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Richter ohne Gnade

Ein Aachen Krimi (Hansens 4. Fall)

von Frank Esser (Autor:in)
264 Seiten
Reihe: Aachen-Krimi-Reihe, Band 4

Zusammenfassung

Er kam, um zu richten. Sein Urteil war der Tod! Als vor dem Karlsbrunnen auf dem Aachener Marktplatz die verstümmelte Leiche des Drogenfahnders Jonas Behrend aufgefunden wird, ahnt Kriminalhauptkommissar Karl Hansen, dass sie es nicht mit einem gewöhnlichen Täter zu tun haben. Schon kurz darauf wird aus der Befürchtung Gewissheit. Ein Serienmörder treibt sein Unwesen in Aachen. Und er begnügt sich nicht nur damit, seinen Opfern das Leben zu nehmen …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Richter ohne Gnade

Ein Aachen Krimi

Hansens 4. Fall

 

 

 

Impressum

Texte: © Frank Esser
Cover: © NaWillArt Coverdesign / www.nawillart-coverdesign.de

Lektorat: © Christine Weber - www.textomio.de

Korrektorat © Marion Kaster / Heidemarie Rabe

Verlag: Frank Esser

Am Römerhof 1

52477 Alsdorf

aachenkrimi@gmx.de

 

 

1. Auflage, 2020

© Alle Rechte vorbehalten.

 

Prolog

Irgendetwas stimmte nicht. Als Jonas Behrend die Augen öffnete, war ihm das sofort bewusst. Er fühlte sich alles andere als ausgeruht, der Kopf schmerzte, und ihm war übel. Sein Mund war so trocken, als hätte er eine Wanderung durch die Sahara hinter sich, die Zunge klebte am Gaumen. Seltsam, er konnte sich beim besten Willen nicht an eine durchzechte Nacht erinnern. Nicht einmal bruchstückhaft. Er konnte sich an überhaupt nichts erinnern! Und noch etwas kam ihm sonderbar vor: Es war stockfinster. Dabei schlief er nie bei herabgelassenen Rollläden. Normalerweise konnte er den schwachen Lichtschein der Straßenlaterne sehen, wenn es Zeit war aufzustehen. Er musste dringend einen Schluck Wasser trinken und eine Kopfschmerztablette einwerfen.

Als er sich von seinem nächtlichen Lager erheben wollte, schien ihn eine unsichtbare Hand daran zu hindern. Auch das Signal seines Gehirns an beide Beine, sich aus dem Bett zu schwingen, verpuffte wirkungslos. Verdammt! Hatte er einen Unfall oder Schlaganfall gehabt und war gelähmt? Scheiße, das durfte doch nicht wahr sein. Noch einmal versuchte er aufzustehen, mit demselben Ergebnis. Allmählich dämmerte es ihm: Er war gefesselt!

Die Erkenntnis traf ihn bis ins Mark. Angst machte sich in ihm breit, die schnell in Panik überzugehen drohte. Schweiß trat ihm auf die Stirn, er begann zu hyperventilieren. »Reiß dich zusammen«, ermahnte er sich selbst, und es gelang ihm tatsächlich, die Atmung zu beruhigen. Wo war er? Dann tauchte plötzlich ein Erinnerungsfetzen vor seinem geistigen Auge auf. Er sah sich selbst die Wohnungstür öffnen, dann ein Blitz. Die Erinnerung entglitt ihm wieder. Er ballte die Fäuste, spannte seine Muskeln an und zerrte an den Fesseln. Zwecklos, sie saßen zu fest. Im nächsten Moment ging das Licht an, und der Raum, in dem er gefangen gehalten wurde, war schlagartig taghell. Es schmerzte unglaublich in den Augen, er musste sie wieder schließen. Irritiert blinzelte er gegen das Licht an, aber er konnte kaum etwas erkennen. Zwei Halogenstrahler, jeweils auf einem Stativ angebracht, waren auf ihn gerichtet. Er kannte solche Strahler von den Kollegen der Spurensicherung. Es gelang ihm, den Kopf ein wenig zu heben und sich umzublicken.

Er lag auf einer Massagebank, an Oberkörper, Händen und Füßen mit dicken Stricken gefesselt. Der Raum war fensterlos und die Wände mit Schaumstoff isoliert, ähnlich wie in einem Tonstudio. Angstschweiß strömte ihm aus allen Poren. Erst jetzt registrierte er, dass dort jemand stand. Oder spielten ihm seine Sinne einen Streich?

»Na endlich, ich dachte schon, du wachst gar nicht mehr auf.«

Die Stimme des Unbekannten klang schneidend und emotionslos.

»Wo … wo bin ich?«, stammelte Behrend.

»Du bist Gast in meinem bescheidenen Heim.«

Was faselte der Typ da? »Warum bin ich hier?«

»Das wirst du gleich erfahren«, erwiderte der Mann und trat näher an die Liege.

Es war unmöglich, das Gesicht des Unbekannten zu erkennen, da das Licht stark blendete. Deshalb versuchte Behrend, andere Details wie Größe oder Körperstatur des Mannes einzuschätzen. Als Polizist wusste er, dass jede Kleinigkeit für eine spätere Identifizierung wichtig war. Jedenfalls wenn er lebend hier rauskam. Er schätzte den Unbekannten auf etwa eins achtzig bis eins fünfundachtzig. Trug der Kerl tatsächlich eine Richterrobe und eine Lockenperücke aus schlohweißem Haar, das zu einem Zopf gebunden war? Jetzt konnte er auch das Gesicht erkennen, allerdings kam es ihm nicht bekannt vor. Was zum Teufel ging hier vor? Er wagte jedoch nicht, den Gedanken laut auszusprechen.

»Ich werde dir jetzt eine einzige Frage stellen, Jonas. Wenn du wahrheitsgemäß antwortest, werde ich dich gehen lassen. Hast du das verstanden?«

Unfähig, etwas zu erwidern, starrte Behrend seinen Entführer an.

»Ob du das verstanden hast, habe ich dich gefragt?«, wiederholte der Unbekannte mit Nachdruck.

»Wenn ich die Wahrheit sage, darf ich wirklich gehen?«, fand Behrend seine Sprache wieder.

»Habe ich mich unklar ausgedrückt?«

Wieder diese Schärfe in der Stimme.

»Nein.« Behrend schüttelte energisch den Kopf. Er wusste nicht, was er von alledem halten sollte. Der Mann war offensichtlich ein Spinner. Aber er musste das Spiel mitspielen.

»Gut, dann können wir beginnen. Bist du bereit?«

Er nickte.

»Jonas Behrend, dir wird zur Last gelegt, in Ausübung deines Dienstes als Polizeibeamter deine Kollegen hintergangen, Beweismittel gefälscht und mehrfach Bestechungsgeld angenommen zu haben. Durch dein verabscheuungswürdiges Verhalten sind unschuldige Menschen zu Schaden gekommen, während sich einschlägig bekannte Verbrecher der Hand der Justiz entziehen konnten. Bekennst du dich schuldig?«

Behrend glaubte, sich verhört zu haben. Woher wusste der Typ von seinem kleinen Geheimnis? War das Ganze am Ende ein makabrer Scherz und der Kerl ein Schoßhündchen von Kluge, der seine Loyalität auf perfide Art und Weise auf die Probe stellen wollte? Wenn das zutraf, konnte es ihn den Kopf kosten, wenn er die Wahrheit sagte. Kluge kannte noch weniger Erbarmen als sein Vorgänger Roland Borowski, der ermordete Drogenbaron von Aachen, dessen Geschäfte er übernommen hatte. Andererseits konnte er sich hinterher immer noch rausreden, wenn das hier nur ein Test war. Sollte er es mit einem durchgeknallten Irren zu tun haben, konnte es durchaus sinnvoll sein, sich zum Schein auf dieses dämliche Spiel einzulassen.

»Ich warte, Jonas«, riss der Unbekannte ihn aus den Gedanken. »Schuldig oder unschuldig im Sinne der Anklage?«

Behrend wägte seine Optionen ab. »Schuldig«, sagte er schließlich in der vagen Hoffnung, dass sich der Kerl nun als Kluges Mitarbeiter zu erkennen gab und er sich erklären konnte.

»Gut. Das ist gut! Ich weiß deine Ehrlichkeit zu schätzen, Jonas. Das Strafmaß wird in Kürze festgelegt.«

»Aber ich hab die Wahrheit gesagt! Sie haben versichert, dass ich hier rauskomme, wenn ich mich schuldig bekenne«, schrie Behrend. Panisch bäumte er sich auf und zerrte an den Fesseln, während ihm Tränen der Verzweiflung in die Augen schossen.

»Oh. Da habe ich wohl gelogen.« Aus der Kehle des Fremden drang das Lachen eines Wahnsinnigen. Noch ehe der Polizist etwas erwidern konnte, hatte der Robenträger den Raum auch schon verlassen.

 

1. Kapitel

 

Tag 1, Montag

Die grünen Digitalziffern des Radioweckers zeigten 05:11 Uhr. Verschlafen richtete sich der Leiter der Mordkommission Aachen auf und seufzte. Ein Anruf um diese Zeit verhieß nichts Gutes, schlaftrunken ging Hansen ans Diensthandy. Bereits nach wenigen Augenblicken wurde seine Befürchtung zur Gewissheit und er war sofort hellwach, als der Kollege des Kriminaldauerdienstes im besten Öcher Platt einen Leichenfund erwähnte. Die sterblichen Überreste eines Mannes waren gefunden worden, und es lag eindeutig Fremdverschulden vor.

Auf Hansens Frage, wo genau sich denn der Fundort befand, erwiderte der KDDler lediglich: »Am Eäzekomp«. Kaum dass er es ausgesprochen hatte, schob er die Frage hinterher, ob Hansen wisse, was damit gemeint sei.

Ausgerechnet ihm stellte er die Frage, dachte Hansen beleidigt – dabei war er berühmt-berüchtigt für seine Vorträge über die Aachener Stadtgeschichte auf dem Revier. Natürlich wusste er, dass der Beamte vom Karlsbrunnen sprach, Aachens ältestem Brunnen. Wegen der rundlichen Form seiner Bronzeschale, in deren Mitte die kaiserliche Statue Karls des Großen thronte, wurde er im Volksmund »Eäzekomp« genannt, was nichts anderes als »Erbsenschüssel« bedeutete. Am liebsten hätte Hansen dem Mann sein Wissen entgegengeschmettert, doch er beließ es bei einem einfachen Ja, bedankte sich und legte auf. Na wunderbar, die Nachtruhe war mal wieder viel zu früh beendet.

»Was ist denn los?«, fragte Christine mit verschlafener Stimme.

»Leichenfund am Eäzekomp. Schlaf weiter«, erwiderte er und hauchte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn.

Seine Frau kam der Aufforderung nur allzu gerne nach. Längst hatte sie sich an derartige Anrufe gewöhnt und ließ sich davon nicht mehr aus der Ruhe bringen. Sie kuschelte sich in die warme Decke und schlief weiter. Beneidenswert, zu gerne hätte er seinen müden Knochen auch noch etwas Ruhe gegönnt. Leise holte er eine Jeans und ein Polohemd aus dem Schrank und schlich aus dem Schlafzimmer. Dabei stolperte er fast über das neueste Familienmitglied. Nera, die schwarze Labradorhündin, war gerade erst mit ihnen im Bungartsweg eingezogen. Die letzten Wochen waren turbulent gewesen: Christine hatte den Wunsch geäußert, die Stadtwohnung aufzugeben, und er war dem auch allzu gerne nachgekommen. Endlich raus aus dem Mief der Großstadt. Und kaum dass sie in der Wohnung nahe dem Orsbacher Wald eingezogen waren, hatten sie den Entschluss gefasst, sich einen Hund anzuschaffen. Als sie die zweijährige pechschwarze Hundedame mit den bernsteinfarbenen Augen im Tierheim entdeckt hatten, war es gleich um sie geschehen gewesen. Mittlerweile genoss Hansen die ausgedehnten Spaziergänge mit Nera im nahe gelegenen Wald. Vor allem in Zeiten wie diesen, wenn er wieder einmal endlose Überstunden schieben musste. Außerdem bewegte er sich viel mehr, seit Nera da war – und das erleichterte seinen Kampf gegen den angefutterten Wohlstandsspeck.

Noch auf dem Weg ins Badezimmer verständigte er seinen Partner Stefan Riedmann und zitierte ihn zum Fundort der Leiche. Da sein Stellvertreter praktischerweise mit der Leiterin der Spurensicherung zusammenlebte, konnte er so gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Anschließend informierte er noch die Kollegen Markus Beck und Jens Marquardt. Es war besser, wenn sie gleich in voller Besetzung beim alten Kaiser auftauchten. Nach einer Katzenwäsche verließ er die Wohnung und brauste kurz darauf mit seinem Opel in Richtung Innenstadt.

Zwanzig Minuten später erreichte er den Aachener Marktplatz, wo er zwei Einsatzfahrzeuge der Polizei und einen Krankenwagen entdeckte. Laura Decker – die Leiterin der KTU – und ihr Team hatten bereits die Arbeit aufgenommen. Hansen war kaum ausgestiegen, als Riedmann auch schon auf ihn zusteuerte. Eigentlich kaum verwunderlich, da er in der Nähe des Fundortes wohnte. Riedmann sah auch nicht gerade taufrisch aus, unrasiert und ungekämmt sah man den Kollegen, der ansonsten penibel auf sein Äußeres achtete, sonst so gut wie nie.

»Ihr wohnt zwar um die Ecke, aber mit euch habe ich hier noch nicht gerechnet«, begrüßte Hansen seinen Partner.

»Laura war ohnehin schon wach, sie konnte kaum schlafen wegen der Affenhitze im Schlafzimmer. Kennst sie ja: Kaum hattest du aufgelegt, hat sie mir ganz schön Dampf gemacht, um so schnell wie möglich herzukommen. Wir sind aber auch erst seit ein paar Minuten da.«

»Man sieht, dass sie dir Dampf gemacht hat.« Grinsend deutete Hansen auf Riedmanns Füße. Der Kollege hatte im Eifer des Gefechts zwei verschiedenfarbige Sneaker angezogen – einen dunkelblauen und einen schwarzen.

»Mist«, erwiderte Riedmann, als er an sich hinunterschaute.

»Hier ist ja schon ganz schön Betrieb«, versuchte Hansen, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken.

»Kein Wunder, wenn man bedenkt, was passiert ist. Immerhin ist ...«, doch weiter kam Riedmann nicht.

»Was macht denn der Wassenhoven vom Drogendezernat hier?«, meinte Hansen. Was hatte der Leiter der Abteilung für Betäubungsmittelkriminalität hier zu suchen?

»Das wollt ich dir ja gerade erklären, als du mich unterbrochen hast.«

»Entschuldige, Stefan. Also?«

»Der Tote ist ein Kollege von uns. Jonas Behrend. Oberkommissar des Drogendezernats. Wassenhoven war sein Chef.«

»Scheiße!« Hansen kannte den getöteten Kollegen flüchtig. »Wissen wir schon, was passiert ist?«

»Schau’s dir am besten selbst an. Um das schon mal vorwegzunehmen: Der Fundort der Leiche ist nicht der Tatort.«

Ohne darauf einzugehen, stapfte Hansen los. Er begrüßte einen der uniformierten Kollegen, die den Bereich rund um den Brunnen bereits großräumig mit dem rot-weißen Absperrband abgeriegelt hatten. Auch wenn es noch früh am Morgen war, tauchten bereits die ersten Schaulustigen auf dem Marktplatz auf. Polizeipräsenz stieß immer auf reges Interesse einiger Passanten. Die Kollegen der Schutzpolizei hatten alle Hände voll zu tun, die Meute vom Geschehen fernzuhalten. Herbert Wassenhoven und Laura Decker waren in ein Gespräch vertieft, als Hansen an ihnen vorbeiging.

»Morgen zusammen«, meinte er nur, als er die ersten beiden Treppenstufen des Brunnens erklomm.

Der Tote saß auf der obersten Stufe an den Beckenrand gelehnt. Fast hatte es den Anschein, als würde er schlafen. Behrends Kinn war auf die Brust gesunken. Hansen musste in die Hocke gehen, um dem Mann ins Gesicht blicken zu können, und erschrak im selben Moment.

»Kein schöner Anblick«, meinte Laura Decker. Die Leiterin der Spurensicherung stand mit verschränkten Armen hinter Hansen und verzog keine Miene. Obwohl auch sie garantiert nicht allzu viel Schlaf abbekommen hatte, sah sie frisch und ausgeruht aus. Die lange braune Mähne hatte sie wie gewöhnlich zu einem Zopf zusammengebunden.
Hansen war heilfroh, dass sie sich vor drei Jahren für einen Wechsel von Köln nach Aachen entschieden hatte, obwohl er zugegebenermaßen damals recht skeptisch gewesen war. Die Entscheidung, die Stelle mit ihr zu besetzen, hatte zunächst nach typischem Öcher Klüngel ausgesehen, da Lauras Vater ein guter Freund von Hansens Chef, Kriminalrat Hellhausen war. Im Nachhinein stellte sich die Neubesetzung als ein absoluter Glücksgriff für die Aachener Polizei heraus, insbesondere für die Mordkommission. Laura Decker war blitzgescheit und hatte durch kluge Schlussfolgerungen maßgeblich zur Aufklärung einiger zurückliegender Fälle beigetragen. Außerdem trug ihr loses Mundwerk immer mal wieder zur Erheiterung des Teams bei. Sehr zum Leidwesen von Hellhausen, der angesichts ihrer flapsigen Art hin und wieder die Nase rümpfte.

»Nein! Ganz und gar kein schöner Anblick. Ihr hättet mich ruhig mal vorwarnen können«, meinte der Hauptkommissar, als er sich erhob.

»Du hast mir ja nicht die geringste Möglichkeit dazu gegeben«, erwiderte Riedmann mit ernstem Gesicht.

»Stimmt«, musste Hansen einräumen.

»Man hat ihm beide Augen entfernt und sie durch Zwei-Euro-Münzen ersetzt. Schlimm genug, dass Jonas ermordet wurde. Aber warum verstümmelt ihn jemand auf diese Weise?« Herbert Wassenhoven, der hagere Mittfünfziger, schüttelte angewidert den Kopf.

»Könnte ein symbolischer Akt sein, der schon in der römischen und griechischen Mythologie bekannt war. Die Seele des Verstorbenen musste mithilfe eines Fährmannes den Fluss Styx überqueren, um in die Unterwelt zu gelangen. Als Entgelt legten die Menschen den Toten eine Münze auf jedes Auge«, erklärte Hansen.

»Die Sache hat nur einen gewaltigen Haken, Herr Geschichtsprofessor«, erwiderte Decker trocken. »Man legte die Münzen auf die geschlossenen Augen. Man hat die Augen vorher nicht herausgeschnitten und durch Geldstücke ersetzt!«

»Das stimmt natürlich. Es war nur das Erste, was mir in den Sinn gekommen ist, als ich die Münzen sah. Einen offensichtlichen Hinweis auf die Todesursache scheint es nicht zu geben.«

»Da müssen wir wohl oder übel auf Bode warten. Mir ist allerdings aufgefallen, dass Behrend eine frische Einstichstelle am rechten Unterarm hat. Ob das mit der Todesursache zusammenhängt, kann ich natürlich nicht sagen«, erwiderte Decker, bevor sie sich an die Untersuchung des Leichenfundortes machte.

 

Riedmann begann mit der Befragung des Mannes, der den Toten gefunden hatte, und Hansen nutzte die Gelegenheit, um mit Herbert Wassenhoven über den Toten zu reden. Die beiden Ermittler hatten sich zu den Treppenstufen des Aachener Rathauses etwas abseits des Geschehens zurückgezogen, um sich in Ruhe unterhalten zu können.

»Wie lange war der Kollege schon in Ihrer Truppe?«, begann Hansen.

»Ziemlich genau vier Jahre. Einer meiner besten Männer mit einer beeindruckenden Aufklärungsquote. Jonas hatte einen guten Draht zu seinen Informanten aus der Drogenszene«, erklärte Wassenhoven.

»Wie heißt sein Partner?«

»Klaus Siebert.«

Ja, ich erinnere mich an den Mann, dachte Hansen. Im Rahmen der Ermittlungen im Racheengel-Fall hatte Siebert ihnen wichtige Informationen geliefert, die zur Aufklärung der Morde beigetragen hatten. Am Ende hatte sich herausgestellt, dass sie ihren eigenen Kollegen gejagt hatten: Paul Mertens, den ehemaligen Leiter der KTU und Lauras Vorgänger. »Wir müssen so schnell wie möglich mit ihm sprechen. Vielleicht hat Behrends Tod ja mit einem aktuellen Fall zu tun.«

»Kann ich mir nicht vorstellen. Aktuell sind die beiden an keiner größeren Sache dran.«

»Was nicht unbedingt etwas bedeuten muss.«

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Wassenhoven. »Ich rufe Klaus an und richte ihm aus, dass er sich mit Ihnen in Verbindung setzen soll.«

»Danke. War Behrend verheiratet, hatte er Kinder?«

»Weder noch. Soweit ich weiß, hatte er derzeit auch keine Freundin. Dazu kann Ihnen Klaus aber sicherlich mehr sagen.«

»Dann bleibt es uns wenigstens erspart, einer Ehefrau die traurige Nachricht zu überbringen. Schlimm genug, den Eltern kondolieren zu müssen«, stellte Hansen fest. Es war der schwerste Teil des Jobs, wie er fand. »Sie leben doch noch?«

»Ja, in Eschweiler, soweit ich weiß.«

»Hatte Behrend Feinde?«

»Wir sind Polizisten. Da sollten Sie doch am besten wissen, dass wir nicht nur Freunde haben!«

»Haben Sie jemanden Konkretes im Sinn?«, hakte Hansen nach.

»Nein. Ich hab nicht die geringste Ahnung, wer Jonas so was Furchtbares antun konnte.«

»Ich denke, dann sind wir hier auch erst mal fertig.«

»Gut. Dann fahre ich jetzt ins Präsidium, um mein Team persönlich zu informieren. Herr Siebert wird sich dann schnellstens mit Ihnen in Verbindung setzen«, erwiderte Wassenhoven und verabschiedete sich.

»Behrend hatte übrigens kein Handy dabei«, meinte die Leiterin der SpuSi, als Hansen auf sie zusteuerte. Riedmann hatte die Befragung des Zeugen bereits beendet, der den Leichnam entdeckt hatte, und beobachtete sie nun bei der Arbeit. »Seine Brieftasche und ein Schlüsselbund steckten in der Hosentasche.«

»Dann sehen wir uns nachher auf jeden Fall in Behrends Wohnung um. Und vielleicht bringt uns eine Handy-Ortung weiter?«

»Schon vermerkt.« Riedmann reckte sein Smartphone in die Höhe. Im Gegensatz zum Chef, der immer noch alle Informationen in einem klassischen Notizbuch festhielt, bevorzugte er digitale Aufzeichnungen.

»Was hat die Befragung des Mannes ergeben?«

»Bringt uns nicht weiter. Er hatte nur das Pech, den Leichnam zu finden.«

»Leider taugt der alte Karl auch nicht als Zeuge«, meinte Hansen in Anspielung auf die Kaiserstatue in der Mitte des Brunnens, nachdem er den Blick einmal rund um den Marktplatz hatte schweifen lassen. »Aber wir sollten uns unbedingt sämtliche Videoaufnahmen der umliegenden Geschäfte besorgen. Unter Umständen hat eine der Kameras erfasst, wie Behrends Leiche hier abgelegt wurde. Dauert ja nicht mehr lange, bis die Geschäfte öffnen«, murmelte er und sah auf seine edle Festina-Armbanduhr, ein Geschenk seines Vaters zum letzten Weihnachtsfest. Seit dem Tod seiner Mutter vor zwei Jahren versuchte er, seinen alten Herrn so oft wie möglich zu besuchen, was nicht immer einfach war, da der Senior in Hamburg lebte. Sören Hansen hatte nicht weiter in Aachen wohnen wollen, er war ja all die Jahre nur der Liebe wegen in der Kaiserstadt geblieben. »Einmal Fischkopp, immer Fischkopp« pflegte sein Vater zu sagen und musste sich deshalb auch damit abfinden, dass sie sich nicht regelmäßig sehen konnten.

»Die Aufnahmen von der zentralen Überwachungskamera könnten uns da eher weiterhelfen.« Laura Decker deutete auf den Mast, an dessen Spitze sich die Kamera befand. »Nach der letzten Weihnachtsmarkt-Überwachung haben die beschlossen, sie weiter in Betrieb zu lassen. Das Ding filmt zwar nur von oben, erwischt aber dafür den gesamten Bereich vor dem Rathaus. Glaube kaum, dass die Kameras in den Geschäften hier mithalten können und den Bereich vor dem Brunnen erfassen.«

»Trotzdem sollten wir auch diese Aufnahmen überprüfen«, hielt Hansen dagegen. »Darum können sich Markus und Jens kümmern, wenn sie sich endlich auch mal die Ehre geben. Ich frag mich, wo die beiden schon wieder bleiben.«

»Berechtigte Frage«, erwiderte Riedmann. »Aber wenn mich nicht alles täuscht, biegt da hinten gerade der Smart unseres allseits geschätzten Gerichtsmediziners um die Ecke.«

»Wird auch langsam mal Zeit. Ich bin gespannt, ob Bode schon was zur Todesursache sagen kann«, erwiderte Hansen.

 

»Ich würde Ihnen liebend gern etwas über die Todesumstände erzählen«, erklärte der sportlich-schlanke Gerichtsmediziner, nachdem er den Leichnam des ermordeten Polizisten ausgiebig untersucht hatte. Hansen und Riedmann hatten ganz in der Nähe gestanden und ihn bei der Arbeit beobachtet, jetzt gesellte er sich zu ihnen. »Aber in diesem Fall müssen Sie definitiv das Ergebnis der Obduktion abwarten. Wegen der bläulichen Hautverfärbung vermute ich zwar, dass es sich um eine Vergiftung handelt. Wirklich eindeutig lässt sich das aber erst nach dem Toxscreening sagen. Die Kopfwunde, die seitlich zu sehen ist, war jedenfalls nicht tödlich.«

»Können Sie denn wenigstens den Todeszeitpunkt eingrenzen?«, wollte Hansen wissen, der wenigstens auf einen kleinen Anhaltspunkt hoffte.

»Unter Berücksichtigung der Lebertemperatur und der noch nicht völlig ausgeprägten Totenstarre würde ich sagen, zwischen Mitternacht und ein Uhr in der Nacht.«

»Wäre auch ein früherer Zeitpunkt denkbar? Immerhin besteht die Möglichkeit, dass der Leichnam schon einige Stunden unter freiem Himmel gelegen hat«, hakte Hansen nach.

»Die Nacht war tropisch warm, typisches Juliwetter halt. Das ist annähernd mit den Bedingungen vergleichbar, die man unter Zimmertemperatur vorfände. Deshalb hat die Außentemperatur kaum Einfluss auf den Verwesungsvorgang gehabt. Im Winter – oder tagsüber bei mehr Sonneneinstrahlung – wäre das natürlich etwas anderes gewesen. Aber unter den gegebenen Umständen hat das keine Rolle gespielt. Nach der Obduktion kann ich diesbezüglich mehr sagen.«

»Wurden die Augen Ihrer Meinung nach fachmännisch entfernt?«, wollte Laura Decker wissen.

»Eine berechtigte Frage, die ich mir durchaus auch stellte«, gab Bode zurück. »Deshalb habe ich mein Augenmerk - verzeihen Sie, das war unangebracht -, den Fokus meiner Untersuchung auf die Überprüfung der Wundcharakteristika der Augenhöhlen gelegt. Wer auch immer dafür verantwortlich war, hat eine sogenannte Enukleation durchgeführt. Dabei wurde die Bindehaut vom Hornhautrand abgetrennt und sodann die Augenmuskeln sowie der Sehnerv abgeschnitten. Anschließend wurde der Augapfel herausgezogen. Soweit ich das beurteilen kann, war das kein Fachmann, da die Schnitte sehr grob ausgeführt wurden. Trotzdem vermute ich, dass sich hier jemand mit medizinischen Vorkenntnissen ausgetobt hat.«

Hansen drehte sich angesichts dieser Ausführungen der Magen um. Zum Glück hatte er noch nicht gefrühstückt.

»Der Täter hat offenbar zu viel Fitzek gelesen«, witzelte Riedmann und fing sich umgehend einen tadelnden Blick von Hansen ein.

»Ich würde gerne Ihre Meinung zu den Münzen hören, Doktor Bode. Könnte das eine Botschaft des Täters für uns sein?«, wollte der Leiter der Mordkommission wissen.

»Es erinnert mich ein wenig an die Charonmünze. Der Fährlohn – oder wie wir Lateiner sagen: das Viaticum – diente dem Sterbenden als Zahlungsmittel, damit der Fährmann Charon dessen Seele über den Unterweltfluss Styx bis zur Pforte des Totenreichs bringt. Allerdings hätte der Täter dann die Symbolik falsch interpretiert. Die Münzen werden nämlich entweder auf die Zunge oder aber auf die geschlossenen Augen des Toten gelegt – und nicht in leere Augenhöhlen.«

Laura Decker, die ihre Arbeit wieder aufgenommen hatte, grinste angesichts Bodes neunmalkluger Erklärung, wie Hansen aus dem Augenwinkel heraus erkannte. Sie ersparte sich jedoch einen Kommentar.

»Wenn es sich um eine Botschaft des Täters handeln sollte, habe ich nicht die geringste Ahnung, was er damit zum Ausdruck bringen wollte. Glücklicherweise ist es aber auch nicht meine Aufgabe, das herauszufinden. Für den Anfang dürfte es schon genügen, die Todesursache Ihres Kollegen zu bestimmen. Und dafür muss der Mann so schnell wie möglich in die Rechtsmedizin gebracht werden.« Bode streifte sich die Gummihandschuhe ab, zog den Kittel aus, den er bei der Untersuchung getragen hatte, und faltete ihn wie immer penibel zusammen.

»Wir brauchen nicht mehr lange, dann sind wir mit der Tatortuntersuchung fertig«, meinte Decker.

»Gut, dann war’s das erst einmal für mich.« Bode nickte zum Abschied, und mit dem Kittel über dem linken Arm und der Instrumententasche in der rechten Hand steuerte er zielstrebig auf seinen Smart zu.

»Selbst um diese Zeit sieht er in seinem Anzug schon wie aus dem Ei gepellt aus«, stellte Riedmann grinsend fest, als er dem Arzt hinterherschaute.

»Jetzt weißt du, warum er mich immer an den Boerne aus dem Tatort erinnert«, gab Hansen grinsend zurück. »Selbst die Frisur kann mithalten: Bodes beneidenswert dichte dunkle Haarpracht lichtet sich so langsam, was? Verpass ihm noch das richtige Auto, und er kann den Boerne demnächst doubeln.«

Jetzt musste auch Riedmann unwillkürlich schmunzeln.

 

2. Kapitel

 

Hansen und Riedmann stiegen vor dem Präsidium in ihren Dienstwagen und machten sich auf zu Behrends Wohnung in die Raafstraße unweit der deutsch-belgischen Grenze. Sie hatten gerade den Parkplatz der Dienststelle verlassen, als Klaus Siebert, der Partner des ermordeten Polizisten, bei Hansen anrief. Sie vereinbarten, sich vor der Wohnung zu treffen. Der Ermittler des Drogendezernats erwartete sie bereits, als die beiden eintrafen.

»Morgen«, sagte Siebert, als Hansen aus dem BMW stieg. Der Drogenfahnder zog noch einmal an seiner Zigarette, bevor er die Kippe auf den Bürgersteig warf, um sie mit der Spitze seines Cowboystiefels auszutreten. Er trug einen Bart, hatte meerblaue Augen und die schulterlangen dunkelblonden Haare lagen strähnig auf den Schultern.

Als Erstes fiel Hansen die markante Narbe über der rechten Augenbraue des Drogenfahnders auf, die hatte er damals noch nicht gehabt.

»Mein herzliches Beileid«, erwiderte Hansen. Der Kollege der Drogenfahndung nickte kurz, sagte aber nichts, sondern starrte ins Leere. »Danke, dass Sie gekommen sind. Schade, dass unser Wiedersehen unter solch tragischen Umständen zustande kommt.«

»Mein Partner wurde ermordet, und jemand hat ihm die Augen herausgeschnitten. Das sind mehr als nur tragische Umstände, finden Sie nicht?«, grollte Siebert.

»Da haben Sie selbstverständlich recht.«

Zum Glück passte der Schlüssel, den sie in Behrends Hosentasche gefunden hatten.

»Jonas wohnte im zweiten Stock«, meinte Siebert und ging voraus. »Also, was wollen Sie wissen?«

»Was war Behrend für ein Mensch?«

»Die Frage ist jetzt nicht sonderlich einfallsreich. Auch wenn mir natürlich klar ist, dass Sie sie stellen müssen.« Als er den ersten Treppenabsatz erreicht hatte, wandte er sich um. »Bevor ich darauf antworte, schlage ich vor, dass wir uns duzen. Dieses alberne Sie unter Kollegen finde ich unpassend«, fuhr Siebert fort und reichte Hansen und danach auch Riedmann die Hand.

»Jonas war ein Einzelgänger, hatte kaum Freunde und lebte in erster Linie für seine Arbeit. Trotzdem war er für mich nicht einfach nur ein Kollege, mehr ein guter Kumpel. Kein Wunder, ich hab mehr Zeit mit ihm verbracht als mit meiner Frau. Scheiße, Mann, ich kann immer noch nicht glauben, dass er tot ist … wir sind da«, meinte Siebert und deutete auf eine Tür.

»Hatte Behrend eine Freundin?«

»Nichts Festes. Er lebte allein in der Wohnung.«

Die drei Ermittler zogen sich Handschuhe an, bevor Riedmann die Tür öffnete. Hansen begann seine Suche in der Küche. In der Spüle stapelte sich schmutziges Geschirr, auf dem Tisch lag eine Ausgabe der aktuellen Super Sonntag, daneben ein Schreiben der Telekom und eine Mitteilung der Hausverwaltung. Aber nichts, was für ihn auf Anhieb von Interesse gewesen wäre. Er brauchte nicht lange, um die Küche zu inspizieren. Gerade hatte er die letzte Schublade geschlossen, als Riedmann den Raum betrat.

»Nix Auffälliges im Bad«, meinte der Kollege, als er einen flüchtigen Blick auf die Briefe warf, die auf dem Tisch lagen.

»Dito, was das Schlafzimmer angeht. Glaubst du ernsthaft, dass wir hier was finden, das mit seinem Tod zu tun hat?«, fragte Siebert, der nun ebenfalls hereinkam.

»Meiner Meinung nach hat er einfach nur das Pech gehabt, irgendeinem Psychopathen in die Hände zu fallen«, meinte Riedmann ungefragt.

»Möglich. Aber wir sollten in Erwägung ziehen, dass Behrend kein zufälliges Opfer war. Auch wenn es auf den ersten Blick nicht unbedingt danach aussieht. Was kannst du uns noch über ihn erzählen, Klaus? Ich würde gern mehr über ihn erfahren.« Hansen ging voraus ins Wohnzimmer, wo sie die Suche zu dritt fortsetzten.

»Zuverlässig, ehrgeizig, loyal, hilfsbereit. Jonas hatte einen guten Draht zu den Informanten aus der Drogenszene. Das hat uns den einen oder anderen brauchbaren Tipp eingebracht, sodass wir in den letzten Jahren ein paar erfolgreiche Razzien und Ermittlungserfolge erzielt haben.«

»Das sind durchweg positive Eigenschaften.«

»Deshalb glaube ich ja auch nicht, dass Jonas gezielt ausgewählt wurde«, meinte Siebert, der eine Schublade des Wohnzimmerschranks durchsuchte.

»Keine voreiligen Schlüsse … Du sagtest, dass ihr einige Ermittlungserfolge eingeheimst habt. Damit habt ihr euch sicherlich nicht nur Freunde gemacht. Was mich zur nächsten Frage bringt: Hatte Behrend Feinde?«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Denk noch mal in Ruhe nach. Fällt dir wirklich keine Person ein, die ihn mal bedroht hat?«, ließ Hansen nicht locker, während er damit begann, die Schränke der vierteiligen nussbaumfarbenen Wohnwand zu durchsuchen.

»Karl, du kannst mir glauben, dass ich seit Wassenhovens Anruf heut Morgen über nichts andres nachgedacht habe. Natürlich wird’s irgendwo da draußen Leute geben, die uns auf dem Kieker haben. Aber trotzdem fällt mir da niemand ein.«

»Die Handyortung können wir uns schon mal sparen«, unterbrach Riedmann die beiden. »Es lag unter der Fernsehzeitung auf dem Tisch hier. Leider ist das Teil passwortgeschützt.« Er hielt ein Smartphone in die Höhe.

»Versuch’s mal mit: 1900TSV«, meinte Siebert.

Riedmann schaute seinen Kollegen fragend an.

»Er war großer Alemannia-Fan. Er benutzte das Passwort auch bei seinem PC im Büro.«

Riedmann tippte das alphanumerische Passwort ein und bestätigte den PIN. »Der Alemannia sei Dank, du hattest recht!«, rief er dann triumphierend.

»Überprüf doch mal die letzten Gespräche«, bat Hansen.

Sofort ging Riedmann die Anruferliste durch. »Seit gestern Mittag nur drei, alles Leute aus seiner Kontaktliste. Klaus, ein andrer Kollege und ein gewisser Tobias Borchert«, erklärte er nach wenigen Sekunden.

»Ein guter Freund seit Jonas´ Schulzeit. Er besitzt eine kleine Kfz-Werkstatt in Stolberg«, meinte Siebert.

»Dann sollten wir uns unbedingt mit ihm unterhalten. Irgendwelche anderen Nachrichten auf dem Handy?«, wollte Hansen wissen.

»`ne ganze Menge, aber du willst jetzt nicht ernsthaft, dass ich das alles lese?«

»Nur die letzten Nachrichten, vielleicht findet sich da ein Hinweis auf ein Treffen oder sowas«, ließ der Chefermittler nicht locker.

»Nein«, meinte Riedmann schließlich kopfschüttelnd, nachdem er die Nachrichten gecheckt hatte.

»Okay, dann warten wir mal ab, was die Jungs von der Computerforensik noch entdecken«, sagte Hansen und zog einen Beweismittelbeutel aus der Hemdtasche, um das Handy einzutüten.

Während die beiden anderen den Raum inspizierten, setzte sich Riedmann an den Wohnzimmertisch und fuhr Jonas Behrends Laptop hoch. Schon kurze Zeit später kam ihm ein lautes »Bingo!« über die Lippen.

»Was gefunden?« Hansen sah auf.

»Es ist eher das, was ich nicht gefunden habe.«

»Du sprichst in Rätseln, Stefan. Kannst du das präzisieren?«

»Auf der Festplatte sind keine Daten. Und wenn ich sage, keine, meine ich auch: keine. Ich bin zwar alles andere als ein Computerexperte, aber wenn du mich fragst, wurde das Ding gelöscht!«

»Seltsam. Warum sollte Behrend das tun?«

»Wer sagt, dass er das war?«

Siebert sah auf. »Willst du damit andeuten, Jonas´ Mörder hätte ...«

»Wäre eine Möglichkeit. Vielleicht befand sich etwas auf dem Rechner, das wir nicht finden sollten.«

»Wenn das zutrifft, würde das bedeuten, dass der Täter hier in der Wohnung war«, stellte Hansen fest. »Wird Zeit, dass Laura hier aufkreuzt, damit sie hier alles mal genau unter die Lupe nimmt. Dachte eigentlich, dass sie es kaum erwarten kann, hier alles auf links zu drehen«, flachste Hansen, dem durchaus klar war, dass der Einsatz am Eäzekomp noch dauern konnte. Aber er wollte unbedingt, dass sie Behrends Wohnung untersuchte – und nicht die B-Schicht, wie er immer scherzhaft sagte, obwohl die Kollegen genauso gute Arbeit leisteten. Aber Laura war nun mal die Beste!

»Ich ruf sie an und frag mal, wann wir mit ihr rechnen können«, erwiderte Riedmann und zog sein Handy aus der Hosentasche, um die Leiterin der SpuSi anzurufen. »Du hast eben davon gesprochen, dass ihr bei der Drogenfahndung über ein ziemlich gutes Netz an Informanten verfügt. Fällt dir da spontan jemand aus Behrends Dunstkreis ein, mit dem wir uns mal unterhalten könnten?«

»Puh, lass mich mal kurz nachdenken«, meinte Siebert.
»Laura macht sich gleich auf den Weg. Sie haben den Einsatz auf dem Marktplatz gerade beendet«, meldete sich Riedmann wieder zu Wort. »Sie packen nur noch ihr Zeug zusammen und machen sich dann gleich auf den Weg.«

Hansen nickte.

»Der Schneemann!«, rief der Drogenfahnder plötzlich. »Dennis Schneider, alle in der Szene nennen ihn den Schneemann. Der hat seine Augen und Ohren überall.«

»Kannst du den Kontakt herstellen?«

»Werd mein Glück versuchen. Das wird allerdings nicht ganz einfach, Schneider hat keinen festen Wohnsitz.«

»Du wirst ihn schon finden«, ermunterte Hansen seinen Kollegen.

»Hast du noch Fragen? Falls nicht, mach ich mich jetzt auf die Socken und zapfe meine eigenen Quellen an. Irgendwie werd ich Schneider schon ausfindig machen. Ich melde mich bei euch«, meinte Siebert.

»Fahr ruhig. Wir warten noch auf die SpuSi und widmen uns der ganzen Routinearbeit: Du weißt schon, Befragung der Hausbewohner, ob ihnen gestern Abend was Ungewöhnliches aufgefallen ist und so weiter …«

»Klar. Man sieht sich.« Siebert nickte ihnen zu und verließ dann die Wohnung.

Zehn Minuten später traf Laura mit ihrem Team ein. Hansen und Riedmann berichteten kurz von dem Laptop und befragten anschließend die Nachbarn des ermordeten Kollegen. Doch ohne neue Erkenntnisse mussten sie sich auf den Weg nach Eschweiler machen, um Jonas Behrends Eltern die traurige Nachricht vom Ableben ihres Sohnes zu überbringen.

 

3. Kapitel

 

»Wie ich das hasse.« Hansen atmete einmal tief durch, als sie das kleine Reihenhaus verließen.

Behrends Mutter war sofort in Tränen ausgebrochen, während der Vater wortlos vor sich hingestarrt hatte. Die beiden Ermittler hatten hilflos dagesessen. Eine Befragung der Eltern war unter diesen Umständen unmöglich gewesen, nach zehn Minuten hatten sie es schließlich aufgegeben. Einen Arzt oder psychologische Trauerbegleitung hatten Karl-Heinz und Elfriede Behrend abgelehnt.

»Daran werde ich mich auch nie gewöhnen«, erwiderte Riedmann, als er die Wagentür öffnete.

»Vorsicht bei der Berufswahl – hat mein alter Herr schon immer gesagt. Bevor wir zurück ins Präsidium fahren, würde ich gern noch mit diesem Borchert sprechen, dem Freund von Behrend. Ist ja nur ein Katzensprung von Eschweiler nach Stolberg. Haben wir schon seine Adresse?«

»Nein. Sollte aber nicht allzu schwer sein, die rauszufinden. Siebert hat doch erwähnt, dass der Borchert eine Autowerkstatt in Stolberg betreibt.« Und tatsächlich: Nach wenigen Sekunden hatte Riedmann mit dem Handy die Adresse gefunden.

 

»Jonas ist tot?« Borchert sah die Beamten ungläubig an. Im selben Augenblick fiel ihm ein Maulschlüssel aus der Hand und landete scheppernd auf dem Boden. Der Werkstattbesitzer war dünn wie eine Bohnenstange und ebenso lang geraten. Sein langes schwarzes Haar hatte er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. In seinen Augenwinkeln standen Tränen, gegen die er ankämpfte. »Wann? … Wie?«, stammelte er.

»Er wurde letzte Nacht ermordet. Die Todesursache kennen wir noch nicht. Laut Anrufliste von Jonas Behrends Handy haben Sie gestern Abend gegen 18 Uhr mit ihm telefoniert. Worüber haben Sie gesprochen?«, fiel Hansen mit der Tür ins Haus. Er hielt nicht viel davon, sich mit langen Vorreden oder Erklärungen aufzuhalten, wenn es die Situation nicht unbedingt erforderte. So wie in diesem Fall.

»Seine alte Rostlaube verliert wohl wieder mal Öl. Jonas hat gefragt, wann er den Wagen vorbeibringen kann. Ich habe ihm gesagt, wann immer er will.«

»Hat Herr Behrend zufällig erwähnt, ob er gestern Abend noch eine Verabredung hatte?«

»Nein, tut mir leid.«

»Hatte er vielleicht Probleme, die er Ihnen gegenüber in letzter Zeit einmal angesprochen hat?«

»Probleme?« Borchert hob die rechte Augenbraue. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, keine Ahnung.«

»Fühlte er sich bedroht oder hatte er Feinde?«

»Echt jetzt? Jonas war Polizist – zudem ein sehr guter, wenn’s stimmt, was er über seine Ermittlungserfolge erzählt hat. Ich muss Ihnen doch wohl kaum erzählen, dass man da nicht nur Freunde hat!«

Es war nicht das erste Mal, dass Hansen das heute zu hören bekam.

»Auch im privaten Umfeld macht man sich schon mal Feinde«, stellte Riedmann lakonisch fest und sah den Mann herausfordernd an.

»Aber ganz bestimmt nicht Jonas«, erwiderte der Werkstattinhaber, der dem Blick standhielt. »Er sagt … sagte immer, Freunde würden nur Verpflichtungen bedeuten. Ich weiß, dass er hin und wieder mit den Kollegen einen draufgemacht hat. Ich darf allerdings mit Fug und Recht behaupten, dass ich sein einziger enger Freund war. Und das seit über fünfundzwanzig Jahren. Er war sogar der Patenonkel meines Sohnes. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Sie in Jonas´ privatem Umfeld jemanden finden, der ihn um die Ecke bringen wollte.«

»So etwas in der Art hat sein Partner uns auch erzählt«, erwiderte Hansen.

»Dann wird wohl auch was dran sein«, entgegnete der Mann trotzig.

»Wo waren Sie gestern Abend zwischen 19 Uhr und Mitternacht?«, wollte Riedmann unvermittelt wissen.

»Ich glaub`s nicht, dass Sie mich das ernsthaft fragen nach dem, was ich Ihnen gerade erzählt hab. Und kommen Sie mir jetzt nicht mit der blöden Erklärung, dass Sie mich das fragen müssen.« Borchert machte erst gar keine Anstalten, seine Verärgerung zu verbergen. Mit seinen blaugrauen Augen taxierte er Riedmann und kniff sie dann verärgert zusammen.

»Und, wo waren Sie?«, ließ sich der Beamte nicht beirren.

Borchert atmete tief durch. »Nachdem ich die Werkstatt abgeschlossen hatte, bin ich nach Hause. Meine Frau kann das bezeugen. Und bevor Sie fragen: Ich bin danach nicht mehr weggefahren. War´s das jetzt?«

»Fürs Erste hätten wir keine weiteren Fragen«, antwortete Hansen. »Sollten wir noch Gesprächsbedarf haben, wissen wir ja, wo wir Sie finden.« Damit beendete er die Befragung. Eine Viertelstunde später kehrten sie ins Präsidium zurück.

 

»Wurde ja auch Zeit«, maulte Kollege Marquardt, der gerade auf den Flur trat, um einen Kaffee aus dem Automaten zu ziehen. Lange Zeit war er unter den Kollegen wegen seiner vielen Liebschaften als Lebemann verschrien gewesen, nicht zuletzt auch deshalb, weil er gerne mal einen über den Durst trank. Doch seitdem er vor einem Jahr seine Freundin Sarah kennengelernt hatte, war von dieser Lebenseinstellung nichts mehr übrig geblieben. »Dass du wie immer dein Handy ausgeschaltet hast, daran hab ich mich in den knapp zehn Jahren, die wir zusammenarbeiten, ja mittlerweile gewöhnt, Karl. Aber du, Stefan?«

Riedmann zog sein Smartphone aus der Hosentasche und machte sofort ein schuldbewusstes Gesicht. »Shit, Akku leer«, sagte er schulterzuckend.

»Was gibt’s denn so Dringendes?«, wollte Hansen wissen, der sofort nach dem kleinen Plastikbecher mit der schwarzen Brühe griff, als der Kaffeeautomat wieder verstummt war. »Den hab ich jetzt gebraucht«, sagte er mit einem Lächeln.

»Wir haben uns die ersten Videoaufnahmen der Geschäfte und der Restaurants rund um den Marktplatz besorgt und – haltet euch fest! – tatsächlich schon was gefunden«, erklärte Marquardt und warf eine weitere 50-Cent-Münze in den Automatenschlitz. »Am besten seht ihr euch das selbst mal an«, erklärte er, bevor er mit dem Becher in der Hand zurück in sein Büro schlenderte, das er sich mit dem Kollegen Markus Beck teilte. Als Vater zweier Töchter im Teenageralter war Beck nicht nur der Ruhepol der Abteilung, sondern galt auch als emsiger Arbeiter.

Hansen und Riedmann folgten ihm und postierten sich hinter seinem Bürostuhl. Zu viert starrten sie gebannt auf den Bildschirm.

»Diese Aufnahme stammt aus dem Goldenen Eber schräg gegenüber vom Rathaus«, begann Beck und startete die Aufzeichnung. »Achtet auf den Hintergrund.«

Das Bild war recht grobkörnig und wirkte zunächst nur wie ein Standbild. Doch nach einigen Sekunden war zu erkennen, dass ein Kastenwagen auf den Marktplatz fuhr und unweit des Karlsbrunnens hielt. Eine Person stieg aus, sah sich kurz um und hastete dann nach hinten, um die Heckklappe des Transporters zu öffnen. Nur wenige Sekunden später wuchtete sie sich etwas Großes über die Schulter und verschwand damit hinter dem Brunnen und aus dem Sichtfeld der Kamera.

»Ihr wurdet soeben Zeugen davon, wie die Leiche von Jonas Behrend abgelegt wurde«, stellte Beck fest. Der Timecode auf dem Video zeigte 02:45 Uhr. »Aber das war noch nicht alles. Als Nächstes sehen wir die Videoaufnahmen der Zentralkamera, die den gesamten Markt von oben überwacht.« Er öffnete ein neues Menüfenster, und nach kurzer Zeit startete er die nächste Videosequenz.

»Die Aufnahmen sind im Gegensatz zu denen aus dem Restaurant gestochen scharf, wie ihr sehen könnt. Achtet auch hier auf den Timecode.«

Die Digitalanzeige sprang gerade auf 02:45 Uhr, als der Lieferwagen auftauchte. Beck stoppte die Aufnahme, und nachdem er einige Befehle in die Tastatur gehackt und ein wenig herumgescrollt hatte, erschien der vergrößerte Bildausschnitt vom Kühlergrill des Transporters auf dem Monitor.

»Wie ihr seht, handelt es sich um einen VW-Bus. Das Modell ist ein T4 beziehungsweise 7D, wie er VW-intern bezeichnet wird. Der Wagentyp wurde zwischen 1990 und 2003 gebaut. Die Nummernschilder hat der Scheißkerl abmontiert. Vermutlich ist der Wagen gestohlen worden. Da uns leider keine Farbaufnahmen vorliegen, können wir bezüglich der Wagenfarbe nur spekulieren. Es ist auf jeden Fall ein heller VW. Weiß, Gelb oder Silber, schätze ich. Wir haben ihn bereits zur Fahndung ausschreiben lassen.«

Beck ließ die Aufnahme bis zu der Stelle weiterlaufen, als der Täter Behrends Leiche ablegte. Dann stoppte er die Aufnahme wieder.

»Eine Frau scheidet als Mörder wirklich aus. Es sei denn, es wäre eine Gewichtheberin«, meinte Riedmann.

»Sehr scharfsinnig, Herr Kollege«, erwiderte Beck. »Leider hat er uns nicht den Gefallen getan, sein Gesicht zu zeigen. Der Kerl hat nicht nur die Kapuze hochgezogen, sondern muss auch ganz genau gewusst haben, dass der Marktplatz kameraüberwacht ist.«

»Guter Hinweis, Markus. Wir sollten uns auch die Aufnahmen der letzten Tage besorgen, vielleicht hat der Typ auf dem Video ja den Platz vorher ausgekundschaftet«, stellte Hansen fest.

»Darum kümmer ich mich«, meinte Marquardt.

»Besonders viel geben die Aufnahmen leider nicht her. Das Einzige, was sie uns verraten, ist, dass der Fahrer des Wagens circa eins fünfundachtzig groß sein muss. Das konnten wir dank einer grafischen Aufbereitung des Größenverhältnisses vom Brunnen und der Person ermitteln«, fasste Beck die wenigen Erkenntnisse zusammen.

»Mehr haben wir nicht?« Hansen seufzte und fuhr mit einer Hand durch das allmählich lichter werdende Haar.

»Das war alles.«

»Verdammt, ich hab mir mehr von den Aufnahmen versprochen. Dann werden Stefan und ich uns jetzt Behrends Arbeitsplatz vornehmen und uns mit seinen Kollegen unterhalten«, erklärte Hansen.

»Nicht so schnell, meine Herren«, rief Laura Decker, die durch die offene Bürotür hereinspazierte.

»Die Präsidiumsschönheit gibt sich die Ehre«, tönte Marquardt, als sie ihren Koffer neben seinem Schreibtisch abstellte.

»Blötschkopp!«, erwiderte sie grinsend. Sie nahm ihm solche Kommentare nicht übel, schließlich wusste sie, dass es ihn damals getroffen hatte, als sie mit Riedmann zusammengekommen war. Auch Marquardt hatte sich bei ihr alle Mühe gegeben, letztlich aber den Kürzeren gezogen. »Es gibt interessante Neuigkeiten aus Behrends Wohnung. Wenn die Herren, und das schließt Stefan mit ein, hin und wieder auf ihrem Handy erreichbar wären, hätte ich euch das auch schon längst mitteilen können. Wir haben Blutspuren im Flur der Wohnung gefunden. Dem guten alten Luminol sei Dank, offenbar hat jemand versucht, sie wegzuwischen.«

»Vielleicht hatte Behrend Nasenbluten?«, erwiderte Marquardt.

»Unwahrscheinlich, wir haben es auf dem Boden und an der Wand gefunden. Ich bin zwar keine Analystin für Blutspurenmuster, die Bilder sind schon in der Auswertung, aber für mich deutet das Verteilungsmuster auf einen Kampf hin. Mit ein bisschen Glück war Behrends Mörder so freundlich, seine DNA am Tatort zurückzulassen. Obwohl die dann höchstwahrscheinlich unbrauchbar ist, wenn er zum Beispiel einen Haushaltsreiniger zum Putzen verwendet hat. Warten wir einfach den Abschlussbericht ab, dann sind wir schlauer. Wesentlich interessanter ist allerdings das hier«, erklärte Decker und holte einen Beweismittelbeutel aus ihrem Koffer hervor.

»Was haben wir denn da?« Ungeduldig griff Marquardt nach dem Beutel.

»15.000 Euro in bar. Fünfziger und Hunderter.«

»Wieso hatte Behrend so viel Bargeld im Haus?«, erwiderte Riedmann und kratzte sich am Kopf.

»Das ist eine berechtigte Frage. Möglicherweise helfen euch da seine Kollegen weiter, ihr wart ja ohnehin auf dem Weg dorthin«, meinte die Leiterin der SpuSi.

»Wo habt ihr das Geld gefunden?«, wollte Beck wissen.

»Wenig originell: im Eisfach seines Kühlschranks.«

»Also ich hab nicht so viel Zaster im Gefrierfach. Du etwa?«, konterte Marquardt und grinste Laura herausfordernd an.

»Nein, wir bewahren unser Bargeld traditionell unterm Kopfkissen auf, stimmt´s, Stefan?«, meinte sie und stieß ihren Freund mit dem Ellenbogen in die Rippe.

»Stimmt, Laura die Kohle und ich das Tafelsilber«, ging er auf den Scherz ein und zwinkerte.

»Und wo hat dein Liebster die anderen beiden Turnschuhe versteckt oder trägt man das jetzt so?«, machte Marquardt eine Anspielung auf die verschiedenfarbigen Sneaker, die der Kollege trug.

»Leute, das ist wohl kaum der richtige Zeitpunkt für eure Späße«, mahnte Hansen. »Konzentrieren wir uns wieder aufs Wesentliche. Mich würde brennend interessieren, warum Behrend so viel Bargeld zu Hause gehortet hat, noch dazu im Eisfach.«

»Er wär nicht der Erste, der kein Vertrauen in die Banken hatte«, stellte Marquardt fest.

»Hm, ich weiß nicht«, äußerte sich Riedmann skeptisch.

»Jens´ Erklärung überzeugt mich auch nicht restlos, aber ich will auch nicht wild spekulieren. Deshalb sollten wir keine Zeit verlieren und rausfinden, woher das Geld stammt. Habt ihr sonst noch was in der Wohnung gefunden?«, wollte der Leiter der Mordkommission wissen.

»Nein, nur die Blutspuren und das Bargeld. Behrends Laptop bring ich jetzt unserem Computerguru. Vielleicht kann Schulz ja doch noch ein paar Daten retten.«

»Wir begleiten dich ein Stück, dein Labor liegt ja auf dem Weg. Wir müssen zum Drogendezernat. Mal sehen, was uns die Kollegen über den Toten zu erzählen haben.« Hansen signalisierte Riedmann, ihn zu begleiten.

 

4. Kapitel

 

Herbert Wassenhoven, der Leiter des Drogendezernats, saß kreidebleich hinter seinem Schreibtisch. Behrends Tod hatte ihn offenbar tief getroffen.

»Na endlich, wir haben schon auf Sie gewartet«, begrüßte Wassenhoven die beiden Ermittler, erhob sich ruckartig von seinem Stuhl und stürmte an Hansen und Riedmann vorbei. »Am besten folgen Sie mir nach nebenan«, rief er im Vorbeigehen.

Während die Büroräume der Mordkommission eher klein waren, verfügten die Drogenfahnder über ein Großraumbüro, in dem fünf Schreibtische standen. Siebert saß in der hintersten Ecke des Büros, er nickte ihnen kurz zu und starrte dann wieder auf den Monitor.

»Die Kollegen Mario König, Boris Heidmann und Eric Schumacher kennen Sie ja bereits«, meinte Wassenhoven.

Die Fahnder blickten Hansen und Riedmann an, sagten jedoch kein Wort. Auf dem einzig freien Schreibtisch gleich gegenüber der Bürotür stand eine brennende Kerze und daneben ein Bild von Jonas Behrend mit einem Trauerflor in der rechten unteren Ecke. Der Anblick des schwarz umrahmten Fotos machte Hansen zutiefst traurig. Auch wenn ihm während seiner bisherigen Laufbahn erspart geblieben war, einen Kollegen auf diese Art und Weise zu verlieren, konnte er sich gut ausmalen, wie sich die anderen Teammitglieder fühlten.

»Die Kollegen der Mordkommission wollen uns auf den neuesten Stand bringen. Und ein paar Fragen haben sie sicherlich auch«, erklärte Wassenhoven.

»Ich hoffe, ihr erwartet jetzt nicht allzu viel. Wir haben ja gerade erst die Ermittlungen aufgenommen, wie ihr wisst, und Wunder können wir leider keine vollbringen«, begann Hansen.

»Sagen Sie uns einfach, was Sie bisher rausgefunden haben«, erwiderte Heidmann, der nicht nur die Statur eines Bären, sondern auch die entsprechend tiefe, sonore Stimmlage besaß.

»Ihr wisst, dass wir ungern über unsere Ermittlungen plaudern, aber in Anbetracht der Umstände … Es gibt Indizien, die darauf hindeuten, dass in Behrends Wohnung ein Kampf stattgefunden hat. Die SpuSi hat entsprechende Blutspuren gefunden, die Auswertung läuft. Könnte ein Hinweis darauf sein, dass der Täter Ihren Kollegen in der Wohnung überfallen und überwältigt hat. Wir gehen derzeit von einem Einzeltäter aus, Videoaufnahmen vom Marktplatz lassen jedenfalls diesen Schluss zu. Außerdem wurde die Festplatte von Behrends Laptop vollständig gelöscht. Es ist unwahrscheinlich, dass er das selbst getan hat. Vielmehr vermuten wir, dass der Mörder dafür verantwortlich ist. Möglich, dass sich etwas auf dem Computer befunden hat, das wir nicht finden sollten«, erklärte Hansen.

»Warum hat der Kerl den Laptop nicht einfach mitgenommen?«, fragte Wassenhoven verwundert und strich sich übers Kinn. Der Leiter der Drogenfahndung hatte sich mittlerweile auf die Kante von Boris Heidmanns Schreibtisch gesetzt und starrte Hansen an.

»Das fragen wir uns auch«, erwiderte Riedmann.

»Sie sprachen von den Videoaufnahmen – was genau ist denn darauf zu sehen?«, wollte Wassenhoven wissen.

»Der Täter hat Behrends leblosen Körper mit einem VW Bulli, Modell T4, zum Fundort transportiert und am Karlsbrunnen abgelegt. Vermutlich war Behrend zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Die Fahndung nach dem Fahrzeug läuft schon.«

»Das Gesicht des Täters ist vermutlich nicht zu erkennen?«, mutmaßte Wassenhoven.

»Leider nein. Der Unbekannte hatte eine Kapuze auf.«

»Also können wir davon ausgehen, dass der Mörder Ortskenntnis besitzt«, stellte Mario König, der Ermittler, der einen Bart wie Johnny Depp in Fluch der Karibik trug, fest.

»Davon ist auszugehen.«

»Haben Sie schon eine Idee, warum jemand die Leiche ausgerechnet auf dem Marktplatz abgelegt hat? Man geht damit ja ein großes Risiko ein, und das nicht nur wegen der Kameras. Es war eine warme Sommernacht, jederzeit hätten Nachtschwärmer auftauchen können«, wollte König wissen.

»Das ist eine berechtigte Frage«, entgegnete Hansen. Es ärgerte ihn, dass er sich über den Fundort der Leiche noch keine Gedanken gemacht hatte. König hatte recht, der Täter war ein großes Risiko eingegangen, indem er Behrends Leiche an einem öffentlichen Ort abgelegt hatte. Offensichtlich sollte die Leiche öffentlichkeitswirksam platziert werden, wobei das Risiko einkalkuliert worden war, erwischt zu werden.

»Eine Frage, auf die Sie aber noch keine Antwort haben«, holte König ihn wieder in die Gegenwart zurück. Der Mann hatte eine unangenehm schneidende Stimme und wirkte unsympathisch, fand Hansen, obwohl er nicht einmal sagen konnte warum. »Dann werd ich Ihnen mal auf die Sprünge helfen«, fuhr König fort. »Es liegt auf der Hand, dass Jonas kein zufälliges Opfer irgendeines Psychopathen war. Das zeigt mir allein die Tatsache, dass er vermutlich in seiner eigenen Wohnung überfallen wurde, wie Sie uns gerade erklärt haben. Dahinter steckt mehr. Das war eine Botschaft an uns. Wer immer das war, macht deutlich, dass er keine Angst vor uns hat. Nicht nur, dass er einen Polizisten tötet, er treibt das durch die öffentliche Zurschaustellung des Leichnams auch noch auf die Spitze. Und das direkt vor den Augen der Überwachungskamera!« Wütend schlug er mit der flachen Hand auf die Tischplatte.

»Und genau aus diesem Grund nehmen wir die Sache auch verdammt ernst, Kollege König, oder glauben Sie, dass wir uns darüber noch keine Gedanken gemacht haben?«, zischte Hansen durch die Zähne.

»Was hat denn die Befragung von Tobias Borchert ergeben?«, wollte Klaus Siebert wissen, offenbar darum bemüht, die Gemüter nicht weiter hochkochen zu lassen.

»Leider nichts«, gestand Riedmann. »Er hat deine Aussage bestätigt, dass Behrend kaum private Kontakte gepflegt hat.«

»Da hat der gute Mann wohl recht, nach allem, was man so mitbekommen hat. Ich würde Jonas auch nicht unbedingt als Freund bezeichnen. Aber ein guter Kumpel war er schon. Hat uns immer unter den Tisch gesoffen, wenn wir mal zusammen feiern gegangen sind. Ich werde ihn auf jeden Fall vermissen«, meinte Heidmann mit traurigem Blick in Richtung des Abschiedsfotos.

»Habt ihr noch was Geistreiches zu diesem Thema beizutragen?«, mischte sich Wassenhoven ein. Die Ermittler seines Teams quittierten die Zwischenfrage mit einem Kopfschütteln.

»Wir haben übrigens im Eisfach von Behrends Kühlschrank 15.000 Euro in bar gefunden.« Hansen machte hier ganz bewusst eine Pause, um die Reaktion der anderen abzuwarten, denen dieser Fakt neu war. Die Drogenfahnder warfen sich verwunderte Blicke zu. »Da sich Behrends Fingerabdrücke auf einigen Scheinen befanden, dürfte es sein Geld gewesen sein«, fuhr er fort. »Können Sie sich erklären, warum der Kollege so viel Bargeld zu Hause aufbewahrt hat? Noch dazu im Gefrierfach?«

»Wollen Sie damit irgendwas andeuten, Kollege?« Schumacher sprang so energisch von seinem Stuhl auf, dass dieser gegen die Wand knallte.

»Keineswegs«, erwiderte Hansen ruhig. »Trotzdem müssen Sie zugeben, dass es ungewöhnlich ist. Oder haben Sie so viel Bargeld zu Hause rumliegen? Ich jedenfalls nicht.«

Schumacher schüttelte den Kopf.

»Ich denke, dass sich dafür eine plausible Erklärung finden wird«, erwiderte Wassenhoven, um Schumacher, der noch immer sichtlich wütend war, mit einer Antwort zuvorzukommen. Gleichzeitig signalisierte er dem Ermittler, sich wieder hinzusetzen, was dieser dann auch geräuschvoll tat.

»Davon gehe ich auch aus. Bleibt noch eine Frage: Ist Ihnen bekannt, ob Jonas Behrend bedroht wurde? Oder anders gefragt, ob er Feinde hatte?«

Eine Reaktion blieb erneut aus, die Kollegen des Toten waren stumm wie Fische im Wasser. Allmählich fing das an zu nerven, dachte Hansen. »Hat wirklich niemand den leisesten Verdacht?«

»Wenn meine Jungs was wüssten, würden sie das auch sagen. Aber leider können wir nicht mit einem Verdächtigen dienen. Wenn Sie sonst unsere Hilfe benötigen, lassen Sie’s mich wissen«, meinte Wassenhoven.

Dem Leiter der Mordkommission kam das wie ein Rauswurf vor. Er wechselte einen kurzen Blick mit Riedmann, der verstand. »Darauf kommen wir eventuell noch mal zurück. Aber wir würden es begrüßen, wenn ihr uns nicht in unsere Ermittlungen reinfunkt. Fürs Erste haben wir keine weiteren Fragen. Lass uns gehen, Stefan.«

 

»Mich beschleicht das ungute Gefühl, dass die Kollegen was verheimlichen. Würde mich nicht wundern, wenn sie Behrends Mörder selbst schnappen wollen«, meinte Riedmann auf dem Rückweg zu ihren Büros.

»Ob du’s glaubst oder nicht: Genau dasselbe hab ich auch eben gedacht.«

5. Kapitel

 

»Karl, es gibt Neuigkeiten. Ein Spaziergänger hat im Aachener Wald einen ausgebrannten Transporter entdeckt. Wurde gerade gemeldet. Es würde mich nicht überraschen, wenn das unser Bulli aus dem Video ist«, legte Beck gleich los, nachdem er Hansens Büro betreten hatte.

 

Zwanzig Minuten später erreichten Hansen und Riedmann die Fundstelle im Wald, zwei uniformierte Polizisten hielten dort die Stellung. Der Hauptkommissar erkannte die beiden Kollegen sofort: Polizeiobermeister Lutz Friering und dessen Partner, Polizeimeister Sebastian Schmidtke. Er hatte bereits bei diversen Einsätzen mit ihnen zu tun gehabt. Frierings Bauchumfang schien seit dem letzten Aufeinandertreffen noch einmal erheblich zugenommen zu haben, dachte Hansen beim Anblick des Bauches, der über dem Hosenbund hing und sich unter dem Polizeihemd wölbte. Schmidtke hingegen war rank und schlank wie eh und je, allein das strohblonde kurze Haar war noch deutlich schütterer geworden.

»Vielen Dank jedenfalls, dass Sie uns sofort verständigt haben«, sagte Friering just in dem Moment zu dem älteren Herrn, als sie den Streifenwagen fast erreicht hatten.

»So eine Sauerei kann man ja auch nicht einfach hinnehmen. Diese Umweltsünder werden immer dreister!«, echauffierte sich der grauhaarige Senior, der mit seinem Spazierstock gefährlich nah vor Frierings Gesicht herumfuchtelte. »Ein Auto hier zu entsorgen und es auch noch in Brand zu setzen – wo kommen wir denn da hin? Es grenzt an ein Wunder, dass der Wald bei der anhaltenden Trockenheit noch nicht in Brand geraten ist.«

»Wie gesagt, wir sind Ihnen dankbar für Ihre Hilfe und wünschen Ihnen noch einen schönen Tag«, gab sich Friering betont freundlich. Es war offensichtlich, dass er den aufgeregten Mann abwimmeln wollte. Glücklicherweise kam der dem Wunsch auch nach. Harschen Schrittes stapfte er an Hansen und Riedmann vorbei, irgendetwas Unverständliches vor sich hin murmelnd.

 

»Unrecht hat der Gute ja nicht. Es ist wirklich ein Wunder, dass der Wald bei der Affenhitze nicht in Brand gesetzt wurde«, meinte Hansen, als er den beiden Beamten die Hand schüttelte.

»Hauptkommissar Hansen. Schön, Sie mal wiederzusehen. Obwohl es mich wundert, die Mordkommission hier im Wald zu sehen«, erwiderte der Mann.

Friering gab sich wie immer keine Mühe, seine Neugierde zu verbergen. Schmidtke bedachte die beiden Beamten mit einem kurzen Nicken.

»Wir sind nur die Vorhut. Wir vermuten, dass es sich bei dem Wagen um ein Fahrzeug handelt, nach dem wir im Rahmen unserer Ermittlungen fahnden«, erklärte Hansen.

»Verstehe, Jonas Behrend, nehm ich an. Verdammter Scheißkerl, der ihm das angetan hat!«

»Sie liegen richtig mit Ihrer Vermutung«, meinte Hansen nur.

»Es ist übrigens kein Zufall, dass es nicht zu einem Waldbrand gekommen ist. Hier vorn liegt ein leerer Feuerlöscher. Sieht ganz so aus, als ob der Wagen kontrolliert abgefackelt wurde und ein größeres Feuer verhindert werden sollte«, erklärte Schmidtke.

»Sollte es sich tatsächlich um den gesuchten Wagen handeln, war das sehr vorausschauend vom Täter«, erwiderte Hansen.

»Könnte tatsächlich unser Bulli sein«, stellte Riedmann wie aufs Stichwort fest, der sich in der Zwischenzeit das ausgebrannte Wrack angeschaut hatte. »Das Modell passt jedenfalls. Ich verständige Laura. Sie wird sich über weitere Überstunden freuen«, meinte Riedmann mit einem Schmunzeln.

 

Eine gute halbe Stunde später traf das Team der KTU ein. Nachdem die vier in ihre weißen Schutzoveralls geschlüpft waren - die Arbeit in den Anzügen war angesichts der schwülwarmen Temperaturen wahrlich kein Vergnügen -, machten sie sich gleich an die Arbeit.

»Wer auch immer dafür verantwortlich war, hat ganze Arbeit geleistet. Wir werden hier kaum etwas Brauchbares finden können«, meinte Decker nach einer ersten Begutachtung des Transporters. »Das Feuer hat mit großer Wahrscheinlichkeit alle organischen Spuren vernichtet. Es würde an ein Wunder grenzen, wenn wir DNA-Material finden. Ich vermute, dass der Täter einen Brandbeschleuniger benutzt hat. Ich tippe mal auf Benzin. Genaueres kann ich euch nach der gaschromatografischen Analyse sagen.«

»Danke, Laura. Da wir euch nicht länger im Weg stehen wollen, machen wir uns jetzt vom Acker«, erwiderte Hansen. »Du solltest deine Abendgestaltung übrigens ohne Stefan planen. Falls Klaus Siebert diesen Dennis Schneider, den Informanten von Behrend, doch noch auftreiben kann, möchte ich, dass er bei der Befragung dabei ist.«

 

Als er die Wohnung betrat, widmete er sich wie jeden Tag erst einmal dem neuesten Videomaterial und den aktuellen Tonaufnahmen der letzten vierundzwanzig Stunden. Er hatte einen Algorithmus programmiert, der ihm eine Schnellanalyse der gesamten Aufnahmen erlaubte, ohne das vollständige Material sichten oder anhören zu müssen. Anhand festgelegter Schlüsselwörter konnte er sofort feststellen, ob eine Aufnahme für ihn von Belang war oder nicht.

Da das diesmal jedoch nicht der Fall war, suchte er auf der Festplatte nach dem Ordner mit dem Namen seines nächsten Opfers. Das Beweismaterial, was diverse archivierte Filmdateien, Tonmitschnitte und einige Worddokumente umfasste, war das Ergebnis von vier Monaten Überwachungsarbeit. Der Inhalt der Dateien war an Widerwärtigkeit kaum zu übertreffen. Er startete eine Aufnahme, die er erst in der vorigen Woche heimlich aufgenommen hatte.

Das Sexvideo törnte ihn keineswegs an, im Gegenteil, es steigerte seine Wut auf den Mann, der darauf zu sehen war, ins Unermessliche. Ja, es war notwendig und unumgänglich, das Leben dieses Unmenschen so bald wie möglich zu beenden. Schließlich war das Mädchen in dem Video gerade mal siebzehn Jahre alt. Der Kerl hingegen war vierunddreißig und außerdem ihr Lehrer.

Sie war seine Schülerin, deren Vertrauen er sich erschlichen hatte, um sie dann zu verführen und ihr schließlich das Herz zu brechen. Lennart Dreßen, der Lehrer, war ein Wiederholungstäter. Und als ob Sex mit einer Minderjährigen nicht schon verwerflich genug gewesen wäre, klebte zudem auch noch Blut an seinen Händen. Allerdings wussten davon nur zwei Menschen.

 

6. Kapitel

 

Tag 2, Dienstag

Der zweite Ermittlungstag im Mordfall Behrend begann mit der üblichen Frühbesprechung. Hansen hatte sein Team für 09:30 Uhr in den Konferenzraum einbestellt. Auch Kriminalrat Hellhausen nahm an dem Treffen teil, um auf den neuesten Stand gebracht zu werden.

»Es gibt Neuigkeiten aus der Gerichtsmedizin«, kam der Leiter der Mordkommission gleich zur Sache. »Behrend ist an einer Überdosis Heroin gestorben, der toxikologische Befund ist eindeutig. Es gibt Fesselspuren an Händen und Füßen, aber auch im Brustbereich. Bode vermutet, dass Behrend auf einer Liege festgeschnallt war. Auf der rechten Seite des Kopfes wurden eine leichte Schädelprellung und eine kleine Platzwunde festgestellt. Es könnte sein, dass sich Behrend diese Verletzungen infolge eines Sturzes zugezogen hat. Das würde die Blutspuren im Flur erklären, sofern es sein Blut war.«

»Es war sein Blut«, bestätigte Decker.

»Gut. Dann behaupte ich mal, dass der Mörder Behrend angegriffen hat, als der die Wohnungstür öffnete. Er hat ihn in den Flur gedrängt, und dabei ist unser Kollege vermutlich gestürzt und zog sich die Kopfverletzung zu. Bode vermutet, dass Behrend mit einem Elektroschocker außer Gefecht gesetzt wurde. Er hat zwei kleine Brandwunden auf dem Oberkörper entdeckt, die dafür sprechen. Das erklärt auch, warum bei der Obduktion keinerlei Abwehrverletzungen bei Behrend gefunden wurden.«

»Wäre es nicht möglich, dass die Kopfverletzungen von einem Schlag herrühren und Behrend auf diese Weise überwältigt wurde?«, warf Hellhausen ein.

»Das hab ich Bode auch gefragt, nachdem ich den Bericht gelesen hatte. Er hat mir aber versichert, dass es nicht den geringsten Hinweis darauf gibt, dass Behrend niedergeschlagen wurde. Wäre das der Fall gewesen, hätte es spezifische Hinweise darauf geben müssen.«

»Wenn das so abgelaufen ist, wie du sagst, frage ich mich, wie es dem Täter gelungen ist, Behrend unbemerkt aus dem Haus zu schaffen. Am Ende waren es vielleicht doch mehrere?«, warf Decker in die Runde.

»Berechtigte Frage. Den Hausbewohnern in der Raafstraße ist jedenfalls nichts aufgefallen. Wir sollten sie noch mal nach dem VW-Bulli fragen, Markus und Jens können das später übernehmen.«

»Apropos Bulli«, ergriff die Leiterin der SpuSi erneut das Wort. »Wir wissen mittlerweile, wer der Besitzer des ausgebrannten Transporters ist, anhand der Fahrgestellnummer konnten wir den Halter ermitteln. Der Wagen gehört einem Carlos Medina. Er wohnt in Brand, ich hab kurz vor der Besprechung mit ihm telefoniert. Er wusste offenbar nicht mal, dass der Wagen gestohlen wurde, da er ihn seinem Sohn geliehen hat, der seit einigen Wochen das Haus umbaut und den Lieferwagen für den Materialtransport nutzte. Allerdings ist der Sohn seit dem Wochenende verreist.«

»Ist es Zufall, dass der Täter ausgerechnet diesen Transporter gestohlen hat? Oder hat er gewusst, dass Medinas Sohn verreist ist und das Verschwinden des Bullis erst mal nicht auffällt? Wir sollten uns auf jeden Fall mit dem Mann unterhalten«, entgegnete Hansen. »Was habt ihr sonst noch herausgefunden?«

»Die Auswertung der Spuren des ausgebrannten Wracks ist noch nicht abgeschlossen. Aber wie gesagt, versprech ich mir davon ohnehin nicht viel. Dafür gibt es Neuigkeiten, was Behrends Laptop angeht, wenn auch wenig erfreuliche. Die Jungs von der Technik waren nicht in der Lage, die Daten auf dem Rechner wieder herzustellen. Jetzt guckt nicht so bedröppelt«, meinte Jana, als sie in die Gesichter ihrer Kollegen blickte. »Behrends Mörder hat da ganze Arbeit geleistet, hat wohl alles mit entsprechenden Programmen mehrfach überschrieben und gelöscht. Allerdings sagte mir der Kollege, dass dazu nicht sonderlich viel Fachwissen nötig sei. Dank des unerschöpflichen Angebots im Netz ist ja heute fast jeder Laie in der Lage, Daten unwiderruflich von einem Computer zu entfernen. Auf dem Diensthandy haben wir leider auch nichts Verdächtiges gefunden. Und auch sonst nichts, was uns weiterbringt.«

»Haben wir mittlerweile eine nachvollziehbare Erklärung für die Herkunft der 15.000 Euro?«, mischte sich nun auch Kriminalrat Hellhausen in die Unterhaltung ein. Er hatte davon in Hansens Tagesbericht gelesen, den er per Mail erhalten hatte.

»Negativ«, meinte Riedmann. »Keine Erbschaft. Kein Lottogewinn oder Ähnliches. Keine auffälligen Kontobewegungen.«

»Die Sache ist und bleibt merkwürdig. Wenn ein Polizeibeamter so viel Bargeld zu Hause aufbewahrt, hinterlässt das immer einen faden Beigeschmack«, erwiderte Hansen. »Wir sollten das im Auge behalten. Also gut, die Aufgaben sind klar: Markus und Jens fahren in die Raafstraße, Stefan und ich unterhalten uns mal mit diesem Carlos Medina.«

 

7. Kapitel

 

Riedmann hatte von Medinas Arbeitgeber erfahren, dass der Elektriker auf einer Baustelle in Aachen-Brand arbeitete. Es dauerte fast zehn Minuten, bis sie ihn in dem riesigen Neubau, einem Bürogebäude, gefunden hatten.

»Von der Mordkommission?«, japste Medina, der Hansen gerade einmal bis zum Kinn reichte und somit nicht größer als eins sechzig sein konnte. Medina hatte kurzes pechschwarzes Haar. Die Gesichtsfarbe des schlanken Mannes hatte die mausgraue Farbe der Betonmauern im Hintergrund angenommen, nachdem sich die beiden Ermittler vorgestellt hatten. »Wieso kümmert sich die Mordkommission um mein gestohlenes Auto?« Der Spanier sprach nahezu akzentfrei Deutsch, wie Hansen feststellte.

»Wir gehen zurzeit davon aus, dass Ihr Transporter gestohlen wurde, weil jemand damit eine Straftat begangen hat.«

»Was sagen Sie da?«, rief er, riss die Augen weit auf und rieb sich das Kinn. »Hat das mit dem Mord an Ihrem Kollegen zu tun, von dem heute in der Zeitung berichtet wurde?«

»Es wäre möglich, die Untersuchungen diesbezüglich laufen noch. Ungeachtet des Ergebnisses möchte ich Sie allerdings aus ermittlungstechnischen Gründen bitten, darüber nicht zu sprechen«, erklärte Hansen.

»Comprendo.«

»Sie erzählten unserer Kollegin, dass Sie den Wagen Ihrem Sohn geliehen haben. Wann war das?«

»Manuel hat den Wagen seit circa drei Monaten. Er hat ein Haus gekauft, das wir zusammen umbauen. Er braucht den Transporter, um Baumaterial zu transportieren.«

»Und jetzt ist Ihr Sohn im Urlaub?«

»Genau. Er ist am Samstag mit seiner Frau und meinem Enkel für eine Woche nach Mallorca geflogen. Ich habe sie zum Flughafen gefahren.«

»Wer wusste davon?«

»Ich schätze, eine Menge Leute.«

»Wo wohnt Ihr Sohn?«

»Hier in Brand, im Hamsterweg.«

»Haben Sie einen Verdacht, wer den Wagen gestohlen haben könnte?«

»Nein, selbstverständlich nicht! Der Transporter stand auf einem frei zugänglichen Grundstück. Genauer gesagt im Hinterhof des Hauses meines Sohnes. Der ist allerdings gut einsehbar von der Straße. Jeder hätte den Wagen stehlen können.«

Das war nicht die Antwort, die sich Hansen erhofft hatte.

»Also, war’s das jetzt? Ich muss weiter arbeiten. Wir haben einen engen Zeitplan, und wegen der Ferienzeit sind ein paar Kollegen im Urlaub. Was meinen Chef aber reichlich wenig interessiert.«

»Ich denke, wir haben keine weiteren Fragen. Schönen Tag noch«, erwiderte Hansen.

 

»Und, was denkst du, Stefan?«, fragte Hansen auf dem Rückweg zum Dienstwagen.

»Dass Medina nichts mit dem Mord zu tun hat. Er passt schon rein optisch nicht ins Profil. Der Mann in dem Video war wesentlich größer.«

»Das war auch das Erste, was mir aufgefallen ist. Ich schlage vor, dass wir jetzt in den Hamsterweg fahren, um Medinas Angaben zu überprüfen.«

Keine fünf Minuten später standen die Ermittler vor Manuel Medinas Haus und verschafften sich einen Überblick.

»Der Vater hat recht, man hat von der Straße aus einen freien Blick in den Hinterhof«, meinte Riedmann, als sie vor dem unbebauten Nachbargrundstück standen.

»Was denkst du, war es nur Zufall, dass der Täter ausgerechnet diesen Transporter gestohlen hat? Getreu dem Motto: Gelegenheit macht Diebe.«

»Das glaub ich nicht. Sieht eher nach einem zielgerichteten Vorgehen aus. Alleine der Zusammenhang mit dem Mord spricht meiner Meinung nach dafür. Behrends Entführung, die entfernten Augen und die Münzen – wir sind uns ja darüber einig, dass es sich um eine Botschaft des Mörders handelt, die es zu entschlüsseln gilt. Die Inszenierung des Leichnams auf dem Marktplatz. Dann noch die Entsorgung des Transporters … Wieso hat der Kerl einen Feuerlöscher benutzt, damit die Flammen nicht den Wald erreichen? Der Typ überlässt nichts dem Zufall, auch nicht bei der Beschaffung des Transportfahrzeugs.«

»Ich bin da ganz bei dir, was den VW und den Täter angeht«, erwiderte Hansen nachdenklich. Sein Partner hatte es auf den Punkt gebracht. Zwar war es zu diesem Zeitpunkt noch zu früh, über einen psychopathischen Serienmörder zu sinnieren, aber es sprachen durchaus einige Aspekte dafür, unabhängig davon, dass es erst einen Mord gegeben hatte. Aber es stand zu befürchten, dass weitere Morde folgen könnten. Sollte er richtigliegen, hatten sie es mit einem Mörder zu tun, der gebildet war, einen hohen IQ hatte, über eine ebenso hohe Sozialkompetenz verfügte und oft als freundlicher Nachbar von nebenan galt. Herrje, dieser Fall würde ihm noch ordentlich Kopfzerbrechen bereiten.

Vor der Dienststelle trafen sie auf Beck und Marquardt.

»Schon zurück von der Befragung der Nachbarn?«, wollte Hansen wissen.

»Wundert dich das ernsthaft? Es soll ja noch andere Menschen geben, die um diese Zeit arbeiten. Wenn uns mal die Tür geöffnet wurde, konnte uns leider keiner weiterhelfen. Einen Lieferwagen, auf den die Beschreibung passt, will niemand gesehen haben, weder am Tatabend noch an den Tagen zuvor.«

»Na prima. Wir machen ja richtig große Fortschritte«. Der Chef schüttelte den Kopf. »Dann wollen wir mal hoffen, dass bald ein Wunder geschieht.«

 

8. Kapitel

 

Bis zum späten Nachmittag herrschte Stillstand bei den Ermittlungen. Der einzige kleine Lichtblick war der Anruf von Klaus Siebert gewesen, dem es gelungen war, für den Abend ein Treffen mit Dennis Schneider zu vereinbaren. Die Zusammenkunft sollte um halb acht auf dem Oberdeck des Parkhauses am Dom stattfinden. Der Drogenfahnder hatte Schneider am Mittag in einer Spielhalle ausfindig gemacht. Jetzt saßen Hansen, Riedmann und Siebert mit geöffneten Autotüren im Dienstwagen und warteten. Das Display der Digitaluhr zeigte mittlerweile 19:45 Uhr an.

»Sicher, dass dieser Schneider noch kommt?«, brummte Riedmann.

»Das hoff ich doch«, gab Siebert zurück. »Normalerweise ist er zuverlässig. Was dagegen, wenn ich im Wagen rauche?«

»Um ehrlich zu sein, ja, Klaus«, erwiderte Hansen.

»Kein Problem«, meinte Siebert und schwang sich nach draußen. Wie immer trug er Cowboystiefel, obwohl es immer noch sehr warm war.

Hansen schüttelte den Kopf, stieg dann aber ebenfalls aus und streckte sich. »Wenn wir ohnehin zur Untätigkeit gezwungen sind und auf deinen Informanten warten, hätte ich da eine Frage an dich«, meinte er. Siebert, der sich gerade eine Zigarette anzünden wollte, hielt kurz inne, also fuhr er hastig fort: »Du darfst aber nicht gleich ausflippen.«

»Nun mach’s doch nicht so spannend«, erwiderte Siebert ungeduldig.

»Als wir gestern mit eurem Team gesprochen haben, hatten wir den Eindruck, dass ihr uns nicht die ganze Wahrheit gesagt habt. Mal ehrlich: Ihr wollt doch nicht etwa den Täter auf eigene Faust schnappen?«

Siebert lachte laut auf. »Ernsthaft jetzt, das glaubst du? Mach dich nicht lächerlich, Karl«, sagte er barsch und zündete sich die Zigarette an. Genau in dem Moment betrat Schneider über die Außentreppe das Parkdeck. Der Drogenfahnder zog noch einmal genüsslich an der gerade erst angezündeten Kippe, bevor er sie auf den Boden schnippte und sie austrat.

»Schneider, schön, dass du dir endlich die Ehre gibst. Ist deine Uhr kaputt? Wir waren vor knapp zwanzig Minuten verabredet. Meine Freunde haben schon darauf gewettet, dass du’s dir anders überlegt hast!«

»Jetzt bin ich ja hier«, erwiderte der Mann genervt, als er auf die Ermittler zusteuerte. Ihm fehlte ein Schneidezahn, und er hatte schulterlanges dunkelblondes Haar, auf dem Kopf eine Lakers-Kappe. Die ausgewaschene Jeans hatte offenbar schon länger keine Waschmaschine mehr gesehen. Auch das dunkelgrüne T-Shirt war fleckig, die Turnschuhe waren ausgelatscht. Doch am auffälligsten war das Tattoo, das den rechten Oberarm zierte: ein Schneemann mit leuchtend orangefarbener Karottennase. Offensichtlich war das der Grund für seinen Spitznamen – und nicht die Tatsache, dass er mit Kokain dealte, wie Hansen zuvor angenommen hatte. Ohne auf eine Aufforderung zu warten, schob er sich auf die Rückbank, wo schon Riedmann saß.

Hansen, der wieder eingestiegen war und sich hinters Steuer gesetzt hatte, stieg sofort der unangenehm säuerliche Körpergeruch in die Nase, den Schneider verströmte. Er drehte sich zu dem Dealer um, der sofort loslegte:

»Ihr seid die Bullen, die den Tod von Behrend untersuchen?«

»Ich bevorzuge zwar die Bezeichnung ‘Polizisten‘, aber in Anbetracht dessen, dass Sie bereit sind, uns zu helfen, hab ich das mal großzügig überhört. Hauptkommissar Hansen und mein Kollege Riedmann«, stellte sich der leitende Ermittler vor. »Herr Siebert meinte, dass Sie viel rumkommen. Was erzählt man sich auf der Straße über den Tod unseres Kollegen?«

»Nicht viel. Ist jetzt zwar nicht gerade so, dass tiefe Trauer wegen Behrends Tod ausgebrochen wäre, aber von Freude kann jetzt auch nicht unbedingt die Rede sein. Überraschung – ja, das trifft’s am ehesten. Eins können Sie mir glauben: Wenn der Mörder aus den Reihen der Szene stammen würde, hätte sich das schon rumgesprochen. Ein Copkiller hätte mit seiner Tat geprahlt und die Lorbeeren dafür einheimsen wollen.«

»Also hat niemand bisher Insiderwissen geäußert?«, unterbrach Hansen ihn.

»Nee. Schweigen im Walde.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752132021
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Januar)
Schlagworte
Mord Kommissar Serienmörder Krimi Spannung Aachen

Autor

  • Frank Esser (Autor:in)

Frank Esser, Jahrgang 1974, absolvierte nach dem Abitur eine Ausbildung zum Industriekaufmann und arbeitet seitdem in der Medienbranche. Er lebt in der Nähe von Aachen. Seine Liebe zu Krimis inspirierte ihn, seinen ersten Regionalkrimi zu schreiben, der in der Aachener Domstadt spielt und 2017 veröffentlicht wurde. Mittlerweile veröffentliche er neben seiner Aachen-Krimi-Reihe weitere Krimis und Thriller.
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Titel: Richter ohne Gnade