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Farlin

von Tanja Rast (Autor:in)
421 Seiten
Reihe: Schmachten & Schlachten, Band 5

Zusammenfassung

Epische High Fantasy mit Helden, Schlachten, Magie und einer Romanze, die sich wie ein rotes Seidenband durch die Geschichte zieht und weder drohende Niederlagen noch selbst den Tod fürchtet. Der Kaiser ermordet, das Reich von Rebellen in Chaos gestürzt. Auf der Flucht stößt Farlin auf die hochschwangere Tiva. Edel schwingt er sich zu ihrem Beschützer auf, was Tiva nicht davon abhält, ihn als „Blutgeneral“ zu beschimpfen und ihn grauenhafter Verbrechen zu bezichtigen. Doch an nichts davon kann er sich erinnern! Dass sie ihn vor seinen Verfolgern nur beschützt, weil sie ihn nützlich findet, kann Farlin gerade noch ertragen. Doch Tiva erkennt als Erste, wer der wahre Gegner ist, und wie ein Feldherr nimmt sie den Kampf auf. Nur an ihrer Seite hat Farlin die Chance, sich von seiner Vergangenheit reinzuwaschen …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1.

Gefahr aus dem Regen

 

Es regnete, als wollte das Wasser aus schiefergrauen Wolken das Tal vor der Höhle in eine Seenlandschaft verwandeln. Schwere, kalte Tropfen prasselten mit solcher Wucht auf den aufgeweichten Boden, dass jeder Einschlag Morast aufspritzen ließ.

Tiva kauerte am Höhleneingang, wo jeder eisige Tropfen wie ein Wespenstich auf ihrer Haut brannte. Sie starrte nach draußen. Doch trotz herabstürzender Wasserfluten konnte sie die reglose Gestalt des Mannes im Regen immer noch ausmachen.

Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren, wie lange der Mann da schon lag. Die Welt außerhalb der Höhle war grau, neblig und sehr nass. Eine Stunde? So lange schon? Drei, vier Stunden? So kurz erst?

Sie wusste nicht, ob er tot war. Sie hoffte es. Falls er wirklich der war, für den sie ihn einen schrecklichen Augenblick lang gehalten hatte, konnte sie nur beten, dass er tot war.

Der Regen hatte das Blut von seiner Rüstung und aus seinen Haaren gewaschen.

Vielleicht sollte sie nachsehen, um sicher zu gehen, ob er es wirklich und tatsächlich tot war.

Aber sie umklammerte nur ihr Bündel und drückte sich fest gegen die kalte, raue Wand der Höhle, während wenige Schritte von ihr entfernt Regen auf die Erde donnerte, als wollte er die ganze Welt überschwemmen und in ein ewiges Meer verwandeln.

Die Haare des Mannes schimmerten wie Gold. Verdammt, er war es bestimmt!

Aber vielleicht hatte er noch Gegenstände bei sich, die ihr nützen konnten? Die Soldaten hatten ihn lediglich zu Boden gestreckt, während Tiva sich furchtsam in der Höhle versteckt hatte. Sie hatten ihn nicht durchsucht. Vielleicht trug er Gold bei sich – oder zumindest eine Waffe, die Tiva gebrauchen konnte? Der lange Mantel würde sie wärmen, wenn sie ihn erst getrocknet hatte.

Sie atmete tief durch, legte ihr Bündel zu Boden und stemmte sich mühsam auf die Beine, atmete in raschen, flachen Zügen und trat zögernd vor.

Der Regen schlug sie beinahe nieder. Nach nur zwei Schritten auf durchweichtem Boden war sie bis auf die Haut durchnässt.

So schnell es ihr möglich war, eilte sie zu dem flachen Stein, auf dem der Mann bäuchlings lag – wie auf einem Opferstein, dachte sie benommen.

Sie konnte sich nicht über ihn beugen, um seinen Atemzügen zu lauschen, also lehnte sie sich nur leicht vor und ging ein wenig in die Knie. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen, klatschnasse, blonde Haarsträhnen aus seinem Gesicht zu streichen. Dunkle Augenbrauen, schwarze Wimpern, zwischen denen Weiß schimmerte.

Tiva atmete schmerzhaft tief ein. Ihre Hand zuckte zurück, als hätte sie sich an der Schläfe des Mannes verbrannt.

Er war es!

Sie brauchte nicht den feuerroten Bart zu sehen oder in die Augen des Mannes zu blicken.

Farlin, General des toten Kaisers.

Farlin, der ihr noch mit seinem letzten Atem einen Dolch ins Herz rammen würde.

Die dunklen Wimpern flatterten.

Tiva stand für einen Augenblick wie gelähmt neben dem großen Mann, hörte das Hämmern der Regentropfen auf seiner Rüstung, sah Wasser über sein Gesicht laufen und starrte auf die Wimpern. Zwischen denen erschien klares Blau, und Farlin blickte sie direkt an.

Sie presste die Hand auf den Bauch. Ihre Knie drohten, sie neben dem General auf den schlammigen Boden zu befördern. Ganz oben in ihrer Kehle tat etwas weh, drückte ihr die Luft ab, während Tiva am ganzen Körper zitterte.

Der Totgehoffte hob ganz langsam den Kopf, stöhnte, kniff die Augen zusammen. Tiva stemmte sich mühsam hoch, wirbelte herum und eilte keuchend zurück in die Höhle, drückte sich regennass gegen die kalte Wand und rang nach Atem.

Gleich würde er ihr folgen und sie umbringen. Jeden Augenblick würde das ohnehin karge und graue Licht vom Höhleneingang durch Farlins massive Gestalt verdunkelt werden.

Gott! Von allen Menschen dieser Welt musste ausgerechnet Farlin ihren Weg kreuzen!

Warum hatten die Soldaten ihn nicht umgebracht? Warum hatte er das überlebt – ausgerechnet direkt vor ihrem Versteck, in Reichweite?

Sie presste beide Hände auf den Bauch und bekam einfach keine Luft mehr vor lauter Angst und dem lähmenden Gefühl der vollkommenen Hilflosigkeit.

Draußen strömte gleichgültig der Regen herab. Tiva lauschte auf Geräusche, die Farlins Nahen kennzeichnen mussten. Lauteres Platschen im Matsch, seine Atemzüge, Schritte, das Geräusch, wenn er seinen Dolch zog, um Tiva abzustechen.

Jeden Augenblick konnte er hier sein.

Aber der Lichtschein vom Eingang nahm nicht ab, Tiva hörte keine Geräusche und stieß sich nach einer schweißtreibenden kleinen Ewigkeit wieder von der Wand ab, klaubte einen handlichen Stein vom Boden und schlich solcherart bewaffnet mit rasendem Herzen zurück zum Ausgang der Höhle.

Farlin war vom Stein gekrochen oder gefallen. Nun lag er im Regen und rührte sich wieder nicht.

Sie hatte ansehen müssen, wie die Soldaten über ihn hergefallen waren. Zwanzig Mann waren notwendig gewesen, um Farlin zu Boden zu ringen. Und vier von denen hatte er abgestochen und weitere sechs oder sieben verwundet. Es war ein Wunder, dass der Kerl noch lebte. Ein böses Wunder direkt aus der Unterwelt.

Kaum dass Tiva im Höhleneingang erschien, hob Farlin den Kopf. Als hätte er nur auf eine Bewegung im Dunkeln gelauert. Doch es sah beschwerlich und nach einer gewaltigen Anstrengung aus, fand sie. Seine Finger krallten sich in den aufgeweichten Boden. Schmutziges Wasser troff an ihm hinab. Kein Vergleich zu dem strahlenden General in Gold schimmernder Rüstung, mit flatterndem Umhang und stolzgeschwellter Brust, den Kopf arrogant erhoben.

Wäre er doch nur tot!

»Bitte hilf mir.«

Sie konnte seine Worte über dem Prasseln des Regens kaum verstehen. Aber der Blick der klaren Augen war eindeutig flehend. Die Soldaten hatten ihn immerhin übel genug zugerichtet, dass er nicht einfach aufstehen und eine Frau niederstechen konnte.

Wie gut mochten seine Schauspielkünste sein? Sie wusste es einfach nicht. Vielleicht war er wirklich so halbtot, wie er gerade sehr glaubhaft den Eindruck erweckte. Es war sogar möglich, dass er sie tatsächlich nicht erkannt hatte. Wie oft waren sie sich begegnet? Waren sie sich überhaupt über den Weg gelaufen? Sie kannte ihn – doch wer im ganzen Reich tat das nicht?

Für einen Augenblick schöpfte sie Hoffnung. Sie stieß sich vom Felsen ab und eilte durch den niederstürzenden Regen zu dem großen Mann, der sich mühsam auf die Ellenbogen stützte.

Sein Atem klang heiß und keuchend.

Sie verstand nicht, was sie dazu trieb, aber sie hatte das drängende Gefühl, dem General helfen zu müssen. Falls er sie wirklich nicht erkannt hatte … Sie klammerte sich an dem Gedanken fest.

»Bitte hab keine Angst vor mir«, brachte er hervor.

Hätte ein Bauernmädchen Angst vor diesem prachtvollen Burschen in seiner schönen Rüstung? Ganz bestimmt! Jede Frau wusste, was im Gefolge marodierender Soldaten aufzog. Selbst das beschränkteste Mädchen erfasste, dass ein Soldat ohne Kommandanten hinter jedem Rock ein Vergnügen sah, ohne Rücksicht auf das Lebewesen, das er damit zerstörte.

Aber obwohl Farlin ihr Feind war, konnte sie darauf hoffen, dass er sich anständiger benahm. Er war kein Fußsoldat, sondern General des Königs. Diese Stellung sollte ihn einiges im Leben gelehrt haben, hoffte Tiva. Vielleicht sogar Anstand und Selbstbeherrschung. Hoffentlich zumindest Selbstbeherrschung. Sie wagte kaum, darauf wirklich zu hoffen.

»Da hinten ist eine Höhle«, sagte sie und schämte sich, dass ihre Stimme so schwach und atemlos klang.

»Wenn ich mich nur ein wenig auf dich stützen darf.«

»Ich versuche, dir zu helfen, Herr.« Sie ärgerte sich über diese Anrede, die ihr da herausgerutscht war. Aber fast im gleichen Augenblick verstand sie, dass ihre Aussicht auf weiteres Nichterkennen genau darauf beruhen konnte, wenn sie nicht die große Dame herauskehrte, die sie für einige Monate gewesen war. Und er sah aus wie ein Herr, das ließ sich nicht leugnen. Ihr war ja obendrein bekannt, dass er adelig war und zur obersten Befehlsebene des Reiches gehört hatte. Jedes Bauernmädchen wäre von Farlins Aufmachung – und wahrscheinlich auch von seinem Äußeren – zutiefst beeindruckt.

»Farlin«, sagte er schlicht, und es klang nicht halb so herablassend, wie er das gewiss gemeint haben musste.

Sie verschwieg ihren Namen, und da sie auch gerade nach Atem rang, als der große Kerl sich an ihr auf die Beine zog und sich viel, viel zu schwer auf ihre Schulter stützte, konnte ihr das niemand verübeln, fand sie.

Sein Kopf sank nach vorne, aber immerhin stand der riesige Kerl. Sie spürte das Zittern seiner Muskeln, roch frischen, heißen Schweiß, der dem Mann aus allen Poren brach. Der Duft des triefend nassen Leders seiner Rüstung stieg ihr in die Nase, kalter Geruch nach Eisen, das Aroma des nassen Wollmantels.

Die Hand auf ihrer Schulter war warm und fest, die Finger gruben sich hart in ihr Fleisch, ohne wehzutun.

»Du bist schwanger.«

Ja, das war wohl kaum zu übersehen. Sie war nicht einfach schwanger. Sie sah aus wie eine aufgepumpte Blase, wie ein gestrandeter Wal. Kaum schien es möglich, dass ihre mageren Beine die dicke Kugel tragen konnten.

Sie nickte zu Farlins Feststellung des vollkommen Offensichtlichen.

»Sag, wenn es nicht mehr geht. Du trägst schwer genug daran.«

Oh ja, ein Edelmann, ein rücksichtsvoller Adliger, ein so mitfühlender General. Wer sollte ihm das abnehmen? Tiva tat das nicht einen Herzschlag lang. Sie wusste, wie erbarmungslos er gegen seine Feinde vorging. gegen die des Kaisers und alle, die Farlin dafür hielt. Erst unter seinem Kommando war die Kaiserliche Garde zu mehr als einer Leibwache geworden, zu einer Schattenarmee innerhalb des Heers. Es war gezielt Jagd auf jene gemacht worden, die der Kaiser für Verräter und eine Gefahr für seine gottgleiche Person gehalten hatte. Seine Berater und Magier mochten ihm dazu geraten haben, ihm Namen genannt haben, aber es war Farlin gewesen, der die Jagd eröffnet und betrieben hatte. Es würde Farlin sein, der Tiva in dem Augenblick ermordete, da er verstand, wer sie war. Und was sie getan hatte.

Verdammt, warum war sie so blöd und versuchte, ihn aus dem strömenden Regen in ihre Höhle zu bekommen?

Weil sie entsetzt zugesehen hatte, wie seine eigenen Männer sich gegen ihn wandten und ihn hinterrücks angriffen, obgleich er sich in ihrer Mitte sicher gefühlt hatte?

Tiva verabscheute Verräter. Aus ihrer Sicht der Dinge waren andere die Verräter, während Farlin nicht einen Augenblick davor zurückschrecken würde, sie als Verräterin der Krone zu bezeichnen.

Der Bürgerkrieg war keinesfalls überraschend ausgebrochen. Wer die Augen offengehalten und sich nicht schaudernd angesichts Folter und öffentlicher Hinrichtungen abgewandt hatte, war durchaus fähig gewesen, den Aufstand vorherzusehen. Tiva hatte ihn nicht nur am Horizont auftauchen sehen. Sie hatte darauf gehofft und nach ihren begrenzten Möglichkeiten auch darauf hingearbeitet, den Umsturz herbeizuführen.

Es war seit dem Tod ihres Vaters ihr innigster Wunsch gewesen, den Kopf des Kaisers auf eine Lanze aufgespießt zu sehen – und Farlins Körper niedergestreckt in einer Lache seines eigenen Bluts auf den Marmorfliesen des Palasts.

Stattdessen half sie dem blonden Hünen und wusste selbst nicht, warum sie das tat.

Schnaufend, schwitzend und vollkommen atemlos erreichten sie den Höhleneingang, und Farlin streckte die freie Hand aus, stützte sich an der Felswand ab, nahm einen Teil seines immensen Gewichts von Tivas Schulter und taumelte neben ihr weiter in die vergleichsweise trockene Dunkelheit der Grotte.

Nur noch zwei Schritte, dann blieb Tiva stehen und gab dem General so zu verstehen, dass sie nicht weiter gehen konnte oder wollte. Es war ihr egal, was er dachte. Wenn er dies auf ihre Schwangerschaft schob und Tiva deswegen für schwächer hielt, als diese sich fühlte, dann war ihr dies recht.

Er brach langsam und kontrolliert in die Knie und blieb als elender Haufen Schwäche am Boden kauern, bevor er Tiva freigab. Er hob den Kopf und sah sich um, und sie konnte sicher sein, dass ihm gar nichts entging. Immerhin war er der General, und diese spezielle Sorte Mann lebte nicht lange, wenn sie nicht auf sich aufpasste. Es gab immer Neider und verschwiegene Feinde, heimliche Widersacher, die nicht davor zurückschreckten, eine Dolchklinge in der Brust oder auch im Rücken ihres Rivalen zu versenken. Alles im Stillen und Dunklen. Bei Hofe hatte es in den letzten Monaten mehr solcher Nachfolgemorde gegeben, als Tiva sich vorstellen mochte.

Es waren auch Männer geflohen, als sie verstanden hatten, dass sie auf der Todesliste standen. Dazu brauchte es noch nicht einmal einen Missgünstigen und dessen Dolch oder bezahlten Mörder. Es benötigte weder Gift noch einen Unfall. Es reichte ja schon, jemanden beim Kaiser oder dessen Magiern anzuschwärzen. Dann erledigte sich eine Nachfolge fast von allein.

Tiva hatte inmitten dieses Chaos aus Neid und Angst gelebt. Sie hatte mehr als einen aufrechten, guten Mann zu seiner Hinrichtung gehen sehen. Sie hatte aufgedunsene Leiber der Giftopfer betrachten können, bevor die Toten aus ihren Gemächern geschafft worden waren.

Innerhalb weniger Wochen hatte der Hofstaat sich radikal verkleinert. Wo früher Hunderte von Höflingen Spalier gestanden hatten, bezogen kurz vor Ausbruch des Aufstands nur noch gerüstete Männer, die Magier und natürlich Farlin Stellung, wenn der Kaiser vorbeiging.

Günstlinge und Adlige in Seide, Samt und Spitze waren nach und nach durch Leibwächter, die Kaiserliche Garde und Soldaten verdrängt worden.

Der Kaiser hatte den Aufstand befürchtet – oder seine Berater hatten ihm Angst davor eingeflößt. Egal, was der Wahrheit entsprach, woher die Sorge des Herrschers gekommen war: Sie war mehr als berechtigt gewesen.

Und nun kniete neben Tiva der Mann, der seit Wochen – nein, seit Monaten – für sie das Symbol der Schreckensherrschaft war. Farlin, General des Kaisers, erster Mann, wenn es darum ging, einen anderen zu verhaften, zu verhören und zur Hinrichtung zu schleifen.

Sie hatte sich einzureden versucht, dass er nur ein Werkzeug und nicht so intelligent war, wie es den Anschein hatte. Sie wusste nicht, was stimmte, aber der Blick, den er trotz seiner Erschöpfung rundum fliegen ließ, sprach von einem hellwachen Geist, der überall Gefahren befürchtete. Sie war sich sicher – diesen Kerl würde so schnell nicht wieder jemand überraschen können. Geschweige denn den Versuch wagen, ihn von hinten niederzustechen.

Der hatte seine Lektion gelernt, als seine eigenen Männer auf ihn losgegangen waren!

»Es ist gut gewesen, dass du dich nicht früher bemerkbar gemacht hast«, keuchte er, ließ sich vornüber fallen und rollte sich mühsam auf die Seite.

»Ich hatte Angst«, sagte sie leise und bemühte sich, schüchtern und verängstigt zu klingen.

»Sie sind weg. Sie kommen nicht wieder«, antwortete er.

Sie war sich nicht sicher, wen er damit beruhigen wollte. Eine kleine Bauernmagd, für die er sie hoffentlich hielt – oder sich selbst. In seinem jetzigen Zustand hatte er keine Aussicht auf Überleben, falls erneut ein Trupp von zehn, zwanzig Mann auf ihn losging.

»Bist du schwer verletzt, Herr?«, fragte sie, als er sich etliche Augenblicke lang nicht rührte.

Ein eindeutig belustigtes Funkeln stieg in die blauen Augen, und Farlins Lippen verzogen sich zu einem erstaunlich humorvollen Lächeln, das Tiva trotzdem zittern ließ. »Sie haben sich redlich Mühe gegeben, mich abzustechen, Mädchen. Ich dürfte ein paar sehr unschöne Löcher in mir haben. Das meiste hat die Rüstung abgefangen. Lass mich nur ein wenig ausruhen und wieder zu Atem kommen, dann sehe ich mir das an.«

»Bis dahin kannst du verblutet sein«, sagte sie sehr vernünftig.

»Möglich. Aber ich sterbe dann immerhin in angenehmer Gesellschaft.«

Sie spürte, wie Röte ihr aus dem Hemdkragen kroch. War das ein Kompliment gewesen? Wenn ja, dann hatte er es beinahe instinktiv und auf jeden Fall unbewusst geäußert. Jede Gesellschaft musste ihm angenehmer erscheinen als die seiner Männer.

Das mädchenhafte Erröten stieg aber auch in ihr auf, weil sie sich ärgerte. Farlin hielt sie für ein Bauernmädchen, und sofort tat er alles, um sie für sich einzunehmen. Er gab sich, als wäre es nicht sein Name, der wie eine Galionsfigur dem kaiserlichen Terror vorangetragen worden war.

Und sie ärgerte sich, weil der große General Farlin sich herabließ, zu einem einfachen Mädchen nett zu sein.

Schwein! Bastard einer Hündin! Aber ich weiß, wer du bist, was du alles getan hast! Ich war im Palast, als du befohlen hast, die alten Männer des Rats zu verhaften. Keiner von denen wurde jemals wieder gesehen. Ich wünschte, du wärst ein dummes Vieh, Farlin, denn dann könnte ich behaupten, dass du nur ein Werkzeug in der Hand des Kaisers warst. Aber du bist nicht blöd. Du hast genau gewusst, was du tust. Ich verfluche dich. Ich verfluche mich selbst, dass ich dich nicht habe draußen liegen lassen! Wie konnte ich nur so dumm sein?

»Soll ich dir helfen, Herr?«

Er schüttelte den Kopf und stemmte sich mühevoll in eine sitzende Position. »Ich hätte mir von dir nicht helfen lassen dürfen. Wie lange hast du noch Zeit, bis das Kind kommt?«

Sie zuckte die Schultern. Sie wusste es wirklich nicht. Sie sah aus wie der aufgeblähte Kadaver einer Kuh. Vielleicht trug sie mehr als ein Kind unter dem Herzen. Das würde erklären, warum sie so monströs aufgegangen war wie ein sehr gelungener Hefeteig.

»Nicht mehr viel Zeit, so wie du aussiehst. Wohin bist du unterwegs? Zu jemandem, der dir hilft, das Kind zur Welt zu bringen?«

Sie zuckte wieder die Schultern und wandte das Gesicht ab. Sie kannte niemanden, der ihr helfen würde, und mit jedem Tag, den ihr Bauch gewachsen war, hatte sie mehr und mehr Angst vor der Niederkunft bekommen. Ihre Eltern waren tot. Das zumindest konnte sie nicht Farlin anlasten. Sie waren einer Seuche zum Opfer gefallen, die in Tivas Heimatstadt gewütet hatte. Der ältere Bruder ihres Vaters hatte Tiva aufgenommen, und dieser war von Farlins Vorgänger vor vier Jahren enthauptet worden. In ihrem gemeinsamen Haus, wo sie ihrem Onkel den Haushalt geführt hatte. Die Soldaten waren einfach hereingekommen, und der damalige General des Kaisers hatte ihren Onkel ohne jegliche Vorwarnung und ohne die Verlesung einer Anklage aus heiterem Himmel enthauptet.

Sonst hatte Tiva niemanden mehr, und sie wusste nicht, wo und wie sie eine Hebamme oder einen Medikus finden sollte. Sie würde dieses Kind alleine auf die Welt bringen. Tiere schafften das ebenfalls. Es musste zu überleben sein. Für sie, für das Kind.

»Was ist mit dem Vater?«, bohrte Farlin nach.

War das der gleiche Tonfall, den er in den Kerkern unterhalb der kaiserlichen Residenz verwandt hatte? Ein wenig väterlich, sehr geduldig, aber zielstrebig wie ein Bluthund, der seine Beute hetzt?

»Er ist tot.«

»In den Kämpfen um die Kaiserstadt gefallen?«

Diese Frage besaß Widerhaken und Spitzen, war ausgestattet mit Klammern und einer Sprungfeder. Tiva fühlte, wie gefährlich jede mögliche Antwort war.

Aber sie hatte lange Zeit im Kaiserpalast gelebt, auf seidenen Kissen geschlafen und sich Stück für Stück weiter an ihr Ziel herangearbeitet. Sie wusste, was Farlin hören wollte, welches Ziel er verfolgte – verwundet und am Boden vor einem Mädchen, das er für eine Bauerntochter hielt.

»Willst du mich verantwortlich machen? Bin ich schuld, dass jemand gegen dich kämpfte?«, gab sie ruhig zurück und setzte sich vor Farlin auf den Boden.

Seine dunklen Brauen hoben sich überrascht angesichts dieser Antwort. »Nein, das hatte ich nicht vor. Mädchen, was denkst du von mir?« Er lächelte, und es sah so lange betörend und jungenhaft aus, bis sie bemerkte, dass seine Augen kalt und wachsam blieben.

»Ich denke, dass du ein hochstehender Soldat bist. Ein Kommandant. Herr, warum haben diese Männer da draußen dich angegriffen?«

Solange sie sich hinter der Maske eines kleinen Mädchens versteckte und Farlin nicht wusste, wer sie wirklich war, konnte sie versuchen, mehr zu erfahren. Wie stand der Kampf in der Hauptstadt? Wenn Farlin sich hier und nicht an der Seite des Erben des Kaiserthrons in der Hauptstadt befand, dann musste die Lage für die Kaiserlichen verzweifelt stehen. Oder war er ausgesandt worden, um Leute wie Tiva aufzuspüren und zu töten? Vielleicht nicht nur Leute wie sie, möglicherweise war die Jagd auf sie tatsächlich eröffnet worden.

Er sah sie einen Augenblick lang ruhig an, und das Lächeln verschwand so schlagartig, als hätte ihre Frage es ihm aus dem Gesicht gewischt. »Ich kann dir helfen, das Kind zu bekommen.«

»Wie bitte?« Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht mit einer solchen Äußerung.

»Ich bin Farlin, General des Kaisers – des toten Kaisers. Gerüchte reisen schneller als ein Reiter auf einem guten Pferd. Sag mir nicht, dass du es noch nicht gehört hast.«

Gehört? Mein Dolch war es, der in sein Auge eindrang und sein Gehirn zu Brei verarbeitete. Er hat geblutet wie ein Schwein. Er hat ein schnelles, gnädiges Ende bekommen, das er nicht verdient hat. Sein Befehl war es, dem mein Onkel zum Opfer fiel.

»Ich habe das Gerücht gehört.«

»Dann weißt du, wer ich bin.«

Sie nickte nur. Bitte, du darfst nicht wissen, wer ich bin. Du stichst mich mitsamt dem Kind ab. Aber du hast keine Ahnung, nicht wahr, Farlin? Du weißt nicht, dass die gefeierte, geschminkte Schönheit des Kaiserhofs vor dir auf dem Boden hockt.

»Ich habe meine Karriere im Heer des Kaisers in den Stallungen begonnen, Mädchen. Dort stehen Pferde, die mehr wert sind als du oder ich. Ich habe den Stuten geholfen, wenn ihre Zeit kam. Lach nicht und fühle dich nicht beleidigt. Im Gegensatz zu den meisten Menschen, die wir jetzt vielleicht erreichen können, weiß ich, wie eine Geburt verläuft. Ich kann die Nabelschnur durchtrennen und weiß, was eine Nachgeburt ist. Ich kann dir helfen.«

Sie zitterte vor Ekel, als er dieses vertrauliche wir benutzte. Aber ihre Stimme klang ganz ruhig, als sie nachfragte: »Und was ist der Preis?«

»Vergiss, wer ich bin und was ich unter der Herrschaft des Kaisers war.«

»Weil du gejagt wirst.«

»Du bist ein kluges Mädchen. Du verstehst wirklich viel. Ich will nicht wissen, auf wessen Seite der Vater deines Kindes gekämpft hat. Das liegt hinter mir, weil es keinen Kaiser mehr gibt. Ich bin auf der Flucht, richtig. Aber ich kann dir helfen, dieses Kind zu bekommen. Du musst nicht alleine in einer Höhle hocken. Du wirst nicht aufreißen oder verbluten. Ich wäre getötet worden, wenn eine der Stuten gestorben oder unbrauchbar geworden wäre. Ich kann dir helfen, und ich möchte dir helfen. Was sagst du?«

»Falls jemand dich erkennt …«

»Ist es nicht dein Problem. Du wirst sagen können, dass du ahnungslos warst, ich dich getäuscht habe. Meine Verletzungen werden heilen, ich werde mich verteidigen können. Ich will nur nicht, dass du dem ersten Soldaten, den wir treffen, ins Gesicht schreist, wer ich bin.«

»Viel Vertrauen zu einem einfachen Mädchen.«

»Du bist alles, Kleine, aber nicht einfach.«

Tiva hatte keine Zeit, erschrocken einzuatmen, sich zu verraten.

»Aber ich will nicht wissen, wer du bist. Du brauchst Hilfe, und ich würde mich über ein wenig Verschwiegenheit freuen. Was sagst du?«

Sie biss sich auf die Unterlippe, war sich Farlins hellwachen Blickes allzu sehr bewusst, sah das Drängen in seinen klarblauen Augen, die selbst im Dämmerlicht der Höhle zu leuchten schienen.

»Ich bin dir ausgeliefert.«

»Weil du im Augenblick nicht wirklich schnell rennen kannst, Mädchen. Ja, in gewisser Weise bist du mir ausgeliefert. Aber auch mein Leben liegt in deinen Händen.«

Das Kind regte sich in ihrem Bauch – oder die Kinder. Sie gab sich einen Ruck und nickte.

Jetzt und in dieser Lage konnte sie Farlin keine andere Antwort geben. Sie hatte seinen Kaiser abgestochen und war somit schuld daran, dass der General in einer vermeintlichen Magd seine einzig mögliche Verbündete sehen musste. Oh, er würde toben, falls er das wüsste!

Wenn er wirklich in den Stallungen als Geburtshelfer gearbeitet hatte, dann konnte er ihr beistehen. Seine Worte über den Wert der kaiserlichen Zuchtstuten waren nicht nur dahingesagt gewesen. Mit einem Mal besaß sie die Gewissheit, dass sie die Niederkunft überleben würde, wenn Farlin nur lange genug am Leben blieb.

Als hätte er ihr genau diesen Gedankengang an der Nasenspitze abgelesen, begann der große General, die Verschlüsse seiner Rüstung zu öffnen. Langsam, aber mit geübten, sicheren Bewegungen zog er Riemen durch Schnallen und legte nach einiger Zeit den geschmückten Brustpanzer ab, bevor er die Lederbänder löste, die Panzerplatten an seinen Armen befestigt hielten.

Das Regenwasser hatte alles Blut von seinem Körper gewaschen, das gesteppte Lederhemd mit der dicken Füllung troff schwarz vor Nässe. Tiva suchte nach Anzeichen einer Blutung. Farlin war immerhin zu Boden gegangen. Das hatte er bestimmt nicht aus Furcht oder Schwäche getan. Er musste verwundet worden sein.

Er warf ihr einen raschen Blick zu und lächelte. Dieses Mal erreichte der freundlichere Gesichtsausdruck auch seine Augen. »Ich vermute, dass du nicht ohnmächtig wirst, sobald ich das Hemd ausziehe?«

»Du vermutest richtig. Rein zufällig weiß ich, wie ein Mann ohne Kleidung aussieht, General.« Sie hatte ihr Kind doch nicht mit verbundenen Augen empfangen! Wie dämlich konnten Männer eigentlich sein?

Er hob die Hand. »Gewöhne dir diese Anrede bitte gar nicht erst an. Sie kann mich den Kopf kosten. Du willst doch nicht, dass deinem Bündnispartner etwas zustößt?«

Ich will, dass du für alle deine Morde bezahlst, General. Du sollst deinem verdammten Kaiser ins Jenseits folgen. Ich bete, dass es tatsächlich eine Totenwelt der Strafen für Mörder, Lügner und Meineidige gibt und dass ihr beide dort die fürchterlichen Qualen leidet, von denen nicht einmal Priester zu sprechen wagen.

Aber sie lächelte ebenfalls, schüttelte den Kopf und setzte hinzu: »Wie soll ich dich nennen? Dein Name dürfte ebenso gefährlich sein.«

»Meine beste Tarnung wäre es, wenn du mich als deinen Mann bezeichnest.«

Sie schüttelte vehement den Kopf.

»Nur bezeichnen, Mädchen. Ich werde dich nicht belästigen, hab keine Angst. Hast du noch lebende Verwandte?«

Sie schüttelte erneut den Kopf, und dieses Mal brannten ungeweinte Tränen in ihren Augen, was sie vor Farlin zu verstecken suchte.

»Es tut mir leid. Ich hätte dich gerne bei Leuten abgeliefert, die gut zu dir sind. Dich und das Kind. Ich bin auf der Flucht und werde wohl erst wieder zu Atem kommen, wenn ich dieses Reich verlassen habe.«

»Und du möchtest dich ungern mit einer Frau und einem schreienden Kind belasten?«

»Nein. Wenn ich so denken würde, müsste ich einfach nur gehen und dich alleine durch die Wehen krampfen lassen. Das habe ich nicht vor. Ich stehe zu meinem Wort, Bauernmädchen. Das mag dir unvertraut sein. Aber wenn ich mein Wort gebe, dann breche ich es auch nicht.«

Bis du herausfindest, wer ich bin und wessen Kind das ist, dem du in die Welt helfen willst, Farlin. Du würdest toben, wenn du das wüsstest. Vielleicht würdest du an deiner Wut auch einfach ersticken und verrecken. Aber ich kann es mir nicht leisten, diesen Versuch zu machen. So gerne ich dich auch vor Zorn platzen sehen würde, kann ich mein Leben nicht dafür riskieren.

Er zog sich das Hemd mit einem Ruck über den Kopf. Tiva schnappte nach Luft. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als sie die Linien von Farlins Körper sah. Warum musste ihr schlimmster Feind so gut gebaut sein, dass ihr der Atem knapp wurde?

Sie hatte sich den Weg in die Nähe des Kaisers wie eine Hure erarbeitet. Sie hatte mit jedem Würdenträger geschlafen, der sie auf ihrem Weg in das Zimmer des Tyrannen ein Stückchen weiter bringen konnte. Die meisten waren alt und beleibt gewesen.

Im Schlafgemach des Kaisers war sie in jener Nacht, in der sie ihn ermordete, das erste Mal gewesen. Nicht weil der alte Mann sie besteigen oder sich auf andere Art von ihr verwöhnen lassen wollte. Nein. Ihm war nur klar geworden, wessen Kind sie trug.

Als sie sein Zimmer betrat, wusste sie nicht, was er mit ihr vorhatte. Fest umklammerte sie den Dolch, den sie leicht in ihrem weiten Ärmel verbergen konnte. Dies war der Augenblick, für den sie fast zwei Jahre lang Männer ertragen hatte, die sie in der tiefsten Dunkelheit ihres Herzens verabscheut und sogar gehasst hatte. Die Verachtung war immer stärker gewesen. Wie leicht ein Mann ihr williger Sklave wurde, wenn er nur ihre weiche Haut streicheln und an ihren Brüsten saugen durfte – und aufsteigen durfte, weil sie ihm vorgespielt hatte, vor lauter Leidenschaft für ihn halb besinnungslos zu sein. Doch das war vorbei, als sie das goldglitzernde Gemach des Kaisers betrat, auf seinen Befehl hin dicht zu ihm kam – so dicht, wie nie zuvor jemand ihm gekommen war, der ihn ermorden wollte. Als er nach ihr griff, als sein Gesicht sich vor Zorn verdunkelte, nahm Tiva ihre Gelegenheit wahr und stürzte das Land in den lange überfälligen Bürgerkrieg.

Falls Farlin das erriet …

Er würde sie abstechen, und es wäre ihm egal, wessen Kind er mit dieser Gewalttat auslöschte.

Sie drängte diese Gedanken gewaltsam beiseite und starrte auf die Blutergüsse, die sich auf dem muskulösen Rücken gebildet hatten. Die Rüstung hatte Farlin vor dem Schlimmsten bewahrt, aber er sah aus, als wäre eine Herde wilder Pferde über ihn hinweg getrampelt. In den kommenden Tagen würden die glutroten Flecken und Striemen sich verfärben. Vielleicht würden sie sogar schwarz werden, bevor sie abheilten. So viel Blut befand sich unter seiner Haut, zwischen den Muskeln. Nicht eine Unze Fett war da, die die Hiebe hätte abmildern können, einen Teil der Gewalt hätte aufnehmen können. Aber alleine Blutergüsse konnten diesen Kerl nicht zu Boden geschickt haben.

Er musste eine Verletzung davongetragen haben, die ihn zumindest für einige Zeit das Bewusstsein hatte verlieren lassen. Tiva wollte diese Wunde sehen. Sie musste sie betrachten und versorgen, damit die nagende Angst, es mit einem begnadeten Schauspieler zu tun zu haben, sie endlich aus ihrem stählernen, eiskalten Griff freigeben würde.

Ja, Farlin war übel zu Boden geknüppelt worden. Aber auch das mochte gespielt gewesen sein. Seine Männer mochten sehr wohl auf seinen Befehl gehandelt haben, um ihm den Anschein eines schutzbedürftigen Flüchtlings zu verschaffen.

Misstrauen und Angst trieben Tiva Schweiß auf die Stirn, ließen ihre Hände und Füße eiskalt werden und machten das Atmen schwer.

Er ist deiner Spur bis hierher gefolgt. Du hast dich zu sicher gefühlt. Und dann hat dieses Schwein seinen Männern befohlen, ihn zusammenzuschlagen. Natürlich so vorsichtig, dass er keinen bleibenden Schaden zurückbehält.

Sie hielt inne, als sie Blut an seiner Schläfe sah. Sie war sich doch so sicher gewesen, dass der Regen den Kerl saubergewaschen hatte! Sie hatte Weiß zwischen seinen Wimpern schimmern gesehen. Sein Haar war mattes Gold gewesen, die langen Strähnen wie gesponnener Flachs. Da hatte kein Blut in seinen Haaren geleuchtet, dessen war sie sich ganz sicher.

Er hob die Hand, als Wasser und Blut vermischt an seinem Hals hinab rannen. Mit einer ungeduldigen Bewegung wischte er nasse Strähnen nach hinten und aus seinem Gesicht. Dann blickte er auf seine Hand, und Tiva konnte das helle Kirschrot sehen, das seine Finger bedeckte. Er blutete wie ein Schwein! Eine Kopfwunde, das war eine mögliche Erklärung. Ihr wurde etwas leichter ums Herz.

Mühsam stemmte sie sich auf die Beine und eilte zu Farlin. Rot sickerte aus seinem Haar, vermischte sich mit der Regennässe. Es sah dadurch so viel aus, war sehr viel heller als das Blut des Kaisers, das aus dessen Augenhöhle geströmt war.

Und warum hätte er sich bewusstlos stellen, die Schmerzen auf sich nehmen sollen? Ein General und zwanzig seiner besten Männer hätten auf jeden Fall ausgereicht, um eine beinahe wehrlose Schwangere abzuschlachten. Mädchen, die Angst lässt dich Dinge denken, die einfach unsinnig sind!

Sie kniete neben Farlin nieder, der sie leicht verschwommen ansah.

Oh, bitte, der will jetzt nicht wieder umfallen, ja? Wenn er wegen so ein wenig Blut schon ohnmächtig zu werden droht, wie will er dann bei der Geburt helfen? Will der Kerl sich einmal quer über mich erbrechen? Ich bringe ihn um!

Er zerrte ein Wolltuch unter einer der Armschienen hervor und presste es gegen seine blutende Schläfe.

»Lass mich das ansehen«, sagte Tiva gezwungen geduldig. Sie legte die Hand auf seine, fühlte die kraftvollen Finger unter ihrer Hand. Wie leicht würden die sich um ihre Kehle legen, wie schmerzhaft würden sie zudrücken können? Ein dicker, kalter Klumpen nistete in Tivas Hals und machte selbst Schlucken zur Schwerstarbeit.

Aber seine Finger lösten sich, gestatteten ihr, das Tuch ein wenig zur Seite zu ziehen und den hässlichen Riss gerade in seinem Haaransatz zu betrachten. Das Wolltuch war klatschnass, was kein Wunder war.

Tiva ließ es zu Boden fallen und stillte die Blutung mit dem eigenen Ärmel, der zwar auch nass war, aber immerhin noch weitere Feuchtigkeit aufnehmen konnte.

Langsam nahm der Fluss des hervor sickernden Bluts ab. Die Wundränder zeigten sich als weiße, gezackte Lappen. Diese Verletzung erklärte Farlins Bewusstlosigkeit, und Tiva atmete auf. Das bedeutete ein kleines Stückchen Sicherheit.

Bis sie Farlins Hand auf ihrem Bauch fühlte und erstarrte.

»Es hat sich bereits gesenkt. Mädchen, wir hatten beide Glück. In ein paar Stunden hätte ich vielleicht nicht mehr aufstehen können. Ich würde gerne ein wenig ausruhen. Dann gehe ich Feuerholz sammeln. Mir ist kalt.«

Sie nickte und setzte sich wieder hin. Selbst die kleine Anstrengung, gebückt neben einem blutenden General zu stehen, war beinahe zu viel für sie gewesen.

Ein leichtes Ziehen lief über ihren Bauch. Unangenehm, aber auszuhalten. Es konnte doch noch nicht soweit sein?

 

Tiva träumte sehr schlecht.

Der Kaiser hatte die Hand gehoben und den Dolchhieb mühelos abgewehrt. Sein blasses Gesicht verzog sich zu einer Hohngrimasse. Er schleuderte Tiva zu Boden und rief nach seinen Wächtern. Der Dolch glitzerte tückisch in seiner Hand.

Die Tür zum Flur flog auf, und als Erster stürmte Farlin in das Gemach des Kaisers. Ohne eine Frage, ohne einen Befehl auch nur abzuwarten, bohrte er Tiva das Schwert in den dicken Bauch. Sie spürte, wie die Waffe durch das Kind raste, bevor die Klinge auch das Leben der Mutter beendete.

In Farlins Augen brannte ein kaltes Feuer, ein Lächeln umspielte seine Lippen. Tiva atmete Blut aus und starb.

Und erwachte mit einem Ruck in flackernder Dunkelheit, roch Rauch, nahm den Duft bratenden Fleisches und den Geruch eines Mannes wahr. Farlin kauerte dicht neben ihr und beugte sich über sie.

Sie unterdrückte einen Schrei durch reine Willenskraft, stemmte sich auf die Ellenbogen hoch und atmete tief durch, als ein weiteres Zucken über ihren kugelrunden Bauch lief.

»Entschuldige. Ich bedachte nicht, dass ich dich erschrecken könnte. Mein Mantel hängt zum Trocknen. Er wird dich wärmen. Du zitterst am ganzen Körper.«

»Ein böser Traum«, würgte sie hervor, die Hand auf dem Bauch, um sich zu vergewissern, dass kein Schwert darin steckte. Sie spürte die Bewegungen des Kindes – träger in den letzten Stunden als noch vor einer Woche. Sie vermutete, dass dies ein Zeichen für die bevorstehende Niederkunft war, als sammelte ihr Kind seine Kräfte für die Reise durch die Enge des Geburtskanals in eine Welt, die ihm feindlich gegenüberstand.

»Ich habe zwei fette Enten gefangen. Das Fleisch sollte bald gar sein. Rück dichter ans Feuer und wärme dich auf.«

Sie sah die Vögel an Spießen über dem Feuer. Neben der Glut lag Farlins Helm, in dem sich eine gelbliche Brühe befand.

Mühsam setzte Tiva sich ganz auf und fühlte dabei Farlins Hand auf ihrer Schulter. Er half ihr tatsächlich und sah sie besorgt an.

Dabei erkannte sie die braun verkrusteten Strähnen an seiner Schläfe. Es hatte ganz offensichtlich noch ein wenig geblutet, aber jetzt sahen seine Haare trocken aus, und das Blut wirkte wie Kohlendreck in den schimmernden Strähnen.

»Es regnet nicht mehr?«

»Es hörte mit der Abenddämmerung auf. Das Holz qualmt widerlich, aber wir brauchen etwas Wärme und vor allem etwas zu essen.«

Sie sah das bratende Fleisch an und hatte für einen Augenblick das Gefühl, dass ihr vom Kind zusammengepresster Magen rebellieren wollte. Dann knurrte er deutlich. Sie lächelte. »Sehr gerne. Ich habe das Gefühl, vor Hunger ohnmächtig zu werden.«

»Das dachte ich mir. Du bist zu blass, und die Schatten unter deinen Augen kann ich nur eindrucksvoll nennen. Stelle nicht die Federn auf, wenn ich frage: Bist du von der Hauptstadt hierher gewandert?«

»Nicht ganz so weit«, log sie und zog einen Fuß unter ihren Hintern, um die kalten Zehen so aufzuwärmen.

»Dein Mann hat in der Hauptstadt gekämpft, deswegen dachte ich das. Meine Männer und ich sind in Gewaltmärschen bis hierher gekommen. Das ganze Reich scheint auf den Füßen und auf der Flucht zu sein.« Er sah ins Feuer, und das rote Flackern beleuchtete sein Gesicht, ließ die Augen dunkler, die Wangen eingefallen erscheinen. »Sie haben Angst vor Soldaten. Ich kann es ihnen nicht verdenken.«

Sie haben nicht Furcht vor Soldaten, du Schlächter. Sie stehen Todesangst vor dir aus. Tu nicht so niedergeschlagen. Wir beide wissen, was du alles angerichtet hast im Namen des Kaisers. Wer von euch beiden war das größere Scheusal? Er, weil er es befohlen hat – oder du, weil du jedem seiner Befehle Folge geleistet hast? Ich bewundere deine Männer, dass sie sich getraut haben, dich anzugreifen.

Er sah auf, und sein leuchtend blauer Blick bohrte sich in ihre Augen. »Was für Geschichten hast du über mich gehört, Mädchen? Ich sehe dir an, dass es die schlimmsten der Welt gewesen sein müssen. Du vertraust mir nicht.«

»Du bist ein wildfremder Mann, General.« Sie beobachtete genüsslich, wie seine Augen sich bei dieser Anrede verdunkelten. »Und ich habe viel über dich gehört. Der Bluthund des Kaisers, der Herr der Kaiserlichen Garde, der Meister der Folterkammern.«

Er wandte den Kopf mit einem Ruck ab und sah wieder in die Glut. Seine Kiefermuskeln spannten sich an, und nach einer Zeit, die Tiva wie eine Ewigkeit vorkam, nickte er. Er nickte! Sie konnte es nicht fassen. War er sich klar, was er alles angerichtet hatte? Erkannte er, wie entsetzlich seine Verbrechen waren?

Sie lächelte. Wann hatte schon einmal ein vermeintliches Bauernmädchen einen kaiserlichen General so hübsch auf seinen Platz verwiesen?

Aber ihr Onkel Amento war alles andere als ein Bauer gewesen. Es versetzte ihr einen Stich. Farlin hatte ihren Onkel niemals gekannt, ihn niemals auf dem Höhepunkt seiner Macht gesehen. Oder doch? Hatte Farlin von seinem blutigen, schmutzigen Arbeitsplatz im Pferdemist einen Blick auf Amento von Kazal erhaschen können? Hatte er jemals diesen großen Mann gesehen, der durchaus kaiserlicher General hätte werden können, wenn er es nur gewollt hätte?

Es war gleichgültig. Ihr Onkel war tot, seine Leiche von den Klippen ins Meer geworfen, sein Hab und Gut von der Krone eingezogen worden. Es war nichts mehr da, was an die einst so stolze Familie von Kazal erinnern konnte. Nur die Tochter des jüngeren Bruders, die ohnehin niemals Anspruch auf Titel und Erbrecht hätte haben können, trug die nächste Generation in sich, die noch nicht einmal den alten Namen würde führen dürfen.

»Du glaubst diese Geschichten über mich. Sag mir die Wahrheit, Mädchen: Soll ich gehen? Willst du alleine hier bleiben? Ich komme irgendwie durch. Ich bin ein wenig grün und blau geschlagen und habe Kopfschmerzen. Das ist alles. Noch einmal falle ich nicht auf den Gehorsam meiner ehemaligen Soldaten herein.«

»Du würdest wirklich gehen?«

»Das würde ich, falls du es so willst. Du hast nicht mehr viel Zeit, bis dein Kind aus dir herauswill. Sonst würde ich dich bis ins nächste Dorf bringen. Es kann nicht allzu weit entfernt sein. Zwei oder drei Tage Fußmarsch, schätze ich.«

»Und dort würdest du darauf bauen, dass ich nicht jedem ins Gesicht kreische, wer du bist, richtig?«

»Das hoffe ich, Mädchen.«

Etwas in ihr – nicht das Ungeborene – versetzte ihr einen Stoß. War das Scheinheiligkeit seitens Farlin? Er musste wissen, wie verzweifelt ihre Lage stand. Dies war ihr erstes Kind, und sie hatte Angst vor der Geburt. Sie wusste nicht, ob sie es alleine schaffen konnte. Prüfte er sie? Wollte er nur in Erfahrung bringen, wie weit sie zu gehen bereit war?

Aber diese Worte, dieses Angebot passten nicht zu dem Bild, das sie von dem General besaß. Sie hatte alle Geschichten über ihn, über die Magier an der Seite des Kaisers, über die Berater und die ermordeten Ratsmitglieder gehört und wie einen schwarzen Schatz gesammelt. Sie träumte davon, dass eines Tages die Vergangenheit Stück für Stück wie ein kostbares Pergament aufgerollt werden würde, dass das Volk die Wahrheit hören wollte. Dann musste sie zur Stelle sein und berichten, was sie in den Monaten bei Hofe alles erlebt, gehört und gesammelt hatte. Sie wollte dann ihren Schatz der Welt zeigen und jedem beweisen, wie richtig der Aufstand gewesen war, wie notwendig und absolut wichtig.

Doch irgendetwas an Farlins Tonfall berührte sie. Und statt den großen Kerl sofort und auf der Stelle aus der Höhle zu weisen, beugte sie sich leicht vor.

Die Spannungen in ihrem Bauch nahmen zu. Wie in flachen Wellen, die am Meeresstrand über Sand strömten, überliefen diese drückenden Wogen ihren gewölbten Leib, nahmen ihr für einen Wimpernschlag den Atem, während das Kind ganz still lag.

Und ebenso gespannt wie ihre Muskeln war auch Tiva.

Der Blick aus Farlins Augen schien ihr ehrlich. Die strengen Fältchen in seinen Augenwinkeln, die Schatten oberhalb seiner hohen Wangenknochen sahen so echt aus. Der ganze Mann wirkte besorgt – und bescheiden? War das wirklich? Das konnte nicht aufrichtig sein.

Sie sprach es einfach aus, was ihr wie Blätter im Sturmwind ziellos durch den Kopf wirbelte. »Sie nennen dich den Schlächter, General. Wie passt deine Höflichkeit gegenüber einer Magd dazu?«

Er blickte hinab auf seine Hände, die entspannt auf seinem muskulösen Oberschenkel lagen. Dann hob Farlin den Kopf und sah ihr so offen und frei in die Augen, dass ihr beinahe schwindelig wurde. Seine Augen, so wusste sie, trugen in sich die Farbe eines klaren Sommerhimmels. Ein tiefes, leuchtendes Blau. Nicht kobaltblau, eher wie Kornblumen. Zusammen mit dem schimmernden Gold seines Haars, den dunklen Brauen, dichten schwarzen Wimpern und dem beinahe jungenhaften Gesicht verliehen diese Augen ihm den Anschein von unbeschwerter Unschuld. Nur der Bart leuchtete so blutig rot wie seine Vergangenheit und sein Handwerk.

»Glaube, was du willst. Ja, ich habe dem Kaiser treu gedient. Nur wir beide sind hier, Mädchen. Mein Wort gegen deines. Dein Wort gegen meines. Der Kaiser war ein strenger Herr, aber er war kein schlechter Regent. Bis die Magier einzogen und seine Ratgeber wurden. Das war ein Fehler, den er nicht wieder gutmachen konnte, und viele haben für diese falsche Entscheidung teuer bezahlt. Auch ich. Und ich bezahle immer noch dafür. Es ist deine Entscheidung. Ich bin angeschlagen, aber ich komme alleine zurecht. Es widerstrebt mir, dich zurückzulassen. Du bist zu mir in den Regen gekommen, und ich habe gesehen, welche Angst du hattest und vielleicht immer noch hast. Du kennst meinen Namen, du weißt, wer ich bin. Da draußen lauern Männer darauf, mich für die Geschichten büßen zu lassen. Vielleicht habe ich Strafe verdient – vielleicht nicht. Kannst du das beurteilen?«

Du bist das Gesicht des kaiserlichen Terrors. Es war dein Name, der mit den schrecklichsten Geschichten immer wieder genannt wurde. Aber ich werde nicht schlau aus dir.

»Ich glaube, dass ich Hilfe brauche. Bald.«

»Das sind nur die ersten Wehen, die deinen Körper vorbereiten.«

»Das hast du also gesehen?«

»Es ist nicht zu übersehen, da ich weiß, worauf ich achten muss. Vertraust du mir so weit, dass ich dir helfen darf?«

Sie nickte. Ja, so weit konnte sie gehen.

Sie musste sich auf Farlin verlassen, dass er ihr wirklich helfen konnte.

Eine weitere Schmerzwelle überrollte sie ganz sanft.

Wenn Tiva in seine klaren Augen sah, konnte sie kaum glauben, dass er mit jenem Mörder identisch war, vor dessen Gräueltaten sie monatelang gezittert hatte. Gott, das ganze Reich hatte vor ihm gebebt.

»Gut. Denkst du, dass du etwas essen kannst? Du wirst deine Kräfte brauchen.«

Er zog seinen Dolch, und für einen Augenblick glitzerte das rote Licht der Glut auf der schlanken Klinge, bevor Farlin rasch Fleisch von den bratenden Enten abschnitt und Tiva reichte.

Doch dieser kurze Augenblick hatte vollkommen ausgereicht, um Tiva klarzumachen, dass sie sich in einer erbärmlichen Situation befand. Sie besaß selbst keine Waffen. Die Inhalte ihres Bündels waren nur mager zu nennen – sowie harmlos und unverdächtig, falls Farlin ihren kurzen Schlaf genutzt haben sollte, ihre Sachen durchzusehen.

Nichts darin wies darauf hin, dass sie im Palast gelebt und den Kaiser abgestochen hatte. Sie hatte keinen Schmuck, keine wertvollen Kleider mitgenommen. Der Bürgerkrieg brach aus, und ihr war klar gewesen, dass Räuber und hungernde Menschen, marodierende Soldaten nur darauf lauerten, die Hände auf eine goldbehangene Adlige zu legen, die leichte Beute versprach und zu dumm war, sich auf eine Tarnung zu verlegen.

Aber der Tod ihres Onkels hatte Tiva gelehrt, wie wichtig es war, die eigene Identität zu verschleiern. Nichts anderes hatte sie monatelang im Palast des Kaisers getan.

Das heiße Fleisch tat ihr gut. Schon beim ersten Bissen merkte sie, wie viel Hunger sie tatsächlich hatte. Ihre Flucht hierher war anstrengend gewesen. Sie hatte von Beeren, Pilzen und den Vorräten, die sie aus dem Palast hatte mitnehmen können, gelebt. Sie wusste, dass sie viel Gewicht verloren hatte und auch dem Kind geschadet haben mochte.

Solange sie noch Geld besessen hatte, war es ihr möglich gewesen, bei Bauern ein wenig Brot oder Gemüse zu kaufen. Fleisch war ein Luxus, den sie sich nicht hatte leisten können.

Nur weit weg von der Hauptstadt und dem Palast des toten Kaisers, das war ihre einzige Richtungsangabe gewesen. Wohin sie genau wollte, wusste sie selbst jetzt nicht.

Auch Farlin sah erschöpft aus, wie ihr jetzt bewusst wurde. Die Sehnen auf seinen Handrücken warfen Schatten, sah sie verwundert.

Sein Mantel und auch das gesteppte Lederhemd hingen zum Trocknen auf Astgestellen, die er während Tivas Schlaf errichtet hatte. Der Anblick seines nackten Oberkörpers hatte sie beim ersten Mal beinahe begeistert, jetzt sah sie, wie seine Rippen unter den Muskeln hervorstanden.

»Warum bist du nicht mehr in der Hauptstadt, General?«, fragte sie.

Er sah rasch auf. Bratensaft lief ihm in den roten Bart, und Farlin wischte sich über das Kinn, kaute, schluckte und sah auf das geröstete Fleisch in seinen Händen. Ihr schien, dass er sich einen Ruck geben musste, diese Frage zu beantworten, aber sie war sich verblüffend sicher, dass er die Wahrheit sagen würde, so erstaunlich das auch für sie selbst klang.

Seine Kiefermuskeln spannten sich an, wodurch die roten Haare sich ein wenig aufrichteten. Der General sah dadurch grimmiger, aber auch noch erschöpfter aus.

»Der Kaiser ist tot.«

Sie wartete ab und unterdrückte eine bissige Bemerkung, dass dadurch der Schlächter des Kaisers plötzlich ebenso schutzlos dastand, wie all seine Opfer das getan hatten. Sie hielt sich zusätzlich mühsam davon ab, Farlin ins Gesicht zu schleudern, dass er die wunderbare Gabe besaß, sich zu wiederholen und das Offensichtliche zu sagen. Ohne seine hilfreiche Bemerkung wäre ihr ja auch nie aufgefallen, dass sie eine riesige Kugel vor sich herschob!

»Und die Aufständischen sind jetzt in der Hauptstadt?«, bohrte sie nach, als Farlin auch nach etlichen Atemzügen nichts sagte.

Er schüttelte den Kopf.

Eine weitere Wehe überlief den dicken Bauch. Tiva hatte die Hauptstadt verlassen, weil sie Angst vor den Aufständischen gehabt hatte. Sie war die Geliebte so vieler einflussreicher Männer gewesen, dass sie vor jenen floh, die eigentlich ihre Verbündeten sein sollten, deren Ziele und Visionen sie teilte. Sie hatte den Kaiser getötet – für ihren Onkel und für Monate der Erniedrigung. Die sie auf sich genommen hatte, damit sie an den alten Tyrannen überhaupt herankam. Und zur krönenden Ironie flüchtete sie jetzt vor den Männern, die sich den Tod des Alten ebenso innig gewünscht hatten wie sie!

»Nein. Die Aufständischen haben keine Chance, Mädchen. Dein junger Mann ist tot. Und so ist es den meisten der Angreifer ergangen. Der Kaiser war das Letzte, das zwischen uns allen und dem Wahnsinn der Magier stand. Jetzt ist er tot. Sein Sohn ebenfalls. Da ist niemand mehr, der rechtmäßigen Anspruch auf den Thron erheben kann. Weißt du, wer den Sohn meines Kaisers getötet hat? Keiner der Bauern, die sich gegen ihn erhoben haben, Mädchen. Einer seiner Leibwächter war es, der sagte, nur so könnte man die Magier aufhalten. Ebenso irre wie sie. Der Alte konnte sie kontrollieren, auch wenn sein Versagen sie überhaupt erst in den Palast gelassen hat. Jetzt sind sie da, und sie bleiben da. Und egal was für Geschichten du über mich gehört hast, es sind Erzählungen für Kinder verglichen mit dem, was die Magier jetzt verursachen werden. Es gibt keine Kaiserliche Garde mehr, weil sie nicht mehr benötigt wird. Wer braucht schon Männer mit Schwertern, wenn nur ein Gedanke eines Magiers ausreicht, um einen Menschen in Flammen aufgehen zu lassen? Du fragst, warum ich hier bin? Weil ich nicht brennen wollte. Weil ich Hilfe suchte, um die Magier aus der Stadt zu bekommen.«

2.

Das Kind

 

Er senkte den Blick mit einem Ruck und atmete tief durch. Dann zog er ein Stück vom Baum geschälte Rinde zu sich und holte die Enten von ihren Spießen.

Tiva sah ihm fassungslos zu, wie er das heiße Fleisch von den Knochen löste. Wie konnte er jetzt etwas so Weltliches tun? Eben erzählte er ihr noch, dass es tatsächlich jemanden – eine Gruppe sogar – gab, die noch schlimmer war als er, und fast im gleichen Atemzug spielte er den Koch.

Sie sah zu, wie er die Knochen in die Glut stieß, bevor er das Rindenstück zur Seite schob, wo Tiva die Fleischstücke leicht erreichen konnte.

Sie hatte keinen Hunger mehr. Hatte sie wirklich das Reich vom Regen in die Traufe gestoßen? Aus der Hand des Kaisers und seines grausamen Generals befreit, um es in die Gewalt der Magier zu bringen?

So sehr sie sich auch den Kopf zerbrach, so hatte sie doch während ihrer Zeit im Palast nicht wirklich viel über die Magier gehört. Sie waren bereits eingezogen, als Tiva sich ihren Weg durch die Palasthierarchie erarbeitete. Als Ratgeber des Kaisers, seine persönlichen Auguren und Lehrer lebten sie in einem eigenen Flügel des Palasts und waren immer nur in kleinen Gruppen zu beobachten gewesen.

Tiva hatte sie gefürchtet, weil sie nicht wusste, wie viel diese Magier wirklich sahen. Konnten sie in Köpfe hineinsehen und Gedanken lesen? Dann mussten Tivas Gedanken sie verraten, denn jede freie Minute widmete ihr Verstand sich der Frage, wie sie am besten zum Kaiser vordringen konnte.

Aber sie war niemals verhaftet worden, nicht einmal befragt worden. Die Kerker, in denen Männer wie Farlin ihr blutiges Handwerk betrieben, kannte sie nur aus Erzählungen.

»Ich bin also ein ganz gewöhnlicher Flüchtling. Alles in mir schreit danach, der Schreckensherrschaft der Magier ein Ende zu bereiten.« Er zog den Dolch und fischte die verbrannten Knochen aus der Glut, bevor er die Waffe umdrehte und mit dem Knauf die Knochenreste zu Pulver schlug. Dann schob er alles wieder in die Glut und stand auf. »Du hast eine Wasserflasche. Die brauche ich.« Er hob das Bündel vom Boden und reichte es an Tiva.

Es war beinahe lächerlich, was er ihr hier vorspielte! Wenn er die Zeit ihres Schlafs nicht genutzt hatte, um die Habseligkeiten einer angeblichen Bauerntochter durchzusehen, dann war er nicht General Farlin, so einfach war das.

Sie zog die Wasserflasche hervor und reichte sie an Farlin weiter.

»Und den Becher.«

Sie besaß wirklich nicht mehr viel. Ein wenig Wäsche zum Wechseln, Fetzen dicken Stoffs für das Baby, eine schäbige Decke, die niemals sie und das Neugeborene zusammen warm halten würde. Ein kleines Messer, das sie aus der Küche gestohlen hatte, bevor sie aus dem Palast floh: stumpf und winzig. Selbst einer Rübe konnte sie damit keine Angst einjagen. Sie vermutete, dass es die kümmerliche Erscheinung des Messers war, die Farlin bislang davon abgehalten hatte, es ihr wegzunehmen. Vor einer solchen Klinge musste er keine Angst haben. Erschwerend kam hinzu, dass er eine solch pathetische Waffe in der Hand einer kleinen, hochschwangeren Frau wahrscheinlich nicht einmal dann fürchten würde, wäre die Klinge rasiermesserscharf.

Tiva sah Farlin zu, wie er Asche und die gemahlenen Reste der Knochen in den Becher schaufelte, wofür er wieder seinen Dolch benutzte. Dessen Klinge war auf jeden Fall mehr als nur scharf!

Behutsam goss der General Wasser zur Aschemischung und stellte den Becher dann in die Glut. Tiva protestierte nicht. Sie hatte auf ihrer Flucht bereits feststellen müssen, dass Asche und Sand hervorragende Reinigungsmittel abgaben, wenn Kräutersud im Becher angebrannt war.

Als Farlin aber auch seinen Helm mit der gelblichen Pampe in die Glut stellte, hob Tiva den Kopf, zuckte unter einer neuerlichen Wehe zusammen und hatte wirklich keine Ahnung, was der Kerl da tat. »Was ist das?«, fragte sie schließlich widerwillig, bevor sie an Neugier versterben konnte.

»Fett von den Enten. Wird ein bisschen stinken, aber damit können wir leben, nicht wahr?«

Sie biss sich auf die Unterlippe und starrte Farlin trotzig an, während schon wieder eine Schmerzwelle durch ihren Bauch lief. Sie stöhnte und legte die Hand auf die Kugel. Das hatte wehgetan.

»Dein erstes Kind, nicht wahr? Bitte sag mir nicht, dass du schon fünf oder sechs geboren hast.«

»Warum nicht?«, quetschte Tiva zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Weil es beim Ersten lange dauert. Je mehr Fohlen … Kinder, ich wollte Kinder sagen, wirklich. Je mehr Kinder eine Frau geboren hat, desto schneller geht es. Das ist dein Erstes, nicht wahr?«

»Ja.« Sie nickte. Gott, sie schwitzte sogar schon wie ein Pferd. Die Verwechslung war Farlin durchaus zu verzeihen.

»Das ist gut.«

»Das ist nicht gut! Es tut weh!«

»Ich sehe nach, ob mein Mantel trocken ist. Dann sorgen wir dafür, dass wir dich etwas bequemer hinsetzen.«

»Und das soll helfen?«

»Ich hoffe.«

»Du bist nicht halb so hilfreich, wie ich gehofft hatte!«

»Ich kann dir nicht helfen, mit Schmerzen umzugehen.«

Sie krümmte sich zusammen und stöhnte erneut. Das ist nicht sein Ernst, ja? Er redet von Vorbereitungen. Ich wünschte, ich wüsste mehr vom Kinderkriegen!

Sie sah aus den Augenwinkeln eine Bewegung, hob den Kopf und erwartete, Farlin an ihrer Seite zu erblicken. Stattdessen goss er rasch den Inhalt des Bechers zu der fettigen Brühe im Helm und begann, die stinkende Mischung hastig mit einem Stock zu rühren.

»Was«, fragte sie zitternd, »tust du da?«

»Seife. Sie wird stinken, aber sie wird ihren Zweck erfüllen.«

Sie wünschte sich, dass sie seinen Dolch ergreifen könnte. Dann würde sie die Welt von General Farlin befreien und bei der Geburt sterben. »Ich kriege mein Kind, und du verdammter, eitler Geck denkst daran, wie du dich waschen kannst?« Sie zitterte, schwitzte, und in ihrer Bauchdecke und tiefer in ihr zuckten Krämpfe. »Du … du …«

»Atme. Hör auf zu zetern und atme lieber. Ja, ich koche Seife, weil ich dir helfen will! Mädchen, sei nicht so dämlich, nur weil es ein wenig in deinem Bauch zwickt.«

»Ein wenig? Und es ist mein Bauch! Wie kannst du wissen, ob es ein wenig oder ganz furchtbar zwickt?« Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie krümmte sich erneut zusammen.

»Ich will dir helfen. Ich habe – Gott mag wissen, wie lange – im Matsch gelegen, nachdem ich ein paar Tage lang durch die Gegend gerannt bin. Ich bin voller Dreck und Blut, Dreck und Schweiß und noch mehr Dreck. Ich bringe dich um, wenn ich dir so schmutzig helfe! Verdammt!« Er rührte heftig in seinem Helm, wo das gelbe Fett langsam trübe wurde.

»Ich kriege mein Kind jetzt und auf der Stelle!«

»Nein, das tust du nicht. Das ist dein Erstes, du hast noch Stunden Zeit. Wann hat es das erste Mal gezwickt?«

»Vor Stunden!«, brüllte sie ihn an. Die Schmerzen waren zu viel. Sie wollte das nicht. Sie hatte Angst, es tat so weh, und das Kind rührte sich nicht mehr in ihrem Bauch. Wie ein toter Klumpen lag es in ihr und wurde von den Wehen wahrscheinlich zu Tode gedrückt.

»Dein Fruchtwasser ist noch nicht abgegangen. Wir haben Zeit.« Er rührte schneller, zerrte den Helm aus der Glut, fluchte, als der Gestank verbrannter Haut aufstieg, und goss kaltes Wasser in die stinkende Masse.

Tiva versuchte, sich keuchend ein wenig weiter aufzusetzen, mit dem Rücken an die Felswand zu kommen. Nie zuvor hatte sie das so dringende Bedürfnis verspürt, einem Menschen den Schädel einzuschlagen. Selbst ihr Drang, den Kaiser zu töten, war dagegen gar nichts. Mehr eine Laune, denn ein dringlicher Wunsch. Aber Farlin mit seiner widerwärtigen Ruhe machte sie wahnsinnig!

Schweiß lief ihr in die Augen, klebte ihr die Haare an den Schläfen fest. Gleichzeitig fror sie vor Schmerzen und der Anstrengung, überhaupt noch zu atmen.

Sie hob den Kopf, starrte den blonden General an und holte Luft, um ihm irgendetwas sehr Unerfreuliches an den Kopf zu werfen.

In diesem Augenblick sah er auf, und Tiva verschluckte sich fast an ihrer Tirade. Sie kannte diesen Gesichtsausdruck. Nur nichts in ihrem Leben und keine ihrer Erfahrungen und erst recht keine der Geschichten über Farlin hätten sie darauf vorbereiten können, diesen Ausdruck auf seinen ebenmäßigen Zügen zu sehen – und glauben zu müssen, dass er echt war.

Wann hatte sie genau diesen Ausdruck das letzte Mal gesehen? Im Gesicht ihres Onkels, nachdem sie sterbenskrank zu ihm gebracht worden war? Im Gesicht ihrer Mutter, die Blut ausgehustet und auf jedes Anzeichen der Krankheit bei ihrer Tochter geachtet hatte?

Nicht Sorge – Fürsorge. In General Farlins Gesicht. Im Gesicht des Schlächters.

»Ich mache, so schnell es geht. Aber ich werde nicht dein Leben riskieren, nur weil du denkst, dass ich zu langsam bin, Mädchen.«

»Tiva«, sagte sie.

»Tiva. Beiß die Zähne zusammen, atme ruhig und tief. Ich bin gleich wieder da. Ich gehe zum Fluss und wasche meine Hände und Arme, damit ich dich nicht umbringe. Ich bin wirklich gleich wieder da. Sollte dein Fruchtwasser kommen, schrei nach mir. Ich beeile mich! Ich bin gleich wieder da! Halt durch, Mädchen.«

Sie nickte, wischte sich schweißfeuchte Haare aus dem Gesicht und nickte wieder. Sie glaubte ihm. Sie legte ihr Leben und das Wohlergehen ihres Kindes vertrauensvoll in Farlins Hände. Was auch immer die schaudernd geflüsterten Geschichten über ihn sagten, hier und jetzt bestand ihre einzige Hoffnung darin, dass er es aufrichtig mit ihr meinte.

»Gleich wieder da«, versprach er noch einmal, nahm den Topf mit der schmierigen, halbflüssigen Seife und rannte nach draußen.

Der Fluss verlief nicht weit entfernt an der Höhle vorbei. Tiva wusste, dass der General rasch wieder bei ihr sein konnte – und würde.

Sie wünschte verzweifelt, es wäre schon vorbei. Die Schmerzen waren mehr, als sie jemals auszuhalten gehabt hatte.

Mit einem Mal ließ der Druck in ihrem Bauch nach – dafür saß sie in einer Pfütze. War das das Fruchtwasser? Egal! Sie schrie wie am Spieß.

Farlin stolperte zurück in die Höhle und kniete vor ihr nieder. »Fruchtwasser. Gut, Mädchen, es geht los.«

Mit raschen Bewegungen zerrte er ihren Rock bis zur Hüfte hoch und drückte ihr die Knie auseinander.

Gott, der Kerl ist zwischen meinen Beinen. Da wollte ich ihn nie! Und vor allem nicht so! Es tut so weh!

Sie roch das Bratenfett an ihm und sah einen Wassertropfen von der hastigen Wäsche an Farlins Kehle hinab über seine Brust laufen.

Verdammt, lass es endlich vorbei sein. Lasst es aufhören, dauernd so weh zu tun! Ich will das nicht. Und ich will den Kerl nicht da haben und nicht unter meine Röcke glotzen lassen!

Seine Hände und Unterarme waren rotgescheuert. So sehr er sich auch beeilt haben musste, war er doch offenkundig gründlich gewesen.

Endlich hob er den Kopf, und Tiva rang schmerzhaft in einem Aufatmen nach Luft. Zumindest für einen Augenblick starrte er ihr nicht mehr zwischen die Beine.

»Gut. Mädchen, reiß dich zusammen, atme so ruhig und tief, wie es geht. Leg deine Hände auf die Knie. Komm nicht auf die Idee, dich hinzulegen. Dann presst du nämlich gegen die Schwerkraft an.«

Er legte ihr eine warme Hand auf einen Oberschenkel, die zweite auf ihren Bauch.

Sie hechelte wie ein Hund. Tiefere Atemzüge waren schlichtweg unmöglich.

»Press noch nicht. Soweit bist du noch nicht.«

»Hol das Ding aus mir raus, verdammt!«

»Du wirst die Austreibungswehen erkennen, wenn sie kommen. Ich weiß nicht, wie viele ein Mensch braucht, um das Kind zur Welt zu bringen. Aber es geht schnell. Halt noch ein bisschen durch.«

»Ich kann nicht mehr!« Sie weinte und schämte sich noch nicht einmal. Die Schmerzen waren einfach zu viel.

»Du machst das gut«, sagte Farlin leise.

Für einen Augenblick fragte Tiva sich, ob er so den Pferden Mut zugesprochen hatte. Hatte das irgendeine verzweifelte Stute getröstet, die das Gefühl hatte, dass die Wehen sie in zwei Teile rissen?

Eine neuerliche Wehe stieg aus der Tiefe von Tivas Bauch. Sie konnte nicht mehr schreien. Nur noch stöhnen und ihre Knie so fest umklammern, dass ihre Hände taub wurden.

»Jetzt, pressen. Du schaffst das. Das Schlimmste hast du hinter dir.«

Tiva hielt die Luft an, und mit einem Mal war alles leichter zu ertragen. Nicht länger lag sie hilflos herum, jetzt arbeitete sie mit ihrem Körper, der das gleiche Ziel wie sie hatte, jetzt tat sie etwas und ging mit der Wehe mit.

»Hol Luft, nicht weiterpressen. Gleich wieder«, kam die Anweisung zwischen ihren Beinen, und Tiva rang nach Atem, für den Augenblick ohne Schmerzen und von einem seltsamen Hochgefühl erfüllt.

Ihr schossen Tränen in die Augen, als sie leises Gurgeln und Blubbern vernahm. Sie fühlte einen gewissen Druck, aber der war nicht schlimm. »Ist es da?«

»Der Kopf. Ein oder zweimal noch, Mädchen, dann haben wir dein Fohlen.«

Sie lachte hell auf, zwischen ihren Beinen der Mann, der ihr half und der sie töten würde, falls er alles wüsste. Sie hörte ihr Kind, das leise gurgelte.

Dann kam die nächste Wehe, und Tiva brauchte keine Anweisung, sondern schwamm auf dem Schmerz und legte alle Kraft zur Unterstützung hinein. Schweiß strömte an ihr herab, aber es tat kaum noch weh. Sie war über den Schmerz hinweg und fühlte Muskeln warm werden, sich zusammenziehen, und plötzlich legte Farlin ihr etwas Schmieriges, Blutiges, Röchelndes auf die Brust.

Sie verstand, noch bevor das Kind zu brüllen begann, bevor Farlin noch allen Schleim und Blut aus dem kleinen, hochroten Gesicht gewischt hatte: Ihr Kind war auf dieser Welt!

Sie packte das schmutzige Etwas und zog es fest an sich, legte die Wange auf das warme Köpfchen und weinte und lachte vor Erleichterung, es endlich geschafft zu haben. Am Leben zu sein.

Farlin hockte schmutzig da und betrachtete sie lächelnd. Dann hob er ihr Bündel vom Boden an und suchte einen Stofffetzen heraus, mit dem er das Kind zudecken konnte.

Sie streichelte über den kleinen Kopf und konnte es kaum fassen. Sie lebte, das Kleine lebte. Die winzigen Fäuste waren geballt, der zahnlose Mund stand beim Atmen ein wenig offen, und immer wieder stieß das Kind leise Schreie aus.

Die Wehen flauten ab, die Zeitabstände wurden größer. Sie spürte es kaum noch. Bis sie merkte, dass ihr Körper noch etwas ausspie. Sie hob den Blick zu Farlin.

»Nachgeburt. Vollständig. Das hast du großartig gemacht, Mädchen.«

Sein Dolch blitzte auf, und Tiva erstarrte, als der große Mann ihr die Klinge auf den Bauch legte. Farlin zog Fäden aus der Babydecke und schnürte die Nabelschnur damit ab, bevor er den Fleischstrang durchschnitt, der Mutter und Kind verbunden hatte und nun überflüssig war.

Sie konnte erst wieder richtig atmen, als der General die Waffe wieder in den Gürtel schob.

Dann beugte er sich über sie und ihr Kind, und wieder spannte sie jeden Muskel an, wollte fliehen oder zum Angriff übergehen.

Er küsste sie auf die Stirn, nachdem er mit einer großen, blutigen Hand ihr Haar beiseite gewischt hatte.

Waren das Tränen in seinen Augen? Er sah vollkommen erschöpft aus. Es war wohl doch etwas anderes, bei der Geburt eines Menschenkindes zu helfen als bei einem Fohlen.

Sie bemühte sich um ein tapferes Lächeln.

»Ruh dich aus. Er wird bald das Euter …«

»Ich werde dich schlagen, Farlin, wenn du nicht aufhörst, mich als Stute zu sehen«, sagte sie lächelnd, dann stockte sie und riss die Augen auf. »Ein Junge?«

»Dein Sohn. Und er sieht robust und gesund aus. Halte ihn warm. Ich werde deine Nachgeburt im Fluss entsorgen, damit der Verwesungsgestank keine Raubtiere anlockt. Am Flussufer steht Schilf. Ich werde dir Binsen schneiden, sodass du ein Bett hast. Warte hier, erhole dich und sammle Kräfte. Wann du ihm die Brust gibst, wirst du selbst am besten wissen. Oder dein Körper weiß es. Fohlen saugen eine Stunde nach der Geburt. Ich denke, es ist bei Menschenkindern ähnlich.«

»Danke«, sagte sie, und meinte es vollkommen ehrlich.

»Ich bin nur froh, dass du jung und gesund bist, dass nichts schiefgegangen ist. Ich glaube, ich bin mindestens so erschöpft wie du. Wir werden gut schlafen heute Nacht, Mädchen.«

»Das werden wir«, bestätigte sie und streichelte über den Kopf ihres Sohnes. Ihr Sohn.

Farlin tätschelte ihr die Wange und schmierte sie bestimmt mit Blut voll, dann beugte er sich hinab, sammelte einen blutigen Klumpen vom Boden auf und trat aus der Höhle ins Freie.

Tiva wurde nicht müde, in das Gesicht ihres Kindes zu sehen, aber irgendwann schlief sie doch ein mit dem Kleinen auf der Brust, nackten Beinen und einem Wust von Röcken um die Körpermitte.

 

Sie erwachte mit einem kleinen Ruck, als Farlin sie behutsam hochhob. Sie gab sich Mühe, ihn nicht merken zu lassen, wie sehr er sie erschreckt hatte.

Er bettete sie auf eine dicke Lage Binsen, knöpfte ihr Hemd auf und schob das Kind höher, bevor er Tiva die blutigen, nassen Röcke auszog. Er warf den triefenden Stoff beiseite.

Tiva fröstelte und fühlte sich hilflos und ausgeliefert, bis Farlin sie mit der Stofffülle seines langen, mittlerweile getrockneten Mantels zudeckte und darauf achtete, dass der Kopf des Kindes nicht unter der dicken Wolle verschwand.

»Trinkt er?«

Sie nickte schwach und lächelte auf den kleinen Jungen hinab. Sie konnte es nicht fassen. Noch vor wenigen Tagen war sie wie ein riesiges Fass auf Beinen durch die Gegend gewankt, und jetzt war das Kind da. Ihr Sohn.

Sie suchte im flackernden Licht des Feuers nach einer erkennbaren Ähnlichkeit mit seinem Vater, fand aber nichts. Es war ein Gesicht mit vielen Falten, haarlos, einem weichen Kussmund und großen, dunklen Augen. Dieser kleine Junge sah niemandem ähnlich, beschloss sie erleichtert. Das konnte sein Leben retten. Und ihr Leben.

Sie kuschelte sich in die reichen Falten des Mantels, warm und geborgen. Sie war so müde. Aber alle Schmerzen hatten sich gelohnt, befand sie, während sie dem Kind beim Trinken zusah.

Er brauchte einen Namen – einen möglichst unauffälligen, der weder seine Herkunft noch die ihre verriet. Jetzt bedauerte sie, dass sie Farlin ihren echten Namen genannt hatte. Er würde seinen wahrscheinlich ändern, um nicht sofort erkannt zu werden. Aber warum sollte jemand den Namen ändern, den Farlin für den eines Bauernmädchens hielt?

Sie biss sich auf die Unterlippe.

Sie hatte immer gehofft, ihren Erstgeborenen nach ihrem Vater benennen zu können. Dieser Weg war ihr verbaut, denn sie würde damit ihre eigene Identität noch deutlicher preisgeben, und das durfte sie nicht riskieren.

Sie vermutete, dass Farlin erwartete, dass sie dem Jungen den Namen seines angeblichen Vaters geben würde. Den Namen eines Aufständischen, der in den Kämpfen um die Hauptstadt gefallen war. Doch einen solchen Vater hatte es nie gegeben. Sie konnte nur hoffen, dass sie ihrem Sohn irgendwann, wenn sie in Sicherheit und Farlin weit weg oder tot war, den Namen seines wirklichen Vaters nennen konnte. Bis dahin musste sie sich etwas einfallen lassen.

Farlin legte Feuerholz nach, zerrte sich sein Lederhemd über den Kopf und kauerte sich neben Tiva auf den Boden, streckte die muskulösen Beine aus und sah offenkundig schläfrig zu ihr. »Wie willst du ihn nennen?«

Vielen Dank! Woher soll ich das wissen? Und warum gibst du mir nicht mehr Zeit für diese verdammte Entscheidung? Dann hätte ich mir in Ruhe etwas ausdenken können! Schlaf ein, du Idiot, und lass mich in Ruhe nachdenken.

»Ich weiß noch nicht.«

»Nach seinem Vater?«

Sie zuckte eine Schulter und zerbrach sich den Kopf, wie jener angebliche Aufständische denn bloß geheißen haben könnte.

»Dann überschlaf es. Der arme Kerl. Zieht in die Schlacht und wurde nicht einmal geliebt.«

»Woher willst du das wissen?«, zischte sie.

»Du bist im Leben keine Bäuerin oder Magd, Mädchen. Ich denke, dass du eine bürgerliche oder sogar adlige Abstammung hast. Aber wenn du mir das nicht sagen willst: bitte, dann nicht. Ich werde jetzt schlafen. Vielleicht ist dir bis morgen früh ja ein Name eingefallen. Weck mich, wenn dich etwas beunruhigt.«

Er rollte sich neben ihr zusammen – auf dem Steinboden, ohne Decke. Sie lag relativ weich auf den Binsen und konnte sich mit seinem dicken Wollmantel warm und behaglich einwickeln. Sie lächelte, streichelte das Kind und drehte sich auf die Seite.

Sie war wund und hatte Muskelkater. Aber zum ersten Mal, seitdem der Kaiser sie in sein Gemach bestellt hatte, fühlte sie sich geborgen, warm und beschützt.

Dass es ausgerechnet der Blutgeneral war, der sie bewachte, mochte lächerlich und absurd wirken, aber ihr gefiel es.

Er konnte über ihre Abstammung mutmaßen, bis er blau anlief. Dass ausgerechnet sie es gewesen war, die seinen kostbaren Kaiser in die Unterwelt befördert hatte, würde er niemals herausfinden.

Mein Sohn braucht einen Namen. Es muss etwas Unverfängliches sein. Ich glaube, ich nenne dich Mevan. So hieß der jüngste Sohn von meines Vaters Verwalter. Es klingt schön harmlos. Das ist dein erster Name, der Name für Farlin und alle anderen, die ich treffen werde. Wenn wir in Sicherheit sind, werde ich dir sagen, wer dein Großvater war, wer dein Großonkel – und wer dein Vater. Und ich werde dich nach deinem Großvater Kindar von Kazal nennen. Mevan Kindar von Kazal. Ich liebe dich, mein Kleiner. Und ich werde auf dich aufpassen, das verspreche ich dir.

 

Vogelgesang, Rauchgeruch und der Duft bratenden Fleisches weckten Tiva. Durch den Höhleneingang fiel warmes Sonnenlicht, und Farlin hockte an der Kochstelle, wo unter zwei Enten nur Glut auf dem Steinboden aufgehäuft war. Ein zweites Feuer flackerte fröhlich neben Tivas Nachtlager und verbreitete angenehme Wärme.

Das Kind weinte, als sie sich aufsetzte. Sie hob den kleinen Mevan an ihre Brust und sah sich in der Höhle um. Mit einem Mal schien sie ihr größer und freundlicher als je zuvor.

Über den Ästen, auf denen am Vortag der Mantel und Farlins Hemd getrocknet waren, hingen nun die Röcke – relativ sauber gewaschen, nur an einigen Stellen waren noch die Schatten der Blutflecken zu erkennen.

»Einen deiner Unterröcke habe ich zerrissen. Das Kind braucht Windeln und eine Nabelbinde, glaube ich.«

»Fohlen brauchen keine Nabelbinde?«, fragte sie mit mildem Spott und griff nach der Wasserflasche, die Farlin ihr in bequeme Reichweite neben ihr Binsenbett gerückt hatte.

Er lachte, und gleich sah er jünger und nicht ganz so erbärmlich müde mehr aus. »Das mit den Fohlen wirst du mir ewig nachtragen, ich weiß. Tut mir leid. Aber deine Niederkunft war die erste eines Menschen, die ich betreut habe. Ganz ehrlich? Ich bin fast vor Angst gestorben. Ich fürchtete mich, etwas falsch zu machen. Fast möchte ich meinen, dass ich mich noch mehr als du freue, dass alles gut gegangen ist.«

»Ich verzeihe dir.«

»Das ist nett.«

»Ich weiß.« Sie kicherte und kam sich dabei nicht albern oder dumm vor. Es schien irgendwie ganz selbstverständlich, über Farlin zu lachen.

Er lachte ebenfalls. Und er klang so erleichtert, wie er es behauptet hatte.

Du lachst über den Blutgeneral, Mädchen. Und er ist dir noch gar nicht an die Kehle gegangen. Es passt nichts zusammen! Dieser Mann ist doch nur auf seine Würde und sein Ansehen bedacht, und nun sieh ihn dir an: Schmutzig wie der letzte Wegelagerer, und jetzt lachen auch seine Augen. Ich mag das Blau. Wenn nur der rote Bart nicht wäre, könnte der Kerl wirklich gut aussehen.

»Frühstück«, sagte er schließlich und reichte ihr auf einer Rindenschale frisches Fleisch. »Du musst zu Kräften kommen – auch wegen des Kleinen. Hast du dir inzwischen einen Namen überlegt?«

»Mevan«, sagte sie hastig und griff nach der Wurzelschale, wobei sie Farlins schmutzige Finger unabsichtlich berührte. Sie zog die Hand mit ihrem Frühstück rasch zurück und kauerte sich unter dem schweren Mantel zusammen. »Und ich möchte bitte meine Röcke wieder haben.«

»Sobald sie trocken sind, Mädchen. Ich werde dir nicht gestatten, dir in nasser Kleidung den Tod zu holen. Du hast meinen Mantel, der muss dir im Augenblick reichen.«

Sie starrte ihn einen Augenblick lang fassungslos an. Blut kochte in ihren Wangen. Dann endlich wurde ihr klar, dass Prüderie wirklich albern und vor allem demütigend wäre. Die einzigen Geheimnisse, die sie noch vor ihm hatte, befanden sich in ihrem Kopf.

Seine Finger hatten sich hart und warm angefühlt. Er besaß genügend Kraft in ihnen, um der Mörderin seines Kaisers ohne die geringste Anstrengung das Genick zu brechen.

Er musste ihr zumindest einen Teil ihrer Gedankengänge am Gesichtsausdruck abgelesen haben. »Tröste dich, wenn ich hier ohne Hose herumliegen würde, würde ich mich auch nicht wohlfühlen. Wohin willst du eigentlich? Nur wilde Flucht, soweit wie möglich weg von den Zusammenstößen zwischen den Truppen der Magier und der Aufständischen wird dir nichts bringen. Irgendwann ist das Land zu Ende, dann stehst du am Ufer des Meeres.«

»Das hatte ich nicht vor.«

»Ich möchte dich gerne begleiten, wenn ich darf.«

»Wohin willst du?«, fragte Tiva, die sich vorstellen konnte, dass Farlin ganz genau wusste, wohin er wollte – und was er dort bewirken konnte. Die Frage war, ob sie ihm das gestatten durfte.

Jetzt befand er sich auf der Flucht vor den kombinierten Streitkräften von Magiern und Aufständischen. Wenn der Sohn des Kaisers noch am Leben wäre, würde Farlin auf den Mauern des Palasts herumrennen und eine Verteidigung organisieren, an der niemand vorbei käme. Oder er hätte den Erben im Schlepptau, um ihn vor jeder Gefahr zu beschützen, falls es in der Hauptstadt für den Thronfolger zu brenzlig geworden wäre. Aber der Erbe war – wie Farlin gesagt hatte – über den Umweg über seinen Leibwächter den Magiern zum Opfer gefallen. Ein Mann, der meinte, er würde durch den Tod des Thronfolgers die Magier aufhalten können. Nun, zumindest hatte er dem Reich einen hartherzigen, abartigen Sadisten erspart.

»Ich möchte mich erst einmal soweit zurückziehen, dass ich nicht in der Gefahr schwebe, einen Magier in meinen Nacken atmen zu haben. Dann muss ich die Lage erfassen und meine Taktik dementsprechend vorbereiten. Kann ich ein Heer aufstellen? Wie stark haben die Magier die Hauptstadt in ihrer Hand? Was kann ich gegen sie ausrichten? Ich denke, dass du ein wenig Hilfe gebrauchen kannst. Es ist eine ausgemacht schlechte Idee, sich alleine mit einem Neugeborenen durch dieses Reich zu schlagen. Und ich hoffe, dass du nicht dem erstbesten Soldaten oder bewaffneten Haufen, dem wir begegnen, ins Gesicht schreien wirst, wer ich bin.«

»Nein, das habe ich nicht vor«, sagte sie einfach und war erstaunt, dass sie diese Worte ehrlich meinte.

»Wunderbar. Ich denke, wir können einander gut helfen. Du stammst nicht zufällig aus dieser Gegend?«

Sie schüttelte den Kopf. Und wenn das eine Fangfrage war, damit sie fröhlich ausplapperte, wo sie aufgewachsen war, dann hatte er sich geirrt. Ihr Onkel hatte keinen Dummkopf großgezogen!

»Ich überlege noch, wie ich mich nennen sollte. Der Name Farlin könnte unangenehme Reaktionen zeitigen.«

»Der Bart muss ab.«

»Wie bitte?«

»Du bist der Blutgeneral mit dem Blutbart. Jeder sieht dir auf den ersten Blick an, dass du ein Soldat bist. Das wirst du auf keinen Fall verstecken können.«

»Das will ich auch gar nicht! Meine Erscheinung, die Rüstung, das alles schützt uns vor Wegelagerern!«

»Wenn du mit diesem feuerroten Bart und der schönen Rüstung mit allen Rangabzeichen durch die Gegend marschierst, brauche ich niemandem zu sagen, wer du bist. Die Menschen sind nicht blind, und sie sind keinesfalls blöd.«

Wie von ganz alleine griff Farlins Hand nach oben und packte etliche blutrote Barthaare, legte sich schützend über das Kinn, während er Tiva aus großen Augen ansah. »Das meinst du ernst?«

»Ich hatte dir mehr Verstand zugetraut. Deinen Namen willst du ändern, General, aber an die Rüstung und vor allem den Bart hast du nicht gedacht? Als blonder Riese in abgewetzter Lederrüstung kannst du ungeschoren durchkommen, ohne dass die Leute mit Fingern auf dich zeigen.«

»Sie würden es nicht wagen!«

Er kann nicht so dumm sein. Einen so blöden General hätte der Kaiser keine zwei Herzschläge lang geduldet!

»Zwanzig deiner Männer waren nötig, dich zu Boden zu schicken. Die Hälfte von ihnen hast du massakriert. Warum die Überlebenden ihre Chance nicht wahrnahmen, dir endgültig die Kehle durchzuschneiden oder einen Dolch bis zum Herzen zwischen den Rippen hindurch zustoßen, weiß ich nicht. Selten dämlich, vermute ich – oder vom eigenen Mut in die Flucht geschlagen. Stehst du aber der Bevölkerung nur eines Dorfs gegenüber, bist du tot. Sie werden mit Sensen, Mistforken und Dreschflegeln auf dich losgehen. Und egal, wie viele von ihnen du umbringst: Der Rest wird die begonnene Arbeit zu Ende führen. Du hast dir während deiner Jahre als General des Kaisers einen sehr schlechten Ruf erworben, weißt du? Selbst ich habe von dem Blutbart reden gehört.«

»Selbst du«, sagte er bitter. »Ich sagte es dir gestern schon: Du bist kein einfaches Mädchen vom Land, das im Stall zwischen Ziegen und Hühnern groß geworden ist. Ich bin ebenfalls weder blind noch blöd. Ich sehe deine weichen Hände. Wenn die jemals ein Kuheuter angefasst oder ein Schaf geschoren haben, will ich zur Unterwelt fahren. Aber gut. Du wirst mir erzählen, was du für richtig hältst. Nur bitte: Halte mich nicht für einen Schwachkopf.«

»Wenn dieses mädchenhafte Getue nur den Zweck hat, diesen wirklich hässlichen Bart zu retten, werde ich dich sogar als Schwachkopf bezeichnen.«

»Gut, der Bart kommt ab.«

»Es ist ein Jammer, dass die Überlebenden ihre Toten geborgen haben, sonst hättest du jetzt auch eine einfachere Rüstung.«

»Die mir nicht gepasst hätte.«

Sie betrachtete ihn genau. Er war groß, das war ihr schon immer bewusst gewesen. Jetzt machte sie sich klar, dass er die Wahrheit sprach. Sein Brustkorb würde jede andere Rüstung als seine eigene sprengen. Keine andere Panzerschiene würde seine Oberarme umfassen können.

»Dann wirst du auf eine Rüstung verzichten müssen. Oder du schaffst es, deine goldglänzende Generalsrüstung so übel zuzurichten, dass man sie nicht mehr als solche erkennt. Ich weiß nicht, vielleicht kannst du den Zierrat abnehmen oder das Ganze mit Ruß bekleben?«

»So wie meinen Helm?«, fragte er und hob das verschmutzte Ding an. Es stank nach Entenfett, die Außenseite war schwarz von Ruß und Asche.

Sie nickte. »Das ist doch ein vielversprechender Anfang. Aber erst der Bart.«

»Ich mag meinen Bart.«

»Schwachkopf.«

Er lachte.

Sie war fassungslos über sich selbst. Noch vor zwei oder drei Tagen hätte sie gedacht, es wäre besser, von der eigenen Hand zu sterben, als Farlin auch nur ins Gesicht blicken zu müssen. Und jetzt gängelte sie ihn – und er ließ es sich gefallen!

Aber noch viel schlimmer: Sie verdrängte, was er war. Ja, sie hielt es ihm vor Augen, damit er gehorchte und diesen hässlichen Bart abnahm, der ihn sofort verraten würde. Aber sie machte sich keine Gedanken mehr darum, dass er ein vielfacher Mörder und ein Monster war.

Weil er der beste Beschützer ist, den du auf dieser Welt bekommen kannst. Er hält dich für eine kleine, zerbrechliche Stute mit kostbarem Fohlen. Solange dieser Baum von Kerl dich verteidigt, ist das alles in Ordnung. Er mag ein Schlächter sein, aber er gefällt sich in der neuen Rolle als edler Verteidiger.

Er seufzte, zog den Dolch aus dem Gürtel und benutzte die blank polierte Klinge einen Augenblick lang wie einen Spiegel, um seine blutrote Gesichtsbehaarung beinahe Abschied nehmend zu betrachten.

Er verwendete die Reste der Entenseife aus seinem Helm, mit der er sich vor Tivas Niederkunft bereits gewaschen hatte.

Sie sah ihm belustigt zu, wie er die glutroten Haare von seinen Wangen scherte. Aber die Belustigung wich Erstaunen. Warum hatte der Kerl sich bloß jemals dieses grässliche Gestrüpp wachsen lassen?

Unter Seife und rotem Abfall kam ein anziehendes Gesicht zum Vorschein. Mit einem Mal sah Farlin jünger und frischer aus. Dieses Gesicht in Verbindung mit den klarblauen Augen und blonden Haaren gab ihm den Anschein von Unschuld. Auf jeden Fall den Eindruck von naiver Jugendlichkeit. Das Grübchen in der Wange verstärkte diesen Eindruck noch mehr. Und war vielleicht die Erklärung für den schauderhaften Bart.

Die Vorstellung, dass eine Zufallsbegegnung diesen Hünen trotz seines eindrucksvollen Körperbaus für einen dummen und vor allem leicht zu übervorteilenden Gegner halten konnte, machte sich in Tiva breit.

Fast hoffte sie, dass genau das geschehen würde, dass man Farlin nicht für voll nehmen würde. Einmal war das sehr gut für sein Selbstbewusstsein, weil diesem nämlich der Boden unter den Füßen entzogen werden würde. Und auf der anderen Seite freute Tiva sich schon auf das dumme Gesicht desjenigen, der in Farlin einen Schwachkopf vermutete.

Die Klinge kratzte über seine Kehle und schabte den letzten Rest blutroter Wolle davon.

Er sieht gut aus. Das hätte ich nicht gedacht.

3.

Der General und die Wegelagerer

 

Was drei Tage später neben Tiva über einen Viehpfad marschierte, sah aus wie ein Wegelagerer. Das Goldhaar schimmerte im Sonnenlicht, da Farlin seinen fettverkrusteten Helm angewidert zurückgelassen hatte. Aber das war auch das Einzige, was an diesem Kerl sauber wirkte. Sogar auf der Wange hatte er einen Rußfleck, der ihm nach Tivas Meinung einen Hauch von Straßenjungenaussehen verlieh.

Die Rüstung war nicht wiederzuerkennen. Einen Teil der Panzerung hatte Farlin vor der Höhle vergraben, wahrscheinlich auch zur Gewichtsersparnis. Er war ein großer, starker Kerl, aber das Gewicht der Metallplatten alleine würde ihn schon ermüden, bevor es überhaupt zu einem Kampf käme, dachte Tiva kritisch.

Alles an ihm wirkte schwarz und schmierig. Sogar die schimmernde Scheide und das Heft seines Schwertes hatte er mit Lumpen umwickelt und mit rußbeschmierten Händen darüber gestrichen, bis alles Ton in Ton vor Schmutz starrte.

Tiva trug Mevan in einem aus den Resten des Unterrocks gefertigten Tragetuch, das ebenso wie Farlin nach Bratenfett und Rauch roch. Es war ein sehr merkwürdiges Gefühl, den kleinen, warmen Körper ihres Sohnes nun vor ihrem Bauch statt darin zu schleppen.

Aber es mutete ohnehin alles eigenartig an. Farlin beschützte sie und das Kind und half ihr sogar bei der Versorgung des Kleinen. Der General jagte, bereitete Essen zu und reichte ihr jeden Abend ohne ein Wort der Klage seinen warmen Wollumhang, damit sie und das Neugeborene nicht froren.

Befänden sie sich nicht auf der Flucht vor wem auch immer, wäre die Lage Tiva beinahe angenehm.

Sie hatte sich keinerlei Gedanken über dem der generellen Flucht hinaus gemacht. Weit weg von der Hauptstadt, das war alles, was Platz in ihr gefunden hatte.

Farlin hatte ihr vor Augen geführt, dass dieses kopflose Davonrennen sinnlos war. Mehr noch: Er hatte die Magier erwähnt. Diese herrschten jetzt im Reich, sagte Farlin. Und das konnten sie nur, weil Tiva den Kaiser abgestochen hatte.

Nehmen wir an, die Magier sind nicht halb so böse, wie Farlin behauptet. Vielleicht wollen die Magier alles Unrecht des Kaisers wieder gutmachen. Dann ist es nur natürlich, dass der Blutgeneral vor ihnen fliehen muss, dass seine eigenen Männer sich gegen ihn auflehnen. Ganz passte der Tod des Kaisersohnes nicht in das Bild, so sehr Tiva sich auch Mühe gab.

Sie betrachtete den Krieger an ihrer Seite eingehend. Im Gegensatz zum Sohn des Kaisers war Farlin auch körperlich in der Lage, alleine durch sein Auftreten und seine Haltung für Respekt zu sorgen.

Sie wusste, dass sie sich eigentlich zu Tode fürchten musste, solange dieser Kerl atmete und vor allem so nahe bei ihr war. Aber wie sollte sie einen Krieger fürchten, der ehrfürchtig die Zehen des Neugeborenen gezählt und mit einem sehr dämlichen Lächeln beim Wickeln des Kindes zugesehen hatte? Wie bei Gott sollte Tiva sich unbehaglich fühlen, wenn Farlin ihr jederzeit willig das Kind abnahm, den kleinen Bauch kitzelte und sehr schwachsinnige Worte von sich gab, die Mevan offenkundig besonders erheiternd fand?

»Brauchst du eine Rast? Da vorne ist ein schattiges Plätzchen.«

»Ja, das wäre gut. Mevan bekommt auch langsam wieder Hunger. Und ich glaube, dass er nass ist.«

»Garantiert, so viel, wie er säuft.«

»Sag jetzt bitte nichts, was auf Fohlen hinweist.«

Er sah sie schuldbewusst an, und Tiva lachte leise.

»Ich habe keinesfalls von dir erwartet, dass du ihn trockenleckst«, sagte Farlin anklagend und griff nach Tivas Ellenbogen, als sie vor Lachen kaum noch gehen konnte.

Nie hätte ich gedacht, dass er ein ganz normaler Mensch ist. Gott, er ist ganz zauberhaft dämlich. Das kann nicht echt sein!

Sie sah auf in seine träge lächelnden Augen und bekam einen Schluckauf vor Lachen.

»So gefällst du mir besser, Mädchen. Komm, nur noch ein paar Schritte, dann kannst du dich hinsetzen und ausruhen.«

»Ich habe einen Schluckauf!«

»Das ist mir nicht entgangen. Aber lieber das als dein Zittern vom ersten Tag. Du hast mir leidgetan, und du hast mir die Augen geöffnet, was für einen Ruf ich mir erworben habe. Das lag niemals in meiner Absicht.«

»Was? Dass ich dir die Augen öffnete?«

»Du hast ein sehr freches Mundwerk, lass dir das gesagt sein!«

Er half ihr über einen vor Jahren umgefallenen Baum, breitete seinen Mantel auf dem Boden aus und wartete, dass Tiva darauf Platz nahm. Dann ging er vor ihr in die Hocke, legte die Unterarme auf die Knie und ließ die Hände locker hängen. Das amüsierte Glitzern war wie von Zauberhand aus seinen Augen verschwunden. Mit einem Mal sah er trotz des fehlenden Barts älter und härter aus. Sogar das alberne Grübchen war verschwunden, kaum dass Tiva sich endlich daran gewöhnt hatte.

»Was erzählt man sich über mich, Mädchen? Sei versichert, dass ich die Bezeichnungen Blutbart und Blutgeneral zum ersten Mal von deinen Lippen vernommen habe.«

»Wirklich? Verdammt, bis zu diesem Augenblick dachte ich, du wärst durchschnittlich intelligent!«

»Bis eben gerade glaubte ich das auch von dir, Mädchen. Wenn ich wirklich so gruselig bin, wie du mir weismachen willst, dann würde sich doch im Leben niemand getraut haben, mir eine solche Bezeichnung ins Gesicht zu sagen.«

Sie legte den Kopf schief und sah in das ernste, sonnenverbrannte Gesicht über ihr. »Ja, das hatte ich nicht bedacht. Einigen wir uns, dass keiner von uns vollkommen verblödet ist?«

»Darauf wollen wir uns einigen.« Er lächelte wieder, und Tiva fand, dass es ihm stand. Wenn er ernst blickte, wirkte sein Gesicht kantig und beinahe grob. Doch wenn die Lachfältchen rund um die leuchtenden Augen sich vertieften, das Grübchen sich in die Wange bohrte, sah Farlin so schalkhaft aus, dass sie nicht anders konnte, als das Lächeln zu erwidern.

»Also?«

»Du warst der Handlanger des Kaisers, wenn es darum ging, seine Gegner – ob echt oder eingebildet – niederzumachen. Du hast nächtliche Hausdurchsuchungen und Verhaftungen geleitet. Und wer dir einmal in die Hände fiel, wurde nie wieder gesehen. Zumindest nicht lebend und in einem Stück – oder noch in seiner Haut.«

»Das stimmt zum Teil. Aber es erklärt nicht diese beiden Bezeichnungen zur Gänze, finde ich.«

Sie war fasziniert, wie leicht er zugab, diese Verbrechen begangen zu haben. Sie versuchte, ihm ein genaueres Bild zu zeichnen, damit er verstehen konnte, wie schrecklich seine Taten gewesen waren. Denn dieses Verständnis schien ihm vollständig abzugehen. »Du hast Männer umgebracht – persönlich und meistens sehr langsam und grausam – die nach ihrem Amt und Stand unantastbar waren.«

»Wer ist unantastbar? Mein ermordeter Kaiser war es – bis jemand ihm ein Messer in das Auge gerammt hat. Einige Priester wären es gerne, das ist klar. Und jeder, der eine glorreiche Ahnenreihe aufzuweisen meint, ist überzeugt, dass ihm nichts geschehen kann. Aber wer den Sturz des Kaisers plant, Verurteilte vor dem Zugriff der Garde versteckt, hat es nicht anders verdient, als verhaftet zu werden.«

»Und langsam zu Tode gefoltert zu werden?«

»Das hab ich angeblich auch getan?«

Sie nickte und lächelte zuckersüß.

»Ich habe Hinrichtungen geleitet und zum Teil auch eigenhändig durchgeführt. Ich habe den Verurteilten die Wahl zwischen Axt und Schwert gelassen. Und ich kann dir sagen, Mädchen, wenn ich jemandem den Kopf abgeschlagen habe, dann habe ich nicht mehr als einen Hieb gebraucht. Ich habe keine halb Dutzend Male auf jemanden eingeprügelt, bis derjenige endlich tot war.«

Sie dachte an ihren Onkel. Der General damals hatte auch nicht mehr als einen Schlag gebraucht. War der Kerl ebenso stolz auf diese brutale Leistung gewesen, wie Farlin ihr das zu sein schien? Sie wandte den Kopf mit einem Ruck ab.

»Mehr als Gerüchte«, stellte Farlin ganz ruhig fest. »Habe ich tatsächlich oder angeblich jemanden auf dem Gewissen, der dir nahe stand?«

Sie schüttelte den Kopf. Ihr Onkel war von Farlins Vorgänger ermordet worden. Amento war der Einzige, der ihr etwas bedeutet hatte. Sie dachte flüchtig an den fetten Oberpriester zurück, der so gerne Wein aus ihrem Bauchnabel geschlürft hatte und der unumstößlichen Meinung gewesen war, dies würde sie für seine schnaufenden Bemühungen in Stimmung bringen. Sie dachte an den alten Oberaufseher der Schreiber, der immer einen irren Blick bekommen hatte, sobald er Tivas Busen gestreichelt hatte. Nein, die hatten ihr gar nichts bedeutet. Nicht einmal der Vater ihres Sohnes hatte ihr Herz berührt. Fast ein Jahr war sie seine Geliebte gewesen, obwohl sie gewusst hatte, dass er schwach, kaltherzig und verschlagen gewesen war. Sie waren alle tot, aber keiner hatte ihr nahegestanden. Sie hatte die Berührungen, Liebkosungen und Besteigungen mit gespielter Lust und Freude über sich ergehen lassen und immer nur überlegt, wie sie dicht genug an den Kaiser herankommen könnte.

Wen auch immer von diesen Kerlen Farlin umgebracht hatte, dafür gab sie ihm keine Schuld. Jene Männer waren ebenso machthungrig gewesen, wie sie sich gierig auf ein schönes Mädchen gestürzt hatten, das willig die Beine für sie breit machte und sich ihre dummen Heldentaten mit offenkundiger Begeisterung angehört hatte.

Hatte Mevans Vater sie geliebt? Wahrscheinlich, auf seine kranke, kalte Art. Immerhin hatte er sie nicht weggeschickt, als sie wegen des Bauchs als Geliebte untauglich wurde. Sie hatte bei ihm bleiben dürfen. Im gleichen Bett, in dem auch sie schlief, hatte er Küchenmädchen keuchend zum Höhepunkt oder zu Tränen getrieben.

Farlin streckte die Hand aus und streichelte über ihre Wange. »Wirklich nicht?«

»Niemand, der mir nahe stand.«

»Ich muss also keine Angst haben, dass du mir eines Nachts die Kehle durchschneidest?«

»Sei doch nicht so dumm, Farlin. Wir brauchen doch nur Leute zu treffen, denen ich ins Gesicht schreie, wer du bist. Ich muss mir die Hände nicht selbst schmutzig machen.«

Es war ein Versuch, wieder in den leichten Tonfall zurückzuwechseln, den sie seit Tagen benutzte, wenn sie mit ihm sprach. Aber sein Lächeln blieb, und es sah sehr unglücklich aus auf diesem jungenhaften Gesicht, das für freches Grinsen und Tändelei wie gemacht schien.

»Vielleicht erzählst du mir eines Tages mehr. Für das Erste muss es mir wohl reichen.«

Er hockte immer noch vor ihr, und sie sah die Muskeln seiner Oberschenkel gegen den Hosenstoff drücken und fragte sich, wie lange er so die Balance halten konnte, bevor ihm ein Fuß einschlief oder seine Knie schmerzten.

Hinter ihr knackte etwas im Gebüsch. Ein mehrstimmiges Grölen erhob sich, und mit einem Mal war Farlin nicht mehr da.

Tiva schnappte nach Luft, denn sie selbst hielt sich auch nicht mehr am gleichen Ort auf, weil der General sie zu Boden gestoßen hatte, bevor er mit einem langen Satz über sie hinwegsetzte. Sie sah das tödliche Aufblitzen von Stahl, als der große Kerl noch in der Luft sein Schwert zog. Ungeschwärzt und somit eine deutliche Warnung glitzerte die Klinge scharf und todbringend im Sonnenlicht, da Farlin landete und sein Schwert nach vorne zucken ließ.

Tiva verstand noch nicht, was er da tat. Mevan brüllte. Hatte er sich wehgetan, als Farlin sie so brutal zu Boden geworfen hatte?

Roter Regen sprühte über sie hinweg. Irgendjemand außer Mevan brüllte – es endete sehr abrupt, und der Jemand gurgelte nur noch.

Sie rollte sich herum, wobei sie ihren Sohn immer noch festhielt, sein Köpfchen gegen ihre Brust zu drücken versuchte, obwohl er wie am Spieß schrie und offenbar keinen Hunger mehr hatte. Milch lief ihr über den Bauch, und endlich erkannte sie, was Farlin da eigentlich trieb.

Wegelagerer, marodierende Soldaten, eine Räuberbande, hungrige Bauern – es blieb egal, was sie waren, aber sie hatten sich angeschlichen, das beinahe vertrauliche Gespräch ausgenutzt für einen Überfall.

Was bedeutete, dass Farlins Tarnung funktionierte.

Es deckte auch auf, was er wirklich konnte. Ganz offenkundig mehr, als eine schöne Uniform herumzutragen, Hilflose in Kerker zu verschleppen und Stuten zu betreuen.

Tiva vergaß beinahe, dass sie ein schreiendes Neugeborenes im Arm hielt, dass ihr Hemd offen stand, dass jeder sie anglotzen konnte. Dafür hatten die Angreifer ohnehin keine Zeit. Meist reichte es nicht einmal mehr für einen Schrei.

Verdammt, der General war gut. Eben noch kauerte er vor Tiva wie ein zu groß geratener Bauernbengel, und jetzt machte er eine überwältigende Übermacht, die auf leichte Beute gehofft haben mochte, einfach nieder. Kein Wunder, dass er den Angriff seiner Soldaten überlebt hatte. Die waren immerhin so schlau gewesen, diesen jungen Recken hinterrücks anzugreifen. Diese Planungsfeinheiten gingen den Räubern ab.

Tiva zog sich an dem umgestürzten Baum hoch, der ihr eben noch als Rücklehne gedient hatte und nun Deckung gab. Verdammt, war Farlin gut. Viel zu gut. Im Augenblick zweifelte sie sogar daran, dass eine gesammelte Dorfgemeinschaft ihn besiegen könnte.

Köpfe flogen, Blut spritzte, und Tivas Magen hob sich gefährlich. Sie versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, ob es ihrer Rolle als Bauernmädchen zuträglich wäre, wenn sie jetzt erbrach. Oder erwartete Farlin, dass sie diesen Anblick kühl wegsteckte, weil Bauerntöchter ja auch bei Schlachtungen zu helfen hatten?

Das war ihr egal. Sie beschloss, dass es einen Unterschied machen musste, ob der landwirtschaftlich tätige Vater ein Schwein abstach oder ein einzelner Hüne in schmutziger Rüstung eine Gruppe Menschen niedermetzelte. Es musste doch einen Unterschied zwischen Mensch und Tier geben, nicht wahr? Selbst für Farlin?

Tiva schloss die Augen, hielt das brüllende Kind fest und erbrach sich im Schutz des Baumstamms.

Ihr war schwindelig, ihr Magen krampfte wieder und wieder. Wenn sie jetzt die Augen öffnete und die Bescherung sah, würde sie nur weiter spucken. Das hatten sie die ersten Schwangerschaftswochen gelehrt, als sie ernstlich Angst bekommen hatte, sie wäre erkrankt. War sie ja auch, an einem dicken Kugelbauch.

Es schmatzte wuchtig neben ihr, und warmer Regen fiel auf sie herab. Mehr brauchte es gar nicht, um ihren gequälten Magen daran zu erinnern, dass er noch mehr Ballast von sich geben konnte.

Ein großer Körper schlug neben ihr auf dem Baumstamm auf, und nun riss sie doch die Augen auf und den Kopf hoch, ob es ihren Begleiter vielleicht niedergestreckt haben könnte. Dann hatte sie ein Problem. Möglicherweise sogar mehrere von der Sorte – je nachdem, wie viele Gegner Farlins Gegenoffensive überlebt hatten.

Die Antwort lautete: keiner. Nicht ein Einziger.

Sie starrte auf das Schlachtfeld, auf den blonden Hünen, der sein Schwert äußerst penibel am Mantel eines Erschlagenen säuberte.

Und du hast wirklich gedacht, dass es eine gute Idee ist, dich unter seinen Schutz zu stellen, ihn nicht wegzuschicken, als er dich mit treuherzigen blauen Augen ansah und dir genau das anbot? Der Mann ist ein Schlächter.

Sie stemmte sich mühsam hoch, und Farlin schob das Schwert ins Gehenk und kam zu ihr. Mit so leichten, langen Schritten, als befände er sich auf einem Exerzierplatz und nicht umgeben von toten Räubern. Als wäre das gerade eine angenehme Übungsrunde gewesen.

»Lass uns hier verschwinden. Ich denke nicht, dass im Unterholz noch mehr von der Sorte lauern, aber das ist kein Ort für dich.«

»Wo in diesem Reich gibt es noch andere Orte?«, fragte sie und zog ihr Hemd wieder zusammen, um hastig die Bänder zu schließen.

»Du hast leider recht. Im Augenblick scheint es nirgendwo sicher zu sein. Ich verfluche das Schwein, das meinen Kaiser abstach. Er war das letzte Bollwerk. Jetzt bricht alles zusammen.«

»Aus der Sicht vieler Menschen war es schon lange in Stücken«, sagte sie.

»Hat dir das dein junger Mann gesagt?«, schnappte Farlin, und in seine Augen trat ein unschönes Funkeln.

»Der Kaiser war ein Scheusal! Er hat die widerlichsten Morde befohlen, und wie ein treuer Hund bist du losgelaufen und hast diese Verbrechen begangen, weil du deinen Kaiser für so toll gehalten hast.«

»Mein Kaiser war streng, aber ein gerechter Herr! Verdammt, Tiva, er ist … war der Mittler zu Gott; meinst du nicht, der hätte sich von ihm abgewandt, wenn er so schlimm war? Ja, er mag Fehler begangen haben. Doch die Magier sind tausendfach schrecklicher und grausamer, als du meinen Kaiser malst!«

Das ist jetzt vielleicht nicht der beste Zeitpunkt, um mit ihm über Politik zu streiten. Er hat eben einen Haufen Leute umgebracht, schwitzt wie ein Pferd und ist voller Blut. Er kann das nur als Kampfansage auffassen!

Trotzdem sprach sie weiter: »Du bist blind, Farlin! Du bist ja nicht einmal in der Lage zu verstehen, warum die Menschen Angst vor dir hatten, dir deine Taten als Verbrechen anlasteten und dich am liebsten umbringen würden, Blutgeneral.«

»Ich habe die Befehle meines Kaisers befolgt!«

»Das zeigt doch, dass er kein guter Herrscher war!« Sie stand auf, hielt das Kind fest und starrte zu Farlin hinauf. Er war so viel größer als sie, aber in diesem Augenblick machte Zorn sie blind für die Gefahr.

»Aber die Magier sind besser? Ich habe dir erklärt, dass es sein einziger Fehler war, die Magier in den Palast zu holen …«

»Sein Einziger? Vielleicht nicht einmal sein Größter. Das Schlimmste, was er getan hat, war, dir Macht und die Entscheidungsgewalt über Leben und Tod zu geben! Du hättest im Pferdestall bleiben sollen, da hättest du wenigstens keinen Schaden angerichtet!«

»Ach, denkst du das wirklich? Dann hast du offenbar keine Ahnung, wie mein Vorgänger war! Den Irren habe ich persönlich hingerichtet!«

»Eine gute Tat wiegt nicht alle deine Verbrechen auf, General«, brachte sie hervor, obwohl ihr gerade die Luft zum Atmen knapp wurde.

Farlin hatte den Mörder ihres Onkels gerichtet. Nur noch dieser Satz hatte in ihr Platz. Warum ausgerechnet Farlin? Verdammt! Warum? Musste er seine unrühmliche Karriere, in deren Verlauf er genau in die Fußabdrücke seines Vorgängers getreten war und sie mit frischem Blut gefüllt hatte, ausgerechnet damit beginnen?

»Verdammt, ich habe eben eine Horde Straßenräuber zu deinem Schutz erschlagen. Kannst du mir nicht eine Atempause gönnen? Du sagst, ich war ein Unhold. Mein Kaiser angeblich sowieso. Aber nichts, was du mir bisher erzählt hast, kommt mir so vor, verdammt! Mädchen, gib mir die Möglichkeit, zu Atem zu kommen. Lass mich nachdenken.«

»Du warst drei Jahre lang der verlängerte Arm des Kaisers! Hast du in all der Zeit nicht nachgedacht?«, schnappte sie. Endlich war das Kind leise, und Tiva erkannte, dass sie nicht mehr so brüllen musste, damit Farlin sie überhaupt verstand. Ihre letzte Anklage rollte über die kleine Lichtung wie Donnerhall.

Er richtete sich gerader auf. Die blauen Augen blitzten. »Und wie ich nachgedacht habe! Ich habe die Anklagen des Kaisers überprüft. Ich bin jedem Vorwurf der verfluchten Magier nachgegangen. Niemals habe ich einen Mann verhaften lassen, von dessen Schuld ich nicht überzeugt war. Tiva, du willst ein Monster in mir sehen, verdammt! Habe ich das wirklich verdient?«

Sie sah auf in das erhitzte Gesicht mit den leuchtenden Augen. Ein Jungengesicht, in das sich nicht eine einzige Falte von Schuld und Sorge eingegraben hatte. War sein Gewissen wirklich so rein, wie sein Gesicht es sie glauben machen wollte? Konnte das sein, dass er wirklich blind war für seine Fehler? Sich im Gefühl der Selbstgerechtigkeit suhlte?

»Du hast diese Räuber auch für dich niedergemacht«, sagte sie deutlich ruhiger.

Er sah aus, als würde er gleich in überkochender Wut den Toten vor sich treten – oder sie. »Glaub doch, was du willst, verdammt! Aber jetzt komm weiter. Wo die herkommen, könnten mehr sein.«

Sie straffte ihre Gestalt und stapfte zornig an Farlin vorbei auf den Pfad, der sich von ihrer Lichtung in den deutlich dunkleren Wald schlängelte.

Es gibt Momente, da mag ich ihn. Wenn er lacht, vergesse ich beinahe, wer er ist. Ich mag es, wenn das Grinsen seine Augen erreicht. Dann sieht er unschuldig aus. Wie kann er das? Wie kann er so ein freches Jungengesicht haben, da er doch all das getan hat?

Sie hörte, wie er ihr folgte. Bockig und nicht im Geringsten besänftigt. Konnte er sich normalerweise sehr leise bewegen und achtete auch eindeutig darauf, nicht auf Stöckchen, die knacken konnten, zu treten, so stampfte er nun hinter ihr her.

Dieser Kerl hat niemals in seinem Leben mit ernstlicher Opposition zu tun gehabt. Er ist selbstherrlich. Und egal, was er sagt, er kommt mit der veränderten Lage überhaupt nicht klar. Alles geht ihm gegen den Strich, und er begreift einfach nicht, dass er schuld daran ist.

Trotzdem fühlte sie sich beschützt. Denn zumindest in Bezug auf dies hatte er die Wahrheit gesagt: Keiner der Räuber war an sie herangekommen. Oh, man hätte sie nicht umgebracht, keine Sorge. Das Kind wahrscheinlich. Und sie selbst wäre zur Räuberhure gemacht worden, bis die Kerle sie geschwängert hätten oder ihrer überdrüssig geworden wären. Das hatte Farlin ihr erspart, auch wenn Tiva der festen Überzeugung war, dass ihr Vorwurf, dass er sehr wohl auch zum Selbstschutz gekämpft hatte, ebenso wahr war.

Ein Zweckbündnis. Und nun überlege dir mal, wer wen am nötigsten braucht, bevor du den Kerl wieder angreifst. Kommst du ohne ihn klar? Ja, wenn dir keine unangenehmen Zeitgenossen über den Weg rennen. Du kannst wieder Wurzeln ausgraben, unreife Nüsse essen und nach Beeren suchen. Aber wie angenehm ist ein bratendes Kaninchen über dem Lagerfeuer? Wie schön ist es, sich keine Sorgen über Räuber und Deserteure machen zu müssen? Dass Farlin gut darin war, Hilflose zu verhaften, foltern zu lassen und hinzurichten, wusstest du seit Jahren. Dass der Kerl aber mit einem halben Dutzend Gegnern ganz kurzen Prozess macht, ist eine Neuigkeit für dich.

Und nun ging er hinter ihr und war zornig. Sie drückte das Kind fester an sich, sah hinab in das kleine, rote Gesicht mit den ernsten Augen.

Sie stolperte über eine Wurzel, und prompt klirrte es hinter ihr, als Farlin vorwärts sprang und sie am Arm packte, damit sie nicht hinfiel.

Tiva drehte sich in seinem harten Griff und sah zu ihm auf. »Bei dir passt nichts zusammen, Farlin. Du bist mir ein Rätsel.«

»Weil ich dich und das Kind noch nicht abgestochen oder gefoltert habe? Mädchen, es macht mich krank, dass du immer nur das Schlechte von mir denkst.« Er sah wirklich leidend aus. Die Augen dunkler und von Falten umfurcht, die nach dem Kampf noch nicht sichtbar gewesen waren.

»Du bist gut zu uns«, gab sie zu – gar nicht widerwillig.

»Du hast keine Angst vor mir, bitte?«

Sie schüttelte den Kopf. Oh, und wie sie Angst hatte. Aber nicht jetzt, da er sie so ansah. Wie ein geprügelter Hund, der nicht weiß, was er falsch gemacht hat. Gott, er schien es wirklich nicht zu begreifen.

»Danke«, sagte er schlicht, und ein wenig verschwanden die harten Linien. Müde sah der riesige Kerl immer noch aus. Nicht vom Kampf, dessen war Tiva sich sicher. Mehr als all das Blutvergießen nahm es ihn mit, dass sie ihm die Augen zu öffnen versuchte. Nun, das bedeutete wenigstens, dass er noch ein Gewissen sein Eigen nennen konnte.

4.

Dorf unter Feuer

 

Farlin blieb so plötzlich stehen, dass Tiva beinahe in ihn hineinmarschiert wäre.

»Was?«, fragte sie leise. Sie hatte in den letzten Tagen gelernt, sich auf die Wachsamkeit ihres Führers zu verlassen. Ebenso selbstverständlich war es ihr geworden, seine Wahl der Rastplätze zu akzeptieren und ruhig mit Mevan abzuwarten, bis Farlin mit Feuerholz und Jagdbeute zurückkehrte. Er war niemals weit weg und immer wachsam.

»Rauch«, antwortete er knapp.

»Von einem Lagerfeuer?«, hakte sie nach, und im gleichen Augenblick wurde ihr klar, dass er das nicht wissen konnte.

Doch er überraschte sie. »Nein. Von einem brennenden Haus.«

»Das kannst du riechen?«

»Stroh oder Binsen, heißer Stein. Ein Lagerfeuer riecht harmloser. Wir werden vorsichtig weitergehen. Du weißt, wer Dörfer niederbrennt.«

Normalerweise du. Und da du lieb vor mir hergehst, den leichtesten Weg für mich suchst und mein Kind wickelst, kannst du es nicht sein. Das würde mich an deiner Stelle auch nervös machen, wenn jemand anderes zündelt.

Aber statt eine bissige Bemerkung zu machen, murmelte sie: »Marodierende Soldaten?«

»Oder Beauftragte der Magier. Verdammt, Mädchen, je schneller ich dich bei jemandem abliefere, bei dem du es gut hast, desto besser. Ich hatte es nicht bedacht.«

»Was?«

»Dass ich eine Gefahr für dich und den Kleinen bin.«

»Du denkst, dass die Magier Jagd auf dich machen?«

Er drehte sich zu ihr um. »Natürlich! Neue Machthaber rotten gerne alles aus, was irgendwie mit ihren Vorgängern zu tun hat. Wäre ich an ihrer Stelle, würde ich auch versuchen, mich zu fassen zu bekommen und schnellstmöglich umzubringen. Du nicht?« Er lächelte humorlos. »Oh, doch, gerade du.«

Sie fühlte den äußerst lebhaften Wunsch in sich aufsteigen, diesen Kerl vor das Schienbein zu treten. Tagelang hatte sie versucht, ihm seine Verbrechen vor Augen zu führen. Doch nach dem Zusammenprall mit den Wegelagerern hatte sie sich sehr zurückgehalten, weiter auf Farlin einzureden. Und nun so eine Bemerkung.

»Ich wundere mich, dass du nachts ruhig schlafen kannst. Ich könnte dir ja die Kehle durchschneiden«, zischte sie.

»Nicht mit deinem kümmerlichen Küchenmesser«, gab er grinsend zurück. Dann wurde seine Miene ernster. »Wir nähern uns vorsichtig dem Feuer. Ich will wissen, wer da brandschatzt. Ich denke, das ist für uns beide wichtig.«

»Damit wir wirklich wissen, wer die neue Gefahr im Reich ist«, erwiderte sie zuckersüß.

Farlin grinste erneut. »Genau. Gutes Mädchen. Komm.«

»Ich wollte gar nicht brav sein«, murmelte sie gerade noch hörbar, als der General sich umdrehte, um einen Weg näher zur Quelle des Rauchgeruchs zu finden.

»Deine Zunge ist vernichtend, Tiva, aber sie ist nicht tödlich.«

»Du bist es.«

»Ja, ich weiß.« Er klang auch noch stolz.

Sie kletterten einen Abhang hinab, und der Rauchgeruch nahm zu. Der General streckte Tiva wortlos die Hand hin, als der Abstieg schwieriger wurde. Mit leicht erhöhtem Pulsschlag legte sie die Hand in seine, fühlte die Schwielen, die Farlin über Jahre vom Umgang mit dem Schwertheft erhalten hatte. Lange, starke Finger schlossen sich mit einer sehr beruhigenden Wärme und Festigkeit um ihre.

Sie konnten sich nicht ewig in den Wäldern verstecken, das war Tiva klar. Trotzdem wollte sie nicht näher zur Quelle des Rauchgeruchs. Die Unterwelt wusste, was dort lauerte. Soldaten, Diener der Magier, Rebellen, Räuber. Farlin mochte eine schlagkräftige Armee darstellen, und doch war er nur ein Mann, und sie hatten keine Ahnung, welche Übermacht sich ihnen präsentieren würde.

Ein Blick auf sein angespanntes Gesicht, und Tiva begriff, dass Farlin das sogar noch besser als sie wusste.

Wie gut, dass er seine goldglitzernde Prachtrüstung in etwas Schwarzes, Speckiges verwandelt hatte, wie Tiva es ihm gesagt hatte. Ihre eigene Kleidung war in gedeckten Farben und schmutzig. Solange Mevan sie nicht durch lautes Schreien verriet, sollten sie so lange unentdeckt bleiben, wie sie das wünschten. Hoffte Tiva.

Der Rauchgeruch verdichtete sich, und mit einem Mal erlangte Tiva Gewissheit, dass sie Kampflärm hören konnte. Klirren von Waffen, dann ein Schrei. Sie blieb wie angenagelt stehen und drückte das Kind an sich.

»Ich lass dich nicht alleine hier stehen, Kleines. Nur noch ein Stück, damit ich etwas sehen kann.«

Seine Finger spannten sich an, aber er zerrte Tiva nicht vorwärts, sondern sah sie an und wartete, dass sie sich einen Ruck gab.

Sie wusste selbst, wie wichtig es war, sich einen Überblick zu verschaffen, zu wissen, welche Kräfte wo im Land tobten und die Macht zu erringen versuchten – oder einfach nur ums nackte Überleben kämpften. Aber die Angst umschloss sie beinahe übermächtig.

Endlich atmete Tiva tief durch und folgte Farlin weiter durch den Wald, durch den mittlerweile Rauchschwaden zogen.

Jetzt konnte auch sie riechen, dass es kein normales Lagerfeuer war. Es stank nach verbranntem Stroh, nach bratendem Fleisch. Mit ein wenig Glück die Haustiere der Dorfbewohner. Mit viel Pech brennende Dörfler.

Farlin zog sein Schwert und ließ Tiva endlich los. Sie waren dem Dorf so nahe, dass Tiva durch die Bäume Bewegung ausmachen konnte.

»Bitte bleib nicht zurück. Dicht bei mir, Kleines. Ich habe nicht vor, mich zu schlagen, wenn dich das beruhigt.«

»Sehr«, murmelte sie und schloss zu ihm auf. Mevan regte sich leise, blieb aber still. Tiva versuchte, sich zu erinnern, wie lange seine letzte Mahlzeit her war, wann sie ihn zuletzt gewickelt hatte – oder wann Farlin das getan hatte.

Eine Frau schrie vor ihnen – lange und in Schmerz oder Panik.

»Farlin«, stieß Tiva unwillkürlich aus und fühlte sich grässlich deswegen. Wie ein kleines Weibchen. Wie die Stute, als die er sie garantiert dauernd sah – immerhin nannte er Mevan hin und wieder noch ein Fohlen. Außerdem war er der Blutgeneral, verdammt! Und den wimmerte die Mörderin des Kaisers garantiert nicht an. Reiß dich zusammen, du dummes Ding!

Er starrte sie an, die Augen so blau wie der Himmel über ihnen, würde der Rauch ihn nicht verdunkeln. Im gleichen Augenblick brach eine Frau durch den Waldrand und rannte wie von Geistern der Unterwelt gehetzt direkt auf sie zu. Tiva war sich sicher, dass die Frau weder sie noch Farlin sah. Sonst wäre sie nämlich stehen geblieben oder hätte in wilder Panik die Richtung ihrer Flucht geändert. Auf einen Kerl wie Farlin rannte man nicht zu, wenn sich hinter einem schon genügend Angreifer befanden. Der Hüne sah aus wie fleischgewordene Bedrohung, verdammt!

»Kümmere dich um sie«, rief Farlin und rannte los – in einem leichten Bogen um die Frau herum, damit er nicht mit ihr zusammenstieß.

»Zu mir! Komm, es ist alles gut!«, rief Tiva und kam sich unermesslich dumm bei diesen Worten vor. Ja, komm zu mir, ich habe den Kaiser abgestochen und dieses ganze Chaos, dem dein Haus, dein Dorf, deine Familie und Nachbarn gerade zum Opfer fallen, erst verursacht. Oh, und der große Kerl, der gerade mitten in dieses Gemetzel rennt, ist der Blutgeneral. Willst du lieber ohnmächtig werden oder vor lauter Angst sterben?

Doch die Frau flüchtete zu ihr und krallte sich an ihr fest. Mevan quiekte empört, als er zwischen zwei Paar Brüsten eingequetscht wurde.

»Wer greift euch an?«, fragte Tiva praktisch veranlagt. Farlin panzerte zwar gerade mitten ins Getümmel, aber wer konnte schon sagen, zu welchen Schlüssen der Kerl kam – und ob er ihr die Wahrheit berichten würde, nachdem er alle Gegner niedergemacht hatte. Oder noch schlimmer: Was, wenn das seine Leute waren, die noch nicht wussten, dass er auf der Abschussliste der Magier stand? Was, wenn er sich da drüben gleich mit einem Dutzend oder mehr seiner ehemaligen Männer verbrüderte? Kaisertreue Idioten, die unter dem Deckmantel der Befehle gemordet hatten und unter dem Kommando ihres Generals zu neuer Höchstform auflaufen konnten?

Tiva tätschelte die Schulter der Frau, die hemmungslos weinte und zitterte.

»Wer greift euch an?«, wiederholte Tiva ihre Frage in etwas schärferem Tonfall. Wenn die Bäuerin nicht gleich etwas sagte, würde Tiva sie stehen lassen und selbst dichter ans Dorf schleichen, um sich ein Bild machen zu können.

In diesem Augenblick erklang von dort ein Schrei aus einer männlichen Kehle. Kein verängstigtes Frauenzimmer konnte so brüllen. Der Schrei endete abrupt. Tiva hörte Stahl auf Stahl klirren, dann ein Lachen, das ihr allzu vertraut erschien. Sie atmete tief durch, stieß die Frau von sich, packte deren Handgelenk und zerrte das weinende Bündel Elend hinter sich her zum Dorf.

Immer noch Waffengeklirr, hin und wieder Schreie. Das Brüllen der Flammen, Rufe nach Wasser, nach Hilfe. Ein Kreischen, das unmöglich aus einer menschlichen Kehle stammen konnte – und wohl doch genau von dort kam. Wieder dieses Auflachen, das eine Gänsehaut über Tivas Rücken jagte. Dem Kerl machte das auch noch Spaß!

Sie erreichte den Waldsaum mit ihrem Schützling im Schlepp, und Tivas Unterkiefer senkte sich. Alles brannte. Häuser, Scheunen, Ställe. Mittendrin rannten Menschen herum, schleppten Wassereimer, lagen Tote am Boden und preschten Tiere in wilder Panik von einer Seite eines Pferches zur anderen. Hühner stoben in typischer Hysterie unter den Füßen der Wasserträger herum – und der Soldaten.

Männer in schimmernder Rüstung mit Wappen, die Tiva nicht kannte und in all dem Tumult auch nicht genauer ins Auge fassen konnte.

Den Mittelpunkt des wogenden Kampfes stellte Farlin dar. Nicht nur, dass er höher als alle anderen aufragte, dass sein Haar in der Sonne wie reines Gold schimmerte und leuchtete, nein, er bildete wirklich das Zentrum der tobenden Gewalt.

So viel Vorsprung hatte er gar nicht besessen, aber er hatte ihn bereits auf die ihm eigene Art genutzt: Ein Leichenwall markierte seinen Standort. Mittendrin im zerschlagenen Rot wirbelte Farlin leichtfüßig im Kreis und schlug einen Angreifer nach dem anderen nieder, ohne dass die kraftvollen Hiebe seines Schwertes durch Feindkontakt im Geringsten langsamer wurden.

Die Dorfbewohner schienen den Angreifern für den Augenblick gleichgültig. Mitten zwischen ihnen war ein leibhaftiger Geist der Unterwelt aufgetaucht und hatte sie angegriffen. Ihnen blieb nur, sich zuerst um diese Bedrohung zu kümmern, bevor sie weiter plündern und morden konnten. Zumindest musste das ihr Plan gewesen sein, bevor sie verstanden hatten, dass Farlin kein einfacher Krieger war, wie seine schmutzige Rüstung vermuten ließ.

Groß, mehr als nur schnell und mit einer offenkundigen Unbekümmertheit ausgestattet, die ihn noch schrecklicher wirken ließ.

Tiva bemerkte, dass sie nur stand und glotzte. Sie hatte von ihm gehört, seinen Kampfeinsatz gegen die Räuber nur mit einem halben Auge beobachtet, lebte seit mehreren Wochen mit ihm zusammen und überließ ihm gerne Mevan, wenn dieser gegen eine nasse Windel protestierte. Aber damit hatte sie nicht rechnen können. Wirklich nicht.

Der letzte Gegner fiel, und mit diesem widerwärtig jungenhaften Grinsen auf dem leicht geröteten Gesicht drehte Farlin sich zu ihr um, als hätte er genau gewusst, dass sie da stand und starrte. Wie der größte kleine Junge der Welt, der ein Lob und wohl auch einen Keks und einen Becher Milch erwartete. Er troff vor Schweiß und Blut, und als er mit einem langen Schritt über die Leichenmauer stieg, sah er viel zu frisch und fröhlich aus.

Die Dorfbewohner trauten sich näher, umringten den Wall aus Erschlagenen und rückten beinahe zutraulich dichter an Farlin heran, der sich in der Bewunderung und dem fassungslosen Starren sichtlich sonnte. Sein strahlendes Lächeln fiel schlagartig in sich zusammen, als einer der Dorfbewohner ihn rücklings niederknüppelte.

Tiva stieß einen erschrockenen Schrei aus, als der blonde Hüne in den Knien einknickte und wie ein gefällter Baum in den blutigen Schlamm krachte.

Sie ließ die verängstigte Frau los und stürmte vorwärts, den alten Mann fest im Blick, der das blutige Holzstück sinken ließ und auf den gefällten Riesen vor sich starrte.

»Nein! Er wollte doch nur helfen!«, rief Tiva fassungslos, strauchelte fast über ihre Röcke und hetzte weiter.

Der Alte blickte auf. Ruß und Blut im Gesicht, die Hälfte seines Bartes triefend rot, die andere bis auf die Haut verkohlt. »Mädchen«, sagte er leise.

So leise, dass Tiva ihn kaum hörte, als sie sich – Mevan fest an die Brust gedrückt – neben Farlin in den stinkenden Matsch auf die Knie warf.

»Mädchen«, wiederholte der Alte und griff nach Tiva, die seine Hand voller Wut wegschlug.

»Er wollte nur helfen! Ohne ihn wäre euer Dorf eingeebnet, und ihr wärt alle tot!«

»Mädchen, das ist der Blutgeneral des Kaisers.«

Die Worte wirkten wie ein Schaff eiskalten Wassers, das ihr jemand über den Kopf goss. Tiva erstarrte, die Fingerspitzen an Farlins Hals, wo der Herzschlag des großen Kerls beruhigend stark pochte.

Ein falsches Wort, und die Bande der Dörfler würde sie erschlagen. Sie und Mevan.

»Der … der Blutgeneral?«, stammelte sie und hoffte, dass ihr Gesicht genügend Abscheu, Erschrecken und Fassungslosigkeit ausstrahlte. »Aber … aber er hat mir geholfen! Er hat mich und das Kind vor Räubern beschützt!«

»Ich kenne ihn. Komm weg von ihm«, antwortete der Alte, und als er dieses Mal nach Tiva griff, ließ sie sich auf die Beine ziehen. Sie hielt den Säugling fest und bemühte sich, möglichst entsetzt auf die stille Gestalt am Boden zu starren. Das fiel ihr gar nicht schwer. Dann machte sie bewusst zwei kleine, schnelle Schritte rückwärts, als wäre die grässliche Wahrheit jetzt erst in ihren Kopf gesickert.

Sie sah die anderen Soldaten an – mausetot, alle wie sie da waren. »Und die?«

»Schergen der Magier. Der Kaiser ist tot, Mädchen, und die Magier reißen die Kontrolle an sich.«

Tiva bemerkte erst jetzt, dass ihre Röcke sich mit Blut vollgesogen hatten. Warum war sie auch so dämlich gewesen, neben Farlin auf die Knie zu fallen? »Und … und jetzt?«

»Du gehst mit den anderen Frauen. Die meisten Brände sind gelöscht. Mach dich nützlich, Mädchen. Wir verbrennen die Leichen.«

»Und … und der Blutgeneral?« Ihr Herz klopfte ganz oben in der Kehle. Tiva zitterte vor Angst, und das war nicht einmal gespielt.

Farlin mochte der Blutgeneral des Kaisers gewesen sein, aber gleichzeitig war er auch ihr Reisegefährte, hatte ihr versprochen, sie irgendwo heil hinzubringen und der Obhut netter Menschen zu übergeben. Er hatte Mevan gewickelt, dem Baby sogar Schlaflieder vorgesungen. Und er hatte Tiva nicht einmal angerührt. Nicht ein einziges Mal war er aus seiner Beschützerrolle gefallen und hatte versucht, die Lage und die naturgemäße körperliche Schwäche einer jungen Frau auszunutzen. Er hatte sich anständig ihr gegenüber benommen, obwohl sie die ganze Zeit nichts anderes getan hatte, als auf ihm herumzuhacken und ihn als Ungeheuer zu bezeichnen.

Sie sah Blut in seinen hellen Locken.

»Wir werden sehen.«

Tiva hob den Kopf und kämpfte dumme Tränen nieder. »Er hat euch geholfen. Du willst doch nicht …« Sie bekam den Satz nicht hervorgewürgt.

»Geh mit den anderen Frauen, Mädchen. Das hier ist nichts für dich.«

Und jetzt? Farlin bewusstlos im Matsch, die Männer mit landwirtschaftlichen Geräten bewaffnet, und sie selbst nur mit einem Neugeborenen im Arm und einem Küchenmesser im Gürtel.

Ein anderer Mann trat vor, tätschelte Tivas Schulter und murmelte: »Wie auch immer du unter seinen Schutz geraten bist, Kleines, er ist kein guter Mann. Glaub mir das. Wir stehen in Kontakt mit den Rebellen, die bereits den Kaiser getötet haben. Sie werden den Blutgeneral gerne in ihre Hände bekommen. Denn die Magier müssen ebenso verschwinden wie die Kaiserfamilie. Und wenn jemand weiß, wie seine ehemaligen Kameraden zu besiegen sind, dann der Blutgeneral.«

Tiva nickte, knickste eher instinktiv und schloss sich nun endlich den anderen Frauen an, die dem Gespräch stumm gelauscht hatten.

Die Rebellen. Die hatte sie ganz vergessen. Die würden die Dorfbewohner für einen solchen Gefangenen fürstlich belohnen. Und Farlin erlitt das gleiche Schicksal wie seine ganzen Opfer, die er im Namen und Auftrag des Kaisers durch die Unterwelt geschickt hatte. Mit denen er die Unterwelt aufgewischt hatte, um es ganz genau zu nehmen.

Wofür er keine Schuld auf sich lasten sah.

Gott!

Was sollte sie nur tun?

Das war Farlin, verdammt! Der riesige Junge, der sie beharrlich eine Stute nannte, rot anlief, wenn er ihren Busen wieder einmal als Euter bezeichnet hatte, der so vehement darauf bestand, kein Monster zu sein. Dessen Augen so unschuldig und verstört blicken konnten und der sie und Mevan immer gut behandelt hatte.

Die Frauen räumten die verwüsteten Häuser auf, und Tiva half, so gut sie es konnte, da sie Mevan nicht einen Augenblick lang ablegen wollte. Sie rückte Möbel an ihren vermuteten Platz, fegte Scherben von zerschlagenen Tonkrügen auf und sammelte durcheinandergeworfene Holzklafter, um diese wieder ordentlich zu stapeln.

Dabei betrachtete sie ihre Umgebung genau und bekam rasch ein Gefühl für die Anordnung des Dorfs – oder das, was davon übrig geblieben war. Kleine Wohnhäuser mit angrenzenden Kleintierstallungen für Geflügel und Kaninchen, mal eine Sau mit Ferkeln. Ein größeres Gebäude war wohl für Versammlungen und gemeinsame Feste vorgesehen und beherbergte die Großfamilie des Ortsältesten. Eine unförmige Scheune stand direkt daran angebaut, und auf der anderen Seite erhob sich der Großtierstall.

Tiva nutzte die Gelegenheit, Wasser in diesen Stall zu schleppen, um die aufgestellten Tränken zu füllen. Sie atmete erleichtert auf, als sie einige Maultiere und schwere Ackerpferde entdeckte. Dazwischen struppige Kühe, die die Fremde aus großen, freundlichen Augen betrachteten. Tiva machte sich beliebt, indem sie Möhren verfütterte, und streichelte die drei Ackerpferde ganz besonders zärtlich. Ein großer, dunkler Wallach mit verfilzter Mähne beantwortete die Freundlichkeiten mit einem aufmunternden Knuffen gegen Tivas Schulter, bevor er begann, den ganzen Kopf an ihr zu reiben. Eine grobe Zärtlichkeit, aber Tiva klopfte ihm nur den massigen Hals und war für das Erste zufrieden.

Über die Einzäunung hinweg sah sie zu einer Hütte am Dorfrand, vor die die Männer einen großen Wagen gerollt hatten. An dessen Rad hatten sie Farlin angebunden. Die Hände weit über dem Kopf, die Arme so sehr gestreckt, dass der Krieger Schmerzen in den Schultergelenken erleiden musste. Lederriemen waren um seine Mitte geschlungen und hinten am Rad angeknotet. Zwei Holznägel waren in den Boden getrieben worden, weit genug voneinander entfernt, dass Farlins Beine stark gespreizt am Boden lagen, nachdem seine Knöchel erneut mittels Lederriemen an den Pflöcken festgemacht worden waren.

Alleine diese Haltung musste Qual bedeuten. Und so, wie die Männer ihn nachdenklich umstanden, hatten sie bestimmt noch mehr Überraschungen für den General des Kaisers parat. Sobald dieser wieder aufwachte.

Tiva biss die Zähne zusammen, klaubte mehr Feuerholz auf und merkte sich, wo genau die Dorfbewohner Farlins Rüstung und Waffen abgelegt hatten: An der vorderen Ecke der kleinen Hütte neben dem Regenfass.

Im Stall bei dem netten Pferd lagen genug Heu und Stroh, in dem sie so ziemlich alles verbergen konnte.

Kontakte mit den Rebellen. Wie lange mochte es dauern, bis ein Bote aus dem Dorf die nächste Widerstandszelle erreichte? Oder kamen die Aufständischen in regelmäßigen Abständen hier vorbei?

Ein eher erstaunter Schrei von Farlin ließ Tiva zusammenzucken. In unangenehmer Gesellschaft aus der Bewusstlosigkeit aufgewacht und wohl prompt gebührend begrüßt worden.

Sieh jetzt nicht hin. Du bist in seiner Gesellschaft in dieses Dorf gekommen. Wahrscheinlich beobachten die dich ohnehin alle und misstrauen dir. Ein falsches Wort von dir – oder von Farlin – und du bist geliefert. Arbeite fleißig und halte Abstand. Sie werden Farlin nicht umbringen. Die Rebellen werden sie vielleicht sogar für diesen besonderen Gefangenen bezahlen. Ja, sie werden ihm wehtun. Aber er ist ein zäher Bursche.

Sie schleppte das Holz in das große Gebäude und stapelte alles ordentlich neben dem Herd.

Außerdem ist er selbst schuld. Auch zu Zeiten des Kaisers gab es anständige Männer, die sich nicht für die Zwecke des Tyrannen ausbeuten und einsetzen ließen. Genau.

Mevan gurgelte leise und zufrieden. Tiva dachte an eines der sogenannten Wiegenlieder, die Farlin ihrem kleinen Sohn vorgesungen hatte. Ein Soldatenlied, dessen besondere Wortwahl Tiva die Röte in die Wangen getrieben hatte. Doch wenn man – wie Mevan beispielsweise – die Worte nicht verstand, klang das Lied sehr nett. Und Farlin besaß einen angenehmen Bariton und hatte die ganze Zeit gelächelt, während er Mevan in den Schlaf gesungen hatte.

Heute Nacht hole ich die Rüstung. Ich habe keine Ahnung, warum ich das mache, aber so ist es nun einmal. Ich werde den Panzer und die Waffen in den Stall bringen und da verstecken. Und wenn man mich erwischt, ist Farlin schuld, verdammt!

Ein neuerlicher Schmerzensschrei ließ sie zusammenzucken. War es angemessen, Farlin das zurückzuzahlen, was er während seiner Zeit als General des Kaisers verursacht hatte? Oder war das einfach nur erbärmlich, und stellten sich die Dorfbewohner solcherart nicht sogar noch auf eine Stufe unter den Blutgeneral?

Tiva biss sich fest auf die Unterlippe, ergriff einen Besen und fegte das Wohnzimmer des Dorfältesten aus. Garantiert war das der Kerl, der Farlin feige rücklings niedergeschlagen hatte. Der jetzt bei den anderen Männern hockte und tief befriedigt zusah, wie der wehrlose Blutgeneral Dresche bezog. Wenn die Kerle es bei Schlägen beließen. Farlin war ihnen ausgeliefert. Die Geister der Unterwelt mochten wissen, zu welchen Taten die Männer sich hinreißen ließen.

Sie fegte emsig und zornig. Farlins körperliche Vollkommenheit mit Muskelpaketen genau da, wo sie hingehörten und jedes weibliche Auge erfreuen mussten, konnte noch Schlimmeres heraufbeschwören. Verhutzelte Landbewohner, die ihr Leben schwerer Arbeit verdankten, mussten wohl glauben, dass dies zur erlittenen Unterdrückung erschwerend hinzukam.

Der Dreck flog nur so, und als ein Stuhl Tiva im Weg stand, trat sie ihn energisch beiseite und fegte inbrünstig weiter.

 

Ein erster Hauch von Morgenröte kroch über den Himmel und ließ das Licht der Sterne weniger klar und kalt aussehen, als Tiva aus der Hütte schlich, die ihr zugeteilt worden war. Zwei Paare und eine alte Frau schliefen ebenfalls dort.

Mevan hatte die Hüttenbewohner lange wachgehalten. Offenkundig fehlte ihm sein kriegerisches Schlaflied, oder Farlin war einfach geschickter, ihn zu wickeln. Die anderen fünf schliefen friedlich und wahrscheinlich sehr erleichtert über die Stille, und Tiva nutzte die günstige Gelegenheit, den Säugling mittels Tragetuch an sich zu binden und barfuß und lautlos nach draußen zu huschen.

Vor dem Wagenrad lag ein roter Schimmer von beinahe aufgebrauchter Glut. Ein dunkler Schemen dicht bei der Feuerstelle, unter drei Wolldecken kaum als menschliche Gestalt auszumachen.

Tivas Atem beschlug vor ihrem Gesicht zu dicken, weißen Wolken. Ihre Füße wurden nach den ersten zehn Schritten taub vor Kälte.

Und Farlin trug nur eine dünne Stoffhose. Nicht einmal ein Hemd hatten die Kerle ihm gelassen.

Der blonde Kopf war tief auf die Brust gesunken, die sich langsam und regelmäßig hob und senkte. Die Hände locker geballt, die muskulösen Beine zwangsweise gestreckt und gespreizt.

Tiva starrte ihn einen Augenblick lang fassungslos an, ließ den Blick über die kraftvollen Oberschenkel höher über die flache Bauchdecke fliegen, fand endlich die Kraft, den Kopf zu senken und lautlos als Erstes das Schwert im ledernen Gehenk aus dem Dreck zu klauben.

Das Metall des Hefts fühlte sich eisig unter ihren Fingern an. Auf leisen Sohlen floh sie mit ihrer Beute zum Pferdestall, huschte unter einem Balken hindurch in den Auslauf und dort durch den Mist in den Stall selbst hinein.

Wärme und das Geräusch mahlender Zähne auf Heu empfingen sie. Rasch steckte sie dem dunklen Wallach ein kleines Stück trockenes Brot zu, bevor sie das Schwert tief unter Heu und Stroh im Lagerraum verschwinden ließ.

Ein Haufen frischer Pferdeäpfel sah verlockend aus, für den Augenblick die kalten Zehen darin zu wärmen. Doch Tiva widerstand diesem stinkenden Luxus tapfer und eilte zurück, um die Rüstung Stück für Stück zu bergen.

Jedes Mal warf sie einen prüfenden Blick auf den schlafenden Wächter, lauschte dessen Atemzügen, bevor sie es wagte, Farlin anzusehen, der die ganze Maßnahme offenkundig verschlief. Oder er war bewusstlos.

Tiva sah geronnenes Rot auf seiner flachen Bauchdecke. Blutergüsse mit scharf umrissenen Kanten bedeckten seine Haut.

Wie wilde Tiere, die sich nur daran erinnerten, was er alles getan hatte. Die zu dumm waren, um zu erkennen, dass sie sich selbst erniedrigten, wenn sie Farlin auch nur einen Bruchteil seiner Taten zurückzahlten.

Sorge, dass jemand das Fehlen von Rüstung und Waffen bemerken würde, verspürte Tiva nicht. Sie klaubte auch Farlins Hemd vom Misthaufen. Diese Bauerntölpel, die den Wert von Farlins Ausrüstung nicht erkannt hatten. Selbst die Rebellen, die wahrscheinlich ein Kopfgeld für den General zahlen würden oder sollten, hätten sich über Farlins Rüstung gefreut. Es hätte zwar garantiert keiner von ihnen hineingepasst, aber Schmiede konnten Änderungen vornehmen oder das vorhandene Material anpassen und zerlegen.

Ein letztes Mal sah Tiva zum Blutgeneral, dann schlüpfte sie lautlos wieder in die Hütte, kroch auf ihr Lager und rollte sich klein um Mevans warmen Körper zusammen. Ihr Herz raste, und ihre Atemzüge klangen alles andere als ruhig.

Was tat sie da? Warum versteckte sie die Rüstung und befreundete sich mit einem Pferd, das stark genug war, um notfalls auch Farlin zu tragen? Wie blöd war sie eigentlich?

 

»Komm her, Mädchen. Ich habe ein paar Fragen an dich.«

Der Dorfälteste. Tiva hatte dieses Gespräch erwartet, und so knickste sie nur und folgte der Aufforderung, nachdem sie den Besen beiseite gestellt hatte. Sie setzte sich zu Füßen des Alten, nachdem er ihr mit einer knappen Geste erlaubt hatte, Platz zu nehmen.

Sie blickte mit unschuldigen Augen zu ihm auf, streichelte Mevans Köpfchen und wartete auf die Fragen. Seit dem Aufstehen hatte sie jeden Augenblick damit verbracht, sich eine Hintergrundgeschichte auszudenken. Jetzt war die Zeit gekommen, diese Märchen mit Leben zu füllen und zu hoffen, dass sie glaubhaft wirkten.

Als Farlin erneut schrie, zuckte Tiva nicht einmal zusammen. Die jüngeren Männer des Dorfs machten sich offenbar einen Spaß daraus, den General mit Fußtritten zu traktieren. Tiva hoffte nur, dass sie ihm keine Knochen brachen. Blaue Flecken und Abschürfungen würden heilen. Schon in der Höhle hatte Farlin bewiesen, wie rasch er sich erholen konnte.

Vielleicht lag es an seinem Dasein als Krieger. Nur wessen Wunden rasch und ohne Komplikationen heilten, konnte auf Dauer hoffen, in der Armee zu überleben. Eine natürliche Auslese, wenn man so wollte. Wer zu Entzündungen neigte, wessen Verletzungen lange Zeit nässten und bluteten, wurde geschwächt und starb.

»Wie kommt es, dass du mit diesem Mann unterwegs warst?«

»Mein Mann und ich hatten einen kleinen Hof. Wir wurden von Räubern überfallen. Kindar – so nannte der Mann sich – kam uns zur Hilfe. Wie ein Gesandter Gottes, so wie er auch hierher zur Hilfe kam. Mein Mann starb. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Alleine mit einem Kind bleiben? Die nächsten Räuber wären gewiss gekommen.«

Sie hatte Farlin soeben unterstellt, unter einem Tarnnamen zu reisen. Zu ihrem eigenen Schutz. Der Name ihres Onkels, den sie auch ihrem kleinen Sohn geben wollte, wenn sie sich nicht länger verstecken musste.

Der Alte nickte, dann wies er mit dem Kinn in die grobe Richtung, in der Farlin an seinem Wagenrad gefesselt kauerte. »Sah er da schon so abgerissen aus?«

Sie nickte. »Zuerst hatte ich ihn ebenfalls für einen Räuber gehalten. Bis er die anderen niedermachte und uns half.«

Der Blick des Alten flog abschätzend über Tiva. Sie war sich sicher, dass dem Kerl nichts entging. Einen Augenblick musterte der Mann Mevan, und Tiva konnte sich denken, dass ihre somit bewiesene Fruchtbarkeit zu den Pluspunkten auf der Liste der zu überprüfenden Dinge zählte. »Du kannst dich natürlich alleine durchschlagen. Aber falls du tüchtig bist, könnte hier ein Platz für dich sein. Zu tun gibt es immer genug, und wir können eine junge, kräftige Hilfe gebrauchen.«

Tränen traten in Tivas Augen. »Ich danke dir! Ich bin so froh! Ich wusste wirklich nicht, was aus uns werden sollte.«

»Einer der Männer interessiert sich für dich. Er sagt, er kann sogar mit dem fremden Kind leben und wird es als sein eigenes großziehen. Ich bringe dich nachher zu ihm.«

Tiva nickte und hob wie scheu die Hand, als wollte sie die Finger des Alten ergreifen.

Der Dorfälteste lächelte und fühlte sich wahrscheinlich extrem großzügig.

Verdammt, sie war von Adel. Sie war gewohnt, in Palästen zu leben, von echtem Porzellan zu speisen und sich von reichen Männern kostbar beschenken zu lassen. Schön, dass der alte Narr das nicht einmal zu ahnen schien. Der würde sie an einen seiner Bauernfreunde verhökern und zu einem Leben als Arbeiterin für das Dorf versklaven.

Würde ein Bauernmädchen wirklich dankbar für solche Behandlung sein? Sehr wahrscheinlich. Aber nicht ich. Ich sammle Vorräte und füttere das dunkle Pferd an. Bevor die Rebellen hier auftauchen, bin ich weg.

Und Farlin?

Ich weiß es nicht.

Er schrie wieder. Heiser und eindeutig vor Schmerzen. Jemand lachte. Das heitere Johlen eines Idioten, der keine Ahnung hatte, mit wem er sich da wirklich anlegte. Farlin könnte dieses ganze Dorf alleine einebnen. Wehe diesen Schwachköpfen, wenn der Blutgeneral seinen Fesseln entkam.

Tiva hatte das Gefühl drängender Eile. Sie musste hier weg. Die Magier waren zu nah, das bewiesen jene Soldaten, die Farlin niedergemacht hatte. Nicht länger kaiserliche Uniform, sondern etwas Neues, Fremdes. Wie sicher mussten die Magier sich fühlen? Wie weit reichte ihr Arm?

Die Küste zum Ziel und das Land verlassen. Das schien Tiva die beste Lösung. Schaffte sie das alleine? Mit einem Pferd und Proviant? Vielleicht.

Aber vielleicht war nicht gut genug.

Sie kehrte zu ihrer Arbeit zurück, fütterte die Pferde und streichelte den Hals des dunklen Wallachs. Stark, kurzbeinig, große Hufe. Wäre er noch am Leben: Der Kaiser würde sich wahrscheinlich vor Lachen über dieses Geschöpf auf dem Boden winden.

Tiva streichelte weiche Nüstern und suchte in ihrer Schürze nach einem weiteren Häppchen, um das Tier freundlich zu bestechen. Die schweren Muskelpakete waren es, die sie in den nächsten Tagen brauchen würde.

Sie spähte um einen Balken herum und sah zwei der jungen Kerle sich über Farlin beugen.

Der General war wach, hatte den Kopf so weit wie möglich in den Nacken gelegt und sah zu seinen Peinigern auf.

Zwei brutale Fußtritte trafen seinen rechten Oberschenkel. Kein Schrei dieses Mal.

Verdammt, Farlin, schrei doch! Dann denken sie, dass sie Erfolg hatten. Dann lassen sie dich vielleicht eher in Ruhe, du Hohlkopf!

Ein dritter Fußtritt traf Farlins Rippen. Fast meinte Tiva, über diese Entfernung das Knacken und Knirschen der Knochen zu hören. Farlin stieß einen keuchenden Schrei aus, und die jungen Dörfler lachten, klopften sich gegenseitig auf die Schultern und fühlten sich offenkundig sehr stark und überlegen.

Wenn ich ihn jetzt losschneide, seid ihr Schwachköpfe tot, bevor ihr noch kapiert habt, was ich da mache. Er drischt eure Schädel zusammen, bis euch das Hirn aus den Augen läuft. Feiglinge! Bevor ich einen von eurer Sorte an mich heranlasse, erlaube ich eher Farlin unter meinen Röcken!

Sie lief feuerrot an. Aber es war die Wahrheit. Tiva hob entschlossen den Kopf. Sie würde nicht gestatten, dass die Rebellen Farlin in die Finger bekamen. Keinesfalls konnte sie die Bauern weiterhin Hand an den General legen lassen. Sie brauchte ihn, so lautete die einfache Wahrheit. Ohne ihn hätten sie oder Mevan – oder beide – die Geburt nicht überlebt. Ohne ihn wäre Tiva den Räubern zum Opfer gefallen. Er konnte jagen, Spuren lesen, Lagerplätze bestimmen und war einfach für seine Schutzbefohlene da, obwohl diese ihn tagtäglich mit Vorwürfen überschüttete.

Ohne Farlin ging sie hier nicht weg. Er stellte ein Bollwerk dar, an dem selbst die Magier scheitern mussten.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739456850
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Juni)
Schlagworte
Helden Krieg Kampf Heldin heroic Heroic Romance Liebe Romanze Magier Revolution Fantasy düster dark Episch High Fantasy

Autor

  • Tanja Rast (Autor:in)

Geboren 1968 als echte Kieler Sprotte im nördlichsten Bundesland, wohne ich mit vielen Tieren auf dem Land. Nun habe ich neben meinen bisherigen und zukünftigen Verlagsveröffentlichungen das Abenteuer Selfpublishing für mich entdeckt. Ich schreibe Fantasy in allen möglichen Richtungen: Urban, Geistergeschichten, Gay Romance und Heroic Romance („Schmachten & Schlachten“, wie ich dieses Subgenre mit einem Augenzwinkern nenne) und noch viel mehr.
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Titel: Farlin