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Teiro

von Tanja Rast (Autor:in)
363 Seiten
Reihe: Schmachten & Schlachten, Band 7

Zusammenfassung

Epische High Fantasy mit Helden, Schlachten, Magie und einer Romanze, die sich wie ein rotes Seidenband durch die Geschichte zieht und weder drohende Niederlagen noch selbst den Tod fürchtet. Orientierungslos und krank wie ein Hund findet Teiro sich in der unter Angriff stehenden Hauptstadt wieder. Glücklicherweise kann er sich dem kleinen Trupp rund um Kanzlerin Ghenis anschließen, die die Stadt als Letzte verlässt. Während Teiro begreift, dass er obendrein seine Erinnerungen verloren hat, erfährt er mehr über die resolute Frau, die alles daran setzt, ihr Reich zu verteidigen. Denn Ghenis ist etwas Besonderes: Sie ist eine der Wenigen, die die Götter hören kann. Doch als ihr Reich angegriffen wird, wartet sie vergebens auf den Gott des Krieges, der die Verteidiger unterstützen sollte. Stattdessen vernimmt sie Hilfeschreie aus der Götterwelt – und dann nur noch betäubende Stille.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1.

Flucht über den Mar

 

Ghenis vernahm die Schreie der sterbenden Göttin, hielt sich zitternd an der Stuhllehne fest und konnte kaum noch atmen.

Ihr Herz pumpte, bis es zu zerspringen drohte, während ihr Schweiß über die Wangen rann. Damit hatte sie nicht gerechnet. Wutgebrüll des Gottes des Krieges vielleicht, der die Soldaten des Reichs mit einer Stimme wie Donnerhall anfeuerte, ihm in die Schlacht zu folgen. So wie er sie seit Hunderten Jahren, seit Menschengedenken anführte, wenn dem Reich der zwei Flüsse, Herrschaftsgebiet der beiden Königinnen, Gefahr drohte.

Wie jetzt.

Ghenis lauschte in den Äther, doch die Schreie waren verklungen. Leise, raschelnde Atemzüge füllten ihre Wahrnehmung, klangen nach Schmerz und unendlicher Schwäche. Und endeten.

Absolute Stille hüllte Ghenis ein. Sie schüttelte die Vision, die Verbindung zur Götterwelt ab und stemmte sich auf weichen Beinen vom Stuhl hoch.

Noch vor einer Stunde hatte sie die Truppen des feindlichen Heeres über der Erhebung einige Meilen vor der Stadt auftauchen sehen. Nicht aus dem Herzland des Reichs, was die einzige Erleichterung war. Nun lagen die Hauptstadt Mardien Hald und vor allem der breite Strom Mar zwischen den Eindringlingen und dem wirklichen Reich.

Dort auf der Hügelreihe verharrten die Angreifer. Helm an Helm, Speerspitze neben Speerspitze stand siegesbewusst der Feind. Als rechnete er mit keiner nennenswerten Gegenwehr. Ein gewaltiges Heer, das noch größer zu werden schien, als es sich dort auf der Hügelreihe einnistete.

Doch der Gott des Krieges würde jeden Moment erscheinen, die Truppen der Königinnen an sich reißen und im wilden Galopp den Feinden entgegen sprengen, um wie ein Keil in ihre Reihen zu fahren, für Chaos und Panik zu sorgen.

So, wie er es immer tat.

Ghenis humpelte zum Fenster und starrte hinab auf den Vorplatz des Palasts, wo Truppen sich seit den frühen Morgenstunden sammelten, da Feuersignale der Grenztürme von einem Angriff zu sprechen begonnen hatten. Die Männer dort auf dem Platz standen in Gruppen beieinander, blickten immer wieder in offenkundiger Nervosität zum Tor des Palasts, dann zur anderen Seite zum großen Portal, das in die Stadt und zu den Brücken über den Mar führte. Dort würde er erscheinen. In schwarzer Rüstung, einen glutroten Mantel über die breiten Schultern geworfen. Wie ein Banner wehte dieser Umhang über die Kruppe seines Kriegspferdes. Deutlicher als jede Standarte zeigte die leuchtende Farbe, wo der Gott des Krieges sich befand, wohin die Truppen ihm zu folgen hatten, damit er sie zum Sieg führte.

Ghenis sah ihn vor sich, wie sie ihn einmal schon in Wirklichkeit hatte erblicken dürfen. Jeder Zoll der schwer gepanzerten Gestalt schien ihr greifbar. Fast meinte sie, seine Atemzüge zu hören und das schwere Aroma des Bluts an seinen Waffen zu riechen.

Doch kein prachtvolles Ross stampfte mit beschlagenen Hufen auf die Pflastersteine. Kein Rot wogte im Wind. Kein tiefer Schrei aus einer göttlichen Kehle rief die Männer zu den Waffen.

Leise wehte Musik zu Ghenis empor. Marschmelodien, die die Seelen und Herzen der Männer mit Mut erfüllen sollten.

Mutig mochten sie sein, doch es fehlte ihnen ein Anführer. Generale besaß das Reich selbst zu Genüge, doch noch nie zuvor hatten diese das Heer in eine Schlacht führen müssen.

Ghenis wandte sich ab, schluckte hart, da Galle ihr die Kehle hinaufstieg. Alles Anzeichen ihrer Erschöpfung und Verwirrung. Sie wollte sich auf ihrem Bett in dicke Decken einrollen und schlafen. Bestimmt entpuppte sich all dies nur als Albtraum, wenn sie endlich wieder aufwachte. Wahrscheinlich schlief sie und wandelte auf kalten, unsicheren Beinen im Traum umher.

Doch die Schreie hatten ihre Wirbelsäule mit gestoßenem Eis und den Magen mit Kälte gefüllt und ihr Herz zum Rasen gebracht.

Dies war Wirklichkeit. Sich an eine andere Hoffnung zu klammern, war töricht, gefährlich und sehr wahrscheinlich tödlich.

Ein Klopfen an der Tür ließ Ghenis herumfahren. Schmerz zuckte durch das schwache Bein, und sie musste sich am Stuhl festhalten, gegen den auch ihr Stab lehnte.

Noch bevor Ghenis eine Aufforderung rufen konnte, schwang die Tür auf, und der kleine Page der Königinnen blickte furchtsam ins Zimmer. »Kanzlerin, meine Königinnen brauchen dich.«

»Deine Königinnen sollten schon vor einer Stunde die Stadt verlassen haben«, erwiderte Ghenis, packte den Stab, der ihr als Stütze diente, wenn die Winterkälte das schwache Bein mit Schmerz füllte. Sie humpelte zur Tür. »Sind wenigstens schon ihre Sachen gepackt? Die Kronjuwelen und die Siegel?«

Der Page nickte und hielt Ghenis die Tür weit auf. »Sie wollen nicht gehen. Sie sagen, sie können die Stadt nicht im Stich lassen. Und sie sagen, der Gott des Krieges wird jeden Moment erscheinen.«

Ghenis verschwieg vor dem Knaben, was sie in der Verbindung zur Götterwelt vernommen hatte. Ein Geschenk hatten ihre Eltern diese Gabe genannt. Ghenis hatte diese extrem direkte Verbindung niemals für etwas so Besonderes gehalten. Die Götter waren da und nahe. Die Göttin der Fruchtbarkeit half gemeinsam mit ihren Kindern bei der Ernte, band eigenhändig Korngarben und unterstützte die Bauern beim Verladen und Dreschen. Da erschien es Ghenis oft selbstverständlich, dass sie die Götter hören konnte, wenn diese es wünschten. Zumindest als Kind hatte sie so gedacht, während sie der sanften Stimme des Gottes der Bücher lauschte. Später hatte Ghenis begriffen, dass diese Gabe wirklich etwas Außergewöhnliches war, dass nur ganz wenige außer ihr sie ebenfalls besaßen.

Wie furchtbar dies sein konnte, stand ihr nun klar vor Augen.

Die Göttin hatte um Hilfe geschrien. Nach den Menschen, denen sie diente und die sie verehrten, die sie in Not anriefen und um Beistand baten. Zum ersten Mal, soweit Ghenis wusste, hatte nun eine Göttin um Unterstützung gerufen. Und es hatte nichts gegeben, was Ghenis hätte tun können. Wie sollte ein Sterblicher in das Reich der Götter aufsteigen? Wie ein Sterblicher etwas besiegen, was selbst einen Gott niederrang? Und trotzdem … sie hatte helfen wollen. Ihre Muskeln hatten sich erhitzt und auf Kampf vorbereitet wie in jener Zeit, als Ghenis noch dem Heer angehört hatte.

Doch blieb Ghenis hilflose Zeugin des Sterbens.

Ganz beruhigt hatte sie sich noch nicht, als sie dem Pagen über die breiten Flure folgte. Beamte hasteten umher, trugen Kisten mit Papieren, Wertgegenständen und allen Dingen, die sie für absolut überlebenswichtig hielten.

Ghenis sammelte sich und ihre Kraft. Der Stab pochte beruhigend auf kalten Marmor, gab ihr Halt nicht nur als Stütze, sondern auch als Symbol ihres Amtes. Sie war die Kanzlerin, verdammt. Die Göttin mochte gefallen sein und Trauer Ghenis erfüllen, doch hier auf Erden, in diesem Palast und dieser Stadt gab es Menschen, die Ghenis retten konnte. Wenn sie nur Ordnung in das Chaos bringen könnte.

Sie hielt einen vorbeihastenden Mann auf. »Sind die Kutschen der Königinnen bereit für die Abfahrt?«

Der Beamte ließ fast sein Bündel Schriftrollen fallen, blickte fahrig um sich, wohl, ob ein Gehilfe in der Nähe wäre, der der Kanzlerin die gewünschten Auskünfte geben konnte. Dann riss er sich merklich zusammen. »Die Wagen stehen bereit. Die schnellsten Pferde eingespannt. Habe ich gehört.«

»Hörensagen genügt mir nicht. Überprüfe das. Und falls das noch nicht geschehen ist, sorge dafür, dass die Kutschen vorbereitet sind. Jetzt. Ich will die Königinnen unterwegs in die Sicherheit der Felsenburg wissen. Sorge für ihre Leibgarde.«

»Der Gott des Krieges …«

»Bislang keine Spur von ihm. Ich weiß, dass er alles in seiner Macht Stehende tun wird, um uns zu helfen. Er will uns nicht enttäuschen oder gar im Stich lassen. Doch das feindliche Heer ist groß und der Gott noch nicht erschienen. Wir legen nicht die Hände in den Schoß und überlassen alles den Göttern. Wir nutzen ihre Hilfsbereitschaft nicht aus. Sorge für deine Königinnen!«

Der Mann nickte endlich und rannte wieder los.

Besorgt blickte der Page sich um.

»Du gehst mit deinen Königinnen, mein Junge, hab keine Angst«, hörte Ghenis sich selbst sagen. Ihre Stimme klang ganz ruhig, so wie immer, fand sie. Das war sie sich selbst auch schuldig.

Wieder klopfte der Stab auf den Marmor, und der Junge rannte voraus und öffnete für Ghenis das große Portal zu den Gemächern der Königinnen.

Wie ein Bienenstock, aber nicht halb so geordnet. Ghenis hätte sich gerne dafür gescholten, dass sie nicht schon lange hier erschienen war, um Ruhe und Ordnung in das wilde Durcheinander zu bringen. Doch die Gabe hatte sie daran gehindert, ihren Pflichten als Kanzlerin nachzukommen. Kein Mensch hatte der sterbenden Göttin zur Hilfe kommen können, und so hatte sie zumindest einen Zeugen verdient, der voll Mitgefühl für sie war und um sie trauerte.

Ghenis neigte zum Gruß leicht das Haupt. Sie fiel nicht auf ein Knie nieder wie der kleine Page. Die Königinnen achteten das Amt. Und sie waren gütig und wussten um die Verletzung, die Ghenis humpeln ließ und es ihr unmöglich machte, nach einem Kniefall mühelos wieder aufzustehen.

»Ghenis, wo ist der Gott des Krieges? Er sollte unsere Truppen gegen den Feind führen.« Alrona, die Sanfte, ältere der beiden Königinnen. Das schlohweiße Haar unter dem goldenen Stirnreif umwogte das schmale Gesicht wie eine Wolke aus Schnee. Doch die klarblauen Augen blickten wach und besorgt.

»Ich weiß es nicht, meine Königin. Ich bin überzeugt, dass er sobald wie möglich zu unserer Unterstützung eilen wird. Bis dahin sind wir auf uns alleine gestellt. Wir sind keine Kinder, die auf Hilfe warten müssen. Je mehr wir selbst leisten, desto eher haben wir seine Hilfe verdient, meinst du nicht?«

»Du willst, dass wir die Stadt verlassen.« Kenia trat vor, die junge Königin, deren Energie Ghenis begeisterte. An Weisheit konnte Kenia es nicht mit Alrona aufnehmen, aber sie hatte die Fähigkeit, Dinge anzupacken, die Kraft und Vernunft erforderten. Und mitunter einen Fußtritt, damit sie ins Rollen kamen.

»Zu eurer Sicherheit. Weicht hinter den Mar zurück. Doch bleibt dort nicht stehen. Flieht hinter den Dien und in das Gebirge in die Felsenburg. Frauen und Kinder werden sich euch anschließen. Sollte der Feind den Mar überschreiten, können wir mit dem Dien im Rücken das Hinterland verteidigen. Aber euch beide muss ich in Sicherheit wissen. Erst dann kann ich aufatmen.«

»Ich fühle mich ein wenig feige dabei.«

»Das kann ich verstehen, Kenia. Aber da draußen zieht eine Übermacht auf. Selbst wenn der Gott des Krieges unsere Soldaten in die Schlacht führt, könnte das Ergebnis unsicher sein.«

»Du warst selbst Soldatin, ich weiß, dass du die Lage einschätzen kannst. Doch was werden unsere Truppen sagen, wenn Alrona und ich die Stadt verlassen, um uns irgendwo in den Bergen zu verstecken?«

»Sie werden erleichtert sein, dass ihr die Last von ihren Schultern genommen habt. Ihr kümmert euch um das Volk und überlasst die Schlacht und das blutige Handwerk jenen, die dafür ausgebildet wurden. Dem Gott des Krieges, unserem Heer und mir. Wir decken den Rückzug.«

Kenia blickte Alrona an, und endlich nickte die alte Königin. Ghenis atmete lautlos auf. Es würde alles leichter werden, wenn nur diese beiden in Sicherheit waren. Sie und ihre Erbinnen, denn jede Königin bestimmte zu Lebzeiten die eigene Nachfolgerin. Eine weise Einrichtung, wie Ghenis fand, verminderte die öffentliche Ernennung der Erbin doch mögliche Nachfolgekriege, wie sie früher – vor dem Eingreifen des Gottes des Krieges – wohl beinahe an der Tagesordnung gewesen waren. Vor vielen, vielen Hundert Jahren. Damals drohte das Reich, in blutigen Familienfehden und auch in Bürgerkrieg und Hunger zu versinken. Doch der Gott des Krieges war auf die Erde herabgestiegen und hatte – wenn Ghenis die Schriften der Chronisten interpretierte und vor allem zwischen den Zeilen las – wohl einige Köpfe zusammengeschlagen, um den Verstand darin wieder zur Arbeit anzutreiben.

Ghenis mochte diesen Gott von allen am liebsten. Auch wenn dies in einem grundsätzlich friedlichen Reich ungewöhnlich erschien. Die Weisheit des Gottes der Bücher, die Hilfe der Göttin der Fruchtbarkeit, die Unterstützung durch den Gott der Heilkraft – Ghenis war bereit, all das einzutauschen gegen den gewaltigen Krieger in schwarzer Rüstung und glutrotem Mantel. Vor allem jetzt, da Feinde vor den Toren der Stadt Aufstellung bezogen, ein Lager errichteten und Wälder niederholzten, um Kampfmaschinen daraus zu bauen.

Während die Königinnen nun endlich aufbrachen, alle ihre Lakaien und Pagen, Zofen und Leibdienern mit sich nahmen, lauschte Ghenis die ganze Zeit auf einen jubilierenden Aufschrei, der aus Hunderten von Kehlen aufbranden sollte, sobald der Gott des Krieges sich seinen Soldaten zeigte. Er musste einfach erscheinen.

Sie straffte sich, grüßte die Königinnen zum Abschied, obwohl sie wusste, dass sie kurz vor der Abfahrt der Kutschen einen letzten Moment mit den beiden Herrscherinnen verbringen würde. Doch jetzt, da diese Sorge von ihr genommen war, galt es, sich mit den gewöhnlicheren Dingen auseinanderzusetzen. Die Generale würden vor Ghenis antreten, und sie würde einen aus deren Reihen zum Kommandanten der Stadtverteidigung ernennen. Natürlich nur so lange, bis göttliche Verstärkung erschien.

Um die Verantwortung beneidete Ghenis den Mann nicht. Auch wenn sie selbst ähnlich schwer zu tragen hatte.

Verflucht sei der Tag, an dem auf dem Übungsplatz ihre Deckung nicht gut genug gewesen, an dem der Speer ihrer Partnerin zwischen die Panzerstücke von Ghenis’ Rüstung gefahren war. Ghenis wusste, dass sie ohne diese Verwundung und deren Folgen einen guten General abgegeben hätte. Doch wenn sie selbst nicht in der ersten Reihe kämpfen, nur im Hintergrund als Bogenschützin Hilfe leisten konnte, dann reichte das nicht. Es genügte auch deswegen nicht, weil das Heer größtenteils aus Männern bestand, die es gewohnt waren, sich göttlicher – und überaus männlicher – Führung zu unterwerfen.

Sie erreichte das Portal zum Vorplatz, das Wächter ihr offenhielten. Als Ghenis auf die flachen Stufen trat und den Blick über die versammelten Truppen fliegen ließ, die hoffnungsvoll zu ihr sahen, ertönte der Alarm von den Wehren.

Dabei zog bereits die Abenddämmerung auf! Es schneite leicht, und der Wind blies eisig über Mardien Hald. Wie konnte jetzt ein Angriff erfolgen? Das feindliche Heer war doch gerade noch mit dem Lager beschäftigt gewesen, mit dem Errichten von Palisaden, dem Fällen von Bäumen! Es musste sich um einen Versuch handeln, nur eine Prüfung, wie gut die Verteidigung aufgestellt war.

Wie von einer fremden Macht gelenkt wandte Ghenis den Blick zum Tor. Dort begann die Straße aus dem Palastviertel durch die Stadt und über den stürmischen Fluss Mar, wand sich an Häusern und Werkstätten vorbei bis zum Stadtportal, das den Weg an Ackerland und Weiden, an Gehöften und Marktflecken entlang bis zu den Ufern des sanften Flusses Dien und über ihn hinweg zu den Bergen eröffnete. Dorthin würden die Königinnen sich zurückziehen, in ihrem Gefolge Landbevölkerung, die vor dem Feind floh und Schutz in den Höhlen finden würde. Dort sollte – musste – jetzt das große Pferd mit seinem kriegerischen Reiter erscheinen.

Doch der freigelassene Platz vor dem Tor blieb leer. Ein Beben stieg von Ghenis’ Fußsohlen auf, zitterte durch ihre Beine. Angst und Enttäuschung mischten sich mit Wut.

»Kanzlerin?«

Sie riss sich mit Gewalt los von der Erwartung, vor dem Tor im blau werdenden Licht der Dämmerung den roten Mantel wehen zu sehen. Es kostete mehr Kraft, als Ghenis erwartet hatte. Verdammt! Dabei waren die Verteidiger alles andere als hilflos!

Zwei der Generale. Und sie sahen ebenso verunsichert aus, wie Ghenis sich fühlte. Als ob sie alle mit einem Mal Waisen geworden waren.

Doch sie fasste die Männer fest ins Auge und war erleichtert, dass zumindest Leidan hier war. Ein Mann jenseits der Vierzig, der sich durch ständige Kritik an jeder Entscheidung hervortat, der nachdachte, bevor er den Mund aufmachte. Und der sich um seine Soldaten sorgte wie ein Vater. Genau der General, den sie nun brauchte, um die Stadt zu verteidigen.

»General Leidan, dir übertrage ich das Amt des Stadtkommandanten. Verteidige Mardien Hald, so lange es möglich und sinnvoll ist. Ich kümmere mich persönlich darum, die Königinnen in Sicherheit zu bringen.«

»Es ist Winter, Kanzlerin. Wie können die Angreifer jetzt einen Krieg beginnen?«

Die falsche Tageszeit, die falsche Jahreszeit. Niemand führte im Winter Krieg. Proviantzüge blieben im halbgefrorenen Boden stecken, verirrten sich im Schneefall. Verwundete erfroren, bevor ein Heiler sie erreichen konnte. Alles war falsch, und doch schienen die Angreifer alles richtig zu machen, da sie ihre Beute mehr als nur verwirrten.

»Ich weiß. Aber das ändert nichts daran, dass wir die Stadt und unser Reich verteidigen. Es wurde Alarm gegeben, General Leidan. Tu etwas! Warte nicht auf den Gott des Krieges. Er wird erscheinen, wenn er es für richtig hält. Bis dahin bist du sein Stellvertreter. Beweg dich, Mann!«

Leidan salutierte, obwohl Ghenis keinen militärischen Rang mehr innehatte. Nicht mehr.

Als Leidan zu den Männern stürzte und Befehle zu bellen begann, die nichts von seiner Verunsicherung offenbarten, erhielt Ghenis einen Moment Zeit für Angst und Zweifel, während ihr Blick wieder zu dem leeren Platz vor dem Tor zu der eigentlichen Stadt flog.

Die Götter selbst waren angegriffen worden. Natürlich halfen sie einander, verteidigten sich und konnten nicht an zwei Orten gleichzeitig sein. Erst musste der Angriff auf ihr Heim abgewehrt werden, bevor sie ihren Schützlingen auf der Erde zur Hilfe kamen.

Ghenis lauschte in den Äther. Sie schloss die Augen und dachte so konzentriert wie möglich mitten im Gewirr rennender Soldaten, klappernder Rüstungen und gellender Alarme von der Wehr an die Götter. Mütterliche Freundinnen, väterliche Beschützer. Ghenis ballte die Fäuste, versuchte sich vorzustellen, wie ihr eigener Hilferuf die Götter erreichte. Wie sich der Gott der Heilkraft erhob, nach seinen Arzneien und Verbandsmaterialien griff. Einmal schon hatte Ghenis an seiner Seite im Lazarett gearbeitet, und vielleicht hatte sie sich ein klein wenig in den älteren Gott verliebt, der so sanft und geduldig mit den Verwundeten umging. Ganz gewiss hatte er ihr Bein gerettet.

Doch noch wurden seine Hilfeleistungen nicht gebraucht. Noch war es nicht zum Zusammenstoß gekommen. Doch er bereitete sich ganz bestimmt auf seinen Einsatz vor.

Sie stellte sich vor, wie der Gott des Krieges seine Rüstung anlegte, hatte die Bilder so fest und sicher vor Augen, dass sie sich beinahe selbst überzeugte. Er musste unterwegs sein, seinen Schützlingen beizustehen. Sie roch nahezu das kalte Metall der Panzerung, das Fett, das zur Pflege verwandt wurde. Und dann verschwamm alles glutrot vor ihren Augen, als er den Mantel anlegte, herumwirbelte und panzerstarr und gefährlich zu den Menschen herabstieg.

Lärm umtoste Ghenis. Kriegsgeschrei von zwei Seiten einer Wehrmauer. Durch Kasernenhöfe und eine zweite Mauer vom Palastviertel getrennt, wo die Festung aufragte, die Mardien Hald beschützte. Verteidiger, die mit ihrem Gebrüll Angreifer einzuschüchtern suchten, damit es gar nicht erst zu einem Zusammenstoß an der Mauer kam. Gellendes Geifern von der anderen Seite.

Wer griff an und warum? Ghenis wusste es nicht. Noch einmal ordnete sie ihre Gedanken, presste sie in eine Form und mühte sich, sie durch den Äther zu senden, damit sie denjenigen erreichte, der in Mardien Hald bitterlich benötigt wurde.

Doch als Ghenis die Augen öffnete, war der Platz vor dem Tor immer noch leer. Keine Funken sprühten unter beschlagenen Hufen auf, keine schwarze Rüstung glitzerte vom Frost im Licht der Laternen.

Nur Schnee bedeckte den großen Hof zwischen Palast und Tor. Dicke Flocken fielen vom sich verdunkelnden Himmel und ließen die Spuren der Soldaten verschwinden, als wären die Männer niemals hier gewesen. Nur eine Erinnerung unter weißer Decke.

Ghenis atmete tief durch. Hier hatte sie bewirkt, was ihr möglich gewesen war. Nun galt es, die königliche Kavalkade in Bewegung zu setzen, falls dies noch nicht geschehen war. Ganz gewiss strömten schon Flüchtlinge durch das Tor zu den Bergen. Das Glück wollte es, dass Mardien Hald durch den breiten Fluss Mar zweigeteilt war. Innerhalb der Stadtmauern gab es genügend Brücken, um vom Palastviertel zum Portal zu gelangen. Doch außerhalb von Mardien Hald gab es nur ein paar Bauernfähren. Das feindliche Heer konnte so leicht nicht übersetzen, nicht in das Herz des Landes vordringen. Es sei denn, sie überrannten die Hauptstadt, die wie ein Korken einen Flaschenhals verschloss.

Hart klopfte der Stab auf den Boden, stäubte Schnee beiseite. Ghenis arbeitete sich behutsam über den gepflasterten Hof. Unter der weißen Decke lag Schneematsch, der nun langsam zu Eis gefror. Ghenis spürte, wie die Schneeflocken auch in ihrem Haar Halt fanden. Ihr Atem beschlug vor ihrem Gesicht zu dicken Wolken, und hinter ihr schwoll der Kampflärm immer mehr an.

Die Verteidiger hatten das Palastviertel verlassen, das wie ein Kirschkern inmitten der Frucht lag, diesseits des Mar umgeben von Kasernenhöfen und Werkstätten. Die Wohnbereiche der Stadt Mardien Hald lagen beinahe vollkommen auf der anderen Seite des Stroms. Auf der großen Wehranlage trafen nun die Soldaten der Königinnen mit denen der Eindringlinge zusammen. Ghenis wusste immer noch nicht, wer über die Grenzen gekommen war, um Mardien Hald anzugreifen. Doch Übergriffe waren in den letzten Jahrhunderten immer wieder vorgekommen. Zu große Bodenschätze gab es im Gebirge, zu reich lagen die Weiden und Äcker im Schutz der Hauptstadt. Überfluss zog seit jeher Neider an.

Wer es nun war, der seine Truppen wie Flutwellen an die Stadtmauer warf, konnte Ghenis auch später noch herausfinden. Nun hatte sie andere Aufgaben. Energisch schob sie die Gedanken an den fremden Feldherrn beiseite. Das hatte Zeit.

Ungebeten flatterte ein Bild aus ihrem Gedächtnis auf. Jener Tag, der sie für den Soldatendienst unfähig zurückließ, lag noch zwei Jahre in der Zukunft. Ghenis war eine vollwertige Kriegerin. Und als solche war sie mit ihrem Streitwagen im Gefolge des Gottes des Krieges in eine Schlacht gefahren. Bogenschützen hinter ihr, rechts und links, alle im Streitwagen, der sie rasch in Position fahren konnte. Ghenis entsann sich der schwarz gefiederten Schauer von Geschossen, die in das feindliche Heer niedergingen. Und wie eine Lohe inmitten der Krieger leuchtete der rote Mantel und wies den Truppen von Mardien Hald den Weg ins Herz der gegnerischen Armee. Direkt zu deren Oberbefehlshaber, der vor dem Gott des Krieges die Waffen streckte, bevor dieser ihn noch ganz erreicht hatte.

Hünenhaft und unbesiegbar, der muskulöse Körper durch die schwarze Rüstung noch betont, das Gesicht hinter den Streben eines Helms verborgen. Jeder Zoll an ihm hatte von Kraft gesprochen und jedes Herz mit Mut erfüllt.

Er fehlte im Hier und Jetzt, und Ghenis hoffte, dass der Angriff auf die Götter nicht bedeutete, dass der Gott gar nicht erscheinen würde. Sein Volk brauchte ihn!

Sie erreichte den Schutz eines kleinen Torhauses und atmete auf, da sie dem scharfen Wind dadurch entkam. Dann lächelte sie, als sie auf den Hof der weitreichenden Pferdestallungen blicken konnte. Dort stand nicht eine einzige Kutsche, doch im Schnee zeichneten sich noch die Radspuren ab. Die Königinnen mit ihrem Hofstaat waren unterwegs Richtung Gebirge. Gut, dass sie nicht auf Ghenis gewartet hatten. Eine Sorge weniger.

»Götter, ich danke euch, dass wenigstens dies ohne Schwierigkeiten vollbracht ist. Ich flehe euch an, über die Königinnen zu wachen, sie zu schützen und ihnen weiterhin Weisheit und Weitsicht zu verleihen.«

Keine Antwort. Aber das fand Ghenis normal. Lange nicht jedes Gebet zu den Göttern wurde auch beantwortet. Sie kannte die Geschichte des jungen Ehemannes, der auf Knien die Götter angefleht hatte, seiner Frau bei der Geburt beizustehen. Als er sich wieder aufraffte, um zitternd nach der Gebärenden zu sehen, der keine Hebamme hatte helfen können, beugte sich eine alte Frau über das Bett, im Arm das kleine Kind. Die Göttin der Fruchtbarkeit hatte den Hilferuf sofort auf ihre eigene Art beantwortet, keine Zeit verschwendet und Mutter und Kind gerettet.

Doch Ghenis mit ihrer Gabe vernahm oft eine leise wirkliche Reaktion auf ihre Gebete. Manchmal nur halb verständliche Silben, ein andermal beruhigende Worte. Aber jetzt herrschte absolute Stille im Äther. Stille, die Ghenis Angst lehrte, wie sie sie nie gekannt hatte. Selbst in dem Moment nicht, da ein Heiler ihr sagte, das Bein müsse abgenommen werden.

Sie lehnte sich schwer gegen die Mauer des Torhauses, entlastete für einen Moment das schmerzende Bein und überlegte fieberhaft, was es als Nächstes zu tun gab.

Dumpfes Pochen, das scheinbar selbst die Erde erbeben ließ, riss sie aus ihren Gedanken. Wie Donnerhall rollte das Geräusch über die schneebedeckte Stadt. Wie ein Steinfall in den Bergen, eine einstürzende Mine.

Ghenis atmete eiskalte Luft durch den Mund ein, spürte das Donnern in jeder Pore und jedem Knochen, in der alten Narbe ihres Beins.

Bei Schnee und Dunkelheit ein Überfall, und jetzt krönten die Angreifer ihre Bemühungen noch. Verflucht!

 

Drei Stunden später sah sich Ghenis zur Flucht gezwungen. Bombardement hatte die Wehrmauern so schwer beschädigt, dass die Generale die Stadt als verloren bezeichneten. In einem großartigen Schlachtengetümmel wollten sie sich dem Feind entgegenwerfen, um so die Flucht der Stadtbewohner zu decken. Doch Leidan war gefallen, wurde ihr gesagt, und Ghenis hatte sich entsetzlich gefühlt, als sie einen anderen General zum Stadtkommandanten ernannte. Und dann noch einen …

Ghenis verschaffte sich einen Überblick von den Zinnen des Palastturms aus. Ihr Herz sank. Eine letzte Schlacht? Eher ein blutiges Abschlachten der eigenen Truppen. Jeder Soldat, den die Generale vorwärtswarfen, konnte sich freuen, falls er noch fünf Atemzüge machen durfte, bevor er umgebracht wurde. Eine Verschnaufpause brachte dieser Ausfall niemandem. Es war unsinnig.

Doch nun war es an den Generalen, die Entscheidungen zu treffen, um den Feind so lange wie möglich aufzuhalten. Eine Kanzlerin, so ehrenvoll sie auch war und behandelt wurde, hatte nichts mehr zu melden. Das hatten die Männer Ghenis spüren lassen. Ebenso, dass sie in Mardien Hald schon seit Stunden als überflüssig empfunden wurde.

Ghenis war erschöpft. Bis zu dieser fatalen Nachricht hatte sie in der Stadt gewirkt, war durch Schneetreiben und über Eis gehumpelt, hatte Flüchtlingszüge organisiert und vor allem dafür gesorgt, dass im schlimmsten Fall dem Feind keinerlei Vorräte in die Hände fielen. Von wegen überflüssig! Nur in den Kasernen befanden sich noch Lebensmittel, die Rationen der Soldaten. Alles so verpackt, dass bei einem Rückzug jeder Mann Essen für vier Tage mit sich trug.

Doch all das schien nun vergebens. Die Stadt schien schon tot und aufgegeben. Die verwaisten königlichen Pferdeställe, die leer stehenden Bürgerhäuser waren nur die für Ghenis sichtbaren Zeugnisse. Nirgends ein Licht, keine Bewegung in den verschneiten Straßen mehr zu sehen.

Die Wehr brach unter dem Ansturm zusammen, und die Generale sahen keinen Ausweg mehr.

»General, ich habe die Zahlen unserer Gegner gesehen. Jeder unserer Männer wäre nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Tau in der Morgensonne, verdampft, bevor er auch nur einen Feind mit sich in den Abgrund ziehen kann.«

»Wir decken den Rückzug der Zivilbevölkerung, Kanzlerin. So lange es uns nur möglich ist, werden wir Mardien Hald und als letzte Verteidigungslinie den Mar halten und vor dem Eindringling beschützen.«

»Ihr verwandelt die Stadt in ein Schlachthaus für unsere eigenen Männer!«

»Kanzlerin, mische dich nicht in Dinge ein, von denen du nichts verstehst.«

Blut schoss in Ghenis’ Wangen. Für einen Moment war sie fassungslos. Diese Generale wollten als Helden sterben und sahen das sogar als die Krönung ihrer Karriere und ihres Lebens an.

Doch einer beugte sich vor und sprach ganz leise und eindringlich: »Die Götter haben uns verlassen, flüstern die Männer. Sie haben Angst und fragen sich, was sie falsch gemacht haben. Ich glaube nicht, dass sie uns wirklich im Stich gelassen haben, Kanzlerin Ghenis, aber ich bin überzeugt, dass sie uns prüfen wollen. Wir haben alles getan, was in unserer Macht steht. Mehr vermag kein Mensch. Da draußen auf der Wehr sind Heldentaten vollbracht worden. Und jetzt werfen wir alles vorwärts. Wenn dies auch eine Prüfung ist, wird der Gott des Krieges uns nicht länger alleine kämpfen lassen.«

Ghenis fand diese Gedanken unsinnig, unpassend, wenn sie an die Götter dachte. Sie wollte aufbegehren, schluckte die harsche Erwiderung jedoch. »Aber ich soll die Stadt verlassen?«

»Nur zur Sicherheit.«

Sie sprang auf, Schmerz im Bein, Eiseskälte in Magen und Brust.

»Du bist es, die eine direkte Verbindung zu den Göttern hat, Kanzlerin. Was hörst du?«

Nicht ein Laut aus dem Äther.

Sie stand alleine inmitten der Generale, war sich der lauschenden Meldeläufer an den Türen bewusst und hatte nur eine Antwort. Sie hörte nichts, seitdem die Schreie der Göttin verklungen waren, seitdem sie aufgehört hatte zu atmen.

Waren die Götter tot?

Unmöglich.

»Bring dich in Sicherheit, Kanzlerin. Hier kannst du nichts mehr bewirken. Schlag dich durch zu den Königinnen in der Felsenburg. Wir halten die Mauern so lange wie möglich.«

 

Es war ein winziger Haufen, der sich durch das Portal des Palastviertels in die verlassene Stadt schlich, Spuren im Schnee hinterließ, die nur wenige Atemzüge später durch frisches Weiß geschlossen wurden.

Ein Flüchtlingstross wartete kurz hinter dem großen Tor auf sie, hatte ein Meldeläufer Ghenis versichert. Sie hoffte, dass dies der Wahrheit entsprach. Denn zu Fuß würde sie ihre jämmerliche Flucht nicht lange durchhalten – geschweige denn die Felsenburg noch in diesem Winter erreichen!

Schmerzen zogen sich wie eisige Spinnweben durch das schwache Bein. Alleine der Stab, den Ghenis vor dem Abmarsch mit Lederstreifen umwickelt hatte, um ihm eine gewisse Tarnung zu verleihen, half ihr, nicht zurückzufallen. Sie trug nur leichtes Gepäck. Lebensmittel, ein Feuerstein, etwas Zunder. Eine Wasserflasche baumelte unter dem Kapuzenumhang am Gürtel. Ebenso ein Dolch. Für Bogen und Köcher hatte sie nicht mehr genug Platz und Kraft. Doch beides fehlte ihr. Mit dem Säbel mochte sie untauglich sein, doch einen Pfeil könnte sie in allergrößter Not auch im Sitzen abfeuern, wenn der Bogen nur klein genug war. Zu spät, nun befand sie sich jenseits des Palastviertels und hielt auf den Mar zu, der sich in rasender Geschwindigkeit durch sein gemauertes Bett wälzte und hoffentlich die letzte Verteidigungslinie darstellte. Sonst gab es nur noch den Dien …

Die Generale hatten ihr zwei ältere Soldaten mitgegeben, die wahrscheinlich tüchtig genug waren, um Ghenis durch das winterliche Reich zu schaffen, wenn ihre eigenen Kräfte dazu nicht mehr reichten. Dazu eine Handvoll Knechte aus den geleerten Stallungen und zwei Mägde aus dem Palast – wohl aus Rücksichtnahme einer Frau gegenüber, von der die Generale dachten, sie würde sich inmitten einer reinen Männergesellschaft unwohl fühlen. Ghenis verwünschte die Militärs dafür, denn die Mädchen hielten den kleinen Trupp auf. Die hätten schon vor Stunden fortgeschickt werden müssen, statt nun an Ghenis zu kleben.

Sie erschraken an jeder Ecke, wenn nur ein Fensterladen über ihnen klapperte. Außerdem trugen sie Berge an Gepäck mit sich. Ghenis argwöhnte, dass sie einiges aus dem Palast hatten mitgehen lassen.

Aus ihrer Soldatenzeit wusste sie, wie mit Plünderern umgegangen wurde. Doch irgendwie widerstrebte es ihr, ein Wort zu sagen, das eine Durchsuchung des Gepäcks und somit eine weitere Verzögerung bedingt hätte. Sie waren ohnehin viel zu langsam, denn hinter ihnen warfen sich jetzt die verbliebenen Truppen über die zerstörte Wehr den Feinden entgegen.

Ghenis hatte von der Turmzinne aus Banner in der Dunkelheit gesehen und zerbrach sich nicht erst seitdem den Kopf, wer der Angreifer sein könnte. Bis zu ihrer Flucht hatte ihr niemand Nachricht gebracht, welche Zeichen auf den Fahnen des Feindes zu erkennen waren. Die Männer an der Kampfeslinie hatten Wichtigeres zu tun, für die bedeutete es keinen Unterschied, Namen zu erkennen. Doch Ghenis lenkten diese Überlegungen von den Schmerzen im Bein und dem eisigen Wind ab, dem sich nun das Rauschen des Flusses anschloss.

Der breite Strom teilte die Stadt. Brücken verbanden die beiden Ufer, doch nach dem Willen des Militärs gab es nur noch eine einzige, die ein sicheres Übersetzen möglich machte. Alle anderen waren absichtlich beschädigt worden, um die feindliche Armee im wahrsten Sinne des Wortes ins Wasser fallen zu lassen, sollte sie den Mar überqueren wollen.

Schwarz wälzte der Strom sich durch sein Bett aus gemauerten Ziegelsteinen, was die Geschwindigkeit des Wassers noch erhöhte. Weiße Schaumkronen blitzten in der Dunkelheit, als Ghenis’ Gruppe sich vorsichtig über die verschneite Brücke bewegte.

Es knirschte unter den Stiefeln, Frost härtete die weichen Flocken, ließ sie harsch zu Eis erstarren. Ghenis kämpfte um rasche Fortbewegung. Unter dem Schnee lagen die Pflastersteine mit einer glitschigen Eisschicht bedeckt, die jeden Schritt zur Gefahr machte. Die Fingerkuppen wurden taub vor Kälte, da Ghenis sich mit einer Hand am steinernen Brückengeländer festhielt und sich gleichzeitig schwer auf den Stab stützte.

Die Stadt lag in Dunkelheit, nur hinter den einsamen Wanderern leuchtete es rot und golden von der Schlacht, die ohne Rücksicht auf Verluste oder gar Wetter und Jahreszeit nun bis in die Nacht hinein wütete und alles verschlang, was ihr in den Weg kam.

Eines der Mädchen schrie auf und wies in die schwarzen Fluten, die sich rasch unter der Brücke hinweg wälzten. Ghenis’ Blick folgte dem ausgestreckten Zeigefinger. Dort trieb eine Leiche, halb unter Wasser, nur als grober Umriss erkennbar. Unmöglich zu bestimmen, aus welchem Heer der Mann stammte. Wenn es denn ein Mann war.

Ein zweiter Körper trieb vorbei, während Ghenis sich noch über die Brüstung beugte und dem ersten nachsah. Dann erblickte sie direkt auf dem gemauerten Weg, der links und rechts den Kanal flankierte, einen großen, dunklen Schatten.

Gleichzeitig mit den Mädchen, wie es schien, denn beide umklammerten einander und keuchten entsetzt auf. Oder sie hatten noch etwas anderes gesehen, wer konnte das schon so genau sagen.

»Kanzlerin, da unten …«, begann einer der beiden Soldaten.

»Ich sehe es. Im Wasser treiben Tote, und da scheint noch einer zu liegen. Auf der Seite des Flusses, die sicher sein sollte. Ich will das überprüfen.«

»Wir sollten rasch zum Tor«, erwiderte er drängend.

»Mit ein wenig Nachdenken sollte dir klar sein, dass das jemand von uns sein muss. Ich lasse niemanden, in dem vielleicht noch ein Rest Leben steckt, in dieser Nacht im Schnee liegen. Ist es ein feindlicher Soldat, der sich knapp aus dem Wasser hat retten können, darfst du ihm gerne den Rest geben. Aber wenn er zu uns gehört, wird er nicht dort liegen und erfrieren, nur weil wir feige sind, verflucht!«

Sie stapfte an dem Soldaten und seinem Kameraden vorbei, rutschte einmal fast aus, als sie auf schieres Eis trat, und meisterte den Abstieg auf der angeblich sicheren Seite der Brücke trotzdem, ohne zu stürzen.

Sie umrundete den Brückenpfeiler und gelangte auf den gemauerten Weg. Mit jedem Schritt, den sie näher an den dunklen Schatten ging, erschien die Gestalt ihr größer. Eindeutig ein Mensch, noch eindeutiger ein Mann. Ghenis kannte keine Frau solcher Körpergröße.

Dann entdeckte sie, dass der Schnee rund um die hünenhafte Gestalt zum Teil geschmolzen war. Der Mann musste sich tatsächlich aus dem Fluss gezogen haben und hier zusammengebrochen sein.

Sie erblickte einen Umhang, der von Raureif und Eis bedeckt war. Lange, muskulöse Unterschenkel in schwarzem Leder, eine große Hand, die wie Halt suchend in den Schnee gekrallt war. Und unter dem Kerl eine Pfütze …

Ghenis atmete scharf ein und bereute es sofort. Sie hielt sich eine Hand vor den Mund, als das ganz besondere Aroma von Erbrochenem sich den Weg in ihre Lungen suchte und dort festsetzte.

Der Soldat, der vor wenigen Momenten noch ihre Weisung hatte anfechten wollen, eilte an ihr vorbei und kniete neben dem großen Mann nieder, in der Hand bereits den blanken Dolch. Der Soldat streckte die Hand aus, legte sie auf den frostbestäubten Mantel, und der Hüne am Boden stieß ein leises Knurren aus, halb ein Stöhnen. Er wandte den Kopf, und die Kapuze rutschte beiseite, gab unter einem grauen Pelzbesatz ein blasses Gesicht frei. Dunkle Augen, die wie nasse Kohlen schimmerten, richteten sich mit einem eindeutig fragenden Ausdruck auf das Gesicht des Soldaten.

»Kannst du gehen? Die Stadt wird überrannt«, sagte Ghenis und wunderte sich, wie ruhig ihre Stimme klang.

Der dunkle Blick flog zu ihr, heftete sich auf ihr Gesicht, und tief in Ghenis stieg Wärme auf – wie angesichts eines tapsigen Hundewelpen.

Große Augen, lange Wimpern und eine solche … Unschuld in diesem Blick, der unsicher und verwirrt schien.

Doch der Fremde nickte nach einem Wimpernschlag und machte mühevolle Anstalten, sich aus der Dreckpfütze zumindest auf Hände und Knie zu stemmen. Er war vollkommen durchnässt von Erbrochenem und geschmolzenem Schnee, und Ghenis wusste, wie heftig er frieren würde, bis der Frost die Feuchtigkeit aus seiner Kleidung gezogen hatte, nachdem sie zuerst steif wie ein Brett an dem Mann kleben würde.

Der Soldat sprang auf und trat einen Schritt zurück, offenkundig nicht bereit, dem Fremden zu helfen. Doch in gewisser Weise tat er das Richtige. Wenn der große Kerl nicht alleine gehen konnte, würden sie alle ihm helfen müssen – oder ihn in der fragwürdigen Sicherheit eines Kellers zurücklassen. Doch es war nicht mehr weit bis zum Tor, wo der Flüchtlingstross warten sollte.

Ghenis fühlte, wie ihr Mund trocken wurde, als sie den qualvollen Bemühungen des Mannes zusah, wie dieser sich vor ihren Augen in die Senkrechte stemmte und scheinbar immer größer wurde.

Bis er sich vorbeugte, eine Hand auf seine Bauchdecke gepresst, und keuchend nach Atem rang, bevor er trocken würgte. Es klang schmerzhaft, und Ghenis spürte wie aus reinem Mitgefühl ebenfalls Brechreiz in ihrer Kehle kitzeln. Dazu kam der Gestank, der von dem Mann und seiner Kleidung ausging.

Entweder war der große Kerl halb ertrunken gerade noch an Land geklettert – oder er war ein Säufer.

Ghenis’ Kiefermuskeln spannten sich an. Gleichgültig. Er war vor allem ein riesiger Kerl, dessen Muskelmassen selbst unter dem nun gefrierenden Umhang gut auszumachen waren. Wenn er sich erholt hatte oder vollkommen ausgenüchtert war, würde er sich schon nützlich machen können. Obwohl der Kerl sie bei Weitem überragte, fand Ghenis die Sicherheit, ihm Schnaps jeder Art sicher vorenthalten zu können.

»Wir müssen weiter«, sagte der Soldat, und Ghenis bemerkte, dass er soeben die Anrede als Kanzlerin umging. Nicht aus Unhöflichkeit, wie sein Blick ihr bewies, denn in diesem lag nichts Anmaßendes. Der Soldat traute dem Hünen nicht, und angesichts des Größenunterschiedes, obwohl Letzter mit nach vorne gezogenen Schultern und leicht gekrümmt dastand, konnte Ghenis es dem Soldaten nicht verdenken.

»Ich weiß.« Ghenis wandte ihre Aufmerksamkeit von dem Soldaten auf den Neuzugang. »Du, wie heißt du?«

Ein kurzer Moment des Zögerns, eine angestrengt gerunzelte Stirn, was den verwirrten Gesichtsausdruck noch verstärkte. Verflucht, hatte der Kerl sich vollkommen um den Verstand gesoffen?

»Teiro.« Eine tiefe Stimme, wie gemacht, um Befehle über einen Kasernenhof oder ein Schlachtfeld zu brüllen. Und doch eine Sanftheit in dem vollen Klang, die Ghenis an ihren ersten Lehrer erinnerte, der ihr Zahlen und Buchstaben beigebracht hatte.

»Gut, Teiro. Du wirst mit uns Schritt halten müssen. Wir müssen dringend weiter.«

Er nickte und bemühte sich, sich gerader aufzurichten. Tatsächlich fiel er nicht zurück, als die Gruppe zur Brücke zurückkehrte und wieder auf die Straße fand.

Ghenis behielt alle Anwesenden scharf im Auge. Die Mädchen hielten sich dicht beieinander und schienen trotz aller Gefahr, in der die kleine Gruppe schwebte, aufgeregt miteinander zu tuscheln. Von allen Mägden des Palastviertels hatte der General Ghenis ausgerechnet zwei dumme Hühner mitgegeben. Nun, das waren wahrscheinlich die Letzten, die sich noch im Gebäude befunden hatten, weil sie zu dämlich gewesen waren, von sich aus die Flucht zu ergreifen. Oder weil sie zu sehr damit beschäftigt gewesen waren, Schubladen und Kommoden zu durchstöbern.

Die Knechte verhielten sich still und wollten ganz offensichtlich die bisherige Marschgeschwindigkeit erhöhen. Sie wirkten auf Ghenis wie junge Hasen, die hastig davonrannten, kaum dass ein Jagdhund sich zeigte.

Sie warf einen Blick zurück über die Schulter, wo Flammenrot die Nacht erhellte. Lagen die Verteidiger bereits tot auf der zusammengestürzten Wehr? Oder wurde dort wirklich noch gekämpft? Standen vielleicht nur noch die Mauern des Palastviertels zwischen den Angreifern und dieser kleinen Schar Flüchtlinge? Und der Fluss Mar, über den nur noch eine einzige Brücke führte?

Trotz der Schmerzen im Bein gab Ghenis sich Mühe, etwas schneller zu gehen. Hart klopfte der Stab auf den Boden, und bei jedem Schritt meinte sie, sich etwas schwerer darauf stützen zu müssen.

Sie nahm links von sich den gewaltigen Schatten wahr, der Teiro war. Seine Kleidung knirschte, sie war schon gefroren. Der große Mann ging leicht vornübergebeugt, klang atemlos und stank zum Steinerweichen. Einmal stützte er sich mit einer Hand an der Fassade eines Hauses ab, würgte und erbrach sich erneut. Wie viel Flusswasser hatte er geschluckt? Oder wie viele Flaschen Schnaps?

Der Soldat führte sie von der Hauptstraße fort in eine Nebengasse.

»Was soll das?«, fragte Ghenis, die sich über den solcherart unvermeidlichen Umweg überhaupt nicht freute. Verflucht, sie wusste noch nicht einmal, wie sie den geraden Weg zum Tor bewältigen sollte. Außerdem war das Ausweichen in Nebenwege Unsinn. Der Wind verwirbelte den Schnee und ließ jegliche Spur unter frischem Weiß verschwinden. Abgesehen vielleicht von den feuchten Flecken, die von Teiros zurückgelassenen Mageninhalten herrührten.

»Ich möchte nicht auf jener Linie gehen, die auf direktem Weg vom Fluss zum Tor führt. Falls sie über Reiterei verfügen, holen sie uns allzu leicht ein und rennen uns in Grund und Boden.«

»Wir verlieren Zeit. Die Flüchtlinge werden nicht ewig warten.« Noch vernahm Ghenis keinerlei Lärm, der auf direkte Nähe der Verfolger hinwies. Sie stapfte durch den Schnee und ärgerte sich über den Umweg. Nur eine längere Diskussion hätte noch mehr Verzögerung bedeutet.

Sie rutschte auf verborgenem Eis aus, unterdrückte einen lauten Fluch und rang um ihr Gleichgewicht, als eine große Hand sich wie eine Stahlklammer um ihren Oberarm schloss und ihr Missgeschick ausglich. Ghenis starrte zur Seite und sah direkt in Teiros dunkle Augen. Umgehend ließ der große Kerl sie wieder los, und sie konnte weitergehen. Nun war er ihr so nahe, dass sie sich ein kurzes, leises Gespräch erlauben konnte, ohne Gefahr zu laufen, mögliche Verfolger auf sich aufmerksam zu machen.

»Du bist in den Fluss gefallen? Wo? Wer war dein Hauptmann?«

Wieder runzelte er die Stirn und schien angestrengt nachzudenken. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Ich weiß es nicht.«

Ghenis hämmerte den Stab auf den Boden, um ihrer Ungeduld Ausdruck zu verleihen. Ein Fahnenflüchtiger, ganz wundervoll. Angesichts des Feinds und der bevorstehenden Erstürmung von Mardien Hald in eine dunkle Ecke verkrochen, Schnaps in sich gekippt und dann besoffen in den Fluss gefallen. Er schien auch keine Rüstung unter dem Umhang zu tragen. Ghenis war sich sicher, dass sie deren Klirren hätte hören müssen. Sie fasste den Hünen erneut fest ins Auge und schätzte ihn ab. Er musste einfach ein Krieger sein! Zu groß und schwer, als dass die Beamten ihm erlaubt hätten, trotz seiner offensichtlichen Beschränktheit weiter als Handwerker oder Bauer zu arbeiten. Solche Männer zog das Heer stets als Erste ein.

Im Ernstfall würde er sich schon bewähren. Falls er nur Ballast für die kleine Truppe darstellte, konnte Ghenis den großen Kerl auch bei einem Bauernhof aussetzen. Schweine sollte er füttern können.

Er wandte sich ab, stolperte zu einer dunklen Hausecke, und erneut hörte sie ihn würgen. Irgendwann musste er den ganzen Dreck doch los sein!

Im gleichen Moment erklangen ein unwirkliches Krachen und Getöse, und Schreie gellten zum grauschwarzen Firmament.

Ghenis lächelte böse und beschleunigte ihre Schritte. Die Eindringlinge hatten das Palastviertel überwunden und den Fluss entdeckt. Da konnten sie so leicht und schnell nicht übersetzen. Der breite Strom floss mit hoher Geschwindigkeit durch die Stadt und würde alles fortreißen, was er in die Fänge bekam. Mitunter erinnerte der Mar Ghenis an ein großes Raubtier mit immerwährendem Hunger. Trümmer und Ertrinkende nahm er nun mit sich, und gewiss würde dieses Treibgut auch die nächste Brücke zum Einsturz bringen. Wenn diese Stadt den Feinden schon in die Hände fallen musste, dann sollten sie herzlich wenig Freude an ihr haben!

Um eine enge Kurve herum, und dann konnte Ghenis schon die Stadtmauer über den Häuserfirsten aufragen sehen. Sie blickte sich nach Teiro um und atmete leise auf, da er wieder zu ihr aufgeschlossen hatte. Doch dann erstarrte Ghenis und drehte sich vollends um. Die Mädchen waren fort. Sie zählte hastig ihre übrigen Begleiter. Die Soldaten waren beide noch da, aber nur noch drei Knechte hielten sich eng bei den beiden Männern.

»Wir sind nicht mehr komplett.«

»Das ist mir egal«, erklang die geknurrte Antwort. »Ich habe den Auftrag, dich zu einem Flüchtlingstross zu bringen. Alleine das zählt. Wenn die dummen Gänse nicht mithalten können, ist das ihr Problem.«

»Auch die Knechte …«

Der Soldat wandte sich um. Ghenis sah in ein blasses Gesicht, in das Furcht in harten Linien eingemeißelt worden war. »Kanzlerin. Bitte. Sie versuchen, den Fluss zu überqueren. Selbst der Mar wird sie nicht für immer aufhalten. Du kannst kaum noch gehen. Ich will dich sicher auf einem Wagen wissen.«

Ganz leicht drehte Teiro sich und sah Ghenis an. Wie benebelt er auch sein mochte, die Amtsbezeichnung hatte er vernommen.

Ghenis biss sich auf die Unterlippe, um keine harsche Antwort zu geben. Die Sturheit des Soldaten rührte sie in gewisser Weise. Doch hatte man sie während ihrer Ausbildung in der Kaserne auch Leitsätze gelehrt, die im Augenblick selbst Teiro zugutekamen. Ein Soldat ließ einen Kameraden nicht zurück. Die Gruppe hielt zusammen. Jeder half dem anderen. Wenn das nicht mehr galt, was hatte dann noch Bestand?

2.

Schneetreiben in der Nacht

 

Teiros Körperhaltung veränderte sich leicht. Er richtete sich gerader auf und nickte dem Soldaten zu. »Weg hier.«

»Mein Reden«, stimmte der Mann mit allen Anzeichen der Erleichterung zu, dass jemand seine Partei ergriff.

Ghenis nickte ergeben. Sie fühlte sich mit einem Mal sehr müde und schwach. Kalt nistete der Schmerz in ihrem Bein, kroch hinauf bis in die Magengrube.

Es blieb natürlich an dem stinkenden Hünen, einen Arm um Ghenis’ Mitte zu legen und sie zu stützen. Jetzt erst begriff sie, wie sehr sie den Trupp trotz aller Mühe aufgehalten hatte, denn nun rannten sie beinahe die Gasse entlang, die sich in Richtung der Stadtmauer zwischen alten Häusern wand. Über ihnen berührten sich beinahe die Dachgiebel der nahe beieinanderstehenden Gebäude, raubten das letzte Quäntchen Sternenlicht, das den Weg hätte weisen können. Gnädigerweise verschluckten die Schatten über ihnen auch das Rot der Feuer. Ghenis beschloss, für Kleinigkeiten dankbar zu sein.

Beinahe lautlos stolperten sie im Laufschritt weiter. Unrat und Schuppen versperrten hin und wieder den Weg. Einmal mussten sie einen aufgegebenen, schneebedeckten Karren umrunden, der die Gasse beinahe vollkommen blockierte.

Ghenis bekam Seitenstechen und verfluchte leise den Umstand, dass sie ungeübt und diese Geschwindigkeit einfach zu viel war. Außerdem hüllte der Gestank aus Teiros Kleidung sie ein, machte das Atmen zu Schwerstarbeit. Alleine in ihrer Vermutung, dass er ein Krieger sein musste, sah sie sich angesichts des Arms um ihre Mitte bestätigt. Und in der Annahme, dass der Kerl ungerüstet war. Nichts passte zusammen. Würde ein Fahnenflüchtiger wirklich seine Ausrüstung und Bewaffnung von sich werfen? Vielleicht, weil er dann schneller fliehen könnte. Unwahrscheinlich, da er dann im Notfall wehrlos wäre.

Sie stieß sich das Schienbein an einem Holzkasten, verlor beinahe den Stab aus der von der Kälte tauben Hand und wurde angehoben, über ein Stück blankes Eis getragen, bevor Teiro ihr Bodenkontakt gestattete und ihr somit zumindest den Anschein von eigener Leistung wieder ermöglichte.

In dieser wahnsinnigen Geschwindigkeit flog der Trupp um eine Biegung der Gasse – und blieb wie angenagelt stehen.

Feuerschein begrüßte sie. Fackeln. Doch kein Flüchtlingszug, der zitternd in der Kälte ausharrte, um die Kanzlerin willkommen zu heißen. Auf dem kleinen Platz vor dem Torkastell standen Soldaten in fremder Rüstung. Eine komplette Abteilung von mindestens fünfzig Männern, die das Tor in ihre Gewalt gebracht hatten. In den angrenzenden Häusern trieben sich weitere Gegner herum, plünderten oder suchten nach Leuten, die sich versteckt hatten, statt zu fliehen. Oh, verflucht, wie hatten die den Weg hierher so rasch gefunden? Wie den Fluss überquert und das Tor einnehmen können?

Einer der Knechte wirbelte herum und rannte den Weg zurück, den sie gekommen waren.

Teiro und die beiden Soldaten standen einen Moment still da und schienen fieberhaft zu überlegen. Ein Angriff auf diese Truppe war Selbstmord. Es waren zu viele.

Niemand sagte ein Wort, aber dann zog der geschrumpfte Trupp sich wie auf ein geheimes Signal lautlos ein Stück in die Gasse zurück, bis ein dunkler Torbogen erreicht war. Sechs Leute waren sie nur noch!

Ghenis verspürte das unsinnige Verlangen, in eines der Häuser zu gehen, sich ein Versteck in einer sehr dunklen Ecke zu suchen und zu schlafen. Entweder, bis das Bein nicht mehr wehtat, oder bis die Feinde sie entdeckten. In keinem Geschichtsbuch fand sich eine Erzählung solch aussichtsloser Lage. Die Geschwindigkeit war das Erschreckende. Kein Heer sollte so rasch eine Stadt einnehmen, sich in ihr orientieren und den Verteidigern immer einen Schritt voraus sein.

Fest presste Ghenis die Zähne zusammen, bis sie schmerzten. Hielt sich am Stab fest und suchte nach einer Möglichkeit, die Stadt doch noch zu verlassen. Alles andere käme einer Kapitulation gleich, und Ghenis hatte nicht vor, so leicht und schnell aufzugeben. Auch wenn der Gedanke an ein halbwegs warmes Versteck verlockend blieb und die Erschöpfung noch weiter verstärkte.

»Kennst du dich in der Stadt aus?«, fragte der Soldat Teiro, und natürlich schüttelte dieser wieder nur den Kopf.

Jetzt, da sie zur Ruhe kamen und einen Moment herumstehen mussten, fühlte Ghenis das Beben der gewaltigen Muskeln neben sich. Und bemerkte, dass Teiro wieder die Hand auf seine Magengrube presste. Seine Kiefermuskeln waren angespannt, und er wirkte blasser als noch vor wenigen Augenblicken.

»Sie sind zu schnell. So etwas habe ich noch nie erlebt. Aber endlich hatte ich genug Licht, um zu sehen, was auf den Bannern ist.« Der Soldat flüsterte nur, was angesichts der Nähe zu den feindlichen Truppen auch angeraten war.

»Später«, wisperte Ghenis als Antwort. »Wir müssen weiter.« Doch wohin? Es gab nur das eine große Tor zum Weideland und dem Gebirge. Doch gewiss musste es kleinere Pforten geben, oder?

Die Männer gehorchten. Langsam ging es durch den Torbogen in eine noch engere Gasse, in der Schnee sich hoch auftürmte.

Teiro wurde langsamer, suchte mit der freien Hand immer wieder Halt an einer Mauer. Seine Atmung wurde schärfer, blieb aber lautlos. Kleine, weiße Wolken markierten seinen Weg dadurch. Noch half der Hüne Ghenis, doch hatte sie das beängstigende Gefühl, dass seine Kraft verrann wie Sand in einer Uhr. Das war doch lächerlich! Sie konnte noch gehen, warum brach er fast zusammen?

»Wir suchen eine kleine Pforte. Es wird doch wohl einen weiteren Ausgang geben«, zischte sie kaum hörbar.

Die Soldaten reagierten nicht einmal, sondern trotteten nebeneinander her durch die Schneeverwehungen. Die Hausfronten sahen abweisend aus mit verriegelten Fenstern und Türen. Hin und wieder stand eine Pforte offen, doch war es zu dunkel, als dass Ghenis etwas im Inneren des Hauses hätte erkennen können.

Es fühlt sich wie ein Albtraum an, als würde sie in einer vollkommen verödeten Welt einen Weg suchen, nur um in einer Sackgasse nach der anderen zu landen. Als gäbe es keine Menschen mehr, hinfort gefegt vom Schnee … oder nächtlichen Ungeheuern. Sie kämpfte sich durch Verwehungen, in denen sie bis weit über die Knie versank. Selbst die Männer sahen aus wie Schatten von Menschen. Als könnte sie die Hand ausstrecken und durch die Gestalt greifen und nur kalte Luft spüren. Diese unsinnigen Gedanken mussten in Schmerz und Erschöpfung wurzeln, sagte Ghenis sich und versuchte, die wirren Bilder abzuschütteln.

Neben ihr brach unvermittelt Teiro in die Knie, rang nach Atem und erbrach rostfarbenen Schaum, der den Schnee sprenkelte. Zu Ghenis ehrlichem Erstaunen nahm sie keinerlei Alkoholdünste wahr.

Die Unterbrechung war Ghenis willkommen, auch wenn sie sich deswegen erbärmlich fühlte. »Du hast das Banner erkannt?«, fragte sie den Soldaten, der stehen blieb und mit einer Mischung von Abscheu und Angst den würgenden Teiro musterte. Als würde er abschätzen, wann der Hüne still im Schnee liegen blieb.

»Ich hab einen schwarzen Eber darauf erkannt.«

Ghenis dachte fieberhaft nach, wollte diese Erkenntnis im ersten Augenblick fortwischen, weil es zu unglaubwürdig klang. Zwischen ihrer Heimat und dem Reich Rantos, das den Keiler im Wappen führte, lag noch ein weiteres Reich: Lelwinien. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass unsere Nachbarn – und Bündnispartner – Rantos freies Geleit durch ihr Reich gewährt haben. Und wenn sie angegriffen worden wären, hätten wir Nachricht bekommen.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Nein, du hast recht. Sie sind so unheimlich schnell. Sie können Boten, die uns warnen sollten, abgefangen haben.«

Zu schnell. Sie sollte sich glücklich schätzen, dass sie sich noch in der Stadt befand. Denn außerhalb der Mauern war die Jagd eröffnet worden. Nur auf eine kleine Kanzlerin? Oder auf die Königinnen? Götter, waren Alrona und Kenia rechtzeitig fortgekommen? Reichte die Geschwindigkeit ihres Trosses, dass sie das Gebirge erreichten oder zumindest den Dien überquerten, bevor die Truppen von Rantos sie einholten?

Es gab für Ghenis nur einen Weg: raus aus der Stadt. Hier würden die feindlichen Truppen sie vielleicht aufspüren. Ganz gewiss würden sie die Stadt plündern und dann irgendwann – ob sie sie nun suchten oder nicht – über die Kanzlerin stolpern. Was ihr dann bevorstand, mochte Ghenis sich nicht einmal ansatzweise in Gedanken ausmalen. Dafür wusste sie zu viel vom Soldatendasein und den speziellen Truppen, die wohl jeder Heerführer hinter den Reihen zurückhielt, bis es einen unglücklichen Gefangenen zu befragen galt.

Sie schluckte hart.

Neben ihr würgte Teiro schmerzhaft, als zerrisse es seine Innereien. Zitternd ließ er sich auf die Fersen sinken, rang nach Atem und gab sich dann Mühe, wieder auf die Beine zu kommen. Sie konnte ihm nicht einmal die Hand reichen, denn er würde sie von den Füßen reißen. Sie konnte nur hoffen, dass er bald alles los war, was da in seinem Magen rumorte.

Ghenis fragte sich, wie viel von der Unterhaltung Teiro gehört hatte, während er Schaum in den Schnee gekotzt hatte. Und wie viel er begriffen hatte.

»Eine Pforte. Es muss eine geben.«

»Es besteht die Möglichkeit, dass wir uns im Schatten eines Turmes abseilen«, sagte Teiro unvermittelt.

Ghenis starrte ihn fassungslos ein. Er hatte offenbar mehr mitbekommen, als sie gedacht hätte. Oder die Pause auf Knien zum Denken benutzt. Ob seine Idee ihr gefiel, war eine ganz andere Sache.

Der Soldat erteilte den Knechten geflüsterte Befehle, und die Jungen rannten den Weg voraus.

»Kanzlerin, wir kommen über diese und ein paar andere Gassen an die Mauer. Sogar an einen Turm. Die Jungen sehen zu, dass sie Seile finden und ob der Turm noch nicht eingenommen wurde.«

»Du willst uns wirklich abseilen?«

»Die bisher beste Idee, die ich gehört habe. Wenn dir etwas anderes einfällt außer der Suche nach einer Pforte, was uns einfach zu viel Zeit kostet, lass es mich hören. Mardien Hald ist eine Festung. Jede Pforte ist eine verkleinerte Ausgabe der Stadttore und von Weitem zu erkennen. Unsere Feinde sind schnell. Und offenkundig sind sie auch nicht dumm, Kanzlerin.«

Ghenis schoss einen zornigen Blick zu Teiro, der unter dieser stummen Anklage tatsächlich ein wenig kleiner wurde und wie verlegen auf seine Stiefelspitzen blickte. Dieses zu groß geratene Gaffobjekt mit dem Magen einer Schwangeren! Er hatte es geschafft, dass der Soldat indirekt Ghenis der Dummheit bezichtigt hatte! Das würden beide noch büßen, verflucht.

 

Ein Soldat und ein Knecht standen im Schatten des Turms jenseits der Stadtmauer im Schnee und drückten sich fest gegen das Mauerwerk. Sie mussten sich mehr als unbehaglich dort unten fühlen. Wie auf einem Silbertablett wachsamen Gegnern ausgeliefert.

Ghenis überprüfte ein letztes Mal den Knoten, der für ihre Sicherheit garantieren sollte. Sie fürchtete sich davor, dass das Seil womöglich auf halbem Wege losgelassen werden könnte.

Denn wozu verfügte die Gruppe über einen Bären von Mann, der scheinbar ohne die geringste Mühe schon zwei Gefährten abgeseilt hatte, die nun unten als Empfangskomitee und Wachen standen, um die Kanzlerin entgegenzunehmen? Während oben ein Soldat und ein Knecht ebenfalls Wache standen? Sodass nur Teiro blieb, um Ghenis am Seil baumelnd nach unten zu schaffen? Verflucht!

Das Seil schnitt in ihr Fleisch, das Bein schmerzte so sehr, dass Ghenis ihre Begleiter nur noch anschreien wollte. Der Stab erwies sich als hinderlich und sperrig, doch um nichts in der Welt wollte Ghenis ihn zurücklassen. Er war nicht nur Zeichen ihres Amts und ein guter Spazierstock. Im Notfall stellte er außer dem Dolch die einzige Waffe dar, die sie in Reichweite hatte. Wenn es dem tumben Hünen gefiel, ohne Waffen durch die Welt zu spazieren und Gefahren mit seinem verfluchten Kinderblick und nichts weiter zu begegnen, so musste das noch lange nicht auf Ghenis zutreffen!

Seine Hand lag beruhigend fest um ihren Oberarm, als sie über die Zinnen kletterte, die brüllende Qual im Bein so gut wie möglich ignorierte und sich des langen Wegs nach unten beständig bewusst war.

Dann schnitt das Seil noch härter ein, Ghenis’ Füße rutschten von der Mauer ab, und sie baumelte in der Luft. Mit der freien Hand tastete sie nach Fugen im eiskalten Stein der Wehr. Wind und Schneeflocken umtanzten sie in einem tödlichen Reigen, fuhren unter den langen Mantel und hinterließen Kälte, die mehr als nur wehtat.

Erst jetzt ließ Teiro sie los, und sie hing nur noch an dem Seil, das die Knechte irgendwo gefunden und aus vielen Teilstücken zusammengeknotet hatten. Wegen des Flickwerks hatte sie weniger Sorge vor dem Abseilen. Immerhin waren schon zwei Männer heil unten angekommen. Doch es war Teiro, in dessen Händen ihr Leben nun lag. Wenn der Kerl jetzt wieder zu würgen begann, war alles möglich. Sie mochte zerschmettert am Fuße der Mauer ankommen – oder heil und in einem Stück, aber dafür sehr schmutzig.

Ghenis schloss die Augen, spannte die freie Hand um das Seil, das sie unter ihrer kältetauben Haut kaum noch fühlte. Als wäre das Wetter parteiisch, so kalt war es. Fest drückte sie den Stab an sich und sandte ein recht kleines, persönliches Gebet zu den Göttern. Vielleicht hörte sie jemand. Doch nur Stille beantwortete das Gebet.

Sie spürte Tränen unter ihren Lidern brennen. Sah das Gesicht des Gottes der Heilkraft, dachte an die Heiler im Lazarett, die ihr das Bein hatten abnehmen wollen. Das Bein schmerzte bei schlechtem Wetter mehr, bei Kälte bis zum Irrsinn. Aber sie hatte immerhin noch beide Beine. War auch er gestorben?

Kälte breitete sich in Ghenis aus, während sie beinahe sanft abwärts schwebte. Sie spürte kaum einen Ruck, wenn Teiro das Seil wieder ein Stück weit locker ließ, umgriff und seine Bürde eine weitere Elle in die Tiefe senkte.

Die Schreie der Göttin … Sie brannten immer noch in Ghenis’ Seele und füllten ihre Eingeweide mit Eis, das jenen Flocken, die sie wie ein Schauer aus feinem Sand umtosten, an Kälte in nichts nachstand.

Was war nur geschehen? Würde sie es jemals erfahren?

Sie zuckte zusammen, als Hände nach ihr griffen, riss die Augen auf und erkannte erleichtert, dass sie am Fuße der Mauer angekommen war. Die Männer befreiten sie aus der Seilschlinge, die sofort wieder nach oben verschwand. Der Soldat drückte Ghenis in den Winkel, der zwischen Turm und Mauer bestand, wo das aufragende Bauwerk wie eine Strebe nach außen ragte. Dort war es zumindest windgeschützt.

Doch Ghenis konnte nicht erkennen, wie die Lage war. Sie sah nur Schnee. Dicke Flocken, die dicht an dicht vom Himmel schwebten. Und die scheinbar unendliche Weite des Weidelandes. Kleine, dunkle Haufen unterbrachen die weiße Monotonie: Bauernhöfe, Wäldchen, winzige Weiler. Von Wegen, gar einer Straße oder Zäunen war unter dem wirbelnden Weiß nichts zu erkennen. Ghenis schauderte. Wie sollten sie diese Ebene überqueren? Vom Gebirge war von hier aus nichts zu sehen, so dicht fiel der Schnee. Und irgendwo zwischen ihnen und der Felsenburg floss der Dien dahin. Langsamer als sein stürmischer Bruder Mar. Vielleicht zum Teil sogar zugefroren. Würde sie unter all dem Schnee den Flusslauf erkennen? Oder erst dann begreifen, dass sie auf Eis stand, wenn dieses nachgab?

Die Männer bewegten sich leicht, und als Ghenis den Kopf wandte, erkannte sie, dass der zweite Soldat angekommen war.

Nur zu sechst, mit den verschwindend geringen Lebensmitteln, die sie bei sich trugen … Teiro besaß überhaupt nichts, trug keinerlei Gepäck bei sich, keine Waffe … Ghenis’ Mut sank.

Es war auch lediglich eine Frage der Zeit, wann das feindliche Heer von Rantos die Stadt verließ. Dass die Königinnen nicht mehr in Mardien Hald waren, sollte jedem einfachen Fußsoldaten klar sein. Und die Kommandierenden von Rantos reagierten auf jede geänderte Lage so unheimlich schnell … Ghenis schob sich vorwärts, spähte in den wirbelnden Schnee die Stadtmauer entlang, wo sie das Tor wusste. Würde sie von hier aus überhaupt etwas erkennen, sobald das Heer von Rantos sich an die Verfolgung der Königinnen machte? Würde ein Kommandant seine Männer in diesem Unwetter in fremdes Gebiet schicken? Oder nisteten sie sich erst einmal in Mardien Hald ein, um später in Ruhe das Land zu plündern? Ghenis fürchtete, dass die Kommandanten nicht abwarten würden. Flüchtlinge neigten dazu, sich zu Widerstand zu formieren, der in der Entstehung noch einfacher zu brechen war.

Sie zog sich wieder zurück, das Gesicht taub von den Schneeflocken, die ihr wie Hammerschläge entgegengeflogen waren. Das war ihre einzige, winzige Hoffnung: Solange der Wind den Schnee verwirbelte, mochte die Spur ihres winzigen Trupps verloren gehen. Dafür konnte bei klarem Wetter ein aufmerksamer Wachposten auf der Wehrmauer leicht die winzigen Tupfen Dunkel im blendenden Schnee ausmachen und die Richtung der Flucht bestimmen.

Im Geiste ging Ghenis die Wege durch, die ihnen im Sommer offen gestanden hätten. Die breite Allee, die zum Fluss Dien führte, den sie überqueren mussten, um die Felsenburg zu erreichen. Wenn sie den Fluss erst erreichten … Sie ließ den Blick über die verschneite Ebene fliegen.

Der zweite Knecht kam sicher auf dem Boden an, und alle vier Männer sahen nach oben. Ghenis tat es ihnen nach.

Langsam schwang Teiro sich über die Zinnen. Sie konnte ihn kaum ausmachen. Alleine der im Wind flatternde Umhang wirkte wie ein dunklerer Klecks am Mauerwerk, zeigte Bewegung scheinbar in alle Richtungen, bevor Ghenis sicher erkennen konnte, dass der Hüne abstieg. Langsam, vorsichtig. Und je näher er dem Mauerfuß kam, desto deutlicher konnte Ghenis die langen Beine sehen – und eine erstaunlich nette Kehrseite, als der Wind den Umhang mit viel Schwung hochriss. Das hätte sie irgendwie nicht erwartet.

Der Wind zerrte an Teiro, bauschte den Umhang auf, und Ghenis überkam spontanes Mitleid. Teiro hatte sie allesamt abgeseilt, nur er musste alleine absteigen und war dem Toben der Elemente noch hilfloser ausgeliefert. Was, wenn ihm jetzt am Seil wieder übel wurde? Besaß er überhaupt noch Gefühl in den Händen?

Als hätten sie das Gleiche gedacht wie sie, rückten die anderen vier Männer ein Stückchen die Mauer entlang, wie um einen Landeplatz im Falle eines Absturzes frei zu halten, damit sie nicht selbst unter der hünenhaften Masse Mann im Schnee begraben und zerschmettert wurden. Oder unter einer Fuhre frisch Erbrochenem.

Ghenis biss sich auf die spröde Unterlippe und beschloss, dass Teiro heil unten ankommen sollte. Etwas anderes wollte sie nicht gestatten.

Das letzte Stück von fast drei Ellen ließ Teiro sich einfach fallen, kam breitbeinig im Schnee auf und fing seine Landung mit gebeugten Knien auf. Selbst er sank tief ein, bis die Unterschenkel beinahe gänzlich verschwunden waren. Durch die Kapuze lag sein Gesicht im Schatten, doch als er sich vorbeugte und Halt an der Mauer suchte, wurde offensichtlich, dass der Abstieg ihm alles abverlangt hatte.

»Wir werden die Nacht durchmarschieren müssen«, sagte Ghenis leise. »Schaffst du das?«

Er nickte, wischte sich mit einer gewiss eiskalten Hand Schweiß aus dem Gesicht, nickte noch einmal und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Ich helfe dir, wenn du es erneut gestattest.«

Seine Stimme war tiefer geworden, voller in ihrer gesamten samtigen Bandbreite. Vielleicht hatte er nun doch endlich alles hervor gewürgt, was seine Eingeweide so belastet hatte. Sie wünschte es ihm von Herzen.

»Ich kann Hilfe gut gebrauchen«, gab sie zu. Dass er trotz seines angeschlagenen Zustands Unterstützung leisten konnte, hatte er in den Gassen der Stadt bewiesen. Wie lange er das schaffte, würde die Zeit zeigen. Aber vielleicht konnten sie gemeinsam vorwärtskommen und die anderen nicht über Gebühr aufhalten.

»Wir sind weit genug vom Tor entfernt, dass sie uns hoffentlich nicht sehen.« Das war einer der Soldaten. »Falls wir Glück haben und sie noch nicht die ganze Mauer mit Wächtern gepflastert haben.«

Der andere spähte voraus in den Schneesturm. »Da hinten scheint ein Wäldchen zu sein. Wenn wir das lebend erreichen, haben wir eine Chance.«

Ghenis sah nur wirbelndes Weiß. Hoffentlich befand sich dort wirklich ein Wäldchen, ein Rastplatz für eine kurze Verschnaufpause, um zu Atem zu kommen und somit den Feinden in der Stadt zu entwischen. Würden die nicht zuerst alle Häuser durchsuchen, bevor sie sich selbst in Lebensgefahr in der schneeumtosten Nacht begaben? Alleine schon, damit ihnen niemand in den Rücken fiel? Sie hoffte es.

Dann spürte sie erneut Teiros Arm um ihre Mitte, umklammerte den Stab fester und krallte die Finger der anderen Hand in den dicken Wollstoff seines Umhangs. Sie war so bereit, wie sie es angesichts des Schnees und der Schmerzen in ihrem Bein nur sein konnte. Übelkeit nistete in ihrem Magen, und ihr graute vor dem ersten Schritt. An den Zweiten mochte sie noch nicht einmal denken.

Die Knechte rannten los, und Ghenis sah ihnen fassungslos nach, wie sie nur so schnell sein konnten. Innerhalb eines Wimpernschlages folgten die beiden Soldaten, beide mehr als doppelt so alt wie die Jungen. Aber auch sie liefen, dass Schnee hoch aufstäubte.

»Sag es mir bitte, wenn du nicht mehr kannst«, vernahm sie Teiros Stimme. Dann zog der große Kerl sie vorwärts, und Ghenis biss die Zähne fest zusammen, da das Bein schon beim ersten Schritt vor Schmerz aufschrie, sie einfach nicht weiter tragen wollte. Schon gar nicht bei dieser Geschwindigkeit, die von Teiros langen Beinen diktiert wurde.

Der Schnee war tief, flog bei jedem Schritt auf, und Ghenis versank jedes Mal scheinbar ein Stück weiter in der eisigen Kälte, die ihr die Beine hinauf kroch. Der Stab fand keinen Grund in dieser weißen, erstickenden Masse. Ghenis keuchte, atmete viel zu kalte Luft durch den Mund ein, fühlte sie in der Lunge brennen wie blaues Feuer, bis es hinter der Stirn pochte. Sie lief. Wie weit sie schon gekommen war, wusste sie nicht. Um sie herum wirbelte Schnee und verwischte jede Kontur.

»Vergib mir, Kanzlerin«, erklang Teiros Stimme, dann zog er sie mit einem Ruck an sich, der jeden Atem aus Ghenis drückte und ihr den Boden unter den Füßen entriss. Ihr Gesicht wurde in raue Wolle gepresst, Teiro hielt sie fest und schob dann seinen Unterarm unter ihre Kehrseite, hob sie noch höher, sodass sie sich an seiner Schulter festhalten konnte, ein Bein vor dem Bauch des Kriegers, das andere knapp oberhalb seines Hinterns, dessen Konturen unter dem groben Mantel eben noch zu ertasten waren. Sie versuchte, die Knöchel zu überkreuzen, und das Bein schrie so laut vor Schmerz, dass sie glaubte, die Welt würde anhalten, um auf diese Agonie zu lauschen. Ihr wurde schwarz vor Augen. Sie biss sich fest auf die Lippe, schmeckte Blut, und die Sicht kehrte zurück. Zusammen mit einer Woge Gestank aus Teiros Kleidung.

Er atmete so tief ein, dass sein Brustkorb sich merklich dehnte, gegen Ghenis drückte. Und dann rannte der große Kerl richtig los.

Schnee wirbelte in Kaskaden auf, stob beinahe meterhoch in die Luft. Mit dem linken Arm balancierte Teiro ihrer beider Gewicht aus, während er mit langen Sätzen durch den Schnee rannte, der auch ihn bremsen musste. Was den großen Kerl anscheinend nicht im Geringsten kümmerte.

Hatten die Knechte Ghenis vorhin an junge Hasen erinnert, so fühlte sie sich in der Zeit zurückgeschleudert zu ihrer Ausbildung und zu Kampfeinsätzen und an ein Kriegspferd erinnert, das im vollen Galopp auf die Feindesreihen zuhielt. Der Donner der Hufe klang in ihren Ohren, doch es waren nur Teiros tiefe, harte Atemzüge, die in diesem Moment ihre Welt erfüllten. Alles andere war wie abgeschnitten vom Schnee, der sie einhüllte, hoffentlich vor feindlichen Spähern schützte, sie auch behinderte und die Welt erstickte.

Endlich konnte sie mehr sehen als nur das endlose Wogen von weißer Einöde. Vor ihr schälte sich etwas Großes, Dunkles aus dem Wirbeln.

Teiro holte die anderen vier Männer ein, und gemeinsam – keuchend und von oben bis unten selbst mit Schnee bedeckt – brachten sie die letzten Ellen hinter sich, bis sie auf einmal in windstiller Dunkelheit standen. Das Wäldchen war erreicht und wurde etliche Zeit nur von den Atemzügen der Männer gestört. Allesamt rangen sie nach Luft.

Mit einiger Verzögerung stellte Teiro Ghenis behutsam auf die Füße, ließ seine Hände auf ihren Schultern liegen, wie um ein wenig Halt zu finden, dann richtete er sich auf und eilte mit den beiden Soldaten zurück zum Saum des Wäldchens.

Ghenis ertastete neben sich einen Baumstamm, an den sie sich lehnen konnte. Ihr Körper brannte vor Kälte und Erschöpfung. Verflucht der Umstand, dass sie ein lahmer Krüppel und deswegen solcherart außer Übung war, auch nur ein paar Stunden bei diesem Wetter unterwegs zu sein. Ihr einziger Trost bestand darin, dass die beiden Jungen noch immer atemlos schnauften und husteten, obwohl sie zumindest harte körperliche Arbeit in den Stallungen gewohnt sein mussten.

In der stillen Dunkelheit vernahm sie die Stimmen der beiden Soldaten am Saum des Wäldchens.

»Sie werden erst die Stadt durchsuchen. Wir können hier kurz rasten.«

»Das würde ich auch so sehen.«

Ghenis beobachtete, wie beide Soldaten zu Teiro aufsahen.

»Was meinst du, Großer?«

»Ich würde meine Truppen aufteilen. Falls meine Beute sich auf der Flucht befinden oder sich irgendwo verbergen könnte, würde ich kein Risiko eingehen.«

Jetzt klang er wie der Krieger, den Ghenis die ganze Zeit schon in ihm zu erkennen geglaubt hatte. Und ihr gefiel überhaupt nicht, was er da sagte. Mühsam stieß sie sich von dem Baum ab und humpelte zu den drei Männern.

Schwach konnte sie als dunkleren Schemen im Schneetreiben die Stadtmauer erkennen. Konnte Teiro recht haben? Mardien Hald war groß, umfasste viele Häuser, Gassen und Straßen. War es sinnvoll, die eigenen Kräfte zu dezimieren, die Hälfte oder auch nur ein Viertel der Soldaten in diese grauenhafte Nacht ins Ungewisse zu schicken, bevor nicht sicher war, dass die gesuchten Personen sich tatsächlich nicht mehr in der Stadt verbargen?

Sie bekam die Antwort auf diese verzweifelten Gedanken auf unliebsame Weise mitgeteilt und schnappte nach Luft.

Goldenes Schimmern erschien in der dunkleren Masse der Mauer. Das Tor schwang auf, Fackellicht erhellte das Schneetreiben, warf warme Reflexe in die Nacht, als die Flocken selbst sich in Funken zu verwandeln schienen.

Dann schob sich ein rotgoldener Keil aus dem Tor. Ein Zug Soldaten mit Fackeln. Beritten oder zu Fuß, konnte Ghenis nicht ausmachen.

»So ein Ärger«, murmelte Teiro.

Sie hätte ihn schütteln oder treten mögen! Da rollte der Weltuntergang heran, und er machte dumme Sprüche!

»Sie scheinen dem Straßenverlauf zu folgen«, wisperte einer der Soldaten.

Teiro nickte. »Vernünftig, um nicht verloren zu gehen. Dumm, weil sich jeder denken können sollte, dass wir uns querfeldein durchzuschlagen versuchen. Vielleicht halten sie unseren Trupp für erheblich größer, das würde ihre Route erklären. Egal, mir soll es nur recht sein.«

Ghenis fand, dass Teiros Stimme wieder ein wenig tiefer geworden war. Zumindest klang er nicht mehr verwirrt. Ob er immer noch den Kinderblick zur Schau trug? Sie konnte sein Gesicht im Schatten der pelzverbrämten Kapuze nicht ausmachen. Aber der Kerl klang nicht mehr nach großen, verschreckten Augen. Vielleicht lockerte sich der Griff des benebelnden Getränks langsam. Aber er roch nicht nach Alkohol, verflucht! Und noch nie hatte Ghenis einen Mann nach einer durchzechten Nacht so lange und intensiv kotzen sehen.

»Gut, lasst sie sich durch den Schnee kämpfen. Wir verschwinden in einem Bogen von hier.« Er wies auf einen Soldaten. »Dein Name, bitte.«

Ghenis beobachtete verblüfft, dass der Mann Haltung annahm. »Vill.«

Ein Nicken nur in die Richtung des anderen Soldaten, der sich ebenfalls gerader aufrichtete. »Asvin … Herr.«

»Wir bleiben bei Teiro. Ich habe keinerlei Erinnerungen daran, wer ich bin und wie ich in die Stadt gekommen bin. Kanzlerin, ich hoffe, du verstehst die drängende Eile. Wir werden über Nacht marschieren müssen. Tagsüber sitzen wir auf der Schneedecke wie auf einem Silbertablett. Nur Dunkelheit kann uns einen leichten Vorteil verschaffen. Niemand schüttelt seinen Mantel aus. Der Raureif bietet uns zumindest ein wenig Deckung. Vill, wie weit ist es bis zum zweiten Fluss? Wie lange brauchen wir?«

»Im Sommer und beritten: eine gute Tagesreise von hier bis zum Dien. Bei diesem Wetter, zu Fuß … zwei Tage … mindestens.«

»Zwei Tage und womöglich alles voller Flüchtlingsströme?«

»Nein, die werden sich schon zurückgezogen haben. Die Leute haben mindestens einen halben Tag Vorsprung vor uns. Und sie sind meistens mit Karren oder gar Kutschen unterwegs.«

»Wie können wir dann darauf hoffen, auch nur eine einzige intakte Brücke über den Dien vorzufinden?«, fragte Teiro leise.

Ghenis spürte, wie ihr Mund trocken wurde. Nicht vor Entsetzen, dass sie vielleicht wirklich kaum eine Möglichkeit vorfinden würde, den breiten Dien zu überqueren, sondern wegen des ruhigen Tonfalls, mit dem diese drei Männer gerade das weitere Vorgehen besprachen. Wie selbstverständlich die Soldaten auf Teiros höfliche Wortwahl, diese ruhige Sicherheit ansprachen. Asvin und Vill, sie sollte sich diese Namen merken und bemerkte gleichzeitig leicht beschämt, dass sie nur den Findling Teiro nach seinem befragt hatte, die beiden Soldaten aber eher als Selbstverständlichkeit hingenommen hatte.

Teiro nickte den beiden Knechten abschließend zu, und dann machten sie sich auf den Weg. Fort von Mardien Hald in Richtung des Bruderflusses Dien.

Statt ihr zu erlauben, sich alleine durch den Schnee zu quälen, sank Teiro auf ein Knie nieder, Ghenis den breiten Rücken zugewandt. »Ich werde dich tragen, Kanzlerin. Ich werde darauf achten, dass du kurze Strecken alleine bewältigst, da ich Sorge habe, du könntest dir andernfalls Erfrierungen zuziehen. Doch für den Augenblick ist Geschwindigkeit unser wichtigster Verbündeter.«

Und so ließ sie sich von ihm tragen, seine Arme unter ihren Knien hindurch geschoben, was das lahme Bein ausnahmsweise nicht übel nahm, ihre Arme locker um Teiros Hals gelegt und vor seiner Brust verschränkt, sodass sie ihn nicht behindern konnte. Einer der Knechte trug den Stab, und Ghenis blieb nichts weiter zu tun, als sich dem Rhythmus des großen Körpers unter ihr anzupassen, die Wange gegen frostbedeckte Wolle zu betten und die Augen zu schließen.

Sie konnte solcherart Kräfte sammeln und sparen, sagte sie sich. Und wenn Teiro sie in regelmäßigen Abständen zu Boden setzte, damit sie alleine ging, würde sie die Gruppe nicht aufhalten und das Bein daran hindern können, steif zu werden. Sie durfte nur nicht einschlafen, während der Hüne sie durch die Nacht trug.

Hatte sie nicht von Anfang an gewusst, dass er nützlich sein würde?

 

Die Morgendämmerung verwandelte die endlose Schneeweite in einen Traum aus rosa Zucker. Ghenis hatte die Nacht damit verbracht, sich heldenhaft auf Teiros Rücken wachzuhalten oder mühsam – und mit seiner Hilfe – durch den Schnee zu stapfen. Sie hatte erfahren, dass die beiden Jungen tatsächlich aus den königlichen Stallungen kamen und Tabas und Keno hießen. Beider Ehrgeiz war es, eines Tages vom Hilfsstallknecht zum Aufseher der ganzen Stallungen aufzusteigen. Beide waren noch nie außerhalb der Stadt gewesen und froren erbärmlich.

Das tat sie auch. Als sie nun über Teiros Schulter hinweg, auf die sie bequem das Kinn gestützt hatte, sodass der Pelzbesatz seiner Kapuze sich leise raschelnd an ihrer rieb, ein Bauernhaus entdeckte, hätte sie am liebsten laut gejubelt. Doch das war unnötig, denn die Männer hielten zielstrebig auf das Gebäude zu, das unter einer gewaltigen Schneehaube kaum zu sehen, geschweige denn als Haus erkennbar war.

Der Schnee knirschte unter den Stiefeln. Irgendwann in der Nacht hatte es aufgehört, Flocken vom Himmel zu rieseln, aber jetzt setzte erneuter Schneefall ein. Dick und weich wie winzige Schäfchen fielen sie herab, bestäubten die Mäntel der Männer und verschleierten die Sicht auf das Gebäude. Doch die Gruppe arbeitete sich darauf zu, und schließlich schälten sich die Konturen kahler Bäume, von Schuppen und einem großen Haus, dessen Dach zur Hälfte unter der Schneelast eingesunken war, aus dem fallenden Weiß. Normalerweise hätten die Bewohner das Dach vom Schnee geräumt, dachte Ghenis, die solche Rettungsmaßnahmen in Mardien Hald schon oft beobachtet hatte. Doch die Menschen waren geflohen, und auf sich alleine gestellt hatte das Gebäude gegen die Masse Schnee verloren.

Tabas rannte voraus und stürzte unvermittelt. Sofort lief Keno ihm nach und half ihm auf.

»Ein Zaun! Vorsichtig, nur eine Handbreit ragt noch heraus«, rief der Junge den nachfolgenden Männern zu.

»Möchtest du das letzte Stück gehen, nachdem ich dieses Hindernis hinter uns gebracht habe?« Teiro wandte leicht den Kopf, als er diese Frage stellte. Sein warmer Atem streifte als weiße Wolke Ghenis’ Gesicht. Eine Wohltat, ebenso wie die Wärme, die sein Körper durch Mantel und Kleidung ausstrahlte.

Sie nickte, obwohl sie lieber so dicht an dieser lebenden Wärmequelle geblieben wäre.

Teiro überstieg den Zaun, wo der Schnee bereits die Spuren der Jungen zudeckte, dann fiel der große Kerl wieder auf ein Knie und gab Ghenis frei.

Ihre Beine fühlten sich kalt und fremd an, es war wirklich besser, wenn sie noch einige Schritte tat, bevor sie sich vor einen Ofen setzte und dessen Hitze genoss. Sonst würde sie sich am nächsten Abend gar nicht mehr regen können. Oder wie lange die Rast hier auch dauern würde. Bei Tag konnten sie zu leicht ausgemacht werden, dachte sie. Dann sah sie ihre Gefährten an, die in frostbedeckte Mäntel gehüllt nur hellgraue Schemen darstellten. Nein, auch bei Tag waren sie nun unsichtbar. Sie entdeckte zu ihrem ehrlichen Erstaunen, dass die Bärte der Soldaten Asvin und Vill von Eis bedeckt waren, das jedes einzelne Haar umschlossen und dann jeden kleinen Stachel in eine einzige Eismasse gehüllt hatten.

Ihr Bein schmerzte, und vorsichtig humpelte sie auf Teiros Arm gestützt die letzten Schritte bis zur Haustür.

Wenigstens fiel kein weiterer Schnee auf Ghenis, kaum dass sie die Schwelle überwunden hatte. Die Luft im Haus schmeckte kühl und frisch, nur der Wind blieb mit den Flocken draußen. Ghenis schlug die Kapuze zurück und sah sich um. Ihr erster Blick fiel auf die große, rußgeschwärzte Feuerstelle, die die kleine Halle dominierte.

Dumpfes Pochen erklang, als die Männer Schnee von ihren Stiefeln traten. Auch von den Hosen fiel etliches Weiß auf den mit grob behauenen Steinen gepflasterten Boden. Ghenis wagte nicht aufzustampfen. Sie war sicher, dass ihr Bein sie umgehend als Strafe für solches Handeln zu Boden schleudern würde. Vorsichtig klopfte sie mit dem unteren Ende des Stabs gegen ihre eisverkrusteten Stiefel.

»Nicht die Mäntel ausschütteln. Lasst sie am besten hier«, erklang Teiros ruhige Stimme.

»Ich kann sie hier aufhängen, Herr«, eilte der junge Tabas herbei.

»Ich suche Feuerholz!«, rief Keno.

»Kein Feuer. Der Rauch würde uns unweigerlich verraten. Die Ebene zwischen den Flüssen ist verlassen, noch deutlicher könnten wir den Verfolgern kein Signal senden.«

Ghenis’ Herz sank. Ihr war so entsetzlich kalt. Seit Stunden freute sie sich auf einen wärmenden Ofen, in dessen belebendem Wirkungskreis sie Gefühl in ihre Hände und Füße kneten und vor allem den Schmerz der Narbe zum Verstummen bringen konnte.

»Hier ist eine kleine Kammer. Vielleicht die Wohnung eines Knechts. Wir sollten Decken suchen, dann können wir alle dort ausruhen. Gemeinsam wird uns schon warm werden«, schlug Asvin vor, sah Ghenis an und errötete unter dem vereisten Bart.

»Ich habe keine Lust, einsam in einer eigenen Kammer zu erfrieren. Mir gefällt die Idee«, sagte Ghenis sofort. Es würde eng werden und bestimmt nicht gut riechen. Und wenn nur einer von ihnen Läuse mit sich herumtrug, würden sie diese leider gerecht unter sich aufteilen. Aber es war die einzige Möglichkeit. Wehe, einer der Kerle schnarchte oder furzte im Schlaf!

Teiro ergriff wieder die Zügel. »Keno, such nach Nahrung. Käse, Hartwurst, Brot, was immer du findest. Tabas, Decken. Alles, was du finden kannst und das warm aussieht. Wir werden auch einiges davon mitnehmen, ebenso Lebensmittel.«

Die Jungen stoben davon.

Ghenis war wider Willen fasziniert. Sie kannte vom Kasernenhof nur gebrüllte Befehle. Doch Teiros Stimme blieb immer sanft, häufig höflich – nicht nur ihr gegenüber.

Ghenis setzte sich auf eine Truhe vor dem Schlafzimmer und streckte die Beine aus. Die Soldaten hängten ihre Mäntel an eiserne Haken bei der Feuerstelle, wo der Stoff unter normalen Umständen nahe dem Feuer getrocknet wäre, nachdem endlich das Eis geschmolzen war. Doch diesen Luxus besaßen sie hier nicht. Ghenis sah die Argumente ein, auch wenn es sie schmerzte. Die Lage erforderte Kompromisse, wenigstens würde die vereinte Körperwärme gegen die in die Knochen kriechende Kälte ein wenig helfen.

Teiro sah sich um, dann erst zog er die Bänder seines Umhangs auf und zerrte sich die wärmende Stofffülle über den Kopf. Zum Vorschein kamen in der Reihenfolge der Enthüllung die schwarze Lederhose, die Ghenis schon am Ufer des Mar und bei Teiros Abstieg von der Stadtmauer wohlwollend vermerkt hatte, dann ein ziemlich unförmiges Hemd aus Wolle, unter dem Saum und Kragen eines Leinenhemdes hervor blitzten. Und dann endlich konnte Ghenis den Krieger bei erträglicher Beleuchtung genauer in Augenschein nehmen.

Vor allem erkannte sie, dass das, was sie für einen ungepflegten Dreitagebart gehalten hatte, alles andere als das war. Teiros Gesichtsbehaarung sah aus, als würde dieser eitle Geck üblicherweise jeden Morgen eine Stunde damit verbringen, jedem Härchen einen Platz zuzuweisen und jede Linie extrem akkurat zu scheren. Wie ein Soldat zu so etwas Zeit haben sollte, blieb Ghenis ein Rätsel. Aber wahrscheinlich stellte diese übertriebene Fürsorge für den Bart einen Ausgleich dar, denn Teiros Schädel war ansonsten komplett kahl. Rosa Morgenlicht, vom Schnee verstärkt und durch die Fenster des eiskalten Hauses geworfen, schimmerte auf der Glatze. Kein seniler Haarkranz krönte diesen Anblick – und wagte, ihn zu verderben. Ghenis überraschte sich selbst damit, dass ihr gefiel, was sie da sah.

Teiro hängte seinen Mantel zu den anderen, sah sich mit einem Mal sehr fahrig um und krümmte sich zusammen. Er schaffte es, eine Tür zu erreichen und aufzureißen, bevor Ghenis das markante Geräusch neuerlichen Erbrechens vernahm.

Mit einem Ruck wandte sie sich ab und nahm die Schlafkammer in Augenschein, in die Tabas soeben einen großen Armvoll Decken lud.

Sehr eng würde das werden, und Ghenis beschloss, Abstand von Teiro zu halten, falls er die Gruppe mit seiner ewigen Kotzerei belasten wollte. Dabei konnte er doch überhaupt nichts mehr im Magen haben! Alles Verfügbare hatte er in Mardien Hald gelassen, und seit der Flucht die Wehrmauer hinab war es ihm deutlich besser gegangen. Er hatte Ghenis den Rest der Nacht getragen und sich nicht ein einziges Mal übergeben.

Keno und Asvin trugen Vorräte herbei, und Ghenis beobachtete, wie der Soldat sorgenvoll zu Teiro blickte, der auf Händen und Knien über der Türschwelle in den angrenzenden Raum hockte und sich ganz offenkundig die Innereien aus dem Leib würgen wollte.

Ein Ruck ging durch Asvin, und er löste die Wasserflasche von seinem Gürtel und ging zu Teiro. Er kniete im engen Türdurchgang neben dem Hünen nieder und redete leise auf ihn ein. Leise, aber für Ghenis immer noch verständlich.

»Versuche, etwas Wasser zu trinken, Herr. Es wird bestimmt gleich besser. Herr? Teiro, Wasser.«

Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis Teiro auf diese Ansprache reagierte. Ghenis bewunderte Asvin für seine Geduld.

Der erste Schluck Wasser konnte kaum den Kehlkopf passiert haben, als Teiro ihn schon auf den Fußboden beförderte. Hustend und schmerzhaft nach Atem ringend.

»Noch einmal. Es hilft bestimmt.«

Die Hand, die nach der Wasserflasche griff, zitterte. Schweiß glitzerte wie ein dünner Ölfilm auf dem kahlen Schädel, taute die letzten Eisfäden in Teiros Bart. Doch der zweite Versuch schien zu glücken. Die Atmung des Hünen wurde ein wenig ruhiger, das Zittern verebbte langsam.

»Siehst du? Komm, noch einen. Nur wenig. Es wird bestimmt besser. Und dann legen wir uns alle schlafen. Ich suche einen Eimer, falls dir wieder schlecht wird.«

»Das Kotzen macht mir langsam Angst«, murmelte Vill direkt neben Ghenis, und sie fuhr erschrocken zu ihm herum. Er sah mit einer Falte zwischen den Brauen zu Teiro und Asvin und schien noch nicht einmal gemerkt zu haben, dass er laut gesprochen hatte.

Ghenis Gedanken flogen zurück zu der halben Nacht, die Teiro sie getragen oder gestützt hatte. Wie er ruhig und freundlich Befehle erteilt hatte und die Namen der anderen vier in Erfahrung gebracht hatte – weil es ihn wirklich zu interessieren schien. Da hatte er nicht erbrochen. Hin und wieder hatte er eine Hand auf seine Magengrube gedrückt, aber nicht ein einziges Mal gewürgt.

Warum jetzt wieder? Nichts passte zusammen. Sie hatte ihn anfangs für einen Säufer gehalten und sich gedacht, dass er mit irgendetwas maßlos übertrieben hätte. Doch erweckte er ganz und gar nicht diesen Eindruck. Und selbst falls er doch in der Stadt geplündert, gesoffen und gefressen haben sollte, was nicht gut für ihn war, dann sollte er all das schon lange los sein.

Sie sah die Knechte an, die nebeneinander vor dem kleinen Schlafzimmer ausharrten. Sie hatten Lebensmittel gefunden, und hinter ihnen türmten sich Decken und Schaffelle auf dem einzigen Bett. Die Jungen machten einen guten Eindruck, sah Ghenis davon ab, dass sie hagere Gestalten ohne eine Unze Fett auf den Knochen waren. Auch die beiden Soldaten sahen müde, doch wohlauf aus. Sie lauschte in sich selbst hinein. Nichts. Hunger, ja, natürlich, und ihr taten alle Knochen weh von Kälte und Überanstrengung.

War das, was Teiro durchmachte, womöglich ansteckend? Hatte er sich statt eines verdorbenen Magens oder eines Katers der Luxusklasse eine Krankheit eingefangen und trug diese nun vom Mar zum Dien?

Eine Bewegung – nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen – ließ sie rasch den Kopf wenden. Da stand dieser riesige Kerl wieder auf den Beinen, den Kopf leicht vorgeneigt, den Rücken gekrümmt. Aber er stand und ließ sich von Asvin in Richtung der Schlafkammer führen. Der Tür zum Raum des Erbrechens gab der Soldat einen Fußtritt, sodass sie ins Schloss fiel und Gestank von der Gruppe trennte.

Teiro war aschfahl. So krank und leidend hatte er selbst in Mardien Hald nicht ausgesehen. Ghenis sah seinen Kehlkopf arbeiten, als er immer wieder hart schluckte, wie um das Wasser in seinem Magen zu behalten und nicht gleich wieder quer durch das Zimmer zu kotzen.

»Schlafen? Wird uns allen gut tun. Und wenn dein Magen sich wieder beruhigt hat, solltest du etwas essen, Herr«, sagte Asvin tröstend und schoss gleichzeitig einen Blick zu Ghenis und Vill, was ungemein ratsuchend aussah.

Doch Ghenis hatte auch keine Ahnung, was sie tun sollten. Nur die alten Kasernenhoflehren von Ehre und Kameradschaft tauchten ungebeten wieder auf. Dass sie keinesfalls einen Kranken zurücklassen würde. Hinzu kam, dass dieser Mann in der Nacht nicht einmal an sich gedacht hatte, stets hilfreich gewesen war. Ohne ihn hätte zumindest Ghenis diese Bauernkate nicht erreicht.

Sie krochen alle zusammen in das Bett, in dem sonst wohl zwei oder drei Knechte auf alten Fellen geschlafen hatten. Decken raschelten, und Ghenis fand sich in einen Winkel gedrängt unter drei Schaffellen wieder, die die Jungen ihr zuschoben. Sofort wurde ihr ein wenig wärmer, und es tat so gut, das lahme Bein vollkommen ausstrecken zu können, wofür Tabas ihr bereitwillig Platz machte.

Der Strohsack bewegte sich, als Teiro auf dem anderen Ende ins Bett kletterte, sich in Decken hüllte und sich dann im Sitzen gegen die Wand lehnte, den Kopf gegen diese sinken ließ und die Augen schloss. Er zitterte, das konnte Ghenis nicht nur spüren, sondern durch das leise Knistern des Strohs unter ihm auch hören.

Vill stellte ihm einen Eimer in Reichweite, legte ein Schaffell halb auf den großen Kerl und kletterte ebenfalls in das Bett, das für so viele Leute viel zu eng und klein war. Asvin schloss die Tür und rollte sich neben seinem Kameraden in Decken und Felle und schlief scheinbar auf der Stelle ein.

Es roch nach Schafen, ungewaschenen Männern und Schweiß. Und Asvin schnarchte. Alleine der Duft von Räucherwurst und Käse entschädigte Ghenis. Und die Scheiben, die die Jungen ihr und Vill reichten. Es blieb genug über für die Mahlzeit nach dem Schlaf. Ghenis wusste, dass diese am späten Nachmittag eingenommen werden würde. Trotzdem nannte sie sie in Gedanken Frühstück. Und spürte den Bissen in ihrem Mund bitter werden, als Teiro wieder würgte.

3.

Eisschollen

 

Ghenis atmete auf, als sie von der erhöhten Linie einer früheren Uferböschung auf den breiten Dien blickte. So oft hatte der gewaltige Strom sein Bett gewechselt, immer neuen Brückenbau nötig gemacht, dass er die gesamte Landschaft zu seinen beiden Ufern prägte. Doch jetzt lag er vor Ghenis, glitzernd im klaren Licht des Mittags, ein breites Band, hinter dem Sicherheit Ghenis in zärtliche Arme nehmen würde. Sie lächelte. Sie liebte den Dien.

Die letzten zwei Tage hatte die ständige Angst sie im Griff gehalten, über eine schneebedeckte Eisfläche zu marschieren und – bevorzugt genau in der Mitte des Stroms – durch ominöses Krachen und Splittern unter den Füßen erst zu begreifen, dass sie auf Eis über schwarzem Wasser ging.

Doch die Oberfläche des Dien war nicht schneebedeckt. Und auch nicht gefroren. Zumindest nicht komplett. Eisschollen trieben auf dem Strom und stauten sich rund um die Reste einer zerstörten Brücke.

Götter, war es wirklich erst zwei Tage her, dass Mardien Hald angegriffen worden war? Ghenis rechnete nach, ging die bisherige Flucht Schritt für Schritt durch. Sie war kaum einen davon selbst gegangen. Auch seit dem Aufbruch am vergangenen Nachmittag hatte Teiro sie getragen. Scheinbar unermüdlich, wobei er immer wieder darauf bestand, dass sie kurze Wegstrecken selbst meisterte. Nicht seinetwegen, dessen war sie sicher.

Teiro ging in die Hocke und ließ Ghenis absteigen, was ihr einiges an Weitsicht nahm. Die erhöhte Position hatte viel für sich. Nun merkte sie, wie steif ihre Gelenke geworden waren. Blut prickelte in Füßen und Waden. Sie rieb die Hände, nachdem sie sich den Stab unter den Arm geklemmt hatte.

Wo der Mar wild und rasch durch ein recht enges Bett tobte, schien der Dien beinahe stillzustehen. Ghenis wusste, dass dieser Eindruck täuschte. Gar nicht allzu weit von hier stand eine Festung, in der sie viele Sommermonate verbracht hatte. Der Dien verfügte über eine Urgewalt, die umso furchtbarer war, weil sie ihm nicht anzusehen war. Und diesen Strom mussten sie nun überqueren, bevor die Häscher von Rantos sie einholten.

Auch wenn diese Verfolger bislang nicht einmal zu sehen gewesen waren. Ghenis wusste, dass die Männer aus Rantos hinter ihr her waren. Oder hinter den Königinnen, die den Dien hoffentlich schon lange überquert hatten. Doch auch wenn Ghenis die feindlichen Truppen seit der nächtlichen Flucht nicht einmal zu Gesicht bekommen hatte, wäre es dumm, auf trügerische Sicherheit zwischen den Flüssen zu hoffen. Auf dem anderen Ufer hingegen konnte sie wirklich befreit aufatmen. Es war auch gar nicht mehr weit bis zur Felsenburg, wo sich alle sammelten. Wo die Königinnen auf ihre Kanzlerin warteten.

Ghenis betrachtete ihre Begleiter. Einen halben Tag, die ganze Nacht und noch einen halben Tag waren sie seit dem Haus mit dem vom Schnee eingedrückten Dach unterwegs gewesen. Kein Feuer, nur die Lebensmittel aus dem Haus bei kurzen Pausen untereinander aufgeteilt, während sie im Windschutz eines Wäldchens oder im Schatten eines Felsens eng zusammen auf den mitgenommenen Schaffellen kauerten. Und diese Anstrengung sah sie jedem ihrer Begleiter auch an: Die Knechte und Soldaten sahen grau und überanstrengt aus. Bärte, Brauen und sogar Wimpern mit Eis verkrustet. Schatten, die mutlos auf den breiten Strom blickten. Ghenis konnte sie verstehen und wagte einen Blick zu Teiro.

Auch er war blass, der gepflegte Bart grau von Reif, die Wimpern noch länger und dichter durch das Eis. Aber die Mittagsstunde war überschritten, die Krankheitserscheinungen nahmen nun ab. Jetzt gewann der große Krieger wieder Kraft, nachdem er die Morgensonne mit einer weiteren Orgie des Erbrechens begrüßt und den Schnee mit rotem Schaum gesprenkelt hatte.

Vielleicht sollten sie noch eine Rast einlegen, damit Teiro sich weiter erholte, aber jeder Augenblick, den sie vertrödelten, konnte bedeuten, dass die Feinde aufholten, die kleine Gruppe im Schnee aufstöberten. Und doch … alles hing an Teiro. Zumindest Ghenis’ Flussüberquerung. Denn alleine würde sie das nicht schaffen. Konnten die anderen vier Männer dieses Hindernis bewältigen? Vermochte Teiro es? Sie erlangte keine Gewissheit, indem sie bis zu den Knien in einer Schneebank stand und fror, während das Risiko einer Entdeckung stieg.

»Wenn wir uns dicht bei der Brücke halten …«, begann einer der Knechte.

Asvin schüttelte müde den Kopf. »Nein. Rund um die Pfeiler ist die Strömung am stärksten, weil das Hindernisse für den Dien sind, die er gar nicht mag. Aber die Pfeiler halten die Eisschollen ruhig. Götter, ich will da nicht hinüber!«

»Es wird keine andere Brücke mehr stehen«, sagte Teiro leise, aber eindringlich.

Ghenis hatte den Blick nicht von ihm gewandt. Ein ausdrucksstarkes Gesicht, und das lag ganz bestimmt nicht nur an diesen vollen Lippen und den dunklen Augen, die so unschuldig blicken konnten. Er sprach etwas in ihr an, was sie nicht vollständig fassen konnte. Mitleid wegen des Erbrechens, der offensichtlichen Schmerzen. Anerkennung für seine Art, mit diesen Krankheitsanzeichen umzugehen, nicht um Hilfe oder gar Mitleid zu bitten. Er biss die Zähne zusammen und schleppte sich würgend durch Schneewehen – und Ghenis obendrein. Doch da war noch mehr als nur Bewunderung für einen so vollkommenen Körperbau, obwohl sie Teiro noch nicht in einer martialischen Auseinandersetzung gesehen hatte, obwohl er unbewaffnet und ohne Rüstung vor ihr stand. Noch viel mehr. Diese süße Unschuld, das mitunter auftauchende leicht schiefe, unvergleichlich freche Lächeln. Sein Gedächtnisverlust. Ja, den glaubte sie ihm. Anfangs war sie nicht sicher gewesen, ob er auf diese Art vielleicht nur einem Kriegsgericht wegen seiner Fahnenflucht hatte entkommen wollen. Doch nun war sie sicher, dass Teiro nichts vortäuschte. Und vielleicht hing es mit dem Erbrechen zusammen? Sie kannte keine Krankheit, die solche Merkmale aufwies, und Sorge nagte immer wieder deswegen an Ghenis. Auch wenn es nicht ansteckend schien, was Teiro so zusetzte.

»Wir haben gutes Licht, der Wind schweigt. Wenn wir es versuchen wollen, dann jetzt. Nicht zu dicht beieinander, unser Gewicht verteilen.«

Eine Stimme, die zum Befehlen geschaffen worden war. Dazu die Ruhe, keine einzige Order gebellt oder gebrüllt. Einfach, weil er es nicht nötig hatte. Im Gegenteil, je sanfter seine Stimme wurde, je leiser, umso eindringlicher erreichten seine Worte die anderen Männer.

Ghenis sah sie wieder an, einfache Soldaten, junge Knechte. Asvin und Vill, alt und erfahren, doch niemals in Offiziersränge aufgestiegen. Sie brauchten jemanden, der das Kommando führte, der ihnen Befehle erteilte und sich trotzdem um sie kümmerte und sie ernst nahm. Die beiden Jungen, Tabas und Keno, die ihr Leben lang nichts anderes getan hatten, als Befehlen zu gehorchen. Und Teiro erfüllte alle Anforderungen, ohne sich je in den Vordergrund zu drängen, indem er so tat, als wäre er einer von ihnen, einfach nur ein Gefährte dieser winzigen Gruppe. Aber Ghenis hatte gespürt, wie sich das Machtgefüge verändert hatte.

Falls Teiro den anderen befehlen würde, den Fluss zu durchschwimmen, würden die sich umgehend die Kleidung vom Leib reißen und in die Fluten springen.

Erstaunlich und erschreckend, was ruhiges Selbstbewusstsein und sanfte Autorität bewirken konnten. Ghenis beschloss, dass sie keinesfalls auf einen solchen Befehl hören würde. Dazu besaß sie doch zu viel Verstand und war das Kommandieren selbst zu sehr gewohnt.

Nun wandte Teiro sich ihr zu. »Du wirst alleine gehen müssen, Kanzlerin. Ich bin für mich alleine schon viel zu schwer. Aber ich werde stets in deiner Nähe sein, falls du Hilfe benötigen solltest. Ist dir das recht?«

Höflich. Nicht nur sanft und ruhig. Manchmal fragte sie sich, ob er auch einem Gegner auf dem Schlachtfeld mit dieser entwaffnenden Höflichkeit begegnen würde. Götter, er könnte Heere befehligen!

Sie nickte nur und blickte zum Dien. Trügerisch ruhig. Still lagen die Eisschollen gegen die Pfeiler der eingestürzten Brücke gedrückt, von der sanften Strömung an der Oberseite des Wassers dort eingekerkert. Doch in der Tiefe lauerte die gewaltige Kraft des Dien, die Brückenbauarbeiten so sehr erschwerte, die so viel schon mit sich gerissen und nie wieder freigegeben hatte.

Die Gruppe setzte sich in Bewegung. Mit kleinen Gesten wies Teiro den anderen Männern die Abstände zu, die sie einzuhalten hatten.

»Falls du Hilfe brauchen solltest, Kanzlerin, wäre es weise, wenn wir deinen Stab verwenden. Ich möchte dich nur sehr ungern zu nahe bei mir haben, falls ich einbrechen sollte.«

Sie nickte angespannt und nutzte den Stab wieder wie früher als Stütze, obwohl Teiro sich noch dicht an ihrer Seite hielt. Er half ihr die schneeverkrustete Böschung hinab, und dann standen sie nebeneinander am Ufer des Dien.

Es gluckerte leise unter dem Eis, das uneben und wie aus mehreren Bruchstücken zusammengefroren wirkte.

Ghenis atmete tief durch, und Teiro löste sich von ihrer Seite, trat als Erster auf das Eis. Nur vernünftig, sagte Ghenis sich, um die Sorge niederzukämpfen. Er war der Schwerste. Trug das Eis ihn, dann war es für die restlichen Mitglieder der kleinen Truppe mit hoher Wahrscheinlichkeit sicher.

Drei Schritte, vier. Sechs.

Asvin setzte sich in Bewegung, den Blick starr auf das Eis gerichtet, als suche er genau die Punkte, auf die Teiro getreten war. Als trügen die Schollen nur dort verlässlich.

Mit einem weiteren tiefen Atemholen trat Ghenis auf das Eis. Schweiß trat aus ihren Poren unter mehreren Schichten Kleidung, obwohl die Kälte an ihr nagte wie ein hungriges Frettchen. Der kurze Fußmarsch hierher hatte ihre Muskeln warm werden lassen und die Starre aus ihnen vertrieben. Leider weder Schwäche noch Schmerz. Die beiden lauerten in Ghenis’ Beinen, als sie auf das Eis trat.

An manchen Stellen war es weiß und rau, an anderen schimmerte es grün oder schien vollkommen durchsichtig zu sein, sodass das Wasser schwarz hindurchschimmerte.

Ghenis konzentrierte sich alleine auf ihre eigene Fortbewegung. Nur hin und wieder hob sie leicht den Kopf, um die Abstände zu Teiro und Asvin zu überprüfen. Hinter sich vernahm sie die Schritte der anderen drei.

Das Eis stöhnte und knarrte. Mitunter schien es Ghenis, als höben die Schollen sich auf einer kleinen Welle und schaukelten sachte. Oder würden niedergedrückt vom Gewicht der Menschen darauf. Besonders von Teiros Masse. Als atme das Eis erleichtert auf, sobald der große Kerl weiterging. Dann hob es sich und sank an anderer Stelle ein. Nicht weit, vielleicht um eine Fingerbreite, doch Ghenis spürte jede dieser kleinen Veränderungen und schwitzte nur noch mehr. Ihre Lippen bebten, und so presste sie sie fest aufeinander.

Sie wagte kaum noch, den Stab einzusetzen, weil auf seiner Spitze ein unverhältnismäßig hohes Gewicht ruhen würde. Sie fürchtete, dass er wie ein Keil das Eis durchbrechen könnte. Und so humpelte sie mühsam über den gefrorenen Fluss, sah immer wieder kurz um sich und bemerkte schließlich aus den Augenwinkeln, dass Keno sie rechts überholte. Relativ nahe bei den Pfeilern. Sie wollte eine Warnung rufen, als es laut knirschte, alle Schollen auf einmal in Bewegung zu geraten schienen.

Ein Brückenpfeiler knickte unter dem Gewicht der gegen ihn drückenden Eisschollen weg und verschwand mit einem lauten Platschen und aufspritzendem Wasser in den Fluten des Dien.

Im gleichen Moment kippte die Scholle, auf der Keno wie selbst zu Eis erstarrt stehen geblieben war.

Keno schrie auf, warf sich auf den Bauch, und die Eisscholle zerbrach in zwei Teile. Der Junge verschwand, der größere Teil der Eisplatte kam wieder in die Waagerechte.

Ein Entsetzensschrei von Vill oder Asvin, und dann rauschte Teiro vor Ghenis vorbei. Flach auf dem Bauch schlitterte er über das Eis, kam auf die klatschnasse Eisscholle, auf der eben noch Keno gestanden hatte. Und rutschte unaufhaltsam durch den eigenen Schwung und die große Körpermasse weiter.

Er hieb die Zehen gegen das Eis, um seinen Fortschritt solcherart abzubremsen, bevor der Schwung ihn über die Kante trug, über die Keno verschwunden war.

Ghenis starrte ihm entsetzt nach und vernahm, dass mindestens einer der Soldaten – in ihrer Aufregung konnte sie die beiden vermummten Gestalten mit den unförmigen Gepäckrollen auf dem Rücken nicht unterscheiden – an ihr vorbeirannte.

Das Eis knarrte und krachte drohend, bewegte sich in größeren Wellenbewegungen. Kleinere Bruchstücke fanden den Weg, der durch den Zusammenbruch des Pfeilers nun frei war. Wie kleine Boote tanzten sie auf dem Dien flussabwärts.

Teiro konnte an der Kante anhalten. Seine muskulösen Beine unter dem schwarzen Leder bebten leicht, während er die Zehenspitzen immer noch wie Anker gegen die raue Oberfläche des Eises drückte, beide Arme in das Wasser tauchte, nach Keno zu greifen versuchte.

Hinter Ghenis ein Schrei, und sie wirbelte herum. Nur noch eine Hand sah sie, die sich an der Eiskante festkrallte. Wem auch immer sie gehörte. Ghenis tat es Teiro nach, warf sich auf das Eis, das hart und unnachgiebig wie Stein war, robbte eilig auf die Hand zu, die sich immer noch festhalten konnte, schob den Stab vor, weil Teiros Warnung in ihren Ohren hallte. Die Hand rutschte ab, verschwand zwischen zwei Eisschollen, die sich mit einem Krachen, das Weiß aufstäuben ließ, zusammenschoben. Rot spritzte.

Ghenis keuchte, kroch weiter vorwärts, bis sie den Spalt fast erreicht hatte. Die Platten zermalmten einander hier, sie durfte nicht weiter, aber hektisch wischte sie Raureif und Schnee beiseite, hoffte, dass sie etwas erkennen könnte unter dem Eis. Doch das wenige, was sie erblickte, war nur sich drehendes Schwarz. Es knirschte um sie herum, und weitere Platten krachten ineinander, türmten sich zu dreieckig aufragenden Graten auf, splitterten, und Tausende funkelnde Fetzen gefrorenes Wasser prasselten auf die Oberfläche.

Übelkeit nistete in Ghenis’ Magen. Sie rutschte auf den Knien herum, spürte kaum das eisige Ziehen in ihrem Oberschenkel, wo die Narbe auf die Überlastung mit frischer Pein reagierte. Schweiß strömte aus jeder Pore, die Hände pochten vor Kälte, bevor sie schlagartig taub wurden.

Teiro … Asvin, Vill, Tabas? Sie sah nur noch Teiro und Vill, die sich auf der gleichen Scholle befanden. Teiro immer noch bäuchlings und nach dem jungen Keno fischend. Wo steckten Tabas und Asvin? Welcher von beiden war direkt vor Ghenis’ Augen versunken, nur noch eine Hand im Eis?

Die Scholle, auf der sie selbst kauerte, drehte sich in der frisch erwachenden Strömung. Eisplatten donnerten gegen die noch stehenden Brückenpfeiler.

Vill trat vor, als Teiro einen triumphierenden Ruf ausstieß. Und dann ging alles entsetzlich schnell.

Teiro zerrte ein nasses, lebloses Bündel neben sich auf das Eis, rutschte dabei zur Seite, sodass sein Fuß in Wasser eintauchte. Er versuchte, gleichzeitig den Geretteten und sich selbst in Sicherheit zu bringen. Er musste das Eis rund um sich arbeiten und splittern hören.

Noch einmal brach die Eisscholle. Nur ein kleines Stück, doch Vill taumelte rückwärts, stolperte und geriet mit einem Mal zwischen zwei Platten.

Ghenis kroch auf Händen und Knien los, das Herz rasend wie ein außer Kontrolle geratenes Pferd. Ebenso wie dessen Hufe auf dem Eis hämmern würden, schlug der Muskel schmerzhaft gegen die Rippen, erstickte Ghenis beinahe, nahm ihr den Raum zum Atmen und schnürte ihr die Kehle zu.

Vill schrie, doch der Laut wurde abgehackt, als die Platten sich zusammenschoben und den Soldaten in der Leibesmitte einfach durchschnitten. Blut spritzte etliche Ellen weit, leuchtete auf dem Firn des Eises, sog sich in den Schnee, breitete sich aus, blühte wie Klatschmohn im Sommer.

Solcherart vom Gegengewicht befreit, kippte die Scholle mit Teiro und dem anderen Mann – ob es nun wirklich Keno war, gesichtslos unter weißem Reif, der wie Schimmelpilz auf der nassen Kleidung wucherte. Die Eisplatte stellte sich senkrecht auf, schwarze Unterseite zu Ghenis gewandt, kippelte und krachte dann zurück, die eben noch weiße und blutbespritzte Oberseite verschwunden. Ebenso Teiro und alle anderen Männer der kleinen Gruppe.

Rund um Ghenis nur noch mahlendes Weiß, Krachen und Splittern. Die Eisdecke schloss sich, kerkerte die Männer darunter ein. Von denen bei der Eiseskälte keiner länger als zwei Herzschläge überleben konnte.

Ghenis kauerte still auf dem Eis, dessen Kälte in ihre Muskeln und dann auch in die Knochen kroch, immer höher stieg, den Magen ausfüllte, die Lungen erreichte.

»Götter, wenn ihr mich hört. Götter, wenn ihr da seid. Götter, ich bin eure Schutzbefohlene. Götter, ich verehre euch. Götter, ich flehe euch an!« Beinahe lautlos murmelte sie die Silben, eine gewohnte Litanei, die hier auf dem mahlenden Eis des Dien ohne Sinn und Verstand aus Ghenis hervorbrach.

Wie auf leisen Wellen bewegten sich die eisigen Platten, und mit einem Mal brachen sie auf.

Ein Keuchen, das eine gewaltige Lunge füllte. Schwarzer Pelz, ein langer Arm, eine Hand, die sich im Eis festzukrallen suchte.

Ghenis schrie auf, robbte vorwärts, schob den Stab vor, sandte ein lautloses Gebet zu den Göttern. Diese Hand konnte sich um das lederumwickelte Amtszeichen klammern.

Ghenis schob die Zehenspitzen und die Finger der freien Hand zwischen die Platten, hielt sich mit aller Kraft fest, als der Zug auf dem Amtsstab unermesslich zunahm, ihr das verzierte Holz beinahe aus der Hand riss.

Teiro wuchtete sich aus dem Wasser auf die Eisscholle.

Wie ein nasser Schleier klatschte der Mantel auf den Schnee, schmolz ihn, bis nur noch blankes, schwarzes Eis dalag und in der Sonne tückisch glitzerte. Dampf stieg von der hünenhaften Gestalt auf, die sich ruckartig auf die Scholle zog und mit einem wimmernden Keuchen in sich zusammensank. Jeder Atemzug begleitet von einem schaudernden Schnattern, von einem Zittern und Beben, das tödlich sein musste.

Eisblumen wucherten wie Unkraut über die nasse Kleidung, froren sie an der Eisscholle fest. Teiros Haut verfärbte sich bläulich, und noch immer lag er nur da, zuckte und zitterte, rang nach Atem und schien innerhalb des nächsten Wimpernschlags erfrieren zu wollen.

»Teiro!« Sie wagte nicht, näher an ihn heranzukriechen. Die Scholle würde erneut kippen.

Er drehte ganz leicht den Kopf. Seine Augen glänzten wie im Fieber, schienen das einzig Lebendige im kalkweißen, blau schimmernden Gesicht zu sein. Wie die blassen Federn des Schattenvogels. Wie ein Vorzeichen seines Todes.

»Teiro, wir müssen vom Eis.«

Er schloss die Augen, zitterte und schüttelte dann den Kopf.

»Oh doch! Die anderen sind tot. Lass es dir nicht einfallen, dich vor deiner Verantwortung zu drücken, du großes, dummes, kotzendes Etwas! Du hast dich widerrechtlich von deinen Truppen abgesetzt. Du bist ein widerwärtiger Fahnenflüchtling. Aber vor dieser Aufgabe drückst du dich nicht. Du hast die verfluchte Pflicht und Schuldigkeit, mich zu meinen Königinnen zu bringen. Dort werde ich ein gutes Wort für dich einlegen. Aber nur, wenn du deinen verfluchten Arsch jetzt hochkriegst und vom Eis runterkommst.«

»Ich kann nicht …« Nur ein seichtes Flüstern, vom Zittern zerhackt, sodass die Worte beinahe unverständlich waren.

»Und ob du kannst! Du wirst mich nicht im Stich lassen, Teiro! Ich verbiete es dir! Du wirst mich nicht alleine lassen. Die Götter würden dich dafür bestrafen, wenn du denkst, du kannst dich unbemerkt in die Nachwelt schleichen. Verflucht! Tu es doch! Ich folge dir, und dann sehe ich zu, wie der Gott des Krieges dich niedermacht und mit dir die Unterwelt aufwischt, weil du versagt hast, weil du nicht würdig bist, dich Krieger zu nennen! Steh auf, Teiro! Lass mich nicht alleine, verflucht!«

Er öffnete die Augen, und das Sonnenlicht musste direkt hinein strahlen, denn in beiden Iriden glitzerte für einen kurzen Moment orangefarbenes Feuer. »Du klingst wie ein Fischweib.«

»Das ist mir scheißegal! Komm schon!«

Es knirschte, als der große Mann sich auf die Seite drehte. Das war seine Kleidung, die er vom Eis losriss, die steifgefroren war.

»Nur auf Händen und Knien, das Eis bewegt sich«, befahl Ghenis. Als ob mehr für den großen Kerl überhaupt möglich gewesen wäre.

Er war bis auf die Haut durchnässt, und alles gefror nun. Die Pelzzierde an der Kapuze sah aus wie ein erfrorener Igel, Wimpern, Augenbrauen, Bart – alles schneeweiß. Zwischen den blau verfärbten Lippen blitzten die ebenmäßigen Zähne weiß auf, klapperten aufeinander, dass es wehtun musste.

Doch er setzte sich in Bewegung, und Ghenis krabbelte mit einem großen Sicherheitsabstand neben ihm her. Weiße Wolken von ihrer beider Atem hingen still in der Luft, markierten die bewältigte Strecke.

Fast meinte Ghenis, Teiros Zittern durch das Eis hinweg zu spüren. Das Klappern seiner Zähne und die schnatternden Atemzüge waren gar nicht zu überhören.

Sie schleifte den Stab mit sich, spürte das Gewicht ihres Gepäcks und hielt sich daran fest, dass sie Feuerstein und Zunder darin mitführte, dass ein aufgerolltes Schaffell oben auf dem Bündel verschnürt war. Sie brauchten einen Unterstand, irgendwie ein Dach über dem Kopf. Feuer. Sie konnte Schnee tauen, ein kleiner Metallbecher lag ganz unten in ihrem Gepäck. Teiro musste aus den gefrorenen Sachen heraus. Ghenis merkte, dass ihre Gedanken sich überschlugen, wie eine plappernde Kinderschar klangen.

Sie erreichte das Ufer und sandte ein Dankesgebet, dass sie bis hierhin gekommen war.

Teiro folgte nur einen Herzschlag später und sank prompt im Schnee zusammen. Krämpfe rüttelten den großen Körper.

Ghenis kroch zu ihm, legte die Hand auf seine Schulter und spürte unter gefrorenen Kleidungsstücken die bebenden Muskeln. Sie schüttelte den großen Kerl – oder versuchte es zumindest, der Gewichtsunterschied war einfach zu groß.

»Teiro, aufstehen, weiter. Du erfrierst, wenn du hier liegen bleibst.«

»Nur einen Augenblick.«

»Nein, nicht einmal einen Winzigen. Schlafen kannst du in der Unterwelt. Los, steh auf. Wir suchen einen Unterschlupf. Ein Wäldchen, eine Viehhütte, irgendetwas. Reiß dich zusammen, verflucht!«

Ein Wimmern begleitete die nächsten Atemzüge, dann stemmte er sich tatsächlich auf Hände und Knie, schnaufte, zitterte und versuchte, auf die Beine zu kommen. Er benötigte drei Anläufe, dann stand er endlich. Und sah so klein aus, weil er sich regelrecht zusammenballte. Die Hände flogen, konnten nicht einen Herzschlag lang ruhig sein.

Ghenis zog sich mittels des Stabes auf die Beine, griff nach einer Umhangfalte ihres erfrierenden Begleiters und sah sich suchend um. Ein Wäldchen würde schon reichen! Sie konnte im Schnee nach Bruchholz suchen.

Sie schnappte nach Luft, als sie am Ufer des Dien, gar nicht so entsetzlich weit weg, einen dunklen Schatten ausmachte, der sich wie ein Schmutzfleck im schimmernden Weiß ausnahm.

»Teiro, dorthin. Siehst du das?«

Er schüttelte den Kopf.

»Aber ich sehe es. Beweg dich! Und komm nicht auf blöde Ideen, im Schnee schlafen zu wollen. All die Schwachköpfe, die erzählen, das wäre ein angenehmer Tod, leben nämlich noch und haben keine Ahnung. Es tut bestimmt verflucht weh. Los, einen Schritt. Dann noch einen. Denk an deine Pflicht.«

Es klang schmerzhaft, als er tief Luft holte, um einen Fuß vor den anderen zu stellen. Er verharrte bebend, rang erneut nach Atem und zog das zweite Bein nach. Jede Bewegung eine übermenschliche Anstrengung, die eiskaltes Blut zum Herzen schaffte. Wie lange konnte dieses die Tortur durchstehen?

»Das geht schneller!« Sie hatte das Gefühl, nur zu ihm durchzudringen, wenn sie ihn beschimpfte und anschrie. Ihre Stimme war die letzte Verbindung, und sobald Ghenis schwieg, würde der große Kerl sich stumm und zitternd im Schnee zusammenfalten und einschlafen. Und sterben.

Mit einer Hand im gefrorenen Umhang des Hünen, die andere um den Stab gekrallt, versuchte Ghenis, den Weg zu bewältigen.

Teiro stapfte wortlos neben ihr her, zitterte wie Espenlaub, atmete voller Qual und blieb hin und wieder unvermittelt stehen, mit hängendem Kopf und knirschender Kleidung. Dann schrie Ghenis ihn wieder an, bis ihre Kehle schmerzte, als ob die eisige Luft sie blutig gerieben hätte. Und wieder setzte Teiro sich gehorsam wie ein übermüdetes Kind in Bewegung.

Der Schmutzfleck im blendenden Weiß bekam eine klarere Kontur. Sie wurde kantig, und Ghenis wagte zu hoffen, dass es tatsächlich ein Gebäude sein mochte. Mehr Schutz als in einem Wäldchen. Dort konnten Menschen wohnen, die ihr und Teiro helfen würden.

Doch je näher sie kam, desto mehr sank die Hoffnung auf Unterstützer. Denn kein Rauch kräuselte aus dem Schornstein, keine Bewegung war auszumachen, und Schnee ruhte unberührt rund um das einfache Häuschen unter schilfgedecktem Dach.

Egal! Ein Haus!

»Siehst du das da, Teiro? Wir haben es gleich geschafft. Jetzt wird nicht mehr aufgegeben. Weiter, Großer! Denk nicht einmal im Traum daran, mich zu enttäuschen, verflucht!«

 

Die Tür war nicht verschlossen. Ghenis musste Teiro loslassen, um die klobige Klinke zu drücken und die Tür aufzuschieben. Glücklicherweise öffnete sie sich nach innen, sonst hätte Ghenis einen Berg Schnee beiseite schaufeln müssen. Sie wirbelte herum und packte Teiros Handgelenk, als das verstärkte Knirschen sie alarmierte, dass er wieder einmal in den Schnee sinken wollte. Eiskalt und hart wie ein Stein, als wäre schon kein Leben mehr in seinem Fleisch.

»Verflucht! Ins Haus mit dir, Hohlkopf!«

Er wankte über die Schwelle, schaffte tatsächlich noch zwei weitere Schritte und sank dann in einem jämmerlichen, knirschenden Bündel Mann auf den groben Steinboden. Dort blieb Teiro liegen, und nur das keuchende Atmen bewies, dass er lebendig in diesem Gebäude angekommen war.

Ghenis humpelte ihm hinterher, umrunde die gewaltige Masse und verschaffte sich einen Überblick, bevor sie sich das Bündel von den Schultern zerrte. Teiro nun mit dem Fell zuzudecken, würde gar nichts bewirken, da seine eigene Kleidung wie ein Panzer an ihm festgefroren war. Sie brauchten Wärme, und dann würde Ghenis den Krieger aus dem Eis schälen.

Ein kleines Heim, alles übersichtlich in einem einzigen, bescheidenen Zimmer. Eine Kochecke mit Feuerstelle, neben der in einem Korb noch einige Holzscheite lagen. Ein Metallgerüst, auf das tönerne Töpfe zum Kochen gestellt wurden. Ein Tisch, dazu wenig vertrauenerweckend aussehende Hocker. Und ein großer Strohsack in einem Winkel. An Decken konnte Ghenis nur einige graue Fetzen entdecken. Die Bewohner waren offenkundig im Gefolge der anderen Flüchtlinge abgehauen. Wahrscheinlich, als Soldaten die Brücke über den Dien zerstörten.

Ghenis schnürte ihr Bündel auf und schüttete den Inhalt kurzerhand auf den Boden, suchte die Metallbüchse mit Zunder und Feuerstein hervor und schichtete Scheite in der Feuerstelle auf.

»Kein Feuer«, wisperte es zitternd hinter ihr.

»Wir sind jenseits des Dien. Ich will die Armee sehen, die den Weg über die Eisschollen schafft. Außerdem stirbst du, wenn ich kein Feuer mache. Und ich habe dir verboten, mich im Stich zu lassen. Das machst du nicht!«

»Mir ist kalt.« Jammernd wie ein erschöpftes Kind.

»Ich weiß. Ich habe vor, das zu ändern! Halt die Klappe!« Der Zunder hatte Feuer gefangen, und Ghenis schob ihn behutsam unter die Scheite, verschloss ihr Gehör vor den bebenden Atemzügen hinter sich, blies ganz sanft in das erwachende Glimmen und wurde mit einer Rauchfahne und winzigen Flammen belohnt. Nur vorsichtig jetzt, nicht das junge Feuer in der Eile ausblasen, nur so viel Luft schenken, wie es brauchte, um sich dem Holz zu nähern, danach zu greifen und zu wachsen. Ghenis spürte schon die belebende Wärme im nächsten Atemzug, bevor sie wieder behutsam in die Flammen blies, die nun hungrig aufloderten, die Scheite fanden und sich wie ein Heer aus Ameisen darauf emporzogen. Der Duft des Rauchs änderte sich leicht, und nun spürte Ghenis auch die Ahnung von Wärme auf dem Gesicht.

Viel Holz war nicht da, aber dann verheizte sie eben die ganze Inneneinrichtung, notfalls den Schuppen, den sie entdeckt hatte, der sich wie ein Betrunkener an das Häuschen lehnte. Eine Axt würde sich schon irgendwo finden.

Mit ein wenig Hoffnung und Erleichterung im Herzen richtete Ghenis sich auf und eilte auf schmerzenden Beinen zu Teiro. Er lag noch so da, wie er hingesunken war.

»Ausziehen!«

»Kalt.« Er sah sie jammervoll an, die großen Augen noch dunkler als sonst, von einem violetten Hof umgeben, der sich nahe den Wimpern beinahe schwarz verfärbte. Seine Lippen waren dunkelblau.

»Ich weiß.« Die Sanftheit in ihrer Stimme überraschte sie selbst.

Sie kniete neben Teiro nieder und zerrte die Schnüre seines Kapuzenumhangs auf. Steifgefroren und hart wie Stein. Dann beugte Ghenis sich vor und packte das brettharte Kleidungsstück am unteren Saum. Sie zog, und alles an Teiro knirschte wie frisch überfrorener Schnee unter Stiefeln.

»Setz dich hin, verflucht!«

Sie hatte den Mantel schon bis zu seiner zuckenden Schulter hoch gezerrt, doch der große Kerl lag ja auf dem Rest.

Teiro stöhnte, und jeder Atemzug klang nach mühsam unterdrücktem Schluchzen. Aber er setzte sich tatsächlich auf. Ghenis zog den steifgefrorenen Mantel rasch genug zur Seite, bevor der Kerl sich darauf setzen konnte.

Sie kam ins Schwitzen, während sie den Mantel über Teiros Kopf zog, die Hände des Kriegers aus gefrorenem Stoff befreite und zumindest den ersten Teilsieg erringen konnte, als sie den Mantel in die grobe Richtung des flackernden Herdfeuers warf.

Teiro krümmte sich prompt wieder zusammen, schlang die Arme um den Oberkörper und zuckte in zitternden Krämpfen.

Ghenis sprang auf und holte einen der wackeligen Hocker. »Setz dich darauf! Los, gib dir Mühe. Hör auf zu jammern, verflucht! Es wird gleich wärmer! Aber du frierst am Boden fest.«

Und wenn der Hocker unter seinem kolossalen Gewicht zerbrach, hatte sie wenigstens gleich mehr Feuerholz.

Eine blau verfärbte Hand griff leicht ziellos nach ihr, klammerte sich an ihrem Mantel fest, und Ghenis keuchte auf, als sie einen Teil von Teiros Gewicht aushalten musste, damit der sich vom Boden hochstemmen und mit einem lauten Knirschen seinen Hintern auf den Hocker bugsieren konnte.

Es klang, als würde sein Körper selbst gefroren sein und bei jeder Bewegung ein Stück weiter zersplittern.

»Sehr gut gemacht, Teiro.«

Wenn er doch nur nicht so widersinnig jung, nahezu zerbrechlich aussehen würde! Da kauerte dieser Hüne zähneklappernd vor ihr, schwer mit Muskeln bepackt, die alle zuckten und den Körper zu erwärmen versuchten, und Teiro sah aus wie ein Kind, das den Tränen nahe war. Es waren diese verflucht dunklen Augen, in deren Wimpern immer noch Eis hing.

Wolle und Leinen waren zu einem Eispanzer erstarrt, und Ghenis mühte sich lange Zeit, bis sie beides zusammen über Teiros Kopf ziehen und zu Boden fallen lassen konnte. Das Geräusch, das dabei erklang, war eine Mischung aus Klatschen und Knirschen. Nass, wie ein halbgefrorener Fisch.

Sie humpelte zum Strohsack und brachte eine der löchrigen Decken zu Teiro, der noch mehr in sich zusammengesunken war und so offensichtlich fror, dass es Ghenis wehtat.

Dort, wo der gefrorene Stoff gegen seine Haut gerieben, sich in Falten zusammengedrückt hatte, wies diese hellrote Striemen wie von Peitschenhieben auf. Wie frisch erblühter Mohn. In den Ellenbeugen, unter den Achseln, am Hals und quer über die Brust und die flache Bauchdecke. Wund gerieben, und schon verblasste das klare Rot, das so brutal von der bleichen, bläulich verfärbten Haut abstach.

Ghenis legte Teiro die Decke über die nach vorne gezogenen Schultern und wischte dann mit einem Zipfel behutsam Frost aus dem kurz geschorenen Bart. Sie spürte, wie etwas an ihren Mundwinkeln zupfte wie mit durchsichtigen Spinnenbeinen. Es verging eine Weile, bis sie begriff, dass sie angesichts dieses übergroßen Kerls mit den Muskeln des Idealtypus eines Kriegers lächelte. Es lag an dem hoffnungsvollen Blick, der sie unwiderstehlich an ein scheues Straßenkind erinnerte, behauptete sie vor sich selbst.

Sie kniete schwerfällig nieder, und der Schmerz aus dem Bein raste wie eine glühende Keule in ihre Magengrube. Ghenis biss die Zähne zusammen. Das dämliche Bein konnte nachher Ruhe haben – sobald sie sicher war, dass Teiro überleben konnte! Verflucht noch einmal, so viel hatte er gar nicht mehr an, und dann konnte er ins Bett unter alle Decken, die sie zur Verfügung hatten.

Sie knotete mühsam die Senkel auf. Sie zerrte angestrengt und ließ den Stiefel neben sich auf den Boden poltern. Blaue, schlanke Zehen an Füßen mit hohem Spann kamen zum Vorschein. Keine offensichtlichen Erfrierungen, Ghenis war erleichtert. Das Schwarz von denen kannte sie vom Schlachtfeld. Ihr waren viele Soldaten bekannt, die ganz ohne Zehen lebten und sich die Stiefel mit Werg ausfütterten.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739487960
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (März)
Schlagworte
Liebesroman Kampf Held Schlachten Fantasy Romance High Fantasy Heroic Romance Romanze episch

Autor

  • Tanja Rast (Autor:in)

Geboren 1968 als echte Kieler Sprotte im nördlichsten Bundesland, wohne ich mit vielen Tieren auf dem Land. Nun habe ich neben meinen bisherigen und zukünftigen Verlagsveröffentlichungen das Abenteuer Selfpublishing für mich entdeckt. Ich schreibe Fantasy in allen möglichen Richtungen: Urban, Geistergeschichten, Gay Romance und Heroic Romance („Schmachten & Schlachten“, wie ich dieses Subgenre mit einem Augenzwinkern nenne) und noch viel mehr.
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Titel: Teiro