, um sich ein Bier zu holen, sondern um sich im dunklen Wohnzimmer neben das Fenster zu stellen und auf die Straße zu starren.

Worauf er gewartet hatte?

Den Mann – was gleichbedeutend mit Keine Ahnung war.

Es hatte nicht geregnet. Einzelne Autos fuhren die Straße entlang, betrunkene Studenten sammelten wertvolle Erfahrungen, die ihnen später bei ihren Jobs als Manager, Lehrer oder Ärzte sicher weiterhelfen würden.

Armins Augen waren immer schwerer geworden, die kleinen visuellen Aussetzer häuften sich.

Dann war er da – plötzlich, ohne Vorwarnung. Armin hätte nicht sagen können, aus welcher Richtung der Kerl mit seinem breitkrempigen Hut gekommen war. Plötzlich hatte er unter der Laterne gestanden, den Mantelkragen hochgestellt, auch wenn es nicht regnete, und wieder hatte er sich grüßend an den Hut getippt und zu Armin raufgesehen.

Und wieder hatte Armin nichts vom Gesicht erkennen können.

Nachdem der erste Schock abgeebbt war, war Armin aus der Wohnung gestürmt, das Treppenhaus hinuntergerannt und auf die Straße gestolpert.

Aber natürlich war der Kerl schon weg gewesen.

Natürlich hatte Armin auf der Straße gestanden und verzweifelt in jede Richtung gespäht, ob er nicht irgendeinen Hinweis erhaschen konnte.

Ohne Erfolg – ob der Kerl selbst natürlich war? Armin kamen langsam Zweifel, nicht zuletzt an seinem eigenen Verstand.

Jetzt saß er am Küchentisch: Was würde er dafür geben, mit Yusuf sprechen zu können, mit ihm das alles durchzugehen?

Er hatte seine Nummer tatsächlich schon gewählt, dann aber den Anruf schnell wieder abgebrochen.

Yusuf war in Italien. Das hatte Armin durch Zufall erfahren, als er Yusuf versucht hatte, im Büro zu erreichen. Er selbst hatte es ihm nicht gesagt.

Armin war sich nicht sicher, was gerade mit ihrer Freundschaft geschah, aber er wurde das Gefühl nicht los, dass sie sich an einem Scheideweg befanden – und vielleicht hatten sie bereits einen Weg eingeschlagen, der sie weiter auseinanderführte, als er im Moment ahnte. Wenn dem so war, hätte Armin niemanden mehr.

Keine Familie.

Keinen Freund.

Trübsinnig nuckelte er an seiner Tasse und hoffte, dieser Tag würde schnell vorüber gehen.

Yusuf

Yusuf stand vor der Schleuse im Flughafen und starrte auf den Mann, der hinter der Sicherungsanlage stand und seinen Blick unbeeindruckt erwiderte.

Was für eine…, schoss es Yusuf durch den Kopf. Der Kerl…

Der Mann war massig, aber nicht aufgrund einer falsche Ernährungsweise oder Bewegungsmangel, sondern eines Faibles für Kraftsport. Er trug eine schwarze Wollmütze, was Yusuf vollkommen unsinnig erschien, denn kalt war es hier nun wirklich nicht. Was Yusuf allerdings schockiert hatte, war nicht das fehlende Modebewusstsein oder die Leidenschaft für Muskelaufbautraining, sondern vielmehr, dass der Mann keinen Mund hatte. Dort, wo normalerweise zwei Lippen aufeinander ruhten, war glatte, blanke Haut.

„Ich sehe, Sie haben meine Eigenheit bemerkt?“, hörte Yusuf eine ruhige, tiefe Stimme.

„Was…?“, rief Yusuf und wich zwei Schritte zurück, während er sich mit beiden Händen an den Kopf fasste. Riva stand neben ihm und wartete: Er hatte mit einer solchen Reaktion gerechnet und wusste, dass es den Wächtern wichtig war, die Reaktion eines Besuchers auf ihre Gestalt zu beobachten. Deswegen wäre es ein No-Go gewesen, Ates zu warnen.

„Sie sehen richtig: Ich habe keinen Mund.“

„Aber ich höre Sie!“

„Ja. Ich bin in Ihrem Kopf.“

Yusuf hielt weiterhin seinen Kopf zwischen den Händen, was sinnlos und lächerlich war, gleichzeitig aber zutiefst menschlich.

„Verzeihen Sie“, sagte die Stimme. „Nicht ich, sondern meine Stimme ist in Ihrem Kopf.“

Yusuf schluckte und nahm die Hände runter: Alles gut, das ist nur eine andere Form des Hörens, versuchte er sich selbst zu beruhigen.

Der Wächter verzog das Gesicht, was vielleicht ein Lächeln gewesen wäre, ohne Mund aber grotesk wirkte.

„Kommen Sie, bitte“, sagte er. Riva schob Yusuf sanft nach vorne und sie näherten sich der Schleuse.

Die erste Glastür glitt zur Seite und Yusuf trat zusammen mit Riva in den Spalt, der sich zwischen beiden Glastüren befand. Die Tür hinter ihnen schloss sich.

„Bleiben Sie ruhig“, flüsterte Riva. „Das ist alles normal.“

Yusuf wusste nicht, was er meinte, aber er hatte keine Zeit, weiter nachzufragen. Das Licht wurde plötzlich runtergedimmt. Der Gang lag in einem schummrigen Halbdunkel. Rotes Licht pulsierte zackig. Der Wächter stand noch immer auf der anderen Seite der Schleuse und starrte die beiden Besucher an.

Yusuf spürte, wie ihm warm wurde: Was ist das?, fragte er sich und versuchte, Rivas Rat zu beherzigen, was ihm mehr als schwerfiel.

Dann wurde es wieder hell, die zweite Tür glitt zur Seite. Riva und Yusuf verließen die Schleuse und Yusuf sah sich jetzt zum ersten Mal einem Wächter unmittelbar gegenüber.

Der Mann wirkte aus der Nähe noch massiger. Seine Haut hatte aus der Entfernung glatt gewirkt, tatsächlich aber war sie mit zahlreichen kleinen Löchern durchsetzt: Wie ein Lautsprecher oder ein Mikrofon, nur viel feiner, dachte Yusuf. Der Wächter zog eine Augenbraue hoch und Yusuf realisierte, dass er ihn ungeniert anstarrte.

„Sorry“, stammelte er. Der Wächter drehte ihnen den Rücken zu und stieg vor ihnen die Treppe hinunter.

„Die Anlage ist im Groben ein Nachbau des Castels. Es verbindet auf diese Weise Tradition, Funktionalität und Modernität in einer Form, die immer wieder beeindruckend ist“, erklärte Riva in normaler Lautstärke.

„Sollten wir nicht leiser sprechen?“, fragte Yusuf mit einem Blick auf den Rücken des Wächters. Er fand es unpassend, sich in dessen Anwesenheit wie ein Tourist durch die Anlage führen zu lassen.

„Ich kann alles hören, auch wenn Sie noch so leise flüstern“, ertönte die inzwischen bekannte Stimme in Yusufs Kopf. „Wenn Sie also sprechen wollen, müssen Sie nicht flüstern. Außer, Sie fühlen sich dabei besser. Praktisch betrachtet hat eine Variation der Lautstärke aber keinerlei Auswirkung.“

Yusuf schluckte.

Riva spürte, wie unangenehm die Situation für Ates war und schwieg.

Der Wächter führte sie durch ein verzweigtes Tunnelsystem, sodass Yusuf schon bald jeden Versuch aufgab, nachzuvollziehen, in welche Richtung sie gingen. Er starrte abwechselnd auf den breiten Rücken des Wächters und seine eigenen Füße.

Die Anlage wirkte wie eine Mischung aus Bunker und Verließ – mal hatte man Beton, mal massive, unbehauene Steine zu ihrer Errichtung verwendet. Schmuck oder Verzierungen gab es nicht.

Schließlich blieb der Wächter vor einer großen, schweren Holztür stehen und klopfte mit seiner großen Pranke dagegen. Er senkte den Kopf, so, als würde er lauschen. Dann öffnete er die Tür und gab so den Blick auf einen Raum frei, den Yusuf hier unten in dieser Form nicht erwartet hätte.

Der Raum war groß, an seinen Wänden befanden sich zahlreiche Regale, in denen ledergebundene Bücher standen. Das Zentrum des Raumes dominierte ein großer Schreibtisch, der wie die Tür aus massivem Holz gearbeitet war.

Was aber wirklich erstaunlich war, war das Licht: Als er sich umsah, konnte Yusuf keine Lampen oder etwas Ähnliches erkennen. Der Raum war trotzdem taghell und das Licht so warm und natürlich, als würde man am Strand unter freiem Himmel stehen – und alle Sorgen vergessen, die auf der restlichen Welt vielleicht existierten.

„Guten Tag“, dröhnte eine tiefe Stimme in Yusufs Kopf und riss ihn aus seinem Erstaunen. Ein Mann, der ebenso breit war wie derjenige, der sie hierhergeführt hatte, hatte sich hinter dem Schreibtisch erhoben und sah sie nun an. Auch er hatte keinen Mund und trug eine Wollmütze, aber Yusuf spürte, dass das der Anführer war. Er sah zwar exakt wie der Kerl von der Schleuse aus, aber Yusuf spürte die Autorität, die diesen Mann umgab.

„Guten Tag“, sagte Riva, ging zu dem Mann und sie schüttelten einander die Hände.

„Guten Tag“, sagte nun auch Yusuf, trat auf den Hünen zu und streckte ebenfalls die Hand aus. Sein Gegenüber zögerte und einen unangenehmen Augenblick dachte Yusuf, er würde die ausgestreckte Hand ignorieren. Dann aber ergriff er sie und Yusuf erhielt eine kleine Kostprobe davon, wie viel Kraft in diesem Wesen schlummerte.

„Sie sind der Abgesandte des Rates?“, wollte der Mann wissen.

Yusuf nickte.

„Ich bin Kommandant Silent, ich befehlige das Castel.“

Yusuf fragte sich, ob der Hüne schon mal etwas vom Konzept der sprechenden Namen gehört hatte und ob das sein echter Name oder nur ein Titel war. Allerdings stellten alle diese Fragen keinen guten Einstieg in ein schwierige Gespräch dar und Yusuf versuchte sich stattdessen an die Worte zu erinnern, die er sich gestern Abend zurechtgelegt hatte.

„Mein Name ist Yusuf Ates. Ich bin hier, um mir den… um mir die Örtlichkeiten mal anzusehen. Ich kenne sie ja nur aus den Akten und ich bin nicht so der Freund von blanker Theorie.“ Das war gelogen: Yusuf liebte Theorien und er hasste alles, was mit Praxis und Fußarbeit zu tun hatte. Aber er ging davon aus, dass die Arbeit als Wächter etwas sehr praxislastiges war und deswegen würde er mit einem solchen Spruch bestimmt gut ankommen.

Silents Augen verengten sich: „Ohne eine gute Theorie funktioniert nichts in der Praxis. Ich dachte, unsere Universitäten würden den jungen Leuten etwas Sinnvolles beibringen.“

So viel zu diesem Thema.

Silent deutete auf zwei hölzerne Stühle, die vor seinem Schreibtisch standen, und seine Besucher nahmen wie er selbst auch Platz. Natürlich saß er in einem riesigen Schreibtischstuhl – als wäre er der Vorstandsvorsitzende einer weltumspannenden Firma.

„Also, Sie möchten sich einen Eindruck verschaffen“, nahm Silent den Gesprächsfaden wieder auf. „Was hoffen Sie denn genau, hier zu finden?“

Yusuf zuckte mit den Schultern: „Das weiß ich nicht.“

„Sie haben keine Hypothesen? Wenn Sie nicht wissen, wonach Sie suchen, wie wollen Sie es dann finden?“

Erneutes Schulterzucken: „Ehrlich gesagt tappen wir mit unseren Ermittlungen im Dunkeln. Wir haben keine Ahnung, was genau passiert ist und wie das Manifest abhandenkommen konnte.“ Dabei dachte er: Und ich hoffe, dass hier nicht jeder Philosophie studiert hat.

„Und deswegen suchen Sie hier?“

„Das Buch war mal hier. Ich denke, es ist sinnvoll, seine Spur zu verfolgen.“

Silent sah Yusuf an und schwieg.

Riva lächelte innerlich: Ates machte das gut. Er hatte seinen Rat beherzigt und mit offenen Karten gespielt. Silent konnte Ates nicht vorwerfen, er würde voreingenommen hier auftauchen und den arroganten Vertreter des Rates spielen – ganz im Gegenteil. Eher musste Ates aufpassen, dass er nicht zu weich rüberkam, aber da machte sich Riva keine Sorgen. Ates wusste, was er tat, auch wenn er sich selbst darüber noch nicht im Klaren war.

Yusuf hätte sich gefreut, von diesen Gedanken zu wissen, denn faktisch hatte er keine Ahnung, was jetzt kommen sollte. Er war ins kalte Wasser geworfen worden, als man ihn hierher geschickt hatte, und dann hatte man noch ein paar Eiswürfel zusätzlich ins Wasser geworfen, seit er diese Anlage betreten hatte: Wächter ohne Münder, philosophierende Kommandanten… Und immer dabei der psychologisierende Sozialarbeiter mit dem Autofaible.

„Was wäre Ihr erster Schritt?“, hörte Yusuf Silents Stimme.

„Ich würde gerne sehen, wo das Manifest aufbewahrt wurde.“

„Aha.“

„Natürlich würde ich auch gerne noch mehr über die Sicherungsvorkehrungen erfahren. Gibt es zum Beispiel eine Videoüberwachung?“ Natürlich wusste er alles, was in den Akten über die Sicherungsvorkehrungen der Anlage stand – also so gut wie nichts.

Silent lehnte sich zurück und schwieg erneut. Es dauerte einige Minuten, ehe er sagte: „Das hört sich so an, als würden Sie davon ausgehen, dass das Manifest möglicherweise bereits hier gestohlen wurde. Unter meiner Aufsicht.“

Yusuf spürte, wie ihm warm wurde: Bisher war er genau davon ausgegangen, aber je mehr er von dieser Anlage sah – und das war bisher ja nur ein minimaler Ausschnitt gewesen – desto abwegiger erschien ihm dieser Gedanke.

„Ich… Ich weiß nicht, wann das Buch abhandengekommen ist. Ich bin hier, um seine Spur zu verfolgen. Ohne jede Wertung oder Anklage.“

Silent schwieg und schien abzuwägen, ob er diesen Worten glauben konnte oder ob es einen Unterschied machte, wenn nicht.

„Es gibt Kameras“, sagte er schließlich.

„Darf ich die Aufnahmen sehen?“

„Das weiß ich noch nicht. Es ist heikel.“

Yusuf runzelte die Stirn, was Silent sofort auffiel, woraufhin Yusuf sich schnell bemühte, freundlich-neutral zu gucken.

„Ich kläre das. Ich würde vorschlagen, Sie schauen sich als Erstes den Aufbewahrungsort an.“

Europa

Europa war von seinen Auslandsreisen zurückgekehrt und auf direktem Weg in die Firma gefahren. Die Stadt lag noch im tiefen Schlummer.

Es war eine deprimierende Dienstreise gewesen: Nicht nur das Gespräch mit Walker, den er nun wirklich nicht leiden konnte, sondern auch die Treffen mit seinen übrigen Freunden. Sie alle hatten ihm bestätigt, was er aus zahlreichen Berichten bereits wusste: Die Lage war nicht nur ernst, sie war geradezu bedrohlich.

Ob Nordamerika oder Asien – in beiden Regionen sah es schlecht aus. In Asien war der einzige Lichtblick, dass die beiden moderaten Kandidaten mehr taugen würden als Walker, aber das war nicht schwer.

Europa starrte aus dem Fenster seines Büros: Er konnte verstehen, dass die Leute für die Idee der Solum-Bewegung empfänglich waren. Solisten boten ein überschaubares Weltbild. Übersichtlich war einfach. In einer Zeit, in der alles aus den Fugen geriet, wo alte Geister auferstanden, Freunde starben und die etablierten Politiker machtlos erschienen, brauchten die Leute Halt. Und den boten diese Kandidatinnen. Angenommen, sie würden gewählt werden – beide, nicht nur einer – war das OK. Dann war es der Wille der Leute und Europa schätzte das Gut der Demokratie viel zu hoch, als dass er den Volkswillen ignorieren oder herabwürdigen würde. Aber trotzdem stimmte er inhaltlich nicht mit den Solisten überein.

Es klopfte.

„Ja?“, fragte Europa, während er sich von seinen Gedanken losriss und zur Tür umwandte. Huker trat ein und schloss die Tür hinter sich.

„Ich hoffe, du hattest eine gute Reise“, sagte Huker und die beiden Männer umarmten sich kurz. Diese Form der Vertrautheit war neu – aber in solchen Zeiten rückten alle näher zusammen.

„Gut? Kann ich nicht behaupten“, seufzte Europa und setzte Huker ins Bild.

„Dann könnten die Wahlen also ungünstig verlaufen? Beide?“

„Könnte passieren.“

„Mhmmm.“

Europa sah Huker an, dass der alte Haudegen sich seinen Teil dachte und schmunzelte.

„Wie ist die Lage hier?“, fragte er.

„Na ja“, sagte Huker und Europa wusste augenblicklich, dass der Bericht seine Laune nicht heben würde.

„Ates ist in Italien und untersucht den Tatort. Ich habe noch keinen Bericht, aber Riva hat durchgegeben, dass er seine Sache bisher ordentlich macht.“

„Davon bin ich ausgegangen.“ Europa wusste, dass es bestimmt nicht Ates war, der Huker Sorgen machte. „Was ist mit Kern?“

Hukers Miene verdüsterte sich: „Es geht ihm nicht gut. Gestresst, dünnhäutig, unausgeglichen. Zumindest nach dem, was meine Leute sagen.“

„Das war allerdings zu erwarten, meinst du nicht auch?“

„Doch“, stimmte Huker zu. „Aber das ist irgendwie anders. Es ist… Keine Ahnung. Es geht über das erwartbare Maß hinaus. Ich bin mir nicht sicher, ob er der Aufgabe gewachsen ist.“

Europas Blick wanderte wieder zum Fenster: „Ja“, sagte er langsam. „Allerdings liegt es nicht in unserer Hand, ihn dieser Aufgabe zu entheben.“

„Wir könnten ihn auf was anderes ansetzen“, schlug Huker vor.

„Nein“, wiegelte Europa entschieden ab. „Bei Ates würde das gehen. Aber nicht bei Kern... Nein, ich denke, seine Aufgabe ist sein Schicksal.“

Hukers Blick sprach Bände. Europa musste lachen: „Jetzt guck nicht so… verstimmt.“

„Wenn du sagst, seine Aufgabe wäre sein Schicksal, bedeutet das, dass es sein Schicksal ist zu bestimmen, ob unsere Gemeinschaft fortbesteht oder zusammenbricht.“

„Ja, so könnte man es ausdrücken.“

„Wenn sich der Kerl, der für unsere Sache die alleinige Verantwortung trägt, als labiler Versager herausstellt, ist das alles andere als… hoffnungsvoll.“

„Hoffnungsvoll? Was anderes fällt dir dazu nicht ein?“

„Mir fällt eine Menge dazu ein, aber dann würde ich in sprachliche Regionen abdriften, die du nicht tolerieren würdest. Und meine Mutter auch nicht.“

Europa lachte und Huker fiel gegen seinen Willen in das Lachen mit ein, dessen Triebfedern nicht Fröhlichkeit, sondern Zweckoptimismus und ein Spritzer Verzweiflung waren.

„Ich denke, wir sollten Kern mit dem Spezialisten bekannt machen, über den wir gesprochen haben, in Ordnung?“, schlug Europa schließlich vor.

Huker nickte: „Ich werde alles arrangieren.“

Armin

Als Armin aufwachte, rollte er sich auf den Rücken und rieb sich die Augen.

Endlich mal gut geschlafen, dachte er, stand auf und schlurfte ins Badezimmer, wo er seine Blase entleerte.

Anschließend ging er in die Küche, kochte Kaffee und setzte sich mit diesem aufs Sofa, wo er sein Handy einschaltete.

Seit er wusste, dass Handys auf Magie basierten, schaltete er sein eigenes nachts immer aus.

Nachdem es betriebsbereit war, meldete es sich umgehend.

Mehrfach.

Das Teil hörte gar nicht mehr auf zu brummen.

„Was ist denn los?“, fragte Armin und sah auf das Display: Einunddreißig Anrufe in Abwesenheit, ebenso viele Nachrichten auf der Sprachbox.

Alle von Huker.

„Oh nein“, flüsterte Armin und begann, die Nachrichten abzuhören. Schon bei der ersten war er vom Sofa aufgesprungen.

Bei der zweiten war er im Schlafzimmer, bei der dritten streifte er eine Jeans über.

„Scheiße!“, brüllte er und feuerte das Handy aufs Bett. Dann sah er auf die Uhr: Scheiße!

***

Armin war in seinen Wagen gesprungen und so schnell wie möglich zum Aachener Weiher gefahren. Huker hatte gesagt, er solle auf jeden Fall pünktlich sein.

„Scheiße“, fluchte Armin vor sich hin. Seit Tagen konnte er nicht schlafen. An jedem anderen Tag wäre er wahrscheinlich eine Stunde zu früh bei einem spontanen Termin aufgetaucht, aber ausgerechnet heute, wo er mal hatte schlafen können, musste Huker auf die Idee kommen…

Was will der eigentlich von mir?

Am Telefon hatte er nur gesagt, er solle sich am Museum am Aachener einfinden. Jemand würde sich um zehn mit ihm treffen.

Das war es.

Die anderen Nachrichten waren Variationen der ersten gewesen, teils gepaart mit ein paar subtilen Drohungen, was passieren würde, wenn Armin nicht am Treffpunkt auftauchte. Vielleicht hatte sich auch die eine oder andere Beschimpfung auf Band verirrt.

Armin erreichte das Museum um 10:23 Uhr.

Und jetzt?, dachte er und sah sich um. Sollte er ins Museum gehen? Eigentlich hatte er keine Lust auf Kunst. Das war ihm zu hoch. Nicht nur jetzt, sondern auch ganz allgemein.

Er sah sich erneut um: Huker hat gesagt, ich solle vor dem Museum warten.

Also nicht reingehen.

Ein Mann näherte sich dem Museum. Er war breit, trug einen Stoppelhaarschnitt und eine alte Lederjacke. Armins Muskeln spannten sich unwillkürlich an, auch wenn er nicht wusste, warum.

Instinkt?

Der Mann kam direkt auf ihn zu, wich aber Armins Blick aus. Sein Gesichtsausdruck war neutral.

Das stinkt.

Armin konzentrierte sich.

Er fokussierte sich.

Blendete alles um sich herum aus, bis es nur noch den Mann und ihn gab.

Wenn er angriff, würde Armin sich wehren. Oder es zumindest versuchen.

Als der Mann nur noch fünf Meter entfernt war, sah er Armin in die Augen – und lächelte: „Herr Kern?“, fragte er mit starker osteuropäischer Sprachfärbung.

„Ja?“, fragte Armin vorsichtig.

„Mein Name ist Ivan Popov. Huker hat mich geschickt.“

Auch das überzeugte Armin noch nicht. Vielleicht hatte dieser Kerl die wirkliche Kontaktperson umgebracht. Immerhin war er fast eine halbe Stunde zu spät.

„Sie sind spät“, sagte Armin defensiv, aber nicht eingeschüchtert.

„Nein, eigentlich nicht“, stellte Popov klar. „Huker meinte, Sie wären nicht der Pünktlichste. Er meinte, er würde versuchen, Ihnen Beine zu machen, aber er hat sich bereits für Ihr Zuspätkommen entschuldigt.“ Er grinste: „Ich habe nicht viel Zeit, ich habe zahlreiche Klienten. Ich kann es mir nicht leisten, eine halbe Stunde hier rumzustehen, weil Sie nicht aus dem Bett kommen.“

„Na hören Sie mal! Ich habe heute Morgen erst von diesem Termin erfahren!“
„Das ist eigentlich nicht mein Problem, oder? Wenn ich pünktlich bin, Sie aber nicht, verschwenden Sie trotzdem meine Zeit. Die Gründe sind irrelevant.“

Armin konnte das verstehen – zumindest intellektuell. Auf zwischenmenschlicher Ebene fand er die Aussage allerdings eher…

„Also, wollen wir? Es ist nicht weit“, sagte Popov, drehte sich um und ging los. Armin stutzte eine Sekunde, dann beeilte er sich, zu Popov aufzuschließen.

Sie gingen zur Aachener Straße und bogen bald von dort ab. Popov legte ein strammes Tempo vor. Entweder, weil er immer so flott unterwegs war oder weil er keine Lust hatte, sich mit Armin zu unterhalten.

Wie auch immer: Sie schwiegen.

Sie erreichten ein Hotel, das auf der linken Straßenseite lag. Popov steuerte auf den Eingang zu.

„Was wollen wir im Hotel?“

„Arbeiten.“

Armin fragte sich kurz, was der gute Popov für einem Gewerbe nachging, wenn er im Hotel arbeitete und im Halbstundentakt abrechnete, beschloss aber, die Frage lieber nicht so zu stellen, da der Kerl zu viele Muskeln hatte.

„Und was?“, fragte er stattdessen unbeholfen.

Popov lächelte: „In dem Gebäude sind einzelne Abteilungen der Universität untergebracht“, sagte er, ohne sein Tempo zu verringern. „Sie wissen doch, dass Universitäten in unserem Geschäft eine besondere Bedeutung haben, oder? Das hat mit dem Hotel nichts zu tun. Wir nutzen nur den Eingang.“

Natürlich weiß ich das, verdammt…

Sie betraten die Eingangshalle und Popov steuerte auf einen der Aufzüge zu. Nachdem sie diesen betreten hatten – allein, ohne einen weiteren Fahrgast - zog Popov eine Plastikkarte durch ein Lesegerät und gab anschließend eine Zahlenfolge mithilfe der Etagennummern ein. Die Türen schlossen sich überraschend schnell und der Fahrstuhl rauschte nach unten.

Die Fahrt dauerte.

Sehr viel länger, als Armin gedacht hätte, aber er war fest entschlossen, sich seine Überraschung auf keinen Fall anmerken zu lassen.

Der Aufzug hielt. Die Türen glitten auseinander.

„Was…?“, fragte Armin, womit sein Vorhaben, cool zu bleiben, gescheitert war.

Vor ihm lag eine große Halle. Der Boden bestand vollständig aus gepflegtem Rasen, ein kleiner Bach floss quer durch den Raum. Irgendwoher kam leise Entspannungsmusik und ein leichter Geruch lag in der Luft, den Armin aber nicht zuordnen konnte.

„Kommen Sie“, sagte Popov und verließ den Aufzug. „Und Schuhe aus.“ Er selbst schlüpfte aus seinen schweren Kampfstiefeln und stellte sie vor dem Aufzug ab. Dann streifte er seine Lederjacke ab. Darunter trug er ein knallenges Muskelshirt. Seine Arme schienen ausschließlich aus Tätowierungen zu bestehen, viele schon alt und verblichen.

Armin trat seine Turnschuhe von den Füßen und zog ebenfalls seine Jacke aus.

„Die können Sie einfach auf den Boden legen“, sagte Popov und warf seine Jacke ins Gras. Armin tat es ihm gleich.

„Was… Was machen wir hier?“, wollte Armin wissen.

„Wir bestimmen ihr Krafttier“, sagte Popov und klopfte Armin aufmunternd auf den Rücken, wodurch dieser nach vorne stolperte. „Und noch ein paar andere Dinge.“

***

Als Armin das unerwartet vielfältig genutzte Gebäude wieder verließ, war es bereits später Nachmittag.

Was für ein Unsinn! Was für eine beschissene Zeitverschwendung!, dachte er und war fassungslos, dass er sich mit so was auseinandersetzen sollte.

Krafttiere! Ich glaube ja inzwischen an Magie, aber bestimmt nicht daran.

Er fuhr nach Hause, wo er den Briefkasten öffnete.

Ein einsamer Brief.

Er runzelte die Stirn – eigentlich bekam er nie Post, deswegen war ein Umschlag schon zu viel - und riss ihn noch im Treppenhaus auf: „Na Klasse“, brummte er kopfschüttelnd. „Das passt ja zum Rest des Tages.“

Er griff in die Hosentasche, um sein Handy rauszuholen. Während er die Treppen zur Wohnung hochstiefelte, versuchte er, Yusuf anzurufen, aber sein bester Freund – wenn er es denn noch war – ging nicht ran, sondern nur die freundliche Dame von der Sprachbox.

„Hi Yusuf, ich bin es, Armin“, sagte er und schloss die Wohnungstür auf. „Ich habe gerade Post bekommen. Durmus verklagt uns, ist das zu fassen? Er sagt, er hätte uns jahrelang gefördert und deswegen würde ihm jetzt irgendeine Entschädigung zustehen, weil wir ja so viel Geld verdienen würden. Na ja, ich denke, das ist alles Unsinn, aber echt ärgerlich.“ Er machte eine Pause: „Hör mal, melde dich doch mal, wenn du das hier abgehört hast, OK?“ Dann legte er auf.

Er betrachtete das Schreiben in seiner Hand und überlegte kurz. Dann rief er den einzigen Anwalt an, den er kannte.

Oder vielmehr: Die einzige Anwältin.

Yusuf

Yusuf stand in einem großen Saal mit acht Seitenwänden.

Sieben Ratsherren, ein Vorsitzender – acht Seiten.

Das Castel verfügte über acht Türme – wahrscheinlich war die Form des Raumes ein architektonisches Zitat, eine Hommage an die Vergangenheit.

In der Mitte des Saales erhob sich ein Podest, das ringsum von Stufen umgeben war, sodass man von jeder Seite hinaufschreiten konnte.

Acht Stufen.

Hohe Stufen.

Der Raum war gut ausgeleuchtet. Nirgends ein Schatten.

Wieder dieses natürliche Licht. Wie machen die das?

Silent stand neben Yusuf und musterte seinen Besucher aufmerksam. Er wollte nicht, dass jemand von außen hier herumschnüffelte, empfand aber trotzdem Stolz und Zufriedenheit, als er in das erstaunte Gesicht des jungen Mannes blickte.

Und Wut – darüber, dass das Manifest gestohlen worden war: Diese Trottel haben es sich abnehmen lassen und jetzt schicken sie einen Jungspund, damit der einen Weg findet, uns das unterzuschieben! Er würde auf keinen Fall zulassen, dass die Ehre seiner Einheit besudelt wurde. Er würde lieber sterben, als seinen Namen mit dieser Schande verknüpft zu sehen.

Yusuf schritt langsam in den Raum: Die Wände waren glatt und weiß. Keine Nischen, keine Gemälde, kein Schmuck.

Alles sehr schlicht.

Erhabenheit durch Schlichtheit – ein vergessenes Konzept.

„Wie ist dieser Raum gesichert?“, fragte er und blieb stehen.

„Sie meinen diesen Raum?“ Silents Stimme dröhnte in Yusufs Schädel, aber er gewöhnte sich langsam daran, vor allem jetzt, wo der Kommandant der Wächter hinter ihm stand.

„Wenn ich Ihnen erkläre, wie dieser Raum gesichert ist, wäre das ein Fehler.“
„Weil es geheim ist?“

„Das auch. Aber vielmehr, weil eine solche Betrachtung verkürzt wäre.“

Yusuf dachte darüber nach. Er verstand, worauf Silent hinauswollte, aber manchmal war es klüger, den anderen am Reden zu halten: „Wie meinen Sie das?“

„Ich meine“, sagte Silent und klang dabei selbstzufrieden, „dass man die Anlage insgesamt sehen muss. Reine Mathematik.“

„Mathematik? Ich dachte, diese Welt funktioniert hauptsächlich nach… historischen Kategorien.“

Silent lachte: „Man benötigt die historischen Kategorien, um erklären zu können, wie die Welt und die magische Gemeinschaft in ihrer jetzigen Form sich zu sich selbst entwickeln konnte. Aber man benötigt Mathematik, um seine Feinde zu bekämpfen.“

Yusuf seufzte und drehte sich zum Kommandanten um: „Können Sie mir das erklären?“

„Natürlich: Das Stichwort lautet Stochastik.“

„Wahrscheinlichkeitsrechnung?“

„Ja: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand diese geheime Anlage unter dem Flughafen findet?“
Yusuf dachte nach: „Nicht sehr hoch, aber auch nicht ausgeschlossen.“

„Korrekt. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand den Zugang findet?“

„Den Zugang? Das ist nur eine Tür im Flughafen.“

„Eine gesicherte Tür. Dahinter eine Schleuse. Zusätzlich gibt es mehrere magische Barrieren, die ausgelöst werden, wenn jemand oder etwas mit bestimmten Eigenschaften versucht, sie zu passieren.“

Yusuf fiel das rote Licht ein, das aufgeblitzt war, als er in der Schleuse gewesen war. Ein Schauer lief ihm über den Rücken: „Bestimmte Eigenschaften?“, fragte er.

„Sie kennen ja inzwischen den Grauen Orden, korrekt?“

Der Schauer wiederholte sich. Yusuf nickte.

„Das Gelände ist so gesichert, dass sobald ein Ordensmann es betritt, Großalarm ausgelöst wird. Von diesen Vorrichtungen haben wir hunderte in verschiedenen Variationen installiert.“ Er machte eine süffisante Pause: „Ich dachte, im Rahmen Ihrer Nachforschungen hätten Sie sich ein wenig informiert.“

Yusuf war zu beeindruckt, um auf die Stichelei einzugehen. Stattdessen kam ihm die nächste Frage in den Sinn: „Wie viele Wächter gibt es?“, fragte er. Bisher waren ihm nur sehr wenige Wächter begegnet. Um genau zu sein: Silent und der von der Schleuse.

„Neun.“

„Nicht acht?“ Yusuf lächelte, bemühte sich aber sofort wieder um einen ernsten Gesichtsausdruck, als er die unbestimmbaren Wogen von…Emotionen…über Silents Gesicht fluten sah.

„Nein, nicht acht.“

„Wieso nicht acht?“

„Der Rat besteht aus acht Mitgliedern. Sieben Regionen und ein Präsident. Auf jedes Mitglied kommt ein Wächter – weil wir aber losgelöst vom Rat agieren, als unabhängige Instanz, gibt es einen Wächter mehr als Ratsmitglieder.“

Hört sich sehr nach Schwanzvergleich an: Meiner ist länger… Wir sind einer mehr. „Die Zahl ist also rein symbolisch?“

„Symbolik ist wichtig. Ein einziges, leicht verständliches Symbol kann mehr Macht entfalten, als ein Buch mit tausend Seiten. Das Buch liest nämlich niemand, das Symbol kann man aber sofort verstehen, wenn es gut ist.“

Yusuf musste dieser Logik zustimmen: „Damit wären wir wieder bei Geschichte und der Kraft der Symbole im Mittelalter, richtig?“

„Ich sehe, Sie verstehen, was ich meine.“

Silent kam nicht umhin, den jungen Mann sympathisch zu finden: Er wirkte nicht arrogant, nicht aufgeblasen. Er tat auch nicht so, als würde er alles verstehen oder wissen, sondern fragte ganz offen.

Und die Fragen waren gut und er offensichtlich in der Lage, die Antworten zu begreifen. Auch wenn Silent das Handeln des Rates ebenso wenig mochte wie den letzten Präsidenten, musste er anerkennen, dass sie den Richtigen hierher geschickt hatten.

Aber ich werde mich nicht einwickeln lassen, ganz bestimmt nicht.

„Also“, sagte Yusuf und nahm damit seine ursprüngliche Frage wieder auf. „Wenn ich Sie richtig verstehe, meinen Sie, dass Sie so viele Sicherheitsmechanismen installiert haben, dass die Wahrscheinlichkeit, jemand könnte sie alle überwinden, verschwindend gering ist?“

„Exakt.“

Yusuf nickte und wandte sich wieder der Mitte des Raumes zu. Langsam ging er zum Podest und setzte einen Fuß auf die erste Stufe.

Er spürte ein leichtes Kribbeln.

Er stellte seinen zweiten Fuß auf die erste Stufe, dann geschah es: Von den weißen Wänden um ihn herum flossen von oben nach unten Bilder herab – Bilder der Antarktis. Gleichzeitig wurde es kalt und Yusuf musste die Augen zusammenkneifen, als ihm der Wind heftig ins Gesicht schlug – Wind mit Schnee vermischt. Unter den Füßen spürte Yusuf den Schnee knirschen und als er hinabsah, stand er auf einer Stufe aus Eis und Schnee.

„Was ist das?“, rief er und drehte sich zu Silent um.

„Acht Stufen, acht Ratsmitglieder. Sieben Regionen, die sie repräsentieren. Gehen Sie weiter.“

Yusuf erwiderte nichts, dafür war ihm zu kalt. Er stieg die nächste Stufe hinauf – und wieder geschah es: Neue Bilder flossen die Wände herab. Die Temperatur stieg sprunghaft an. Hatte er zuvor auf Eis und Schnee gestanden, war es nun plötzlich ausgedörrte Erde. In der Ferne sah er einen großen roten Berg: „Australien“, hauchte er und wusste, dass Silent hinter ihm nickte.

Er stieg die nächste Stufe hinauf: Asien.

Südamerika.

Nordamerika.

Afrika.

Europa.

Dann die letzte Stufe, gleichzeitig der Abschluss des Podestes.

Während Yusuf sie erklomm, fragte er sich, was nun kommen würde: Es gibt nur sieben Regionen.

Der Anblick war überragend. Die Wände bildeten eine einzige, riesige Leinwand, auf der jede Region in Echtzeit und lebendig pulsierte. Die Temperaturen, Gerüche und ausgelösten Gefühle vermischten sich und Yusuf erkannte, worum es bei dieser Stufe ging: „Gemeinschaft“, flüsterte er. „Die letzte Stufe symbolisiert die Gemeinschaft der Regionen. Die Gemeinschaft der magischen Welt.“

Silent war neben ihn getreten und nickte: „So ist es. Die Ratsherren treffen sich einmal im Jahr genau hier. Dabei tun sie stundenlang nichts anderes, als zwischen den Stufen hin und her zu wechseln, sich in die anderen Regionen einzufühlen, um dann schließlich alle gemeinsam hier zu verharren. An dem Ort, wo die magische Gemeinschaft tatsächlich zusammenkommt. Oder vielmehr: Die gesamte Welt.“

Yusuf schloss die Augen und ließ diese einmalige Atmosphäre auf sich wirken. Er war überwältigt, nach ein paar Minuten meldete sich aber wieder der rational denkende Mann in ihm, der mahnte: Du hast eine Aufgabe. Lass dich von diesem romantischen Theater nicht einlullen.

Er schlug die Augen auf und versuchte unter Aufbietung sämtlicher Kräfte, die Bilder um sich zu ignorieren: „Und hier oben ist dann das Manifest?“, fragte er und seine Stimme bebte vor Anstrengung. „Also die Truhe, in der es aufbewahrt wurde?“

Silent nickte und war erneut beeindruckt: Er hatte Ratsherren erlebt, die bei ihrem ersten Besuch auf die Knie gesunken waren und sich stundenlang nicht hatten erheben können. Aber dieser junge Mann behielt seine Mission, seine Aufgabe im Auge.

„Ja, dort drüben“, sagte er und deutete auf einen schlichten Tisch aus massivem Holz.

„Einfach so?“, fragte Yusuf überrascht.

„Ja.“

„Sonst nichts? Keine letzten Sicherheitsmaßnahmen?“

„Nein: Wenn jemand alle Sicherheitsvorkehrungen überwunden hat und es bis hierher geschafft hat – was sollte ihn dann noch davon abhalten, sich zu nehmen, was er will?“

Yusuf war schockiert von dieser klaren, aber zugegebenermaßen logischen Analyse. Diese Wächter wussten, was sie konnten – und wo ihre Grenzen lagen.

Er ging zu dem Tisch und strich mit der Hand darüber. Das Holz war glatt, weich und warm.

„Gibt es eine besondere Geschichte zu diesem Tisch?“, wollte er wissen.

„Wieso sollte es die geben?“

„Auf diesem Tisch ruht das Manifest, die Sammlung der Dokumente, auf denen die Weltordnung der magischen Gemeinschaft basiert. Alles ist durchzogen von Symbolen – da liegt die Frage nahe, oder?“

Wieder eine gute Frage, dachte Silent und sagte: „Der Tisch wurde vom ersten Wächter persönlich angefertigt.“
Yusuf sah ihn an: „Das besondere an dem Tisch ist, dass ein Wächter ihn hergestellt hat?“

„Ja.“

Yusuf musste kurz darüber nachdenken, dann dachte er: Ja, sie wissen genau, wo ihre Grenzen sind – und was sie können. Gesundes Selbstbewusstsein. Unwillkürlich lächelte er.

„Warum grinsen Sie?“, fragte Silent sofort scharf.

„Ich grinse nicht. Ich lächle.“

„Warum?“

„Wegen der Symbolik: Der Tisch, ein Produkt der Wächter, thront über den Stufen des Rates, also über den Regionen und dem Vorsitzenden – und gleichzeitig stützt der Tisch das Manifest. Ich finde, mit diesem Bild lässt sich das Selbstverständnis und die Rolle der Wächter leicht herleiten.“

Während Yusuf sprach, merkte er, dass man diese Worte falsch verstehen konnte – nämlich als Kritik. Dabei meinte er sie nicht so, sondern rein sachlich und er hoffte, Silent würde ihn nicht missverstehen.

„Sie haben Recht“, stimmte Silent zu und Yusuf atmete auf. „Exakt das waren die Beweggründe, wieso hier oben dieser Tisch steht.“
„Und das war für den Rat in Ordnung?“

Silent zuckte mit den Schultern: „Sie haben es selbst gesagt: Wir stehen über dem Rat. Und wenn ich über jemandem stehe, muss es mich nicht interessieren, ob etwas für ihn in Ordnung ist oder nicht.“

Nachdem sie die Stufen hinabgestiegen waren, wurde es wieder still im Raum. Yusuf sah sich um, aber nichts ließ mehr erahnen, was für eine mächtige Magie diesem Ort innewohnte. Er wandte sich wieder an Silent: „Darf ich jetzt die Videobänder sehen?“

„Nein. Morgen. Für heute reicht es.“

Armin

Armin wurde von einem edel gekleideten Kellner zum Tisch geführt. „Ihr Gast“, sagte er und warf Armin einen abschätzigen Blick zu. Er machte keinen Hehl daraus, dass er Armins Aufzug – Jeans, Hemd, Jackett – für absolut unangemessen hielt und tatsächlich hatte es einer längeren Diskussion bedurft, ehe er sich bereit erklärte, Armin zum Tisch zu führen oder vielmehr: Ihn durchzulassen.

„Danke“, sagte Nehir Ates und grinste breit. Armin setzte sich ihr gegenüber und war froh, als der Kellner endlich verschwunden war.

„Was für ein Arschloch“, flüsterte er, hielt sich aber sofort die Hand vor den Mund, da er das Gefühl hatte, trotzdem noch zu laut zu sprechen.

„Schon gut“, sagte Nehir und lehnte sich zurück, während sie genussvoll an ihrem Wein nippte.

Nachdem Armin den Brief von Durmus Anwalt erhalten hatte, hatte er Nehir angerufen, um „sich mal eine juristische Meinung anzuhören“. Zu seiner großen Überraschung hatte sie vorgeschlagen, sich zum Abendessen zu treffen und da Armin ohnehin nichts zu tun hatte, war er froh gewesen, diese Mahlzeit nicht alleine einnehmen zu müssen, auch wenn ihm Yusufs Schwester immer etwas Angst machte.

„Also“, sagte Nehir. „Ihr werdet verklagt?“

Armin nickte: „Ja, sieht so aus.“

„Hast du das Schreiben mit, von dem du gesprochen hast?“
Armin griff in seine Hosentasche und zog das zusammengefaltete, aber schon ziemlich mitgenommen aussehende Schriftstück hervor.

Nehir nahm es entgegen, legte es auf den Tisch und strich demonstrativ mit der Hand darüber, um es zu glätten. Dann begann sie zu lesen.

Die Pause, die dadurch entstand, nutzte Armin zum einem, um im Lokal tatsächlich anzukommen, zum anderen aber auch, um Nehir zu mustern: Yusufs Zwillingsschwester war – man konnte es nicht anders ausdrücken – eine absolut umwerfende Person: Schlanke Taille, feste Brüste, flacher Bauch… Er wusste, dass es oberflächlich war, Frauen so anzusehen, aber war das nicht reine Biologie? Und Frauen gingen ja auch nicht nur nach den inneren Werten!

Mehr als gucken hatte er sich natürlich nie getraut: Man fing nichts mit der Schwester seines besten Freundes an. Außerdem war ihm klar, dass er, selbst wenn er diese Regel hätte missachten wollen, Nehir niemals auf diese Weise nahe gekommen wäre. Sie spielte in einer ganz anderen Liga, sowohl von der Optik, als auch vom Intellekt und ihrem Einkommen, womit ein gewisser Lebensstil einherging.

Außerdem liebte sie es, zu provozieren und anzuecken, und das war überhaupt nicht Armins Ding. Sie war immer die Freche der beiden Zwillinge gewesen und Armin hatte sich mehr als einmal verletzende Kommentare zu so ziemlich jedem Bereich seines Lebens anhören müssen, von dem Nehir wusste, beziehungsweise glaubte zu wissen. Meistens ging es dabei um Witze über mögliche Intimitäten zwischen Armin und Yusuf.

„Mhmmm“, machte sie jetzt und runzelte die Stirn.

„Was ist? Müssen wir uns Sorgen machen?“, fragte Armin und Besorgnis schwang in seiner Stimme mit, die sich noch steigerte, als Nehir nickte: „Oh ja, das solltet ihr.“

Armin schluckte trocken.

„Was möchte der Herr trinken?“, fragte der Kellner, der wie aus dem Nichts neben Armin aufgetaucht war, sodass dieser zusammenzuckte.

„Ich… Ein Kölsch.“

„Bier, natürlich“, brummte der Kellner und entfernte sich leicht kopfschüttelnd. Armin war allerdings zu gestresst von Nehirs Andeutungen, um auf diese offensichtliche Beleidigung einzugehen: „Was ist denn jetzt? Weswegen müssen wir uns Sorgen machen?“, drängte er.

Nehir gab ihm das Schreiben zurück: „Ihr müsst euch Sorgen machen – aber nicht wegen dieser Klage. Eher, weil ihr so furchtbare Nerds seid.“

„Also ist alles in Ordnung?“

„Natürlich: Ihr werdet verklagt.“

„Ja, genau das ist das Problem.“

„Nein, ist es nicht“, sagte Nehir entschieden.

„Ist es nicht?“

„Nein: Wer wird verklagt?“

Armin runzelte die Stirn: „Yusuf und ich.“

Nehir stöhnte auf: „Nein, das meine ich nicht. Im Allgemeinen: Wer wird verklagt?“

„Menschen, die was angestellt haben. Die schuldig sind. Verbrecher…“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739477015
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (November)
Schlagworte
Urban Köln Fantasy

Autor

  • Torben Stamm (Autor:in)

Torben Stamm schreibt in seiner Freizeit gerne Krimis, Thriller und Fantasy!
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Titel: Der Träger der Botschaft