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Tanz in der Zeit

von Torben Stamm (Autor:in)
249 Seiten
Reihe: Armin-Kern-Tetralogie, Band 3

Zusammenfassung

Der dritte Teil der erfolgreichen Urban Fantasy-Reihe aus Köln: Während sich Armin Kern auf der Suche nach der Trägerin des Manifestes befindet, wird ein Mann erschlagen und sein Leichnam brutal verstümmelt. Europa ahnt, dass dieses Verbrechen nur einer verübt haben kann, denn er kennt die düsteren Legenden, die die Familie des Opfers umgeben…

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum

Copyright © by Torben Stamm

Im Sundern 47

48431 Rheine

torben.stamm@posteo.de

Covergestaltung: Tim Rybus

Alle Rechte vorbehalten.

Prolog

Ich weiß, was früher war.

Ich weiß es, weil ich dort war.

Ich weiß, was die Zukunft bringt.

Ich weiß es, weil ich dort war.

Und ich weiß, was ihr wollt.

Weil ich gestern sehen werde, was morgen kam.

Die Wahl

Europa setzte sich mit einem Seufzen auf einen Stuhl und schloss die Augen.

Eigentlich hätte er froh sein müssen.

Heute sollte der neue Vorsitzende gewählt werden, oder vielmehr: Heute sollte Antarktika endlich offiziell zum Vorsitzenden gewählt werden. Nachdem jede Region wieder durch einen Ratsherren repräsentiert wurde, fehlte nur noch ein kleiner Puzzlestein, um dieser Institution wieder zu alter Stärke zu verhelfen – und diese Stärke wurde dringend benötigt.

Walker hatte sich in Nordamerika durchgesetzt. Europa war zwar nicht das, was man einen Fan nennen konnte, war aber trotzdem erleichtert gewesen, als er von dem Ergebnis erfuhr.

Anders als in Asien. Hier hatte die solistische Kandidatin gewonnen. Somit würden zwar heute sieben Ratsherren zusammenkommen, um einen Vorsitzenden zu wählen, ob sie aber an einem Strang zogen, bezweifelte Europa.

Das Perfide war, dass er genau wusste, worum er sich Sorgen machte. Er würde sich sogar zutrauen, die Uhrzeit mit einer Fehlertoleranz von fünf Minuten vorherzusagen, an der Antarktikas Bewerbung um das höchste Amt der Gemeinschaft in Gefahr war.

Obwohl das so nicht stimmt, gestand er sich ein. Er wird auf jeden Fall gewählt werden. Wie seine Amtszeit startet und auf welcher Vertrauensbasis, das wird die Frage sein.

Die Wahl fand in Çorum in der Türkei statt.

Die Stadt bildete den geographischen Mittelpunkt der Welt. Aus diesem Grund versammelten sich hier schon seit Jahrhunderten die Ratsherren, um ihr Oberhaupt zu wählen.

Europa öffnete die Augen und starrte auf eine grob gehauene Felswand: Er befand sich in einem kleinen, engen Raum, tief unter der Erde in einem verschachtelten Höhlensystem. Das unstete Licht von Fackeln tanzte an den Wänden und erzeugte eine Atmosphäre hektischer Nervosität – absolut passend und eher zu ruhig, um als Metapher für sein Inneres dienen zu können.

Das Zentrum der Tunnelanlage bildete ein runder Raum, in dem nachher die Wahl stattfinden würde. An diesen angeschlossen waren sieben kleine Zimmer, eines für jeden Ratsherren – und jetzt eine Ratsfrau, wenn man korrekt sein wollte. Die Zimmer wurden durch schwere Vorhängen vom Herzstück der Anlage abgetrennt.

Vor der Wahl zogen sich die Ratsherren in ihre kleinen Kammern zurück, um ihre Entscheidung zu überdenken und sich geistig auf das Zeremoniell vorzubereiten.

Europa warf einen Blick auf seine Uhr: Es war Zeit sich anzuziehen. Er stand auf und ging zu einer schmalen Pritsche, auf der ein weißes Gewand lag, einer Mönchskutte nicht unähnlich. Er entkleidete sich vollständig und legte die Kutte an.

Der Wahlgang war bis ins letzte Detail geplant und folgte einem Protokoll, das fast so alt war wie der Rat selbst. Es hatte ein oder zwei kleinere Modifikationen gegeben, aber im Grunde genommen war alles wie früher. Das Bewusstsein, dass vor ihm viele europäische Ratsherren genau das getan hatten, was er jetzt tat, beruhigte Europa und er konnte spüren, wie sich sein Puls stetig verlangsamte.

Dann dröhnte der Klang eines Gongs durch die Stille: Es ist soweit. Europa atmete tief ein und aus, öffnete den Vorhang und trat hinaus in das Zentrum der Anlage.

In der Mitte des runden Raumes brannte ein großes Feuer. Es war kein gewöhnliches Feuer, denn es erzeugte weder Hitze noch Qualm oder Rauch. Auch konnte man es nicht riechen und wenn jemand die Fackeln an den Wänden gelöscht hätte, wären Europa und seine Kollegen, die inzwischen ebenfalls ihre Nischen verlassen hatten, von schwärzester Dunkelheit umgeben gewesen, denn das Feuer leuchtete nicht.

Weder Wärme noch Licht waren der Sinn dieses Feuers.

Und das bereitete Europa Sorgen.

Die sieben Ratsherren bildeten einen weiten Kreis um das Feuer. Jeder trug eine weiße Kutte. Europa musterte schnell seine Amtskollegen: Auf den meisten Gesichtern stand Anspannung, auf denen der Neulinge zusätzlich die Furcht, etwas falsch zu machen. Nur ein Gesicht stach heraus: Asien wirkte abgeklärt und entspannt. Europa fühlte sich in seiner Sorge bestätigt, wusste aber, dass es nicht in seiner Macht stand, auf das Einfluss zu nehmen, was gleich geschehen würde.

Was geschehen musste.

Es gongte erneut.

Antarktika trat vor und sagte mit fester Stimme: „Ich möchte mich für das Amt des Vorsitzenden bewerben. Ich bitte den Rat, mich zu prüfen.“ Mit diesen Worten öffnete er seine Kutte und ließ sie zu Boden gleiten.

Antarktika stand nackt vor seinen Kollegen, um zu verdeutlichen, dass er nichts zu verbergen hatte. Europa fand diesen Aspekt der Zeremonie befremdlich, denn ihre wahren Geheimnisse trugen die Menschen in ihren Herzen und Seelen. Andererseits stammte das Ritual aus einer Zeit, in der Symbole einen anderen Stellenwert hatten, und Europa war klar, dass sich an diesem Ritus niemals etwas ändern würde.

Die Ratsherren umstanden schweigend das Feuer, bis nach genau zehn Minuten der Gong erneut erklang.

Jetzt ist es soweit, dachte Europa und spürte, wie sein Herz wieder schneller zu schlagen begann.

Die Prüfung, um die Antarktika gebeten hatte, sah vor, dass ihm jeder Ratsherr eine Frage stellte. Antarktika musste diese beantworten, ob er wollte oder nicht. Wenn er die Wahrheit sagte, würde die Flamme des Feuers grün aufleuchten, log er, würde sie erlöschen und damit wäre seine Kandidatur nicht zulässig. Die Feuerprobe war der Moment, an dem ein Ratsherr am verwundbarsten war, weil sie ihn zu ultimativer Offenheit zwang. Zu einer Offenheit wie noch nie zuvor in seinem Leben.

Bei einem Kandidaten war es Brauch, dass die Ratsherren der Reihe nach auf ihr Fragerecht verzichteten, weil sie kein Interesse daran haben konnten, den Kandidaten zu schwächen. Anders sah es aus, wenn es mehrere Bewerber gab. In einem solchen Fall hatten sich zu diesem Zeitpunkt schon sehr hässliche Szenen abgespielt: Momente von Bloßstellungen und Demütigungen, die weitere, teils blutige Konflikte nach sich zogen.

Wenn die Solisten Antarktika schaden wollen, müssen sie es jetzt tun. Eine bessere Gelegenheit werden sie so schnell nicht wiederbekommen.

Afrika trat vor: „Ich verzichte auf meine Fragerecht.“ Antarktika nickte und Afrika trat zurück in den Kreis seiner Kollegen.

Der Nächste, der es ihm gleichtat, war Nordamerika, dessen Stimme leicht bebte, während er sagte: „Ich verzichte auf mein Fragerecht.“

Es folgten Australien und Südamerika.

Dann trat Asien vor. Sie ließ eine Sekunde verstreichen, ehe sie fragte: „Sind Sie sicher, dass Sie die beste Wahl für dieses Amt sind?“

Europa schluckte: Eine heikle Frage! Wenn Antarktika sich nicht sicher war und es zugab, könnte das seinem Ansehen schaden. Wenn er sich andererseits für die beste Wahl hielt, würden die Solisten ihm das als Arroganz auslegen.

Antarktika ließ sich mit seiner Antwort Zeit. Er schloss und öffnete die Augen, blickte in die Flammen. Sein Brustkorb hob und senkte sich langsam.

Er war ruhig.

Er war nicht aufgeregt.

Er hatte mit dergleichen gerechnet – natürlich. Er war kein Idiot, kein Naivling. Natürlich nicht genau mit dieser Frage, aber damit, in eine schwierige Position gebracht zu werden.

„Nein“, sagte er mit fester Stimme. „Ich bin nicht der Meinung, dass ich die beste Wahl für dieses Amt bin.“

Die Flammen des Feuers wurden unruhig, begannen schneller zu flackern und höher zu schlagen. Dann verfärbten sie sich grün und Asien trat lächelnd wieder einen Schritt zurück.

Europa schluckte: Antarktika hatte ehrlich geantwortet – etwas anderes war ihm schlicht nicht übrig geblieben. Welchen Schaden die Solisten ihm dadurch zugefügt hatten, war noch nicht abzusehen.

Dann trat Europa vor. Er hatte ursprünglich vorgehabt, ebenfalls auf sein Fragerecht zu verzichten, aber spontan wich er von diesem Plan ab: „Ich möchte gerne eins wissen“, sagte er und sah Antarktika dabei in die Augen: „Können wir darauf zählen, dass Sie stets Ihr Bestes geben und keine eigenen Interessen verfolgen werden?“

Die Antwort erfolgte prompt: „Ja.“

Das Feuer verfärbte sich grün und Europa spürte, dass er das Richtige getan hatte.

Erneut erklang der Gong.

Jetzt fand die eigentliche Wahl statt: Zu diesem Zweck würde jeder Ratsherr in das Zimmer des Kandidaten gehen, dem er seine Stimme geben wollte. Man konnte sich natürlich auch enthalten. In diesem Fall setzte sich der betreffende Ratsherr vor das Feuer auf den Boden.

Da Antarktika der einzige Kandidat war, stellte sich einzig die Frage, wie viele Ratsherren ihn wählten. Dass das Ergebnis nicht einstimmig sein würde, war allen Beteiligten klar, denn Asien würde ihm ihre Stimme verweigern.

Als Europa zu Antarktikas Nische schritt, sah er aus den Augenwinkeln, wie Asien sich auf dem Boden niederließ.

Und sie war nicht allein.

Auch Südamerika hatte sich zu ihr auf den Boden gesetzt: Verdammt, dachte Europa und bemühte sich, sein Erstaunen zu kaschieren. Dann haben es die Solisten schon geschafft, Zweifel unter uns zu sähen? Und das, wo wir einander heute mehr brauchen als jemals zuvor?

Nachdem der letzte Ratsherr Antarktikas Nische betreten hatte, erklang der Gong dreimal und ein warmes, goldenes Licht breitete sich in dem engen Raum aus.

Die hier versammelten Ratsherren klatschten in die Hände und Europa spürte, wie die Anspannung von ihm abfiel: Wir haben einen neuen Vorsitzenden!

Endlich waren sie wieder handlungsfähig.

Zumindest vorläufig.

Yusuf

Yusuf verließ den Aufzug und ging langsam durch den Gang, der zu Hukers Büro führte.

Er war gestern aus Italien eingetroffen, wo er mit Silent die Sicherungsanlage überprüft und sich davon überzeugt hatte, dass das Manifest sicher angekommen war.

Oder vielmehr das, was vom Manifest noch übrig ist, dachte er bitter.

Seine Zusammenarbeit mit Silent und den Wächtern war professionell-distanziert gewesen, was bei ihrer Vorgeschichte nicht verwunderte: Yusuf hatte Silent verbal angegriffen und bedroht, Silent hatte sich damit revanchiert, dass er Yusuf kidnappte und dafür sorgte, dass er erblindete. Zum Glück hatten die Heiler Yusufs Sehkraft wiederherstellen können, aber trotzdem… In Yusufs Augen war der Kerl ein Psychopath, ein Verrückter. An dieser Meinung konnte auch der Umstand nichts ändern, dass Silent Yusuf und Armin aus Grams Gefangenschaft befreit hatte: Der ist einfach total krank.

Es hatte Yusufs gesamte Professionalität herausgefordert, Silent normal zu behandeln, auch wenn er anerkennen musste, dass der Hauptmann der Wächter sich für seine Verhältnisse bemüht hatte, freundlich zu sein.

Jetzt war Yusuf zurück in Köln und hier, um sich von Huker seine nächsten Instruktionen abzuholen: Was auch immer das sein wird.

Als er wenige Minuten später vor seinem Vorgesetzten saß, ahnte er, dass ihn die neuen Aufgaben nicht mit Freude erfüllen würden, denn Huker lächelte.

Zum einen war es für Huker nicht gerade typisch zu lächeln, zum anderen war es die Art und Weise, wie er es tat: Es war eines von der bemühten Sorte, das man sich krampfhaft abringt, bevor man jemandem die schlechte Botschaft überbringt.

„Herr Ates, schön, dass Sie wieder da sind“, begrüßte Huker Yusuf. Er hatte (inzwischen) für den jungen Mann etwas übrig, denn der erledigte seine Arbeit zuverlässig und gut. Ärgerlicherweise missachtete er oft offizielle Befehle, aber daran war nicht Ates, sondern Kern schuld, der den Jungen runterzog.

Von Kern hatte Huker eine deutlich geringere Meinung und die Freiheiten, die man ihm eingeräumt hatte, schmeckten ihm gar nicht. Allerdings entzog sich das seinem Einfluss und Huker hatte schon lange aufgehört, sich über Dinge zu ärgern, die er nicht ändern konnte. Das war nur ungesund und unbefriedigend.

„Wie war es in Italien?“, fragte er und hoffte, sein Ton würde locker klingen.

„Heiß“, antwortete Yusuf und ergänzte schnell: „Aber mit Silent hat alles soweit gut geklappt. Also wie zu erwarten.“

„Es war etwas zäh?“

Yusuf nickte: „Ja… Aber jetzt bin ich wieder hier und würde mich gerne nützlich machen.“

„Sie waren auch in Italien nützlich.“

Oh Mist, ein Kompliment, dachte Yusuf. So schlimm?

„Aber Sie haben natürlich Recht“, fuhr Huker fort, „Wir können uns Müßiggang und Zeitverschwendung nicht leisten.“

Ein Satz, der von meinem Vater hätte stammen können.

„Wie Sie sich denken können“, kam Huker langsam zur Sache, „haben die letzten Entwicklungen einige Probleme nach sich gezogen, die man vielleicht auf den ersten Blick so nicht erahnen konnte.“

Letzte Entwicklungen – eine milde Umschreibung für Mord, Täuschung und Verrat.

„Das kann ich mir vorstellen“, stimmte Yusuf zu und es gelang ihm kaum, sein Misstrauen zu verbergen.

„Die Menschheit hat sich nach den Ereignissen mit dem Orden bedeckt gehalten, was nicht anders zu erwarten war. Es war ein Konflikt innerhalb der magischen Gemeinschaft und sie hatten keinen Grund, sich einzumischen. Nachdem Gram und Vilgot zuletzt aber versucht haben, mehrere ihrer führenden Politiker zu ermorden, hat sich das leider geändert.“

„Es gibt Ärger mit den Menschen?“ Yusuf wunderte sich, wie leicht ihm diese Worte über die Lippen kamen. Immerhin hatte er sich selbst vor ein paar Monaten noch zu den Menschen gezählt. Erst seit Kurzem wusste er um die Existenz von Magie und, dass er zumindest rudimentär magisch begabt war. Alle konzentrierten sich auf Armin, dessen Kräfte riesig waren und Yusuf manchmal Angst machten…

„Ja, die Menschen machen sich Sorgen, dass wir die Situation nicht ganz im Griff haben“, gab Huker zerknirscht zu. „Ich meine, wir haben das Manuskript wieder, zumindest das Buch, und das braucht Vilgot, wenn er was erreichen will…“

„Allerdings war die Sache wirklich knapp und wir haben ziemlich lange gebraucht, um zu verstehen, was genau passiert ist.“

„Das stimmt.“ Huker nickte langsam: „Da haben Sie Recht.“ Wieder ließ er eine Pause entstehen, kniff die Augen kurz zusammen und sagte dann: „Ich glaube, Sie sind der richtige Mann für die Sache.“

„Welche Sache?“

„Die Menschen haben darum gebeten, einen Gesandten schicken zu dürfen, der sich in den Prozess einbringt. Er wird natürlich nur bedingt etwas beitragen können – er ist ein Mensch und hat keine Ahnung, was wir tun. Aber der Vorsitzende hält es für eine gute Idee. Ich glaube, er hat es Europa gegenüber als vertrauensstiftende Maßnahme bezeichnet.“

Yusuf starrte seinen Vorgesetzten an, schwieg aber.

„Wir möchten, dass Sie sich um den Mann kümmern, ihn unter Ihre Fittiche nehmen.“ Wieder dieses Lächeln. Yusufs Verstand decodierte derweil die versteckte Bedeutung des Auftrags: „Sie wollen, dass ich den Babysitter für einen Menschen spiele?“

„Das ist etwas drastisch formuliert, finden Sie nicht?“, tadelte Huker, aber ohne jede Schärfe. Immerhin hatte Ates Recht und er selbst würde sich an seiner Stelle ebenfalls beschweren und dabei deutlichere Formulierungen wählen.

„Ich kann Ihren Unmut verstehen“, lenkte Huker daher ein, „aber Sie sind für diesen Auftrag bestens geeignet. Sie waren bis vor Kurzem noch Teil der menschlichen Welt, Sie wissen also im Detail, wie die ticken und was sie brauchen, damit sie wieder ruhiger schlafen können.“

„Aber…“

„Nein, kein Aber!“ Jetzt legte Huker doch etwas Schärfe in seine Worte: „Wie gesagt, ich kann Ihren Unmut verstehen – aber er ist irrelevant. Für persönliche Gefühle und Befindlichkeiten haben wir nicht die Zeit. Sie sind der Beste für den Job – also machen Sie ihn! Machen Sie ihn gut, erledigen Sie ihn schnell und dann können wir uns wieder um die wirklich wichtigen Dinge kümmern.“

Yusuf nickte.

„Außerdem wird die Sache ja nicht Ihre ganze Zeit in Anspruch nehmen“, erklärte Huker weiter. „Sie treffen sich ab und zu, tauschen Nummern aus und wenn er irgendwas hat, kann er Sie anrufen. Und Sie erzählen ihm im Gegenzug, wie gut wir mit der Arbeit vorankommen.“

Ich soll lügen?

Huker wartete einen Augenblick, ehe er fortfuhr: „Außerdem möchten wir, dass Sie mit Ihrer Ausbildung beginnen, oder vielmehr, sie fortsetzen.“

Yusuf spürte, wie sich sein Puls beschleunigte.

„Sie werden sich morgen um acht Uhr bei Blance in der Bibliothek melden. Er wird Sie und Ihre Schwester ausbilden und ich erwarte, dass Sie dieser Aufgabe mit der gewohnten Akribie und dem gewohnten Engagement nachkommen.“

Endlich, dachte Yusuf zufrieden, als er das Büro wieder verließ. Das sind doch mal gute Neuigkeiten.

Armin

Armin hasste den Unterricht. Er saß seinem Lehrer gegenüber, einem tätowierten, gefährlich wirkenden Kerl, dessen Züge so entspannt waren, als wäre er tot.

Armin hätte gar nicht wissen dürfen, wie Popov gerade aussah, denn seine Augen sollten geschlossen sein. Aber Armin konnte sich auf diesen ganzen Quatsch mit Atmen und innerer Welt und so nicht einlassen: Ich habe echte Probleme und es wäre schön, wenn mir jemand helfen würde, die zu lösen, anstatt meine Zeit zu verschwenden.

Natürlich wusste Popov, dass Kern den Unterricht nicht ernst nahm, beziehungsweise für Zeitverschwendung hielt. Das taten alle am Anfang, auch wenn Kern sich besonders hartnäckig verweigerte.

„Sie sind nicht bei der Sache“, sagte er daher und schlug die Augen auf, woraufhin Armin seine Augen schnell schloss, nur um sie sofort wieder überrascht zu öffnen.

„Lassen Sie den Quatsch. Ich weiß, dass Sie geguckt haben.“

„Dann haben Sie auch geguckt.“

„Nein.“

„Und woher wollen Sie dann wissen, dass ich geguckt habe?“

„Ich weiß es. Ich spüre so was.“

Aha. „Und wie?“ Das wäre eine Lektion, die ich gerne lernen würde.

„Das kann ich Ihnen erst beibringen, wenn Sie sich auf den Unterricht einlassen.“

Dann werde ich es wohl nie lernen. „Ich lasse mich doch darauf ein, aber…“
„Aber?“
Armin seufzte: „Ich habe echt viel zu tun und komme mit meiner Arbeit kaum weiter. Ich muss mich um 2000 Dinge kümmern…“

„Das hört sich nach Selbstmitleid an!“

„Hey!“, rief Armin empört. „Ich habe wirklich viel zu tun!“

„Was sind das denn für Dinge? Nennen Sie mir fünf.“

Armin verzog verärgert das Gesicht: „Das… Ich soll…“ Ihm wurde bewusst, dass er keine fünf Dinge benennen konnte, denn die schlichte Wahrheit war, dass er bei seinen Ermittlungen in eine Sackgasse geraten war. Anfangs war es ihm einfach erschienen, die Frau von dem Gemälde zu finden – sie hatten ein Bild, was sollte da schon schwierig sein? In der Praxis hatte sich schnell gezeigt, dass das Bild nichts nützte. Er hatte sich mit der magischen Abteilung der Polizei in Verbindung gesetzt, aber die hatten in ihrem Datenbestand keine Person, die eine Ähnlichkeit mit der Frau aufwies.

Jetzt würde er sich an die Menschen wenden müssen und ihm war nicht wohl bei dem Gedanken daran. Warum er Vorbehalte hatte, entzog sich seiner Kenntnisse.

Bis vor Kurzem dachte ich doch, ich wäre selbst ein Mensch. Wieso kommt es mir dann komisch vor, mit den Menschen Kontakt aufzunehmen? Es ist ja nicht so, als würde ich nur noch mit Magiern verkehren oder so!

„Sie haben also keine fünf Dinge, die Sie erledigen müssen. Vielmehr ist es vielleicht der Mangel an Vorhaben, der dazu führt, dass Ihr Verstand unruhig ist und Sie sich nicht auf das konzentrieren können, was gerade wirklich wichtig ist: Ihre Ausbildung.“

„Wenn Sie mich ausbilden wollen, zeigen Sie mir, wie ich kämpfen kann.“

„Das kommt später.“

„Und was ist, wenn Vilgot vor mir steht?“ Armin spürte, wie er zunehmend wütender wurde. „Er hasst meine Familie – vielleicht sogar zurecht. Was ist, wenn er den letzten Kern auch noch umbringen will? Dann muss ich mich doch wehren können! Dann kann ich ja schlecht die Augen zumachen und anfangen, bewusst zu atmen! Vilgot ist doch keine Wehe oder so!“

Popov verzog das Gesicht: „Ich habe niemals gesagt, ein Kampf gegen Vilgot wäre eine Entbindung.“

„Nein, das meine ich doch gar nicht!“
Popov seufzte: „Herr Kern: Sie sind wütend. Sie sind wütend, weil Sie unzufrieden sind. Sie sind unzufrieden, weil Sie nicht weiterkommen, und ich denke, das trifft sowohl auf Ihre Ausbildung als auch auf Ihren Auftrag zu.“ Er hob die Hand, als Armin hochfahren wollte: „Ich bin noch nicht fertig: Ich möchte für heute Schluss machen, Ihnen aber eine Denkaufgabe mitgeben, eine Hausaufgabe, wenn Sie so wollen: Fragen Sie sich bitte, auf was Sie Einfluss haben. Ganz unmittelbar und ohne die Hilfe von anderen Leuten. Und darauf konzentrieren Sie dann Ihre Energie, denn alles andere ist Zeitverschwendung. Und Zeit haben wir einfach zu wenig – ob mit Vilgot oder ohne.“

Menschlicher Kontakt

Armin hasste Behörden und leider konnte an dieser Abneigung auch das Büro von Veronika Greinsweg im örtlichen Polizeipräsidium nichts ändern: Es war kaum größer als ein Schuhkarton und besaß ein sehr, sehr kleines Fenster. Auf dem Schreibtisch thronte (fast schon ironisch anmutend) ein Bildschirm von den Ausmaßen eines Wasserkastens.

Greinswegs Büro spiegelte ihren Rang wieder. Sie war so was wie die Schnittstelle zwischen der magischen Welt und der Polizei, sprich, wenn die magische Gemeinschaft in Köln Kontakt mit der Polizei aufnehmen wollte, war sie die richtige Ansprechpartnerin. Eigene Befugnisse hatte sie kaum, auch kein besonderes Ansehen. Vielmehr mieden die anderen Kollegen sie.

Es gab zwei Typen von Menschen, die für diesen Job in jeder größeren Stadt abgestellt wurden: Entweder waren sie besonders clever und neugierig oder so kleinkariert, dass sie kaum lebensfähig waren. Zu welchem Typus Greinsweg zählte, verdeutlichte neben ihrem peinlich akkuraten Kleidungsstil auch der ordentliche Schreibtisch, dessen einzige Abweichung von der Norm ein Foto von ihr mit einem Mann darstellte – wie auch immer sie den abbekommen hat!

„Herr Kern“, stellte sie fest, als Armin eintrat. Auch wenn sie in seinem Alter war, hatte ihre Stimme bereits die Färbung einer älteren Dame.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“

Armin schüttelte die ihm dargebotene Hand, nahm Platz und sagte: „Ich suche jemanden. Eine Frau.“

Greinsweg warf einen irritierten Blick auf das Foto mit ihrem Partner, dann auf Armin und dann wieder auf das Foto. Armin wurde rot: „Nein, nicht so eine Frau… Also nicht Sie…“

Greinsweg zog die Augenbrauen hoch.

„Also ich suche schon Sie, aber anders, als Sie vielleicht meinen.“

Greinsweg schwieg.

Sie wusste genau, dass Kern sie nicht anbaggern wollte. Sie war keine Idiotin, aber ehrlich gesagt machte es ihr Spaß, ihn etwas zu ärgern. Ihre Ein-Frau-Abteilung hatte nicht den besten Ruf, was nicht an ihrer Arbeit oder ihrer Persönlichkeit lag, sondern an der Materie, mit der sie sich beschäftigte: Magie. Das hatte zur Folge, dass Greinsweg oft alleine war. Kern kam ihr gerade Recht.

„Ich suche eine Frau im Zusammenhang mit einer Ermittlung, die ich leite.“

„Sie sind Polizist?“

„Analyst.“

Greinsweg nickte: „Und wie heißt die Frau?“

„Das wissen wir leider nicht.“

„Wo wohnt sie denn?“

„Das wissen wir auch nicht.“

Wird immer interessanter, dachte Greinsweg: „Was wissen Sie denn?“

Armin nahm einen Umschlag aus seiner Umhängetasche und reichte ihn Greinsweg über den Tisch hinweg. Sie öffnete ihn, entnahm ihm einen Bogen Papier und verzog erstaunt das Gesicht.

„Das ist ein Foto der Zielperson“, erklärte Armin.

„Das ist keine Fotografie“, verbesserte Greinsweg. „Das ist der Ausschnitt eines Gemäldes.“

„Ja, stimmt.“

Greinsweg legte das Bild beiseite und überprüfte den Umschlag.

„Sonst haben wir leider nichts“, sagte Armin und er spürte, wie ihm eine gewisse Röte ins Gesicht schoss.

„Sie haben nur diesen Bildausschnitt?“, vergewisserte sich Greinsweg.

„Ja, leider. Aber kann man da nicht was machen? Mit Gesichtserkennung oder so?“

„Es ist ein Gemälde, kein biometrisches Foto.“

Armin hatte geahnt, dass dieser Besuch schwierig werden würde. Deswegen hatte er ihn ja immer rausgeschoben. Es war nicht angenehm, einer anderen Stelle eingestehen zu müssen, dass man absolut gar keine Ahnung hatte. Die Tatsache, dass es sich hierbei um normale Menschen handelte, machte die Sache nicht besser.

„Können Sie da nichts machen?“, fragte er und hoffte, nicht zu verzweifelt zu klingen.

„Ich kann es versuchen. Aber ich kann nicht zaubern.“ Dabei grinste sie: „Das ist ja wohl eher Ihr Metier, oder?“

Mutterinstinkt

Nehir saß über ein dickes Buch gebeugt, als ihr Telefon klingelte. Ein Blick auf das Display veranlasste ihre Augen, sich alternativ auszurichten, sprich: Sie verdrehte die Augen.

„Ja? Was ist denn? Ich habe echt viel zu tun.“

„Ist das alles, was ich zur Begrüßung zu hören bekomme? Dass ich störe?“

Nehir lächelte: „Nein, aber so ist es eben.“ Sie seufzte: „Was ist denn?“

„Nichts ist! Braucht eine Mutter einen Grund, ihre Tochter anzurufen?“

„Wenn die Tochter ziemlich beschäftigt ist und wenig Zeit hat, wäre das sehr rücksichtsvoll.“

Hacer Ates lachte: „Du klingst wie dein Vater.“

Nehir verdrehte erneut die Augen: Sie mochte ihren Vater. Sie mochte ihn wirklich. Aber sie konnte es überhaupt nicht leiden, dass alle Welt dauernd behauptete, sie würde ihm ähneln. Natürlich wollte sie auch nicht wie ihre Mutter sein. Sie wollte niemandem ähneln. Sie wollte ein eigenständiger Mensch sein, eine unabhängige Frau.

„Also: Mir geht es gut. Ich habe sehr viel zu tun. Und bei euch?“

„Alles wunderbar. Dein Vater ist die ganze Zeit unterwegs und arbeitet und ich muss mir von meiner Tochter anhören, dass ich störe.“

„Du störst nicht“, sagte Nehir betont freundlich. „Pass auf: Lass uns doch auf einen Kaffee treffen. Vielleicht morgen Mittag? Dann lege ich meine Pause so, OK?“

„Das hört sich super an! Ich freue mich!“

Als Hacer Ates den Telefonhörer auf die Station stellte, zeichneten sich tiefe Sorgenfalten auf ihrer Stirn ab: Nehir hatte sich verändert und sie wusste nicht, ob ihr diese Veränderungen gefielen. Ihre Tochter hatte schon immer hart gearbeitet und sie hatten schon hunderte Male solche Telefonate geführt. Hacer machte sich zwar Sorgen, diese wären aber noch größer, wenn Nehir sich ohne Widerspruch mit ihr treffen würde.

Sie setzte sich auf einen Küchenstuhl, schlug die Beine übereinander und sah auf den Fußboden: Ich weiß nicht, was es ist. Etwas ist anders. Sie ist anders.

Hacer hatte über Yusuf versucht, mehr rauszukriegen, aber der war in den letzten Monaten auch nicht er selbst.

Dienstreisen nach Italien! Alles total geheim! Was ist das für eine Firma, die ihre Mitarbeiter zwingt, Geheimnisse vor ihren Familien zu haben? Und vor ihren Müttern?

Ihr Mann teilte ihre Sorgen nicht und war der Meinung, sie würde zu sehr klammern.

Männer! Was wissen die schon von Gefühlen! Oder dem sechsten Sinn einer Mutter?

Vorsitz

Der neue Vorsitzende, der bis vor Kurzem den Titel Antarktika getragen hatte, hatte seit seiner Wahl Nord- und Südamerika besucht. Jetzt saß er seinem Vertrauten Europa auf der Dachterrasse des Hauptsitzes in Köln gegenüber und war froh, endlich wieder in Gesellschaft eines Mannes zu sein, den er aus vollem Herzen schätzte.

„Wie waren die Besuche in Amerika?“, erkundigte sich Europa. Er hatte nicht vergessen, dass Südamerika sich bei der Wahl enthalten hatte und es deswegen begrüßt, dass der Vorsitzende seine erste Reise genau dorthin unternommen hatte.

„Sie meinen Südamerika, nehme ich an?“ Der Vorsitzende lächelte: „Ich denke, ich konnte die Unsicherheiten, die durch Asiens Frage entstanden sind, beseitigen.“

„Das hat sie clever gemacht. Ich denke, es wird nicht die letzte Attacke der Solisten gewesen sein.“ Nach der Wahl hatte Europa lange über die Frage Asiens nachgedacht und sich dabei immer mehr geärgert. Warum sorgte sie dafür, dass die Gemeinschaft destabilisiert wurde? Sie spielte Vilgot und Dahl damit in die Karten! Selbst jetzt, trotz der verstrichenen Zeit, spürte Europa, wie der Zorn begann, in ihm hochzukochen, obwohl er wusste, dass Zorn kein guter Ratgeber war.

Im Gegenteil.

Zorn war gefährlich und der Treibstoff für Dummheiten und Katastrophen.

„Die Frage war legitim“, unterbrach der Vorsitzende Europa in seinen Gedanken. „Es ging um das höchste Amt, das unsere Gemeinschaft kennt.“

„Aber…“

„Kein aber! Die Frage war legitim und ich habe sie wahrheitsgemäß beantwortet. Ich bin nicht so töricht zu glauben, dass es auf der ganzen weiten Welt niemanden gibt, der diesen Job besser machen könnte als ich! Das ist rein mathematisch bereits so gut wie ausgeschlossen! Deswegen musste ich nein sagen – Ihre Frage hat das dann ja auch wieder ins rechte Licht gerückt.“ Er lächelte und fuhr fort: „Allerdings muss ich gar nicht so weit gucken, wenn ich nach jemanden Ausschau halten möchte, den ich für geeigneter halte – nämlich Sie, Europa.“

Europa zuckte bei diesen Worten zusammen: „Was?“, stieß er atemlos hervor. „Nein, das…“

„Doch, und darüber werden wir jetzt auch nicht diskutieren. Das ist meine Meinung, Sie können ja eine andere haben! Sei es drum! Ich bin heute nicht nur hier, um meinen offiziellen Antrittsbesuch zu absolvieren oder einen guten Freund zu treffen! Nein, ich möchte Sie auch darum bitten, mein Stellvertreter zu werden.“

Europa stockte zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten der Atem: „Sie möchten, dass ich Ihr Stellvertreter werde?“

Der Vorsitzende lächelte: „Jetzt tun Sie bitte nicht so überrascht. Haben Sie sich das nicht denken können? Wenn nicht, sind Sie vielleicht doch nicht so intelligent, wie ich bisher geglaubt habe.“

Europa war klar gewesen, dass das Amt durchaus für ihn in Betracht kommen könnte. Allerdings hatte er sich mit diesem Gedanken schlicht nicht auseinandergesetzt. Dafür gab es zu viel zu tun, tobte der Kampf gegen Vilgot an zu vielen Fronten – oder droht vielmehr, an zu vielen Fronten gleichzeitig wieder auszubrechen.

„Der stellvertretende Vorsitz ist eine sehr wichtige Position“, erklärte der Vorsitzende. „Er ist der engste Vertraute des Vorsitzenden – ich denke doch, wir haben die letzten Monate bewiesen, dass wir sehr gut zusammenarbeiten können.“

Europa nickte.

Der Vorsitzende fuhr fort: „Der letzte Präsident hat diese Position vor allem als eine Bedrohung seines eigenen Ansehens interpretiert. Deswegen hat er mich zu seinem Stellvertreter gemacht: Weil er sich sicher sein konnte, dass ich ihm nicht die Show stehle. In Entscheidungsprozesse hat er mich nicht einbezogen.“ Bei diesen Worten schwang eine leichte Note von Verbitterung mit: „Hätte er mich in seine Pläne einbezogen, hätten wir eher von der Trägerin des Manifestes, dem Versteck des Buches und allem erfahren, was bisher geschehen ist.“ Er sah Europa fest in die Augen: „Ich möchte seine Fehler nicht wiederholen. Ich möchte, dass wir absolut offen zueinander sind, dass wir keine Geheimnisse voreinander haben.“

Europa nickte: „Das… Das hört sich gut an.“

„Gut.“ Der Vorsitzende stand auf und reichte Europa die Hand: „Der Rat wird in Italien zusammentreffen, sobald mein Nachfolger in der Region Antarktika gewählt wurde. Dann werde ich Sie offiziell in dieses Amt berufen.“

***

Als Europa später alleine in seinem Büro saß, rauchte sein Kopf.

Der neue Vorsitzende hatte seinen Worten sofort Taten folgen lassen, sprich: Noch mehr Worte. Stundenlang hatten sie über die aktuelle Situation diskutiert. Das war prinzipiell nichts Neues, das hatten sie schon oft getan. Diesmal hatte Europa aber eine andere Grundstimmung wahrgenommen, weniger Distanz zwischen den beiden Männern, die auf einer Dachterrasse saßen und frei über alles redeten: Europa hatte Antarktika seine Vorbehalte gegenüber Nordamerika gestanden, die dieser zur Kenntnis genommen hatte, auch wenn Europa sich sicher war, dass er sie in dieser Form nicht teilte. Einig waren sie sich allerdings in Bezug auf Asien gewesen und dass man die Aktivitäten der neuen Ratsherrin im Auge behalten müsse. Europa hatte versprochen, seinen Freund Jun Sun zu kontaktieren und zu bitten, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Die Überwachung eines Ratsherren war immer heikel, aber Europa war sich sicher, dass Jun damit wenig Probleme hatte – wahrscheinlich waren die entsprechenden Anweisungen schon erteilt worden, bevor Europa und der Vorsitzende darüber nachgedacht hatten.

Zwar hatten sie noch keine handfesten Pläne geschmiedet, trotzdem kam es Europa so vor, als könnte die Dynamik, die zwischen ihnen schon jetzt zu spüren war, etwas bewirken. Etwas, wodurch Vilgot oder Dahl oder wie dieser Parasit sich auch immer gerade schimpfte, endgültig besiegt werden könnte.

Mord

Als der Mann das Geräusch hinter sich hörte und sich umdrehte, war es zu spät. Er spürte, wie etwas in seinem Körper einschlug, aber sein Gehirn konnte diese Information nicht mehr entschlüsseln. Binnen eines Wimpernschlags war sämtliches Leben aus ihm gewichen und als er auf dem feuchten Boden der nächtlichen Heide zusammenbrach, hatte der Mörder schon begonnen, sein Werk zu beenden.

Ausbildung

Als Yusuf am nächsten Morgen im Keller der Universitätsbibliothek an eine ihm inzwischen vertraute Tür klopfte, war er deutlich nervöser als bei seinen anderen Besuchen. Das erste Mal würde es um seine magische Ausbildung gehen. Zwar war er wie Armin in die magische Welt eingeführt worden und er konnte sich noch gut daran erinnern, wie Sivertsen ihn damals zu Studienzwecken magisch vermöbelt hatte – aber Yusuf hatte immer das Gefühl gehabt, es ginge dabei nicht um ihn. Er war so etwas wie die emotionale Stütze für Armin, dessen Potential familienbedingt riesig war. Deswegen war Armin alleine zu Popov geschickt worden und man hatte die Dinge auf sich beruhen lassen – bis das Gemälde aufgetaucht war, das seinen Kopf gezeigt hatte. Seinen Kopf und den seiner…

„Herein“, rief eine fröhliche Stimme und Yusufs Laune trübte sich ein wenig: Die Stimme gehörte nicht Blance, den er sehr schätzte und der Yusuf ebenfalls eine gewisse Wertschätzung entgegenbrachte. Nein, es war die Stimme von Nehir, seiner Zwillingsschwester, der erfolgreichen Anwältin, die immer gerne provozierte.

Besonders ihren Bruder.

Ihren armen Bruder.

Sprich: Yusuf.

Und die von Silent ebenfalls entführt worden war. Zum Glück hatte der psychopathische Wächter bei ihr auf Foltermaßnahmen verzichtet. Trotzdem hatte Yusuf bisher ein dermaßen schlechtes Gewissen gehabt, dass er ihr nach Möglichkeit aus dem Weg gegangen war. Natürlich war ihm klar gewesen, dass er sie hier treffen würde, aber als er jetzt ihre Stimme hörte, empfand er mit einem Mal derart viele Gefühle, dass er einen Augenblick brauchte, ehe er in der Lage war, die Tür zu öffnen.

Leider gab Nehir ihm diese Zeit nicht. Als Yusuf noch auf die Tür starrte, wurde sie bereits aufgerissen und die raumfüllende Persönlichkeit seiner Schwester ergoss sich in den Flur: „Yusuf! Was stehst du hier rum? Bist doch sonst so ein Streber! Oder hast du Angst, weil Armin nicht dabei ist?“ Yusuf sah sie an und war irritiert. Nehir sprach wie Nehir, sie machte die gleiche Art von Witzen, wie sie es immer tat – aber es klang nicht echt, im Gegenteil. Es klang aufgesetzt, irgendwie bemüht. Er musterte sie, versuchte, in ihren Augen, in ihrer Miene etwas zu lesen. War da Traurigkeit? War da eine Art Trauma, das sie verbergen wollte?

Nehir riss die Augen auf und machte mit dem Kopf seltsame Bewegungen: „Yusuf?“, fragte sie und klang jetzt wie eine Schlangenbeschwörerin. „Bist du da drinnen? Offenbare dich uns!“

Blance kicherte amüsiert, Yusuf grunzte verärgert und schob sich an seiner Schwester vorbei in den Raum. Blance stand in dessen Mitte und lächelte belustigt: „Schön, dass Sie hier sind“, sagte er.

Nehir knallte die Tür zu und grinste, als Yusuf zusammenzuckte und sie böse ansah.

„Na, Brüderchen? Ist das nicht schön? Wie früher! Wieder zusammen in der Schule.“

Yusuf konnte nicht behaupten, dass er die gemeinsame Schulzeit genossen hatte. Vielmehr hatte er unter dem Temperament seiner Schwester gelitten, was zum Glück irgendwann selbst seine Lehrer erkannten und deswegen zu der Erkenntnis kamen, dass es nicht sinnvoll war, die beiden Zwillinge die gleiche Klasse besuchen zu lassen.

„Wir sind keine Kinder mehr“, stellte Yusuf fest.

„Und trotzdem haben Sie noch viel zu lernen – wie Ihre Schwester auch“, sagte Blance fröhlich. Er schien sich ehrlich zu freuen, zwei neue Schüler zu haben.

„Ich würde sagen, wir gehen in den kleinen Lesesaal“, schlug Blance vor. Nehir schnappte sich ihre Tasche und ging zur Tür.

„Weißt du denn, wo du hin musst?“, fragte Yusuf und freute sich schon auf die Reaktion seiner Schwester.

„Natürlich“, gab diese zurück. „Es ist der gleiche Raum, in dem ich gestern auch war. Und vorgestern.“ Sie sah ihren Bruder an und tippte sich nachdenklich an die Nasenspitze: „Ich glaube sogar, ich war die letzten zwei Wochen jeden Tag hier…“

Yusuf sah Blance fragend an. Der nickte: „Ja, Ihre Schwester hat mit dem Unterricht früher begonnen. Ich habe mit Huker darüber gesprochen und wir waren uns einig, dass wir sie beide nicht sofort gemeinsam unterrichten können – immerhin sind Sie zwar noch nicht lange Teil unserer Welt, aber deutlich länger als Ihre Schwester. Sie hatte also einiges nachzuholen.“ Sein Lächeln intensivierte sich: „Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob Sie die Extrastunden überhaupt gebraucht hätte. Sie ist eine durchaus talentierte und sehr fleißige Schülerin.“

Yusuf musste sich anstrengen, seine Gefühle zu verbergen: Es ist wie früher in der verdammten Schule.

***

Das Café befand sich in Lindenthal und wurde hauptsächlich von Studenten besucht, die mit ihrer unnötig abgewrackten Kleidung ein Statement setzen wollten.

Wofür oder wogegen auch immer. Wen interessiert das schon?

Nehir mochte das Café trotzdem und außerdem lag es in der Nähe der Bibliothek, war aber so weit entfernt, dass sie einen kleinen Spaziergang machen konnte, der ihr half, den Kopf freizukriegen. Der Unterricht war anstrengend, vor allem, weil sie gezwungen war, Dinge ernst zu nehmen, die ihr immer fremd gewesen waren: Magie und Fantasy – das ist doch eigentlich nur etwas für Leute, die echte Probleme mit ihrer Psyche haben. Die vor der Realität fliehen. Zu Beginn war es ihr schwer gefallen, laut über das Thema „Magie“ zu sprechen. Gerade in den ersten Tagen, in denen sie von Blance unterrichtet worden war. Dann, ohne jede Vorwarnung, hatte Blance sie unverwandt angesehen und „Stehen Sie bitte einmal auf“, gesagt.

Nehir hatte ihn verdutzt angestarrt, war aber seiner Aufforderung gefolgt.

„Und jetzt sagen Sie bitte laut und ohne zu lachen: Ich glaube daran, dass es Magie wirklich gibt!“

„Echt?“, hatte sie gefragt. „Ich soll…“

„Sagen Sie es einfach. Betrachten Sie es als prüfungsrelevante Aufgabe.“

„Es gibt eine Prüfung?“

„Wenn Sie noch mehr Fragen stellen auf jeden Fall.“

Nehir hatte ihr Gewicht auf das linke Bein verlagert und eine Position eingenommen, die selbstsicher wirken sollte: „Ich glaube daran, dass es Magie wirklich gibt.“

„Noch mal.“

„Ich glaube daran, dass es Magie wirklich gibt.“

„Noch mal.“
Nehir kam die gesamte Situation total lächerlich vor: Was soll das? Warum soll ich diesen Scheiß sagen und dabei auch noch stehen? Sie kam bis Ich glaube daran, dann musste sie ein Lachen unterdrücken.

„Durchgefallen“, hatte Blance trocken gesagt. „Setzen Sie sich.“
Nehir hatte schlagartig aufgehört zu lachen und sich hingesetzt.

Blance, der jetzt wusste, dass er ihre volle Aufmerksamkeit hatte, hatte sich einen Stuhl genommen und sich dicht neben sie gesetzt: „Passen Sie auf, Frau Ates“, hatte er mit ruhiger Stimme gesagt. „Ich glaube, Sie sind wirklich sehr begabt und ich freue mich, Sie unterrichten zu dürfen. Allerdings habe ich das Gefühl, dass Sie noch nicht bereit sind, tiefer in die Materie einzusteigen.“
„Warum? Ich mache doch alles, was ich soll! Ich verstehe das auch! Ist ja nicht so schwierig!“
„Darum geht es nicht.“ Blance hatte sie mit bedeutungsvollem Blick gemustert: „Sie sind eine intelligente Frau, die bisher in einer vollkommen menschlichen Welt aufgewachsen ist. Sie denken logisch, vernunftsgeleitet – und das ist vollkommen in Ordnung. Aber Sie kommen jetzt an den Punkt, dass Ihre traditionelle Vernunft – Ihre menschliche Vernunft – Grenzen hat und Sie diese Grenzen überschreiten müssen, um weiterzukommen.“

„Das mache ich doch!“
„Ja und nein: Ich spüre, dass Sie noch nicht wirklich an all das glauben. Sie wissen, dass es Magie gibt, weil sie Silent und die Wächter gesehen haben. Aber Sie glauben nicht, dass Sie auch magisch begabt sind. Solange Sie aber nicht an sich selbst und Ihre Begabung glauben, ist das alles für Sie nur ein lächerlicher Studiengang.“

Nehir schwieg: Sie hatte gewusst, dass er Recht hatte, auch wenn es ihr schwerfiel, das einzugestehen.

„Ich werde mit Huker sprechen“, war Blance fortgefahren.

„Nein!“ Nehir war lauter geworden, als sie beabsichtigt hatte. Ihre Stimme zitterte: „Bitte! Ich will an mir arbeiten. Ich möchte das alles ja glauben. Es ist nur so neu.“

„Ich weiß.“

„Wenn Sie mit Huker sprechen, schmeißt er mich raus!“ Sie zögerte und fuhr mit leiser Stimme fort: „Ich brauche das hier. Ich brauche es für mich, um alles, was geschehen ist, verarbeiten zu können.“

Blance hatte sie überrascht angesehen: „Sie rauswerfen? Reden Sie keinen Unsinn! Niemand will Sie rauswerfen! Auch nicht Huker, das würde ich überhaupt nicht zulassen! Nein, ich möchte, dass er Ihnen einen einfachen Zauber zeigt, den Sie wirken können. Damit Sie an sich glauben.“

„Warum machen Sie das nicht?“

Blance hatte gelacht: „Ich bin ein Mann der Bücher, Huker einer der Taten. Man sollte immer auf seinem Gebiet bleiben, dann läuft man nicht Gefahr, sich lächerlich zu machen. Oder andern Leuten Schaden zuzufügen.“

Und so hatte Nehir einen kleinen, simplen Zauber gelernt. Seitdem fiel es ihr leichter, sich ernsthaft auf Magie einzulassen. Sie hoffte nur, dass Yusuf ihr den Unterricht nicht kaputtmachen würde.

Heute hatte ihr schon gereicht.

Eigentlich hatte sie mit dem Gedanken gespielt, ihn mit zu diesem Treffen zu nehmen, quasi als neutralen Puffer. Aber mehr Yusuf würde sie heute nicht ertragen können!

„Na, was träumst du so?“, holte Hacer Ates ihre Tochter wieder in die Realität zurück. „Wie heißt er denn?“

Nehir schaute verwirrt auf: Ihre Mutter war dabei, ihre Jacke auszuziehen, wobei sie sich bemühte, ihre Tochter nicht aus den Augen zu lassen. Natürlich klappte das nicht: „Verdammt“, schimpfte sie und widmete sich verärgert ihrem Reißverschluss.

Nachdem sich Hacer sortiert und einen Cappuccino bestellt hatte, sah sie ihre Tochter erwartungsvoll an: „Also?“, fragte sie.

„Also was?“

„Du hast mir meine Frage nicht beantwortet.“

„Ich wusste nicht, dass du mir eine Frage gestellt hast.“

„Doch. Das weißt du. Aber du versuchst sie zu ignorieren.“

Nehir seufzte: „Tue ich das?“

„Ja – ich bin deine Mutter. Ich kenne dich.“

Nicht so gut, wie du meinst, dachte Nehir. Sonst wüsstest du, dass ich eine Hexe bin. Oder Magierin. Magierin hört sich definitiv besser an!

„Aber“, fuhr Hacer in ihrem Redefluss fort, „ich will es dir leicht machen: Wie heißt denn der Mann, von dem du geträumt hast?“

„Ich habe nicht geträumt.“

„Du hast aber so ausgesehen.“

„Wie?“
„Als würdest du von einem Mann träumen.“

Nehir seufzte: „Ich habe nicht von einem Mann geträumt. Ich bin nur etwas erschlagen von der Arbeit.“

„Mhmmm. Wovon genau?“
Nehir grinste: „Netter Versuch. Du weißt, dass ich da nicht drüber reden darf. Anwaltsgeheimnis, du erinnerst dich?“

Der Kellner kam und stellte eine Tasse vor Hacer ab: „Danke“, sagte diese und freute sich sichtlich über die üppige Milchschaumkrone. Sie nahm einen Löffel und begann, vorsichtig den Schaum zu löffeln. Nehir wusste, dass sie trotz der Ablenkung nicht vom Haken war.

Noch lange nicht.

„Wie ist denn dein neuer Job? Das wirst du mir doch sagen dürfen, oder?“, setzte ihre Mutter prompt das Verhör fort.
„Natürlich: Er ist super! Eine tolle Chance, mit interessanten Leuten zusammenarbeiten zu dürfen.“
Hacer hatte den Schaum vernichtet und rührte in ihrer Tasse: „Das ist eine sehr brave Antwort. Eine sehr diplomatische, mit der dein Vater sich bestimmt zufrieden geben würde.“ Sie sah sich theatralisch um: „Aber er ist nicht hier. Wenn du willst, mache ich auch mein Handy aus, damit uns niemand abhören kann. Aber bitte: Erzähl mir etwas mehr als jemandem, den du zufällig an der Bushaltestelle getroffen hast.“

„Ich rede nicht mit Menschen an der Bushaltestelle. Und ich fahre nicht Bus.“

Hacer sah ihre Tochter schweigend an – die stärkste Waffe in einem Gespräch. Nehir schaffte es keine 30 Sekunden, dann knickte sie ein: „Also gut“, sagte sie und senkte ihre Stimme: „Im Moment bin ich noch in der Einarbeitungsphase. Die Firma ist ziemlich kompliziert aufgebaut und ich muss mich in die komplexe, internationale Struktur einarbeiten.“
„Und Yusuf arbeitet auch da?“

„Genau.“

„Und was macht er den ganzen Tag? Er ist ja kein Anwalt, redet aber auch nicht darüber.“

Nehir erkannte, was los war: „Du musst dir keine Sorgen um uns machen“, sagte sie und griff nach Hacers Hand. „Es ist alles in Ordnung. Yusuf ist ein Idiot, aber keiner, der Dummheiten macht. Er benimmt sich nur dumm, weil er etwas blöd ist.“

„Rede nicht so über deinen Bruder, wenn ich dabei bin!“

„Ja… Wie du willst.“

„Aber ich weiß, was du sagen möchtest: Yusuf würde niemals etwas Kriminelles tun. Und du doch auch nicht, oder?“

„Nein!“, sagte Nehir mit Nachdruck. „Natürlich nicht. Wir haben einfach Glück, dass wir beide einen super interessanten Job gefunden haben. Leider müssen wir dafür in der gleichen Firma arbeiten, aber na ja… Man kann nicht alles haben. Und ehrlich gesagt haben Yusuf und ich auch nur wenig miteinander zu tun.“

Hacer war zwar nicht wirklich zufrieden, aber zumindest kurzfristig beruhigt. Daher ergänzte Nehir: „Und na ja… Ich habe außerdem wirklich jemanden kennengelernt.“

Hacer grinste: „Ja?“
„Ja. Einen ehemaligen Kollegen aus meiner alten Kanzlei. Er war schon lange scharf auf mich und…“

„Er fand dich schon lange attraktiv, meinst du?“

„Ja, sage ich doch! Auf jeden Fall treffen wir uns jetzt…“

Den Rest des Treffens verbrachten die beiden Frauen in harmonischer Plauderei und als Nehir zur Bibliothek zurückging, fühlte sie sich besser. Sie sollten so was öfters machen. Ihre Mutter hätte nichts dagegen und vielleicht halfen solche Gespräche, den Kontakt zur Normalität zu behalten: Außerdem ist es immer schön, wenn man merkt, dass man anderen Leuten wichtig ist! Oder zumindest nicht egal…

Huker

Huker drückte sich den Zeigefinger auf das rechte Ohr. Tiefe Furchen zeichneten sich auf seiner Stirn ab und ein dunkler Schleier legte sich auf seine Augen, während er dem Bericht lauschte. Er stützte den Kopf mit der linken Hand, fast, als wäre er plötzlich eine Last, die er nicht ohne Hilfe würde tragen können.

„OK“, sagte er. „Ich komme selbst raus. Sorgen Sie dafür, dass alles bleibt, wie es ist.“

Er nahm die Hand vom Ohr und lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück. Kurz dachte er nach, dann drückte er erneut einen Finger auf sein Ohr.

***

Der Tatort, an dem Huker rund eine halbe Stunde später zusammen mit Scarlett Taylor eintraf, befand sich in der Wahner Heide.

Sie stellten den Wagen auf einem der Parkplätze ab und machten sich zu Fuß auf den Weg zu dem Ort, der von zwei Magiern bewacht wurde – vor Menschen, Schaulustigen und allem, was es sonst noch gab.

Huker mochte Taylor und schätzte ihre analytischen Fähigkeiten. Außerdem hatte sie kein Problem damit zu schweigen, wenn es nichts zu sagen gab. Er hatte Europa deswegen darum gebeten, auf ihre Unterstützung zurückgreifen zu dürfen. Europa hatte sofort zugestimmt und sich ebenfalls besorgt wegen des Vorfalles geäußert, von dem er natürlich bereits wusste.

Der Tatort befand sich unter einem großen Baum, der inmitten von dichten, teils kniehohen Pflanzen wuchs, von denen einige lila waren.

Sieht schön hier aus, stellte Huker für sich fest. Allerdings… Dabei wanderte sein Blick über die Leiche des Mannes, oder vielmehr, die weltlichen Überreste des Magiers, der hier ermordet worden war.

Der Körper des Mannes war vollkommen zerfetzt worden. Huker konnte in der Masse weder Arme, Beine noch Hände ausmachen: Das sieht aus wie ein großer Haufen Pudding. Oder Hackfleisch… Trotzdem war die Identifikation des Leichnams einfach gewesen, denn freundlicherweise hatte der Mörder darauf verzichtet, den Kopf des Mannes ebenfalls zu entstellen, und ihn stattdessen sauber vom Rumpf getrennt und neben den Körperbrei gelegt. Die Augen starrten verdreht in die Natur, die angeschwollene Zunge hing aus dem Mund. Huker schluckte, auch wenn er in seinem Leben bereits Schlimmeres gesehen hatte.

Selbst wenn er schon viele Gegner hatte töten müssen – Huker war stolz darauf, nicht so abgestumpft zu sein, dass ihn der Anblick eines Toten komplett kalt ließ. Vielmehr ging er professionell damit um, ohne die Menschlichkeit zu verlieren, die auch ein Magier in sich trug – oder zumindest tragen sollte.

„Wie heißt der Mann?“, fragte Taylor. Huker hatte den Namen des Mannes bereits in seinem Büro erfahren und es war dieser Name gewesen, der ihn veranlasst hatte, selbst rauszufahren.

„Linhart Frigus.“

Taylors Blick löste sich vom Kopf des Mannes und heftete sich an Huker: „Frigus? Die Familie Frigus?“

Huker nickte.

Taylor zog erstaunt die Augenbrauen hoch, woraufhin Huker erneut zustimmend nickte: „Ganz genau. Das habe ich auch gedacht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das ein Zufall ist. Auch wenn ich mir die gesamte Fahrt über wirklich Mühe gegeben habe, genau das zu tun.“

Huker umkreiste den Leichnam mehrere Male, dann kniete er sich neben ihn: „Das ist eindeutig ein Mord infolge von magischer Einwirkung“, stellte er fest.

„Korrekt“, pflichtete Taylor ihm bei.

„Irgendwelche Ideen? Fällt Ihnen etwas auf?“

Taylor kniff die Augen zusammen, dann schüttelte sie den Kopf: „Außer, dass der Mörder sehr brutal vorgegangen ist, erst mal nichts. Das Interessante ist allerdings, dass er den Kopf ausgespart hat, das kommt mir nicht stimmig vor.“

„Warum?“
„Na ja“, erklärte Taylor. „Er hat den übrigen Körper zerfetzt – das würde den Gedanken nahe legen, dass der Täter sehr wütend war, vielleicht sogar rasend vor Zorn. Wenn jemand aber so wütend ist, dass er einen ganzen Körper zerstört, würde er doch nicht aufpassen, das Gesicht nicht zu verletzen.“ Sie kniete sich neben Huker, den Blick auf die Reste des Toten gerichtet: „Ich schätze, er hat den Kopf als Erstes abgetrennt und dann den übrigen Körper verstümmelt. Wenn dem aber so gewesen ist, muss er sehr geplant vorgegangen sein. Dann ist die Zerstörung des Körpers und der Verzicht auf Gewalt am Gesicht eine Botschaft.“

Huker unterdrückte ein Lächeln: Sehr gut. Das habe ich auch schon gedacht: „Weiter: Was könnte die Botschaft sein?“
„Er wollte, dass wir das Opfer schnell identifizieren. Er wollte, dass wir wissen, dass es sich um einen Spross der Familie Frigus handelt. Auf keinen Fall wollte er einen versteckten Mord begehen. Er wollte, dass das Opfer gefunden wird und dass wir wissen, wer es ist.“

„Und der Körper?“

„Keine Ahnung“, gab Taylor zu. „Am leichtesten wäre es, wenn er uns seine Brutalität beweisen wollte. Aber das erscheint mir zu einfach. Wenn es um die Familie Frigus geht, liegt der Gedanke nahe, dass Vilgot seine Finger im Spiel hat – und der hat es nicht nötig, uns zu beweisen, dass er brutal ist.“

Leider nicht.

Huker nickte, dann drückte er sich einen Finger aufs Ohr: „Europa? Wir sind jetzt vor Ort…“ Er gab dem Ratsherren einen kurzen Überblick und ihre erste Einschätzung durch. Anschließend hörte er Europa schweigend zu.

„Ja, das könnte eine gute Idee sein“, sagte Huker schließlich, wobei er Taylor einen kurzen Seitenblick zuwarf, den diese zwar bemerkte, aber nicht zuordnen konnte.

Huker nahm die Hand vom Ohr und musterte erneut die Leiche.

Taylor wartete.

„Europa möchte, dass wir einen weiteren Spezialisten hinzuziehen.“

„Wen?“

„Einen Mann, den er vor Kurzem kennengelernt hat und von dem er eine hohe Meinung hat.“ Er sah Taylor ernst an: „Er möchte, dass Sie und Koki Ito gemeinsam die Ermittlungen durchführen. Seien Sie dabei bitte möglichst diskret. Das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können, ist, dass die Leute die alten Geschichten wieder aufwärmen. Wir haben endlich wieder einen Vorsitzenden und bald auch einen neuen Ratsherren für Antarktika. Der Rat ist dann das erste Mal wieder seit Langem vollzählig – das sind gute Nachrichten, die auf keinen Fall durch so was“, er deutete mit einer Hand auf die Überreste von Frigus, „zerstört werden dürfen. Damit würde man das bisschen Hoffnung, das wir uns gerade erst erarbeitet haben, direkt wieder zerstören.“

Taylor nickte: „Natürlich, Sir“, sagte sie.

***

Nachdem Taylor mit Huker in die Firmenzentrale zurückgekehrt war, hatte sie umgehend ihre Sachen aus dem Büro geholt und das Gebäude wieder verlassen.

Nicht, um zu ermitteln.

Vielmehr, weil sie sich bewegen musste – weil sie wütend war.

Es gab nicht viele Menschen, die Scarlett Taylor wütend machen konnten. Im Grunde genommen gab es nur eine und diese hatte sie verletzt, ohne es so zu meinen und ohne, dass sie anders hätte handeln können.

Wir brauchen den Typen nicht! Ich brauche ihn nicht!, dachte sie und stampfte die Straße entlang.

Europa war ihr Mentor, die Lichtgestalt, an der sie sich orientierte. Er war der einzige Mensch, dessen Anerkennung und Lob ihr etwas bedeutete – und der sie verletzen konnte, wenn er ihr das Gefühl gab, nicht zu genügen.

Er ist Ratsherr, er muss so handeln, sagte sie sich immer wieder, aber es gelang ihr nicht, sich selbst zu überzeugen – und das war immer ein schlechtes Zeichen.

Und jetzt muss ich mit diesem Typen zusammenarbeiten! Ich will nicht mit ihm zusammenarbeiten! Sie wusste selbst, wie kindisch das war, konnte aber nicht aus ihrer Haut.

Sie zwang sich, die Lage objektiv zu beurteilen: Sie war emotional aufgewühlt, das ließ sich nicht schönreden. Sie war wütend und eifersüchtig.

Das musste sie akzeptieren.

Sie konnte die Zusammenarbeit nicht verweigern, das würde ihr persönlich schaden. Aber sie konnte dafür sorgen, dass klar war, wer der bessere Ermittler in dem Duo war!

Duo – nicht Team.

Sie würde mit Ito zusammenarbeiten, professionell und sachlich. Aber niemand konnte sie davon abhalten, ihre eigenen Ermittlungen anzustellen! Dann würde Europa beim nächsten Mal keine Notwendigkeit darin sehen, einen anderen Ermittler dazuzuholen.

Aus Asien!

Vertrauensbildende Maßnahmen

Der Vorsitzende der magischen Gemeinschaft saß in einem spartanisch eingerichteten Büro in New York und blickte auf die Straßenschluchten der Stadt hinab.

Straßenschluchten – ein interessantes Wort, dachte er. Er wusste nicht, wie er die Hochhäuser der Stadt fand. Er wusste auch nicht, ob das Wort Hochhaus nicht zu klein war für die Dimensionen, die sich hier vor ihm auftaten.

Es klopfte und er wandte sich zur Tür: „Herein!“, rief er mit fester, sachlicher Stimme, die weder unfreundlich, noch einladend war.

Eher geschäftsmäßig.

Nordamerika betrat den Raum. Der Vorsitzende erkannte sofort, dass der neue Ratsherr nervös war und er musste innerlich lächeln: Das macht dich wiederum sympathisch. Wohl doch nicht so abgezockt, wie Europa glaubt. Er teilte Europas Skepsis, wenn auch nicht im gleichen Maße. Nordamerika war Teil der Politikerklasse, die dafür sorgte, dass manche Menschen das Vertrauen in die Politik verloren hatten – Gerade jetzt! Europa wirkte bei seinen Darstellungen aber etwas zu verbissen und der Vorsitzende fragte sich, ob hinter der Abneigung mehr steckte, als Europa zugeben wollte.

„Guten Tag, Herr Vorsitzender“, sagte Nordamerika höflich und hielt den Kopf dabei ein klein wenig gesenkt, eine Geste, die Europa definitiv in seinen Ansichten bestärkt hätte.

„Ich freue mich wirklich, dass Sie sich Zeit für mich nehmen“, fuhr Nordamerika fort. „Ich denke, Sie haben sehr viel zu tun.“

„Natürlich habe ich Zeit für Sie – das ist Teil des Amtes, für das Sie und Ihre Kollegen mich gewählt haben.“ Der Vorsitzende lächelte und die Männer gaben sich die Hand. Dann nahmen sie in einer kleinen Sitzecke Platz, von der aus man die Straßen der Stadt teilweise überblicken konnte – wenn da nicht die sehr hohen Häuser gewesen wären.

„Soweit ich mich erinnern kann, wollten Sie mich sprechen, um die Ausrichtung Ihrer Politik zu erörtern?“, fragte der Vorsitzende und schlug die Beine übereinander.

„Ja, genau“, sagte Nordamerika und legte den Aktenkoffer, den er mitgebrachte hatte, auf seine Knie und nestelte an den Verschlüssen herum. „Ich habe da ein Dossier zusammengestellt, das wirklich interessant ist.“ Er rüttelte an dem widerspenstigen Verschluss und ihm wurde sichtlich wärmer. Er warf seinem Vorsitzenden einen unsicheren Blick zu: „Entschuldigung, ich habe es gleich.“

Der Vorsitzende schüttelte den Kopf: „Stellen Sie bitte den Koffer weg.“

„Bitte?“
„Stellen Sie den Koffer weg.“

„Aber da ist das Dossier drin, das ich Ihnen zeigen wollte.“ Er rüttelte erneut an dem Verschluss und wirkte dabei wie ein Schuljunge, der verzweifelt in seinem Rucksack nach einer wichtigen Hausaufgabe suchte.

„Stellen Sie den Koffer weg. Bitte!“

Zögerlich gehorchte Nordamerika und stellte den Koffer neben sich ab, wobei er ihn nur schweren Herzens aus den Augen ließ, um sich wieder seinem Vorsitzenden zuwenden zu können.

„Und jetzt lehnen Sie sich einmal zurück.“ Der Vorsitzende lächelte auffordernd: „Na los: Das hier ist zwar keine Suite, aber die Sessel sind wirklich sehr bequem.“

Nordamerika ließ sich in seinem Sessel zurücksinken.

„Und jetzt erzählen Sie mir bitte in Ihren Worten, was Sie mir zu sagen haben. Ich bin mir sicher, auf diese Weise kommen wir besser voran als mit Ihrem Dosier – das ich später gerne mitnehmen und zur Nachbereitung durcharbeiten werde.“

Nordamerika atmete tief durch, überlegte, wie er beginnen sollte. Schließlich sagte er: „Die Ratsherrenwahl liegt jetzt einige Wochen zurück.“

Der Vorsitzende nickte.

„Der Wahlkampf war sehr hart und schmutzig – auf beiden Seiten, wie ich zugeben muss. Wir haben zwar gewonnen, aber ich sehe trotzdem die Problematik, dass wir durch den Wahlkampf die Region gespalten haben.“

Nordamerika nickte wieder: Da hast du Recht. Im Wahlkampf sind Dinge gesagt worden, die zu Verbitterung und Wut geführt haben.

„Ich… Also wir, wir haben überlegt, wie man es schaffen könnte, dass die Leute wieder an einem Strang ziehen. Wie man die Gräben, die aufgerissen wurden, wieder schließen kann. Ich meine, die Zeiten sind hart und außergewöhnlich, da sollten wir uns nicht in internen Kämpfen verstricken.“

Sehe ich genauso: „Und was haben Sie geplant?“

***

Nachdem Nordamerika das Büro verlassen hatte, setzte sich der Vorsitzende wieder in den Sessel, in dem er zuvor den Ausführungen es jungen Mannes gelauscht hatte.

Das hat alles Hand und Fuß. Ein gut durchdachter Plan, dachte er und nahm sich vor, seine Einschätzung Europa bei ihrem nächsten Gespräch mitzuteilen. Vielleicht schätzte sein designierter Stellvertreter den jungen Mann falsch ein.

Der Vorsitzende schloss die Augen und richtete den Blick nach innen.

***

Als er die Augen wieder öffnete, stand er in einem Flur.

In seinem Flur.

Den Flur, den nur er betreten konnte, weil nur er von ihm wusste – weil er ihn erschaffen hatte. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, nicht mehr hierher zu kommen, und eine ganze Zeit hatte er sich an dieses Vorhaben halten können. Aber wie erklärt man einem unruhigen Geist, dass er nicht den Ort aufsuchen darf, an dem er Ruhe findet? Wie einer gequälten Seele, dass sie sich vom Trost fernhalten muss? Und wie einem einsamen Mann, dass er nicht den einzigen Ort aufsuchen darf, an dem er Nähe findet?

Er steuerte zielsicher auf jene Tür zu, die inzwischen den einzigen Grund darstellte, warum er hierher kam.

Er brauchte kein Zimmer, um zu grübeln.

Er brauchte etwas anderes.

Als er die Tür öffnete, stand sein Vater am Herd und kochte Wasser. Zwei Becher und Teebeutel lagen in Griffweite bereit.

„Schön, dich zu sehen“, sagte sein Vater und der Vorsitzende lächelte.

„Ebenfalls.“

Sein Vater hängte je einen Teebeutel in die Becher, holte das Wasser vom Herd und schüttete es in die Becher. Dann wartete er kurz und nahm die Beutel wieder heraus. Der Vorsitzende lächelte – er kannte niemanden, der den Tee derart kurz ziehen ließ wie sein Vater, aber er liebte den Geschmack, der dabei entstand: Dieser schwache Hauch von Aroma, den man leicht übersah - wenn man nicht aufpasste.

„Hier, bitte“, sagte sein Vater, stellte die Becher auf dem Küchentisch ab und die Männer nahmen Platz.

Der Vorsitzende hielt den Becher in beiden Händen, spürte das Brennen der Hitze und nippte vorsichtig an dem dünnen Tee. Er spürte, wie das heiße Wasser seine Kehle hinunterlief und in seinem Magen ein intensives Brennen erzeugte – und er freute sich.

„Wie sieht es aus, mein Junge?“

„Wie soll es aussehen? Ich reise durch die Welt und führe den ganzen Tag Gespräche mit dem Ziel, die Leute nicht noch nervöser zu machen, als sie ohnehin schon sind.“

„Und hast du Erfolg damit?“

Der Vorsitzende zuckte mit den Schultern: „Ich denke schon. Ich meine, ich kann es natürlich nicht mit Bestimmtheit sagen, aber ich gebe alles, was ich kann – mehr geht nicht.“

Sein Vater nickte, schob den Becher beiseite und setzte den Gesichtsausdruck auf, den sein Sohn nur zu gut kannte. Er hatte ihn schon oft gesehen, früher, als er noch jünger war und sein Vater das Gefühl hatte, er müsse seinen Sohn mal beiseite nehmen und ihm etwas erklären.

„Ja?“, fragte der Vorsitzende daher, während er zugleich amüsiert und besorgt war.

„Ich denke, du weißt, worüber ich mit dir reden möchte.“

„Wie soll ich das wissen? Du hast ja noch nichts gesagt.“

Sein Vater schüttelte den Kopf: „Du weißt es, weil du mich durch Magie erschaffen hast. Alles, was ich dir sage, geschieht aufgrund der Magie, die du wirkst. Wenn ich mich jetzt selbst schlagen würde, dann deswegen, weil du es möchtest… Ich habe keinen freien Willen. Ich bin eine Projektionsfläche deiner Gefühle, Wünsche – und Ängste. Und deswegen weißt du sehr genau, welches Thema ich jetzt ansprechen werde. Weil du darüber reden möchtest.“

Der Vorsitzende schluckte und biss sich auf die Lippen: „Ja“, gab er zu. „Natürlich weiß ich, dass du Recht hast, Vater…“

„Sag das nicht!“

„Was?“
„Vater. Ich bin nicht dein Vater. Ich bin eine magische Nachbildung dessen, was du für deinen Vater hältst.“ Nach einem kurzen Zögern ergänzte er: „Ich schlage vor, du nennst mich Pictura.“

„Gemälde?“

Pictura lächelte: „Du beherrschst deine Lateinvokabeln noch… Scheint mir so am leichtesten zu sein.“

Der Vorsitzende schloss kurz die Augen, aber natürlich hatte Pictura Recht: „In Ordnung“, seufzte er.

„Womit wir beim Thema wären: Ich weiß, dass es reizvoll ist, hierher zu kommen und mit mir zu sprechen. Aber du weißt, dass das nicht gut ist. Du weißt, wie gefährlich diese Art der Magie ist – immerhin hast du gesehen, was passiert, wenn man einen kleinen Fehler macht.“

Der Vater des Vorsitzenden hatte seinem Sohn die Technik des magischen Ortes beigebracht – und selbst ausgiebig von seinem eigenen Zufluchtsort Gebrauch gemacht. Der Zauber barg große Gefahren in sich, weil man seine Seele sauber vom Körper trennen musste. Sein Vater hatte einmal einen Fehler gemacht. Seitdem war er ein Wrack, litt unter seelischer Zersplitterung und benötigte permanente Pflege.

„Ich… Ich brauche diesen Ort“, flüsterte der Vorsitzende mit schwacher Stimme. „Ich bin sonst allein…“

„Wir haben schon mal darüber gesprochen, dass du nicht allein sein musst.“

„Ratsherren und Vorsitzende dürfen keinen Kontakt zu ihren Familien haben. Sie geben alles auf, gehen komplett in der Region auf, die sie repräsentieren.“
„Du hast mir erklärt, das wäre eine Tradition. Und du hast mir erklärt, dass du mir nicht erklären kannst, wo diese Tradition herkommt. Woraufhin ich dir erklärt habe, dass du als Vorsitzender neue Regelungen initiieren kannst – die irgendwann zu Traditionen werden.“ Pictura lächelte: „Ich finde, das waren sehr viele Erklärungen. Sie sind schlüssig. Sie sind logisch. Was noch fehlt, ist der Mut, dieses Wissen in Handlungen umzusetzen.“

Der Vorsitzende schloss die Augen, versuchte die Worte seines Vaters – beziehungsweise Picturas – zu ertragen: „Vielleicht hast du Recht.“

„Wenn, hast du Recht. Und du weißt, dass ich das so deutlich sagen muss.“

Der Vorsitzende nickte, nahm einen Schluck Tee, starrte auf die Tischplatte. Dann stand er ruckartig auf: „Ich denke, ich weiß, was ich zu tun habe“, sagte er.

„Ich weiß, dass du es weißt. Und dass ich es weiß, weißt du auch.“ Pictura grinste.

Der Vorsitzende sah der Nachbildung seines Vaters noch einmal in die Augen, nahm das intelligente Glitzern in ihnen wahr, das in der Realität schon lange verglommen war und nie wieder funkeln würde.

„Wenn ich alles richtig mache, werden wir uns wohl nicht mehr wiedersehen.“

„Nein, das werden wir wohl nicht“, stimmte Pictura zu, auch wenn er eine unbestimmte Ahnung hatte, dass sein Schöpfer noch mindestens einmal hierher kommen würde.

„Dann…“ Der Vorsitzende hob unbeholfen eine Hand zum Abschied, wandte sich ab und verließ zügig das Zimmer, fast so, als würde er weglaufen.

Pictura nahm die beiden Becher vom Tisch und schüttete den restlichen Tee ins Spülbecken. Er stutzte: Normalerweise löste er sich an dieser Stelle auf, denn länger brauchte sein Schöpfer nicht, um die Welt, die er erschaffen hatte, zu verlassen.

Er drehte sich um und schaute zur Tür: Wartet er noch im Flur?, fragte er sich unsicher. Er konnte diese vier Wände nicht verlassen, das war im Zauber nicht vorgesehen. Er lehnte sich ans Spülbecken und wartete.

Die Tür schwang auf.

Langsam, vollkommen geräuschlos.

Pictura setzte das Lächeln auf, mit dem er seinen Schöpfer immer begrüßte. Ein väterliches Lächeln, wie es sich jeder Sohn wünschte.

Das Lächeln erstarb, als er sah, dass es nicht sein Schöpfer, sein Sohn oder der Vorsitzende war, der im Türrahmen stand und grinste.

Es war ein böses Grinsen.

Die Fratze eines Mannes, der wusste, dass er einen wichtigen Sieg errungen hatte.

Ankunft

Koki Ito saß auf seinem Platz in der ersten Klasse und starrte auf die Startbahn des Flughafens, von dem aus er die Region Asien in wenigen Augenblicken verlassen und in Richtung Europa aufbrechen würde: Genauer gesagt, Köln. Zu Europa.

Der Ruf des Ratsherrn hatte ihn nicht vollkommen überrascht. Bei ihrem letzten Zusammentreffen hatte Ito gespürt, dass die Chemie zwischen ihnen stimmte und dass Europa bereit war, über die konventionellen Grenzen hinauszugehen: Ansonsten hätte er mehr Stress gemacht, weil ich am Tatort aufgetaucht bin. Er musste noch immer grinsen, wenn er an ihre erste „Konfrontation“ dachte, allerdings verflüchtigte sich dieses Grinsen schnell wieder. Alles, was danach geschehen war, hatte nichts Komisches an sich: Ito galt allgemein als harter Hund, der außerhalb des normalen Systems stand und agierte. Trotzdem machte er sich inzwischen Sorgen. Er war früher Polizist geworden, damit seine Mitmenschen in Sicherheit leben konnten. Das, was aktuell geschah, war das genaue Gegenteil: An allen Fronten brechen Gräben auf!

Er war froh, dass Antarktika jetzt ihr neuer Vorsitzender war. Seit der Ermordung des alten Präsidenten hatte ein Vakuum bestanden und ein solcher Zustand ist niemals gut, weil es immer Menschen, Magier und Wesen gibt, die versuchen, aus einem temporären Freiraum eine Dauerlösung nach ihren Bedingungen zu machen.

Ito hatte die letzten Wochen damit verbracht, für Jun Sun die neue Ratsherrin von Asien im Auge zu behalten. Er hatte seine Kontakte spielen lassen, wie man so schön sagte, sprich: Er hatte Gefälligkeiten eingefordert und Schmiergelder gezahlt, um an Informationen ranzukommen, die nicht zugänglich waren:

Was machte Asien?

Was trieb sie an?

Mit wem traf sie sich?

Zu Beginn hatte Ito die Aufgabe aufregend gefunden: Er hasste die Solisten. Er konnte nicht verstehen, wie man so engstirnig sein konnte. Er brannte darauf, in Asiens Geheimnissen zu wühlen und irgendeinen Dreck zu finden, den man gegen sie verwenden konnte.

Aber: Da war kein Dreck. So sehr er auch suchte, er fand nichts. Asien verhielt sich absolut korrekt, hielt sich an die bestehenden Gesetze und agierte nur innerhalb der Spielregeln so, wie man es von einer Solistin erwarten durfte.

Im Grunde ist sie total langweilig. Aber vielleicht macht sie genau das so gefährlich: Weil wir sie irgendwann unterschätzen.

Der Flieger rollte an. Nach wenigen Minuten startete der Pilot durch und Ito wurde in seinen Sitz gepresst.

Er hasste das Fliegen.

Er würde es niemals zugeben, aber ihm bereitete der Gedanke, in einer Kiste in der Luft rumzuschweben, eine riesige Angst. Natürlich war Fliegen ein total sicheres Verkehrsmittel und die Magie, die hierbei eingesetzt wurde, war tadellos. Außerdem würde Ito sich im Falle eines Absturzes aufgrund seiner eigenen Fähigkeiten ohnehin retten können.

Es war also nicht die Angst vor dem Absturz oder dem Tod, die ihm das Fliegen verdrießte, sondern etwas anderes. Etwas, das er selbst nicht formulieren konnte, da er nicht wusste, was es war.

Er zwang sich, aus dem Fenster zu schauen, während die Landschaft unter ihm dahinglitt und die Autos und Straßen immer kleiner wurden.

Gleich würde er einen Film gucken und dabei hoffentlich einschlafen. Zumindest sah das sein Plan vor. Bevor er sich diesem aber widmen konnte, schlichen sich seine Gedanken wieder zu seinem neuen Auftrag: Er wusste nicht, was er in Köln für Europa erledigen sollte. Europa hatte ihm nichts Genaues sagen wollen, sondern nur angedeutet, dass er ihn dringend brauchte und soweit schon alle Formalien geklärt hätte.

Es ist witzig, dachte Ito. Als ich damals meinem Chef eine geknallt habe, dachte ich, das wäre es für mich.

Tatsächlich hatte er sich nach seinem Wutanfall ziemlich über sich selbst geärgert: Ziemlich… Die Untertreibung des Jahres.

Er hatte sich in seiner Wohnung eingesperrt, alles zu Kleinholz geschlagen und so viel Alkohol getrunken wie möglich.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739488547
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Mai)
Schlagworte
Graue Schatten Köln Fantasy Manifest Träger der Botschaft

Autor

  • Torben Stamm (Autor:in)

Torben Stamm schreibt in seiner Freizeit gerne Krimis, Thriller und Fantasy!
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Titel: Tanz in der Zeit