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Niro

von Tanja Rast (Autor:in)
420 Seiten
Reihe: Schmachten & Schlachten, Band 6

Zusammenfassung

Epische High Fantasy mit Helden, Schlachten, Magie und einer Romanze, die sich wie ein rotes Seidenband durch die Geschichte zieht und weder drohende Niederlagen noch selbst den Tod fürchtet. Entehrt und vom Königshof verstoßen schlägt der vormalige Paladin Niro sich mit Gelegenheitsdiebstählen und anderen Aufträgen durch, während er prachtvolleren Zeiten hinterhertrauert. Als wäre das alles noch nicht schlimm genug, stellt ihm seit Neuestem ein geflügeltes Mädchen nach, das ihm seine Seele entreißen möchte. Schmutzig mag Niros Seele sein, aber er hängt doch an ihr! Er kann die junge Elee fangen, ihr aber doch nicht einfach den Hals umdrehen. Denn sie ist bezaubernd unschuldig, sehr neugierig und obendrein nur das Werkzeug eines viel mächtigeren Gegners. Um diesen aufzuhalten und sowohl sich selbst als auch das ganze Reich zu retten, muss Niro Elees Vertrauen gewinnen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1.

Aufträge

 

Elee blickte rasch auf, als der Herr nach ihr brüllte. Die Stimme erklang verzerrt von ihrem Weg die Wendeltreppe herauf. Beinahe hatte Elee das Gefühl, dass jeder Stein ihres Zimmers, ja sogar die Außenwände des Turmes mit diesem Ruf vibrierten, ihn verstärkten durch die Macht des Herrn.

Leichtfüßig sprang sie vom Bett, auf dessen Rand sie über ein Buch gebeugt gesessen hatte. Mit einer fahrigen Bewegung fuhr sie sich mit den Fingern durch Haar, atmete tief ein und bemühte sich um ein ausdrucksloses Gesicht. Dann ließ sie die Flügel ein wenig hängen, sodass die Spitzen den Boden berührten. Der Herr hatte einmal zu ihr gesagt, dass sie aufsässig aussähe, wenn sie die Flügel hochtrüge. Arrogant, hatte er gesagt.

Elee lernte schnell dazu. Eine Ohrfeige schmerzte und stellte eine Erniedrigung dar, eine unverdiente Strafe, nur weil Elee etwas nicht besser gewusst hatte. Das passierte ihr kein zweites Mal. Ebenso hart wurde Trödeln bestraft, und so verlor sie keinen weiteren Augenblick, sondern stieß die Kammertür auf und eilte die Treppe hinab, bevor der Herr ungeduldig wurde und ein zweites Mal nach ihr rufen musste. Das verärgerte ihn. Und dann wurde er sehr streng, und manchmal schlug er dann auch zu oder – schlimmer – funkelte Elee zornig und wortlos an. Das tat weh und machte ihr Angst.

Sie konnte in seinem Gesicht oftmals keinerlei Gefühle ablesen und wusste nicht, was hinter dem schmallippigen Mund und den harten grauen Augen vor sich ging. Was der Herr gerade dachte, was er vorhatte, welche Strafe er plante.

Auf ihrem Weg die Treppe hinab vernahm Elee die Stimme der Frau, die im Turm des Herrn lebte. Laut und ein wenig schrill, als würde sie sich ärgern. Noch war Elee sich nicht ganz sicher, welche Rolle die Frau im Dasein des Herrn spielte. Doch manchmal verspürte sie Eifersucht. Auf Geheiß des Herrn durfte sie sich der Frau nicht nähern, und diese zeigte sich niemals offen, wenn Elee sich im Turm bewegte. Nur aus der Ferne hatte sie die Frau beobachtet und sich im Stillen geärgert, dass diese groß und blond und stets elegant gekleidet war. Langeweile schien die Natur der Dame zu sein, und Elee beneidete sie darum. Langeweile und eine sehr laute Stimme, die den Stein mühelos durchdrang. Besonders nachts, wenn die Frau schrie.

 

Lautlos betrat Elee das große Zimmer, in dem der Herr seine meiste Zeit verbrachte. Bücherregale säumten die Wände, ein Kamin befand sich mitten im Raum, der Schreibtisch war bequem zwischen Wärmequelle und Fenster gerückt, damit der Herr am besten arbeiten konnte.

Meistens saß er hinter seinem Arbeitstisch, wenn Elee auf seinen Befehl herbeieilte. Dieses Mal stand er am Kamin, eine Hand auf das gemauerte Sims gestützt, den Kopf leicht gesenkt, um in die flackernden Flammen zu starren.

»Herr, du hast gerufen?«

Er fuhr mit einem Ruck hoch, ließ den Blick über Elee fliegen und nickte schließlich. »Ich habe eine Aufgabe für dich. Komm her.«

Folgsam eilte sie näher. Ihre nackten Füße verursachten keinen Laut auf dem Teppich, der im Arbeitszimmer den kalten Steinboden bedeckte. Nur die Spitzen ihrer Schwingen schleiften leise über das bunte Knüpfwerk und begleiteten Elees Schritte bis zum Kamin.

»Sieh in die Flammen«, sagte der Herr und legte eine Hand auf ihre Schulter, kaum dass sie in Reichweite war.

Folgsam tat sie es, erblickte die glühenden Kohlen, die feinen Flämmchen und wartete.

Mit einer knappen Bewegung stieß der Herr sich vom Kaminsims ab, streckte die freie Hand über der wärmenden Glut aus und murmelte zwei Wörter. Oder zwei Silben? Elee war sich nicht sicher. Dies war die geheime Sprache, die nur der Meister verstand und die über so viel gebot. Im schlimmsten Fall auch über Elee.

Die Flammenzungen veränderten ihre Farbe, schimmerten grün wie Edelsteine, verwandelten den Ton zu einem klaren Blau wie das des Meeres rund um die Insel, in deren Mitte der Turm aufragte.

Elee zwinkerte, als sich in der Lohe ein Bild formte. Sie meinte, eine Straße zu erkennen. Häuser, die eine enge Gasse säumten. Der erste Stock eines jeden Hauses ragte weiter in die Straßenflucht hinein, schien den Himmel aussperren zu wollen, so nah, wie sich die Dachgiebel kamen. Wäscheleinen verliefen zwischen den Fenstern der oberen Stockwerke. Tücher, Hemden und Hosen flatterten in der milden Brise, die vom Meer die Straße hinauf wehte.

Ebenso bewegte sich ein Schild in rostigen Ketten über einer Tür. Elee konnte die verwitterten Buchstaben nicht entziffern, aber das Bild auf dem Schild war klar für sie zu erkennen. Trauben, ein Weinkelch, eine Krone. Eine Kneipe.

»Merke dir das gut, Elee«, flüsterte der Herr direkt in ihr Ohr.

Sie nickte.

Das Bild veränderte sich leicht, als würde der Herr die Augen eines Menschen nutzen, der die Gasse entlang spazierte, vor der Tür zur Schänke anhielt, den Kopf in den Nacken legte, um das Schild neuerlich zu betrachten. Dann schwang die Pforte auf, und das Innere der Schankwirtschaft wurde sichtbar.

Elee rümpfte die kleine Nase, als sie im Halbdunkel Tische entdeckte, auf denen schmutzige Teller und Krüge standen. Bierpfützen hatten das Holz fleckig werden lassen, und fast meinte sie, den Geruch sauren Weins, abgestandenen Biers und gebratenen Fischs zu riechen.

Ein dicker, kleiner Mann befand sich hinter dem Tresen und wischte mit einem Tuch dessen Oberfläche trocken. Von sauber konnte keine Rede sein. Halbvolle Flaschen standen dort, nur nachlässig verkorkt, als erwarte der Wirt, dass sie ohnehin in Kürze geleert sein würden. Vielleicht störten sich seine Gäste auch nicht an der einen oder anderen ertrunkenen Fliege in ihrem Getränk. Vermutlich bemerkte das auch niemand in diesem schlechten Licht.

Im Hintergrund führte eine Holztreppe in das Obergeschoss, und als hätte der unsichtbare Träger des Augenlichts nur auf diese Erkenntnis seitens Elees gewartet, nahm er die Stufen auch schon in Angriff.

Oben mündete die Treppe in einen kleinen, fensterlosen Flur, dessen Bodendielen vor Dreck starrten. Elee konnte Schmutzstraßen sehen, die sich hier gabelten und zu jeweils einer von vier Türen führten. Eine von ihnen schwang auf.

Ein kleines Zimmer tat sich vor Elee auf. Ein breites Bett dominierte die Kammer, die kleiner war selbst als der Raum, den sie im Turm des Herrn bewohnte. Vorhänge schirmten das Tageslicht ab. Das Bild hielt an und zeigte das Bett.

Und den Hünen, der darin lag und tief und fest zu schlafen schien.

»Das ist dein Auftrag. Viel hast du mir schon gebracht, jeden meiner Befehle brav befolgt. Ich bin zufrieden mit dir. Deshalb erhältst du nun von mir den Auftrag, mir das Letzte zu bringen, damit ich mein Werk vollenden kann. Der Mann, den du da siehst, besitzt die letzte Kostbarkeit. Bring mir seine Seele, Elee. Ich brauche die Seele eines gefallenen Helden, und seine ist in Reichweite und wie gemacht für meine Zwecke. Ich will dich reich belohnen. Ich biete dir deine Freiheit an, wenn du mir seine Seele bringst. Ein Kinderspiel für jemanden wie dich. Flieg los, Elee.«

Sie nickte, und das Bild des Mannes auf dem Bett zerstob in Funken und Rauch. Doch nicht schnell genug, denn sie sah noch, wie der Mann sich aufsetzte, die Augen aufschlug und um sich blickte, als würde er einen Eindringling spüren.

»Sofort, Herr«, sagte sie, während sie den Anblick des Mannes kaum aus ihrem Kopf verbannen konnte. Schließlich musste sie sich an ihr Ziel erinnern, ihren Auftrag. Nur so konnte sie den Befehl des Herrn erfüllen.

Er reichte ihr eine Pergamentrolle: »Hier ist eine Karte, auf der ich dir markiert habe, wo du ihn am besten erwartest, Elee.«

 

Doch das Aufschrecken des Opfers, sein wachsamer Blick, das klang in Elee nach und irritierte sie. Noch auf dem Weg in ihre Kammer trug sie die weitaufgerissenen Augen, die angespannten Muskeln im Geist. Sie schüttelte energisch den Kopf. Der Kerl konnte gerne so wachsam sein, wie er wollte. Sie hatte einen Auftrag zu erfüllen, und die letzten Worte des Herrn hatten ihren Herzschlag beschleunigt. Freiheit in Aussicht! Entschlossen stampfte Elee auf, während sie zu ihrer Truhe eilte. Niemand konnte sich dem Herrn entgegenstellen. Elee würde diesen Auftrag erfüllen, um das Lebenswerk des Herrn in voller Pracht und Vollendung zu sehen. Dann würde der Herr dankbar und stolz auf seine Dienerin sein. Vielleicht würde er sogar einmal lächeln und nicht nur knapp die Zähne blecken in einer Grimasse, die sehr viel eher bedrohlich denn freundlich wirkte.

Seit Monaten schon strebte der Herr der Vollendung seiner Visionen entgegen. Elee hatte für ihn geraubt, kleinere Aufträge erfüllt, die sie sogar über die Grenzen von Amiens Hav getragen hatten.

Sie wand einen Ledergürtel um ihre Mitte und überprüfte, ob der kleine Dolch fest in seiner Hülle saß. Dann atmete Elee tief durch und eilte zum Fenster. Sie musste auf Zehenspitzen stehen und die schwarzen Schwingen zur Balance leicht ausbreiten, um hinaussehen zu können.

Die Turminsel befand sich weit draußen im Meer, dem Festland vorgelagert, wo Amiens Hav, die Küstenstadt des Reiches, sich in Terrassen über dem Hafen die Klippen hinaufschwang. Bunte Häuser, keines glich dem anderen. Eine fremde Welt, der Elee viel zu selten einen Besuch hatte abstatten können. Nur nachts bestand die Möglichkeit, durch die duftenden, fremdartigen Gassen zu schlendern – wenn Elee einen weiten Mantel trug, der die Schwingen maskierte. Die Kapuze zog sie tief in die Stirn, damit niemand ihr Gesicht sehen konnte.

Mit einem Segelboot, das nun in der geschützten Bucht zu Füßen des Turmes ankerte, war der Herr vielleicht zwei oder drei Stunden unterwegs, um Amiens Hav zu erreichen, in dessen Hafen Schiffe an den Molen lagen oder weiter draußen ankerten. Bunte Segel und Flaggen, die mit der Farbenfreude der Häuser zu wetteifern schienen, hatte Elee an sonnigen Tagen schon gesichtet. Sie hatte sich vorzustellen versucht, woher diese Schiffe wohl kamen und wohin sie als nächstes segeln würden.

Elee trat zurück. Schöne Schiffe und Häuser. Was würde aus der Stadt werden, wenn der Plan des Herrn aufging? Sie wusste es einfach nicht. Ein wenig Angst machte es ihr. Sie schob den Gedanken beiseite. Die Freiheit war der Preis. Besser, Elee beeilte sich. Je schneller sie diesen Auftrag erledigte, umso besser für sie.

Sie packte ein Bündel, in dem auch der lange Mantel Platz fand, und zog die Riemen über die Schultern, sodass das Gepäck sich fest an Brust und Bauchdecke drückte. Elee war bereit. Mit energischen Schritten verließ sie die kleine Kammer und eilte die Wendeltreppe hinauf.

Den Turm krönte ein Observatorium mit großen Öffnungen in alle Himmelsrichtungen. Salziger Wind vom Meer blies durch den hellen Raum, über dem sich ein kreisrundes Spitzdach in den Himmel bohrte.

Elee trat auf eines der breiten Simse und breitete die Flügel aus, fühlte das Rauschen des Windes in den Federn und genoss für einen Moment das prickelnde Gefühl. Von hier oben konnte sie mühelos losfliegen. Bei einem Abheben vom Boden brauchte sie einige Schritte Anlauf, bis die Schwingen sie vom Erdboden hochrissen. Sie rannte dann dem Wind entgegen, bis sie den Kontakt zur Erde verlor. War Elee erst in der Luft, war Fliegen einfach und angenehm. Doch jene schrecklichen Momente lang, in denen sie darum rang, endlich in die Höhe zu gelangen, fühlte Elee sich schutzlos.

Aber nun stand sie auf dem Sims, und bevor der Herr sie des Trödelns bezichtigen konnte, stieß sie sich ab, schlug mit den nachtschwarzen Schwingen, als eine Böe unter sie griff und für zusätzlichen Auftrieb sorgte.

Die blaue See raste unter Elee hinweg, und mit jedem Flügelschlag, der sie weiter vom Turm wegtrug, wurde ihr leichter ums Herz. Die Enge der Steine blieb zurück, und vor Elee breitete sich Amiens Hav aus, das in leuchtenden Reihen die Felsen emporstieg. Ein buntes Haus neben dem anderen begann die Stadt direkt am Sandstrand. Ein kleiner Wall schützte vor Fluten, hinter der Umfriedung lag eine der breiteren Straßen der Siedlung, und dann folgten die Häuser und ein unüberschaubares Gewirr von Gassen und noch engeren Gängen, wo nicht einmal ein Pferdegespann noch hindurch passte.

Das alles gehörte nun Elee, bis sie ihren Auftrag vollbracht und ihrem Herrn die Seele des fremden Mannes gebracht hatte. Die Seele eines gefallenen Helden.

 

Niro schreckte hoch. Seine Hand schoss zum Dolch, der neben ihm lag. Dann sah er sich schwer atmend in dem kleinen Raum um, umfasste die erbärmliche Einrichtung, spähte nach einem Eindringling.

Das Gefühl, beobachtet zu werden, hielt an, und nach dem ersten, schnellen Blick ringsum sprang Niro aus dem Bett und erreichte mit zwei raschen Schritten die Tür zum Flur. Mit einem Ruck riss er die Pforte auf. Der Gang davor lag gähnend leer da.

Doch noch immer prickelte es leise und warnend in Niros Nacken, stellte die hellen Haare dort auf, als drohte von irgendwoher Gefahr. Langsam schloss er die Tür wieder und warf noch einen prüfenden Blick auf das muffig riechende Zimmer, die Unordnung der letzten Tage, die in der Meeresbrise leicht flatternden Vorhänge.

Nur um gründlich zu sein, zog Niro den dünnen Stoff beiseite und spähte auf einen Hinterhof, der eine Kombination aus Misthaufen, Hühnerauslauf und Lagerplatz offenbarte.

Niro zog den Vorhang wieder zu und richtete sich gerade auf. Mit einem Mal verschwand das bedrohliche Gefühl, dass jemand ihn im Schlaf betrachtet hatte. Es ließ Unruhe zurück.

Niemand in dieser Stadt konnte wissen, wer er war. Die Jahre der Flucht und des fortgesetzten Versteckens hatten ihn verändert. Nicht länger der große Herr auf einem herausgeputzten und schwer gepanzerten Pferd, sondern ein stiller Tagelöhner, der sich nicht zu schade war, im Hafen Schlick zu schaufeln, Ställe auszumisten oder Ladung zu den wartenden Schiffen zu tragen. Niemand konnte den einfachen Mann mit dem anderen verwechseln, den Niro vor vier Jahren begraben musste, als alles ans Tageslicht gekommen war.

Verdammt!

Er schob diese fruchtlosen Gedanken von sich. Das war vergangen und erledigt. Jetzt beschäftigte ihn vielmehr seine Alarmbereitschaft, die durch das Gefühl der Nähe eines anderen Menschen ausgelöst worden war. Alle Sinne waren zur Höchstleistung angespornt und schrien nach sofortigen Gegenmaßnahmen.

Er packte den einzigen Stuhl und schob ihn unter die Türklinke. Dem altersschwachen Riegel traute Niro nicht. Dann zerrte er die dünne Decke vom Bett und verhängte das Fenster damit gründlich und sicher.

Ein Funke flammte in der Zunderbüchse auf, wärmte für einen Moment Niros Finger, bevor er die kleine Lohe an den Kerzendocht hielt und sich bei dessen Licht zum Kleiderschrank umwandte. Nun, eher ein schmalbrüstiger Spind, der schief an der Wand lehnte, um eine offene Feuerstelle zu verstellen. Wärme lieferten in diesem Zimmer die Sonne oder eine Kerze, für mehr war der Hausbesitzer zu geizig. Wer fror, sollte gefälligst in die Schankstube kommen. Die meisten Männer, die sich ein solches Herbergszimmer leisteten, waren Arbeiter im Hafen – wie Niro. Dank harter Arbeit, einem halben Liter Bier und heißer Suppe im Bauch fielen die Männer am Ende des Tages ins Bett und schliefen wie die Steine. Keiner von ihnen hatte Zeit und Muße, am Tag einige Stunden in der Kammer zu hocken und zu frieren.

Niro atmete tief durch, dann rückte er so leise wie möglich den Kleiderschrank von der Wand und fort von der rußigen Aushöhlung, in der früher einmal Flammen gelodert hatten, um durchgefrorene Reisende zu wärmen. In Zeiten, in denen diese Kneipe vielleicht ein kleines, aber feines Gasthaus gewesen war.

Erleichterung schwappte wie eine warme Welle durch Niros Muskeln, als das Kerzenlicht die schwarze Truhe auf dem alten Feuerrost offenbarte, die noch genauso dastand wie vor einigen Tagen, als er zuletzt nach ihr gesehen hatte. Er kniete nieder, prüfte das Schloss, das ihm intakt schien. Alles mutete nach bester Ordnung an, doch Niro musste sich überzeugen. Er öffnete das Schloss und klappte den Deckel auf.

Ein feines Aroma, in diesem dreckigen Loch vollkommen fehl am Platze, stieg ihm entgegen. Lederöl, ein wenig Pferdeschweiß, gewaschene Wolle. Er streckte die Hand aus und legte sie auf die Schuppen des Panzers. Die Kühle des Materials wirkte beruhigend und massiv genug, um die letzten Anflüge von Beklemmung zu vertreiben. Rötlich schimmerndes Metall, das in spitzzulaufenden Schuppen auf eine Unterrüstung aus gestepptem Leder genietet war.

Sanft glitten Niros Fingerkuppen über die Rüstung, bis sie die Stelle fanden, an der früher das Wappen geleuchtet hatte. Raues Metall dort, ein scharfkantiger Dorn, der zur Befestigung des Abzeichens gedient hatte. Das war fort, schon seit vier Jahren, und doch tat es immer noch weh. Eine allzu harte Bestrafung, die er auch jetzt noch nicht anerkennen konnte und wollte.

Er zog die Hand zurück, betrachtete das im Kerzenlicht flackernde Schuppenmetall, beugte sich vor und sah auf die beiden ebenfalls mit Schuppen geschützten Axtstiele. Er ließ die Fingerkuppen über ein Waffenheft gleiten, das mit von Schweiß und Blut schwarz gefärbtem Leder umwickelt war. Wie gemacht, um sich in Niros Hand zu schmiegen. Die gebogenen Waffenköpfe, die wie Keile durch feindliche Rüstungen dringen und Knochen und Fleisch zerhacken konnten. Todbringer.

Niro vermisste diese alte Pracht, die vertrauten Waffen. Doch es wäre Irrsinn und eine direkte Herausforderung aller Königstreuen, die Rüstung auch nur in der Abgeschiedenheit der schmutzigen Kammer anzulegen, so sehr jeder Muskel auch danach verlangte, das altvertraute Gewicht zu spüren, sich in der schützenden Panzerung zu strecken und zu wärmen.

Mit einer energischen Bewegung schloss er die Truhe, verriegelte das Schloss und atmete dann tief durch. Das war vorbei. Seit vier Jahren. Seit der greise Schwachkopf etwas bemerkt und vollkommen überzogen darauf reagiert hatte. Keine Möglichkeit für Niro, auch nur ein vernünftiges Wort mit dem Alten zu reden, sich in irgendeiner Weise zu verteidigen. Nicht einmal das war noch gestattet gewesen.

Dann eben nicht!

Er stand auf, packte den Kleiderschrank und schaffte ihn wieder an den richtigen Platz.

Wer brauchte schon einen alten Narren, der mit einem knappen Winken der welken Hand alles durchriss, was ihn mit Niro verband? Alles leugnete, was Niro für ihn getan und geleistet hatte? Alles in den Staub trat und ein Todesurteil aus gekränkter Selbstüberschätzung sprach? Niro nicht, das stand einmal fest. Der Alte konnte nicht ewig leben. Sein Todestag würde Grund für eine Feier sein.

Tief atmete er durch und ging zum Fenster, zerrte die Decke beiseite und sah nach draußen auf den stinkenden Hof, hob den Blick zur Sonne. Bald war es Zeit. Nicht für den Hafen, wo er nur arbeitete, um eine Erklärung für ein wenig Geld in seiner Börse liefern zu können.

Er lächelte. Nein, nun kam die Zeit für die Arbeit, die ihm sehr viel Besseres als dieses Rattenloch ermöglichen könnte – wenn er denn dumm genug wäre, ein Auffallen und solcherart eine Entdeckung riskieren zu wollen. Haftbefehl und Todesurteil schwebten immer noch über ihm, selbst vier Jahre danach. Seine Flucht war bislang erfolgreich gewesen, und nur weil er sich nach einem heißen Bad, nach einem sauberen Bett sehnte, riskierte Niro keinesfalls sein Leben. Aber es würde guttun, in einem anderen Viertel der Stadt ein gutes Essen einzunehmen – bei einem Straßenhändler gekauft, der in dem großen Kerl nicht gleich den vermeintlichen Hafenarbeiter erkannte.

Mit einem bösen Lächeln öffnete Niro den Kleiderschrank, schob einen langen Mantel beiseite und zerrte das zweite größere Gepäckstück hervor, das er in diese Absteige getragen hatte. Die Truhe in totaler Dunkelheit, damit niemand sie sah. Dieses schwarze Leinenbündel hatte Niro hingegen wie einen Seesack geschultert ganz offen hineingebracht. Jetzt bettete er ihn auf die schmale Liege, zog die Schnüre auf und rollte den Stoff auf.

Metall blinkte bösartig selbst unter der tarnenden Rußschicht. Nette Kleinigkeiten. Der kleine Reiterbogen ruhte in schützender Lederhülle neben dem kurzen Köcher, in dem nur dunkel gefiederte Pfeile steckten, deren Schäfte mit winzigen Markierungen auch in finsterer Nacht gestatten, dass Niro den Richtigen auswählte. Aber nicht für diesen Auftrag. Häuser boten nicht das optimale Betätigungsfeld für einen Bogen, und war dieser noch so handlich. Mitnehmen würde Niro die Waffe trotzdem. Für alle Möglichkeiten gerüstet. Dumme Zufälle durften gerne anderen zustoßen.

Ein Pferd im Mietstall oben auf der Klippe war bereits bestellt. Der Ritt würde nicht länger als eine halbe Stunde dauern, ohne das Tier zu überanstrengen. Einmal mehr ballte Niro die Faust. Seine Pferde, aus seiner eigenen Zucht, hatten ihn leicht getragen. Aber solche Tiere fand man nicht in einem Mietstall. Stuten und Hengste waren zusammen mit dem übrigen Besitz eingezogen worden. Und ausgerechnet in sein altes Zuhause führte ihn der neueste Auftrag. Er lächelte und streichelte zärtlich einen Wurfstern. Nun, dann war es wenigstens ausgeschlossen, dass er sich im Haus verirrte oder in einer Abstellkammer landete.

Er lachte leise auf und wandte sich erneut dem Kleiderschrank zu. Daneben hing auf einem klapprigen Rüstungsständer unter speckigem Leinen die zweite Panzerung. Sollte sie gefunden werden, würde man sich wundern, was ein einfacher Hafenarbeiter mit solcher Ausrüstung anfangen wollte. Doch eine flüchtige Erwähnung des Militärdienstes würde schon ausreichen, um Verdächtigungen zu zerstreuen.

Nur ein Lederpanzer, einfach gearbeitet und schwarz geölt, der eindeutig bessere Tage gesehen hatte. Kein Helm, kein Schwert. Die lange Klinge war für jeden verboten, der nicht zur königlichen Streitmacht gehörte. Ein Bauer würde eine Hand verlieren, wenn man ihn mit einem Schwert erwischte. Ebenso ein vermeintlicher Hafenarbeiter, falls er sich nicht den Fluchtweg freikämpfen konnte.

 

Keine halbe Stunde später befand Niro sich schon auf dem Weg die gewundenen Straßen hinauf zum Kopf der Klippen. Der lange Mantel verbarg Rüstung und Ausstattung, verdeckte Bogen, Seile und Pfeilköcher zulässig. Dunkle Farben ließen Niro selbst in den engen Gassen zwischen den leuchtend bunten Häusern leichter mit den Schatten verschmelzen, ihn kleiner und weniger wuchtig erscheinen.

Aus den Häusern drangen Düfte nach gebratenem Fisch, frischem Brot. Gelächter wehte zu Niro heraus, der stumm Stufen hinaufsprang, eine Abkürzung durch eine besonders enge Gasse nahm, die ihn an einem blühenden Obstgarten vorbeiführte. Unter einer Brücke hindurch, die zwei Häuser in ihren Obergeschossen miteinander verband. Noch eine breite Treppe, dann trat er durch ein Tor, welches das Ende der Stadt markierte, obwohl auf der Ebene oberhalb der Klippe das Leben erst zu beginnen schien. Bäume reckten sich dem abendgrauen Himmel entgegen. Viehweiden, Bauernhöfe und noch mehr Obstgärten. Immer noch prangten die Häuser in allen Farben des Regenbogens, als stritten die Eigentümer sich darum, wessen Gebäude mehr im Sonnenlicht leuchtete. Das Abendrot tauchte alles in die Farbe frischer Glut und konnte doch die Unterschiede nicht ausmerzen.

Niro wandte knapp den Kopf. Zur Rechten ragte die Festung von Amiens Hav auf. Schneeweiß bei Sonnenlicht, sodass es in den Augen schmerzte, in der Mittagsglut zu ihr aufzusehen, wie sie sich krass vom dunkelblauen Himmel abhob. Jetzt schien sie aus einem Stück glühendem Fels gemeißelt worden zu sein.

Mit einem Zähneknirschen, das in den Kiefergelenken schmerzte, richtete Niro den Blick zurück nach vorne und eilte auf den Stall zu, wo ein Pferd auf ihn wartete.

Amiens Hav als Aufenthaltsort war der höchste Unsinn, doch Niro klammerte sich daran fest, dass die Jahre ihn genug verändert hatten, dass niemand in ihm den vormaligen Kommandanten der Festung erkennen konnte. Vier Jahre waren eine lange Zeit. Hinzu kam, dass die Menschen einen Beschützer, ein Symbol in ihm gesehen hatten. Über die rotglänzende Rüstung hinweg hatte doch niemand nach mehr Ausschau gehalten.

Es war der Auftrag, der Niro hierhergebracht hatte, wo er Jahre seines Lebens im Dienste des alten Geizhalses verschwendet hatte!

Nur eine letzte nächtliche Diebestour, und Niro konnte den Staub von Amiens Hav von seinem Mantel schütteln, Truhe und Gepäck mit sich nehmen, ein gutes Pferd kaufen und weit ins Land reiten, das sich wie ein grüner Teppich vor den Hufen des Tieres entrollte. Dieses Reich bot mehr als genug Platz und Gelegenheit für jemanden, der sich nun als seines eigenen Glückes Schmied betätigte und bereit war, einem König mindestens vor die Füße zu spucken.

Die Seuche sollte den alten Schwachkopf holen!

 

Elee hatte den Tag auf einem Möwenfelsen vor der Stadt verbracht, sich in eine dunkle Nische gekuschelt und Amiens Hav mit Blicken verschlungen.

So nah war sie bei Tageslicht der Stadt noch nie gekommen. Sie umschlang die Schienbeine mit den Armen, stützte das Kinn auf die Knie und hüllte sich gegen den Seewind in die Schwingen.

Ein gefallener Held. Ein großer Mann, der die Magie des Herrn auf irgendeine Weise bemerkt und durch sie aus tiefem Schlaf gerissen worden war.

Elee begriff, dass es keinesfalls ein Kinderspiel sein würde, diesem Mann – sterbend, tödlich verwundet – die Seele zu entreißen. Der Herr hatte es als so leicht bezeichnet, doch wenn es das wäre, hätte er die Sache in die eigene Hand genommen.

Nach dem Dolch tastend sagte Elee sich, dass sie selbst wohl kaum Aussicht auf Erfolg haben würde, den riesigen Fremden zu seinen Ahnen zu befördern. Mit einem Angriff aus der Luft konnte er zwar nicht rechnen, aber trotzdem blieb ein mulmiges Gefühl. Wie schnell der Mann sich aufgesetzt hatte! Wie rasch er vom Tiefschlaf zur Wachsamkeit gewechselt hatte.

Außerdem … ein gefallener Held musste in seinem Leben schon einiges durchgemacht haben, um von hellster Anerkennung zu dumpfer Einsamkeit in einer solchen Kaschemme zu gelangen.

Sie versuchte, sich das Gesicht des Fremden klarer in Erinnerung zu rufen. Er musste etwa das Alter des Herrn haben. An Erfahrungen im Kampf mangelte es ihm bestimmt nicht.

Sie schüttelte die Federn sacht aus, als die Sonne unterging und ganz Amiens Hav in roten Widerschein hüllte.

Gut. Selbst umbringen würde vielleicht scheitern. Aber auf einen Versuch musste Elee es ankommen lassen. Wenn das nicht gelang, musste sie andere Wege finden, den Mann dem Tod näher zu bringen. So nahe, dass sie die Seele greifen konnte. Flüchtig war dieses Gespinst aus Energie, Erinnerungen und Resten des Seins. Immer an der Grenze, den Körper zu verlassen.

Das konnte doch nicht so schwierig sein!

Elee stand auf, streckte die nachtschwarzen Schwingen weit und stieß sich von dem kleinen Felsgesims ab, auf dem sie den Tag mit Träumen, Betrachten und Grübeln verbracht hatte. Gelangweilt hatte sie sich keinen Moment lang, nur die vorübergehende Freiheit ebenso genossen wie den Meereswind, der die nackten Zehen kitzelte und die Federn sanft streichelte.

Doch nun wartete Arbeit auf Elee.

 

In einem dichten Hain am Rande der Felder band Niro das Pferd an und hoffte, dass es hier ebenso saumselig verweilen würde, wie es ihn zum Ziel getragen hatte. Wieder klopfte Sehnsucht an und erinnerte ihn an seine eigenen Pferde, von denen nicht ein einziges für den kurzen Weg so unermesslich lange gebraucht und sich jedem Beschleunigungsversuch hartnäckig wiedersetzt hätte.

Im Schatten der Bäume eilte Niro zum Feldrain und überblickte die hohen Halme, die von Büschen gesäumten Wege zwischen den Ackerflächen. Natürlich fand er an jeder entdeckten Einzelheit etwas auszusetzen. Der schwarze Boden war nach dem Pflügen nicht ausreichend geebnet worden. Die Saat hatte man unregelmäßig ausgebracht, und zumindest zwei Dornengebüsche wucherten auf den Weg und würden Fetzen aus Kleidung und Haut der Arbeiter zupfen.

Niro hob den Kopf und blickte zu dem flachen, lang gestreckten Gebäude. Lichter brannten überall. Helle, leichte Vorhänge bewegten sich sanft in der Abendbrise. Feuerkörbe flackerten auf den großzügigen Terrassen in der Nähe der Sonnensegel und gemauerten Gartenteiche. Die Wirtschaftsgebäude lagen ein wenig abseits. Auch dort brannten noch Lampen. Alles in allem wirkte das Anwesen vertraut und doch schmerzhaft fremd.

Niros Kiefermuskeln spannten sich unwillkürlich an. Egal. Auch das hatte der alte Schwachkopf ihm genommen. Also war es nur in Ordnung, wenn Niro den Schmarotzer, der jetzt hier wohnte, um eine Kleinigkeit erleichterte. Immerhin schlummerte der in Niros Bett, aß von den Tellern, die Niros Frau auf dem Markt gekauft hatte. Und ritt vielleicht auf Niros Pferden …

Er setzte sich in Bewegung, lief lautlos und nur als ein Schatten unter vielen die vertrauten Wege entlang, die er selbst im Schlaf gefunden hätte. Einen Umweg nahm er in Kauf, um nicht über den weißen Kies gehen zu müssen, der nachts besonders laut zu knirschen schien.

Dann überwand Niro eine niedrige Balustrade, hinter der er geschmeidig in die Hocke ging, um die Deckung auszunutzen. Wasser plätscherte in einem der kleinen Teiche. Fische in allen Farben des Regenbogens pflegten sich dort zu tummeln und einer reich geschmückten Frau die Brotstückchen zwischen den Fingern hervorzuziehen. Für einen bitteren Moment meinte Niro sogar, das stets aufreizende Lachen der Frau zu vernehmen. Dann verschwand die Einbildung, und zurück blieben dunkle Terrassen, nur sporadisch durch rote Glut in Feuerkörben erhellt.

Es roch nach Wein und kaltem Braten. Der neue Herr des Anwesens hatte genau hier zu Abend gegessen, bevor er sich in Niros Schlafzimmer zurückgezogen hatte. Die Versuchung, den Kerl einfach im Bett mit einem Kissen zu ersticken oder mit bloßen Händen zu erwürgen, flackerte verlockend in Niro auf. Doch dafür war er nicht hierhergekommen.

Stattdessen spähte er angespannt um sich, ob er Wächter entdecken konnte. Nichts und niemand. Niro runzelte die Stirn. Das war beinahe zu einfach für seinen Geschmack. Oder der Kerl war ein noch größerer Dummkopf, als Niro sich in seinen kühnsten Träumen vorstellen konnte. Doch war das nicht zu erwarten gewesen? Seinen besten Mann hatte der König ja in Schimpf und Schande enteignet, der Würden für bar erklärt und zum Tode verurteilt. Was blieb denn da noch übrig außer dem tölpelhaften Bodensatz des Adels?

Wie ein von der Sehne geschnellter Pfeil sprang Niro auf, flog lautlos über die Terrasse, wich aus langer Gewohnheit einer kleinen Treppe aus und sprang stattdessen über eine halbhohe Mauer, hinter der sich der Blumengarten verbarg. Ohne Rücksicht auf die Blüten, an denen er sich selbst nicht mehr erfreuen konnte, rannte Niro geduckt weiter, durch die kleine Pforte, die in den Küchengarten führte, und dort direkt in den Schutz des auf Spalieren gezogenen Weins.

Würzig zog der Duft der zahlreichen Kräuter durch die kühle Luft, während in den Steinen von Mauerwerk und geziegelten Wegen noch die Wärme des Tages anhielt. Wieder sah Niro sich angespannt und wachsam um. Dann erhob er sich behutsam aus der Hocke, wandte sich um und packte die festen Weinranken, die im Laufe von Jahrzehnten armdick gewachsen waren.

Nicht im Geringsten außer Atem zog Niro sich auf das flache Dach des ersten Stocks, rollte zur Seite in den Schatten der nächsten Hauswand und lauschte angespannt. Irgendwo schnaubte ein Pferd, sonst war es still.

Behutsam richtete er sich auf und schlich zum Fenster, das zu einem Badezimmer führte. Seinem Badezimmer.

Die Läden waren noch nicht geschlossen und nicht einmal der Rahmen verriegelt worden. Das Fenster stand sogar einen Spalt offen, um die warmen Schwaden eines genossenen Bads entweichen zu lassen. Der Duft nach Seife und Blütenblättern schlug Niro entgegen, als er über das Sims kletterte und auf dem gefliesten Boden landete. Nasse Handtücher lagen achtlos auf dem Rand der Wanne, in der noch Wasser glitzerte.

Vier schnelle Schritte, und Niro hatte die Tür zum Flur erreicht. Er lauschte auf Geräusche und drückte dann behutsam die Klinke nieder, zog die Tür auf und trat auf den dicken Läufer, der die obere Galerie komplett bedeckte und das Geräusch jeden Schritts verschluckte.

Niro näherte sich dem hölzernen Geländer, fühlte die Wärme der ungezählten Wachskerzen im großen Leuchter, der von der Decke hing und Galerie wie Halle im Erdgeschoß mit gelbem Licht flutete.

Unten stand die große Truhe, wie sie es schon zu Niros Zeiten als Herr über dieses Haus getan hatte. Der selbe runde Teppich aus Seide und weicher Wolle, die Blütenmuster vertraut, als hätte Niro dieses Heim nicht vor vier Jahren verlassen. Auf der anderen Seite der Halle eine Rüstung auf einem hölzernen Gestell. Niros alte Rüstung, die rotleuchtenden Schuppen matt und seit ungezählten Tagen nicht geputzt.

Jetzt knirschte er mit den Zähnen, dass es weh tat. Welcher Schmarotzer schmückte sich mit dieser Panzerung, die Niro für König und Vaterland in Kriege getragen hatte, um die sich die Truppen geschart hatten, um die Befehle des Paladins des Königs zu vernehmen und auszuführen?

 

Elee zog den langen Mantel über die Schwingen, knotete unter dem Kinn die Bänder zu und zog die Kapuze über den Kopf. Sie bebte vor freudiger Aufregung.

Ja, es war wieder Nacht, sodass sie sich möglichst unbemerkt durch die Gassen von Amiens Hav schleichen konnte. Doch hatte sie den ganzen Tag die sonnenbeschienene, bunte Stadt betrachten können. Sie hatte sich ein Haus ausgesucht, das sie besonders schön fand. Einfach so, nicht aus der Erwartung heraus, hier jemals leben zu können. Doch hatte sie sich vorgestellt, wie es wohl sein würde, die Brücke zu überschreiten, die das Haus mit seinem Nachbarn verband und über eine schmale Gasse führte. Beide Seiten des zweigeteilten Heims leuchteten im selben kraftvollen Rosa. Fensterrahmen und auch die Läden wiesen ein dunkles Kobaltblau auf, und vor jedem Fenster, das vom Boden bis zur Decke des dahinterliegenden Raumes reichen musste, befand sich ein kleiner Balkon, an dessen Geländer Körbe und Krüge mit blühenden Blumen befestigt waren. Wie kleine, schneeweiße Wasserfälle ergossen sich die Blüten hängend aus ihren Gefäßen, umhüllten die Metallstäbe des Geländers und wirkten wie stürzende Wolken, wie die Gischt auf dem Meer.

Resolut zog Elee ihren Dolch und verbarg die Hand mit der Waffe in den Falten des Mantels. Dann eilte sie los, barfuß über geschotterte Wege, bis sie die ersten Häuser erreichte und Straßenpflaster unter den Sohlen spürte. Warm noch von der Sonne, die den ganzen Tag die Steine beschienen hatte.

Aufgeregt und voller Freude über die momentane Freiheit schlüpfte Elee in die dunkleren Schatten zwischen den Häusern, deren Fundamente eins waren mit dem Stein der Klippe, in die man die Gebäude gebettet hatte. Sie schienen aus dem Fels zu wachsen, sich in den Abendhimmel zu schrauben und wurden mit jeder Handbreit, die sie sich vom Gestein entfernten, bunter und schöner.

Kerzenlicht und Straßenlaternen beleuchteten die Gassen, wo Händler ihre Stände zusammenbauten, die bunten Markisen aufrollten und Waren in die hinter dem Markstand liegenden Häuser trugen. Der Duft nach Obst, Gewürzen, gebratenem Fleisch hüllte Elee ein.

Zu gerne hätte sie einen der geschäftigen Männer gefragt, ob sie etwas haben dürfte. Nur einen Bissen Brot, ein Stückchen des würzigen, in Fett gebratenen Fleisches. Doch hielten Vorsicht und auch eine gewisse Schüchternheit sie davon ab, während sie sich ihren Weg weiter hinauf suchte.

Eine Frau trug einen Korb voller fremdartig aussehender Früchte in das Haus, blieb stehen, als sie Elee sah, und lächelte. Eine kräftige Hand hob eine leuchtend gelbe, kugelrunde Frucht aus dem großen Korb. »Hier, willst du?«

Elee hatte Mühe, nicht zurückzuzucken, als sie solcherart angesprochen wurde. Sie musste ein Zittern unterdrücken, als sie ihrerseits die Hand ausstreckte. »Darf ich wirklich?« Ihre Stimme klang ihr grell und unsicher in den Ohren.

»Sonst hätte ich es dir nicht angeboten, Kleines. Nimm ruhig. Und dann sieh zu, dass du nach Hause kommst. Es ist doch schon ganz dunkel!«

Ihre Finger berührten sich in dem Augenblick, da die Frucht den Besitz wechselte. Elees Herzschlag raste, aber sie schloss die Hand um das vollkommen unerwartete Geschenk. »Danke«, flüsterte sie, von einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Rührung erfüllt. Noch nie hatte jemand ihr etwas geschenkt!

Die Frau nickte, lächelte noch einmal und verschwand dann mit der restlichen Ware im Haus.

Elee blieb alleine auf der Straße zurück, hob das Geschenk zur Nase und schnupperte daran. Süß und ein wenig würzig, irgendwie wild roch das Obst. Elee schlug die Zähne hinein, riss gierig einen Bissen heraus, der wie Honig und ganz geheimnisvoll schmeckte.

Saft lief ihr über das Kinn, und sie wischte ihn mit dem Handrücken weg, eilte weiter und vertilgte dabei das Obst, das ihren Magen zu wärmen schien und die Sonne zurückbeschwor.

Erst als die Gasse mit der Kneipe erreicht war, wurde Elee klar, dass das Bild der Stadt sich verändert hatte. Noch immer konnte sie im Laternenlicht die strahlenden Farben der Häuser erkennen, doch lag hier Unrat auf der Straße, und auch der Geruch nach Meer war matter geworden.

Dies, so sagte Elee sich, war keine schöne Wohngegend, wo die Menschen sich morgens fröhlich grüßten und keine Angst hatten, einen Fuß vor die Tür zu setzen, kaum dass es dämmerte.

Die Finger fest um das Dolchheft gespannt, ging Elee weiter und achtete darauf, nicht in Dreck, Tonscherben oder stinkende Pfützen zu treten. Sie atmete auf, als sie das in seinen Ketten knarrende Schild der Gastwirtschaft entdeckte. Lautlos huschte Elee zu einem der Fenster neben der Tür, stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte in den Schankraum, den der Herr ihr mit seiner Magie bereits gezeigt hatte.

Gelbes Kerzenlicht flackerte, und an jedem Tisch kauerten Männer. Doch nirgends entdeckte Elee die hochgewachsene Gestalt, wegen der sie gekommen war.

Sie ließ sich wieder auf die Sohlen sinken, sah rasch um sich und huschte dann zu einem großen Durchgang zwischen der Gastwirtschaft und einem Haus mit verschlossenen Läden.

Der Geruch nach Tierdung schlug Elee entgegen. Sie rümpfte die Nase, raffte den Mantel fester an sich und hob deutlich die Schwingen, damit deren Spitzen nicht durch Mist und Jauche schleiften. Schlimm genug, dass der schwarze Dreck die bloßen Füße beschmutzen würde. Zwischen den Zehen hervorquoll und widerlich stank.

Instinktiv wollte Elee sich in die Schwingen hüllen, deren trockenen Duft atmen, um den Gestank nach Mist auszuschließen. Aber sie entsann sich ihrer Tarnung und eilte weiter.

Der Hof war klein und überfüllt. Hühner gackerten träge in einem Verschlag. Ein Schwein grunzte, und scheinbar überall waren Mist und Vorratskisten, Bierfässer, die in der Jauche standen und die widerliche Flüssigkeit in ihr Holz sogen und doch bestimmt den Geschmack an das Getränk weitergaben.

Elee legte den Kopf in den Nacken, entdeckte ein offen stehendes Fenster und zerrte sich in fieberhafter Eile den Mantel über den Kopf, entfaltete die Schwingen und begann, Luft zu schlagen, um die Leichtigkeit des Fliegens zu kämpfen in einem Mauergeviert, das viel zu eng dafür schien. Einmal streifte eine Flügelspitze eine Wand, doch gerade in diesem Moment verlor Elee den Boden unter den Füßen, stieg lautlos auf und streckte eine Hand nach dem Fenstersims aus, zog sich dichter heran. Immer noch schlugen die Schwingen, bis Elee sich mit einem Ruck vorwärtskatapultierte und auf der Fensterbank landete. Sie atmete tief durch und zog die Flügel eng an den Körper. Hastig stieß sie den Vorhang beiseite und sprang mit dem blanken Dolch – in Kopfhöhe erhoben – in das Zimmer.

Leer.

Aber es war das richtige, die Unordnung und der Schmutz vertraut aus dem Bild im Kaminfeuer des Herrn.

Über den Kopfnoten von Schmutz und Männerschweiß nahm Elee den Geruch von Leder und Stahl war. Sie eilte zum Bett, zog die Decke an sich und atmete tief den Duft des Opfers. In jeder Nuance prägte sie sich ein, wonach der Mann roch, so wie sie sein Gesicht mit den vor Anspannung geweiteten Augen genau vor sich sah. Die Erinnerung an die einsatzbereiten Muskeln, als der Hüne so abrupt aufgewacht war, hatte Elee deutlich vor Augen, Ein wenig wie ein wildes Tier, und ebenso alarmbereit und zwischen Flucht und Angriff schwankend. Wobei die Tendenz zum Angriff deutlicher gewesen war.

Eine Gänsehaut überlief Elee. Sie ließ die Decke sinken und blickte in der engen Kammer um sich, prägte sich alles ein, was später für sie wichtig sein könnte. Unvorbereitet wollte sie diesem großen Kerl nicht an die Kehle fliegen. Unbestimmt und doch nicht zu ignorieren machte sich die Gewissheit in Elee breit, dass man diesen Mann nicht überraschen konnte. Wenn das wirklich stimmte, musste sie auf anderem Wege dafür sorgen, dass der Krieger an des Todes Schwelle getragen wurde. Erst dann konnte Elee den Auftrag ihres Herrn erfüllen.

Doch wo steckte der gefallene Held nun? Siedend heiß fiel ihr die Karte ein, die der Herr ihr zugesteckt hatte. Mit fliegenden Fingern zerrte Elee das Pergament aus ihrem Bündel und entrollte die Karte. Es brauchte einen Augenblick, bis Elee sich orientieren konnte. Sie hatte einen Überblick über Amiens Hav erwartet, doch die Zeichnung zeigte sehr viel mehr. Vielleicht sogar das ganze Königreich.

In der leicht gezierten Handschrift des Herrn waren Orte markiert – und nummeriert. Der Herr wusste gewiss, dass Elee es nicht ganz im Handumdrehen schaffen würde, den großen Krieger seiner Seele zu berauben. Stationen einer Reise waren auf dem Pergament vermerkt. Rückfalloptionen, falls Elee bei den ersten Versuchen scheiterte. Woher auch immer der Herr die möglichen Reisewege der Beute kannte, er hatte sie auf dem Pergament vermerkt, das eine Welt zeigte, die Elee nicht kannte:

Hier Amiens Hav und der Turm im Meer, dort die Hauptstadt, eine rote Linie die Grenze zu den Nachbarreichen, die Wasserfälle mitten im Land ein Hindernis, das Menschen zur Verzweiflung treiben könnte. Die Bergreihe in Richtung des Sonnenaufgangs, die Ebenen, Felder, kleineren Städte. Alles war da und zeigte Elee, wie groß die Welt war, von der sie erst so wenig gesehen hatte, dass alleine diese Karte sie schwindelig machte.

Die Ziffer Eins beschrieb ein Haus gar nicht weit von Amiens Hav auf der Klippenhochebene. Daneben in winziger Schrift letzte Instruktionen.

Elee atmete tief durch, verstaute diesen kostbaren Reisebegleiter wieder in ihrem Bündel und stopfte auch den Mantel gleich hinterher, bevor sie auf das Fenstersims stieg und die Schwingen über dem stinkenden Hof ausbreitete. Nicht hoch genug für einen perfekten Abflug. Aber doch eine Erleichterung gegenüber einem Standort am Boden.

Eine leichte Brise fuhr durch die Federn, Mondlicht ließ sie erglänzen, tauchte sie für einen Moment in silbriges Licht, sodass sie grau statt schwarz erschienen. Langsam hoben und senkten die Flügel sich, und Elee sprang von der Fensterbank in die laue Luft der Meeresbrise, schlug mit den Schwingen und gewann an Höhe, flog über die Mauer hinweg, die den Hinterhof von seinen Nachbarn abgrenzte.

2.

Die Falle

 

Niro trat von der Brüstung zurück, wandte sich gemächlich nach links und schritt auf die Tür zu seinem eigenen Schlafzimmer zu. Dort lagen der Schatz und ein feiger Schmarotzer.

Unwillkürlich ballten Niros Hände sich zu Fäusten. Er lockerte die Finger wieder und ging weiter. Der Geruch des Hauses hatte sich verändert. Ein saurer Mief wie von Essig hing in der Luft, die früher nur vom Duft nach Blumen und frischem Heu geschwängert gewesen war.

Vor Niro ragte dunkel die Tür auf, und er blieb einen Moment stehen, sammelte sich, bevor er behutsam die Klinke niederdrückte und wie ein Schatten in das Zimmer glitt, sich dicht an die Wand presste und die Pforte lautlos ins Schloss zog. Seine Finger glitten tiefer, fanden den runden Griff des Schlüssels. Es klickte leise, als Niro die Tür verriegelte.

Seine Kiefermuskeln spannten sich an. Ein Beben durchlief die gewaltige Rückenmuskulatur, die sich ebenfalls leicht verhärtete und erwärmte.

Wie Nebelschwaden bewegten sich die hauchdünnen Vorhänge rund um das Bett in der milden Abendluft, die durch das Fenster hereinströmte. Grillen zirpten im Garten, der Geruch des Rauchs aus den Feuerkörben wehte ins Zimmer. Im Bett schemenhaft eine Gestalt, die sich bis zur Kehle zugedeckt hatte. Ein massiger Arm auf der Bettdecke, ein dunkler Kopf auf dem Kissen.

In Niros Bett. Für einen Moment musste er die Augen schließen, während ein bitterer Geschmack ihm in die Kehle stieg. Dann hatte er sich endlich wieder im Griff, sah sich kurz um, und wie erwartet stand die Vitrine aus dunklem Holz immer noch seitlich der Feuerstelle.

Niro verdiente sich seinen Lebensunterhalt mit kleineren Diebstählen, mit Aufträgen zu größeren Raubzügen, mit Einbrüchen, um Kostbarkeiten für zahlende Kunden zu beschaffen. Er hatte auch anderes schon getan und sich weise im Voraus bezahlen lassen. Taten, auf die er durchaus nicht stolz war, die sein Gewissen als Soldat aber nicht sonderlich belasteten. Seinen Hauptauftraggeber hatte er niemals zu Gesicht bekommen, aber der Kerl musste in Gold schwimmen und sich an den merkwürdigsten Dingen erfreuen. Die Liste der Einbrüche war lang und Niro überzeugt, dass der Ramsch, den der Kerl zum Teil unbedingt besitzen wollte, nicht ein Zehntel des Lohns wert sein konnte. Aber das sollte Niro nicht stören.

Langsam ging er über den dicken Fellteppich zur Vitrine, immer ein waches Auge auf den Schläfer in jenem breiten Bett, in dem Niro die Nächte neben Talany verbracht hatte, bis er verhaftet worden war. Götter! Sie hatten es gewagt, den Paladin des Königs, Niro von Amiens Hav, in Ketten zu schlagen. Sie hatten Glück gehabt, dass er noch so viel Selbstbeherrschung besessen hatte, sie nicht allesamt zu erschlagen und zu ihren Ahnen zu senden, bevor sie noch begriffen, dass Stahl in ihre Schädel und Brustkörbe eingeschlagen war. Bis zuletzt hatte Niro gedacht, dass ein schiefes Grinsen, eine Entschuldigung und der reine Anblick seines Paladins den alten König wieder zur Vernunft bringen würden.

Niro hatte sich geirrt. Verdammt.

Es kostete ihn beinahe körperliche Anstrengung, diese Bilder von sich zu schieben. Schuld war seine Umgebung, er wusste es. Sein Haus, sein Schlafzimmer, sein Bett – mit einem fremden Schmarotzer darin, der sich wie eine Made im Speck in fremdes Eigentum gefressen und dort eingenistet hatte.

Doch deswegen war Niro nicht hier. Er hatte einen Auftrag, und diesen gedachte er, mit üblicher Zuverlässigkeit und Präzision zu erfüllen. Eine Vase aus Alabaster, fein geschliffen, sodass Sonnenlicht durch sie hindurch scheinen konnte. Im Hochrelief erschienen Szenen aus einer Göttergeburt auf dem edlen Stein. Augen, Lippen und natürlich jene Körperstellen, die für Geburten und vor allem Götterzeugung wichtig waren, akzentuiert mit Blattgold.

Ein scheußliches Ding, das Talany unbedingt hatte haben wollen. Was nützte es dem Weib jetzt? Wo auch immer Talany inzwischen steckte, die Vase bekam Niros geheimnisvoller Auftraggeber, für den Niro kreuz und quer durch das Reich gezogen war. Das Wiedersehen mit Amiens Hav war schmerzhaft gewesen, das gab Niro zu. Der Einbruch in das eigene Haus hatte etwas Lächerliches und war trotzdem gefüllt mit Bitterkeit. Die Vase hingegen … das konnte er wirklich als komisch ansehen.

Lautlos öffnete er die Vitrine, hob die Alabasterscheußlichkeit hervor, wickelte sie in ein Tuch und verstaute sie im Bündel, bevor er die Glastür wieder schloss.

Der Fremde im Bett schnarchte mit einem Mal, und Niro zuckte zusammen. Den widerlichen Kerl hatte er beinahe vollkommen aus seinen Gedanken verdrängt.

Lautlos ging Niro über die Felle zurück zur Tür des Schlafzimmers. Irgendwie juckte es ihn in den Fingern, dem Schnarcher eine Nachricht zu hinterlassen. Und wenn er nur an den Bettpfosten pinkelte. Aber das widerstrebte Niro im gleichen Augenblick, in dem er noch darüber lächelte. Immerhin war das sein eigenes Bett, und der röchelnde Kerl darin war der Fremdkörper, die Entweihung.

Niro blieb am Fußende des breiten Schlaflagers stehen und sah durch die sich wie Spinnweben in der Brise bewegenden Vorhänge auf das feiste Gesicht, den Bartschatten, die in alle Richtungen stehenden Haare. Es juckte ihn in den Fingern – nicht für eine Nachricht, einen derben Scherz, sondern diesem Mann die Kehle zuzudrücken.

Doch so tief gesunken war er noch nicht, sagte Niro sich, um gegen den immer stärkeren Drang anzukämpfen, dass er einen Mann im Schlaf ermordete.

Mit einem Mal erklang draußen Lärm wie von schnellen Schritten, von klappernden Rüstungen. Niro wandte verwundert den Kopf, blieb aber, wo er war. Wachwechsel? Nein, unmöglich, es hatte nicht einen einzigen Wächter gegeben, als Niro sich dem Anwesen näherte. Er schoss einen Blick zurück zu der Made im Bett, doch die rührte sich nicht.

Niro eilte zum Fenster und spähte nach draußen. Auf der Terrasse sammelten sich Soldaten. Im flackernden Feuerschein konnte er ihre Wappen und Waffenröcke ausmachen. Keine Männer des Königs. Das war sehr viel wert. Vielleicht war einfach ein übereifriger Hauptmann in die Unterkunft der Soldaten gekommen und hatte das faule Pack aufgescheucht, weil niemand an eine Nachtwache dachte. Das würde vor allem die Eile der Männer erklären. Gefallen konnte Niro selbst das nicht. Doch machte er sich keine Sorgen um seinen Rückzug. Niemand kannte dieses Anwesen so gut wie er. Es gab so viele Wege und Verstecke, die Niro nutzen konnte – und würde, während die Wachmannschaft noch Aufstellung bezog.

»Wir haben auf dich gewartet, Niro. Paladin von Amiens Hav. Hast du eine Ahnung, welcher Preis auf deinen Kopf steht?« Das Rascheln der Decke begleitete diese Worte.

Langsam und würdevoll drehte Niro sich um. Er wusste um die Wirkung seiner Körpergröße und Muskelmasse, und dass viele Leute ihn für einen langsamen Klotz hielten. Und wie sehr sie sich irrten.

Der Schmarotzer hatte sich aufgesetzt und zielte mit einer kleinen Armbrust auf Niro. Mondlicht glitzerte kalt auf dem metallenen Bolzen. »Und ich kriege dieses Vermögen sogar, wenn du schon am Vergammeln bist, du Dreckskerl.«

»Das wäre aber eine Unannehmlichkeit, der du dich da unterziehen würdest. Ich hab ziemlich viel Fleisch, das gammeln und stinken könnte. Außerdem liegst du in meinem Bett.«

Diese Unverfrorenheit war Absicht, aber Niro hätte auch gar nichts anderes sagen können. Jetzt wäre es schön gewesen, wenn der Kerl mit der Armbrust einen feuchten, gelben Fleck in der Bettwäsche entdeckt hätte. Eine Ablenkung war nämlich genau das, was Niro nun brauchte. Nur einen Wimpernschlag lang Unaufmerksamkeit.

»Die Schätze des Königs würden mich schon entschädigen«, gab der Mann zurück und beging einen Fehler, von dem Niro nicht einmal zu träumen gewagt hätte, dass jemand so unermesslich dämlich sein könnte: Mit der Rechten hielt der Mann die Armbrust und packte mit der anderen Hand den oberen Saum der Bettdecke, um sich aus dem Stoff zu befreien. Nur für den Bruchteil eines Augenblicks flackerte der Blick des Mannes von Niro nach unten. Mehr brauchte es nicht.

Niro war groß und schwer, aber er besaß eine Schnelligkeit, um die ihn viele jüngere und erheblich agiler aussehende Männer beneideten. Es waren nur zwei Schritte, die er in einem Satz hinter sich brachte. Er stieß sich kraftvoll vom Boden ab, konnte die drohende Armbrust beiseite schlagen und auf das Bett gelangen.

Und der Idiot klammerte sich an der Waffe fest und versuchte, erneut auf Niro zu zielen, obwohl der längst bei ihm war, das rechte Bein über den Kerl warf und rittlings auf dessen Bauch zu sitzen kam – mit einem Gewichtseinsatz, der dem Mann den Atem aus dem Körper presste, noch bevor Niros rechte Hand sich wie eine Stahlklammer um den Hals des Gegners schloss.

Weiches Fleisch, unter dem die Adern hektisch pochten und der Kehlkopf auf- und absprang wie ein verrückt gewordenes Kaninchen.

Niro lächelte und drückte zu. Bewegte sich dabei auf den Knien ganz leicht nach vorne, um mehr seines Eigengewichts auf die Hand wirken zu lassen, die sich tief in feindliches Fleisch grub, während in den Augen des Mannes kleine Äderchen platzten, bis das Weiß in Rot verschwamm. Wie ein Fisch auf dem Trockenen schnappte der Kerl nach Luft, die nicht mehr durch die Luftröhre in die Lungen gelangen konnte. Die Hand mit der Armbrust zuckte unkontrolliert. Der Bolzen löste sich aus der Haltevorrichtung und schoss sinnlos durch das Zimmer, zerschlug den Kerzenhalter auf der Kommode neben dem Bett. Der Mann strampelte, wand sich, krallte die Fingernägel in Niros Unterarm.

Mit einem Ruck beugte Niro sich weiter vor, und es knackte und knirschte unter seiner Hand. Ein letzter Schauder rann durch die Made, dann lag der Mann still.

Schwungvoll katapultierte Niro sich aus dem Bett, landete lautlos auf dem Fellteppich und raffte sein Bündel an sich. Er warf sich die Riemen über die Schulter, griff an seinen Gürtel und fand dort erwartungsgemäß nur den Dolch. Eine wahrhaft kümmerliche Ausrüstung, um sich mit einer kleinen Armee von Wächtern anzulegen.

Er lächelte wieder und setzte sich eilig in Bewegung, das Schlafzimmer zu verlassen, das nun wirklich nach einem eingenässten Bett stank.

Lautlos trat Niro aus dem Zimmer zurück auf die Galerie. Einen Herzschlag lang verharrte er in den Schatten und wartete. Der Kerl im Bett hatte gesagt, man hätte mit Niros Erscheinen gerechnet. Das klang gar nicht gut. Über die Hintergründe konnte er später nachdenken. Im Augenblick zählte nur, den Häschern zu entkommen, die meinten, sie könnten sich mit ihm anlegen. Ein Wunder, dass die Kerle noch nicht ins Schlafzimmer geplatzt waren!

Schwachköpfe! Er war schon mit größeren Kriegertruppen fertiggeworden. Allerdings war er da zugegebenermaßen beritten und erheblich besser ausgerüstet gewesen.

Sein Blick flackerte in die Halle zur unpolierten Rüstung. Das Grinsen tauchte wieder auf, kerbte sich tief in die Mundwinkel, und Niro hatte Mühe, ein Auflachen zu unterdrücken.

Er rannte über die Galerie zur breiten Treppe in die Halle, sprang die Stufen zwei und drei auf einmal nehmend hinab und dann mit Schwung gegen die Tür hinter seiner Rüstung. Das Schmuckstück nun anzulegen, würde viel zu lange dauern. Aber hier befanden sich die Waffenkammer … und vier Kerle, die offenkundig auf einen übermütigen Einbrecher gelauert hatten!

»Fünf Dummköpfe – ein Gedanke«, brachte Niro hervor, bevor er den Dolch in die erste Kehle rammte, die Klinge mit einem Ruck aus dem zusammensinkenden Körper befreite und in eine Drehung flog, während der er den Stahl in die Linke wechseln ließ. Niro rang scharf nach Atem und nutze den Schwung, um einen zweiten Mann zu Boden zu schicken und gleichzeitig nach dessen Streitkolben zu greifen. Die zuckenden Finger des Sterbenden gaben das Waffenheft leicht genug frei.

Einer der Überlebenden holte Luft, um einen Alarmruf abzusenden. Der von unten heranrasende Streitkolben schloss ihm nicht nur effektiv das Maul, sondern riss den Kopf vom Hals und ließ den Soldaten vom Schwung rückwärts in die Waffengestelle fliegen.

Der Dolch zuckte wie eine Schlange vor und bohrte sich bis zum Heft in die Augenhöhle des letzten Wächters.

Niro stand alleine in einem nach Blut und menschlichen Ausscheidungen stinkenden Raum und wusste nun sicher, dass der Schmarotzer im Bett die Wahrheit gesagt hatte. Man hatte ihn erwartet. Der Auftrag war nichts anderes als eine Falle – und die Made ein noch größerer Hohlkopf als Niro. Wie hatte der Kerl nur so überheblich sein können, sich ohne Wachen schlafen zu legen? Er musste auf die Männer außerhalb des Hauses gebaut haben. Verdammt.

Niro schob den Dolch in den Gürtel, ließ den Streitkolben fallen und bediente sich aus seiner Waffenkammer. Vier Jahre! Und hier sah es aus wie an jenem Tag, als die Soldaten des Königs ihn aus dem Bett geholt hatten.

Zwei kleine, handliche Kriegsäxte, schlicht und tödlich und Niro vollkommen vertraut. Er atmete tief durch. Von hier kam er leicht in die Felder, wo er Verfolger abschütteln konnte. Besaß der Hauptmann der Wache aber nur eine Unze Hirn, wusste der Kerl das und sorgte dafür, diesen Weg unpassierbar zu machen. Vielleicht hatte er Bogenschützen auf dem Dach.

Diese Lederrüstung war leicht und bot ein wenig Schutz. Kein Vergleich mit dem Metallschuppenpanzer. Doch Niro hatte das sichere Gefühl, keine Zeit zu haben. Außerdem war das Ding in der Halle seit Jahren nicht gepflegt worden. Ein unkalkulierbares Risiko. Und der andere Paladinpanzer steckte in der Truhe in der Gastwirtschaft.

Der Fluchtweg durch die Felder schied aus, beschloss Niro. Zu vorhersehbar. Die Wächter wussten, dass er sich hier auskannte. Das bewiesen die vier Toten in der Waffenkammer. Je länger er hier herumstand, desto eher würden weitere Truppenteile zu ihm aufschließen.

Er spähte in die Halle, zur großen Haustür. Diese schwang auf, und ein ganzer Trupp Bewaffneter stürmte im Laufschritt die Treppe hinauf. Niro wartete, dass die Kerle die obere Galerie erreichten. Angespannt lauschte er auf das Geräusch der Schlafzimmertür. Dann rannte er los. Um Lautlosigkeit bemüht bog er in den Seitenflügel zu Speisesaal und Küchentrakt ein. Niro folgte einer Treppe am Ende des Flures nach unten. Er horchte auf Geräusche der Wächterhorden. Es konnte nicht bei der einen Gruppe bleiben. Die würde ohnehin gleich Alarm auslösen. Es wurde eng, und Niro rannte schneller. Er knirschte mit den Zähnen, spürte den vertrauten Schmerz in den Kiefergelenken. Im gleichen Augenblick erreichte er die schwere Holztür zum Weinkeller und zu den anderen Vorratsräumen.

Wie der Blitz schoss er in die dunklen, von Säulen gestützten Hallen, rannte an den bauchigen Fässern vorbei, über den mit gebrannten Ziegeln gepflasterten Hauptweg durch den dunklen Irrgarten. Voraus das Tor zum Hauptvorratsraum, rechts eine kleinere Pforte zur Milchkammer. Dorthinein schlüpfte Niro, zog die Tür hinter sich zu, atmete tief durch und spürte den Dunst nach Käse in der Lunge. Kühl und feucht mit einem Hauch Schimmel. Die Milchmädchen waren also auch schlampig geworden. So hatte es hier früher nie gerochen.

Er schob beide Axtstiele von oben in seinen Gürtel, packte eine der Milchtonnen mit metallenem Deckel und rückte das schwere Rund zu einem der Fenster. Dann kletterte er auf die Tonne und drückte das kleine Glasgeviert behutsam auf, um sich einen Überblick zu verschaffen, wie es draußen aussah.

Dunkel und erstaunlich still. Lichtschein kam nur von den Stallungen und Wirtschaftsgebäuden. Wieder erreichte der Duft nach Pferden Niro.

Verdammt, warum nicht? Mit ein wenig Glück waren nicht alle seine Zuchttiere verkauft und über das ganze Königreich verteilt worden. Vielleicht war noch ein Tier da, das er kannte, das ihn erkennen mochte – und das ihn auch mitsamt voller Ausrüstung tragen konnte.

Niro sprang vom Fass, entriegelte die Außentür und rannte die Schräge hinauf, über welche die Milchwagen in die Meierei gerollt wurden. Geduckt hetzte er zum Obstgarten, wo die Bäume und Beerensträucher ihm ein wenig Deckung verliehen.

Rechneten seine Gegner damit, dass er sich ein Pferd suchen würde? War dieser Weg der richtige? Er hatte keine Ahnung, aber er musste schnell sein, in Bewegung bleiben und seine Ortskenntnis ausnutzen. Keine Zeit, einen vernünftigen Rückzugsplan auszudenken.

Jemand schrie und klang außerordentlich zornig dabei. Jetzt rasselten überall Rüstungen und strebten auf den Ursprung des Gebrülls zu. Wahrscheinlich war der Kadaver im Bett entdeckt worden. Niro sollte es nur recht sein, wenn die Idioten erst einmal alle ins Haus rannten. Das verschaffte ihm einen freien Weg zu den Stallungen.

Seine Lippen formten ein Stoßgebet zu den Göttern, und Niro biss sich auf die Zunge, um diesen Unsinn zu unterbrechen. Das machte vielleicht ein Paladin vor einer Schlacht. Aber ein vogelfreier Dieb, dem die Todesstrafe drohte, sollte man ihn erwischen, konnte kaum auf Gehör seitens des blasierten Packs hoffen. Die kümmerten sich um Prinzen und schöne Damen, störten sich nicht einen Dreck um arme Leute, Hungernde und die arbeitende Bevölkerung – zu der Niro sich von ganzem Herzen hinzurechnete.

Statt also sinnlose Worte an taube Ohren zu schicken, sparte er sich den Atem für einen Lauf Richtung Stallungen, nur um nach weniger als hundert Ellen lautlos zu fluchen und sich in Richtung der Schweineausläufe zu werfen, wo er hinter niedrigen Stallbauten Deckung suchte.

Man hatte ihn nicht nur in diesem Anwesen erwartet und in der Waffenkammer auf ihn gelauert. Die drei Kerle, die rund um einen Feuerkorb hockten, mit Wollumhängen und dicken Stiefeln, hatten im Leben noch keine Mistforke berührt. Niro war Krieger genug, um Soldaten auf den ersten Blick zu erkennen. So hockte kein Knecht nach vollbrachtem Tagewerk am Feuer. So sah kein Bauer um sich, geduckt und sprungbereit.

Drei nur. Unter normalen Umständen überhaupt kein Problem, aber Niro legte keinerlei Wert darauf, Aufmerksamkeit auf seinen derzeitigen Standort zu lenken. Er hob den Kopf, betrachtete das Dach des Pferdestalls und grinste. Liebevoll streichelte er einen Axtkopf, der hart gegen seine Bauchdecke drückte und danach zu schreien schien, sich in feindliches Fleisch zu versenken. Doch das kam später. Vielleicht.

Niro hetzte geduckt weiter, umrundete das Areal der Schweine, das aus kleinen Ausläufen vor Backsteinhütten bestand. Matsch bedeckte auch die Wege zwischen den abgezäunten Grundstücken, was ein schnelles Vorwärtskommen erschwerte.

Beinahe zu spät entdeckte Niro zwei weitere Soldaten, die sich nicht der Mühe der Tarnung als Knechte unterzogen hatten, sondern im Windschatten einer Schweinehütte standen und scharf stinkenden Alkohol aus einer Korbflasche in ihre Kehlen schütteten

Die altvertraute Wut kochte in Niro hoch. So sah es nicht nur hier aus. Das ganze Reich zerfiel, weil dieser Schwachkopf von König der Meinung gewesen war, dass Gold mehr zählte als ein Paladin, der sein Handwerk verstand. So wie diese Wächter faulpelzten, gab es überall im Reich Wachtürme, die leer standen, während die Mannschaften sich in Kneipen betranken oder herumhurten. In Amiens Hav war dies ebenso spürbar gewesen wie auf dem Weg hierher durch verschlafene Weiler und Städte. Niro mochte sich nicht vorstellen, wie es in der Hauptstadt aussah.

Der alte Narr! Statt seinen Kopf zu benutzen und Niros großzügige Auslegung der gerechten Verteilung von Steuergeldern milde zu betrachten, hatte der König auf Ratgeber und den Magier gehört und alles verpfuscht! Was immer Niro mühsam aufgebaut hatte, der König ließ es vor die Hunde gehen und verstand wahrscheinlich noch nicht einmal, welchen Verlust er dem Reich und sich selbst zugefügt hatte.

Lautlos pirschte Niro sich an die beiden Wächter an, zog die Äxte aus dem Gürtel, streifte die Lederschlaufen über die Handgelenke und sprang aus dem Schatten.

Die Korbflasche fiel als erstes zu Boden, wobei sie dank der Ummantelung und des allgegenwärtigen Morasts kein Geräusch verursachte und auch nicht zerschellte.

Es zischte leise und tödlich, als beide Äxte in perfekten Halbmondlinien von oben hinab rasten und sich bis zum Stiel in den Schädeln der Soldaten begruben. Die Körper gingen noch zuckend zu Boden. Dann war es auch schon vorbei, und Niro hatte den freien Weg zu den Heulagern vor sich.

Er war noch nicht einmal außer Atem, als er die großen Gebäude erreichte, einen absichernden Blick zu den Pferdeställen hinüberwarf und dann eilig nach oben kletterte. Eine Leiter brauchte er nicht, denn die Außenwand der großen Heuhalle war aus Geflecht errichtet worden, damit die Vorräte im Inneren ausreichend belüftet werden konnten. Ein Kinderspiel, bis auf das Dach zu gelangen.

Und nicht einen Augenblick zu früh, wie Niro erkannte, als er flach auf dem Bauch lag und nach unten zu den drei vermeintlichen Knechten sah. Die hatten Verstärkung bekommen, sprangen auf und warfen die Umhänge von sich. Das ganze Pack war in hellem Aufruhr. Möglich, dass mehr als nur die Leiche im Bett entdeckt worden war. Vier in der Waffenkammer, zwei bei den Schweinekoben. Niro fand, dass er noch recht rücksichtsvoll vorgegangen war. Er grinste. Das würde sich ändern. Das konnte er versprechen. So sprang man nicht ungestraft mit ihm um.

Langsam und vorsichtig robbte er über das Dach. Auf halber Strecke gab es eine Verbindung zum Pferdestall. Genau dort wollte er auf die andere Seite wechseln, durch eine Dachluke in den Stall gelangen. Niro konnte nur hoffen, dass dort niemand sein würde, der ihn verriet. Aber im Ernstfall konnte er eine Axt werfen. Tödlich auf dreißig Schritte. Er hatte es oft genug auf dem Kasernenhof der Hauptstadt Tolonis Hald vorgeführt und seine Rekruten damit zum Staunen gebracht.

Die Soldaten unter ihm rannten rund um die Stallgebäude, ganz offensichtlich auf der Suche nach ihm. Jemand rief etwas, und ein Teil der Männer wandte sich Richtung Schweinestallungen. Nur ein Teil, verdammt.

Niro erhob sich auf die Knie, immer noch tief geduckt, fand auf die Füße und flog nahezu über das Dach des Verbindungsgebäudes. Wo er sich auf der anderen Seite flach auf den Bauch warf und atemlos wartete, ob er vielleicht doch entdeckt worden war. Nichts, nur die Schritte der Männer unten auf den gepflasterten Wirtschaftswegen. Leise Unterhaltungen, geflüsterte Befehle, halblaute Verweise für Nachlässigkeit. Klar und deutlich in der Nacht zu vernehmen: »Mir egal, dass es tot oder lebendig heißt. Ich bringe das Schwein um, wenn ich die Gelegenheit dazu habe.«

Kopfschüttelnd über diese Anmaßung kroch Niro zu einer Dachluke, entriegelte sie mit dem Dolch und schlüpfte in dunkle, nach Pferden duftende Wärme. Er verharrte auf einem Knie auf einem Stützbalken und wartete geduldig, bis seine Augen sich an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten.

Mühsam unterdrückte Niro ein überraschtes Keuchen und konnte nur noch fassungslos starren.

Auf der Stallgasse stand Arlin. Unverkennbar. Unter Tausenden hätte Niro ihn wiedererkannt. Der kleine, wilde Kopf, die überreichlich fließende Mähne, der gebogene Hals über der breiten Brust, in der ein furchtloses Herz und eine gemeine Seele wohnten.

Der Hengst war gesattelt, die Konturen unter der Decke, welche die Flanken umwehte, waren eindeutig. Funken stoben auf, als Arlin mit einem Vorderhuf auf den Boden hämmerte.

»Still, mein Schöner«, wisperte eine alte Stimme genau die Worte, die Niro dem Pferd am liebsten zugeflüstert hätte. »Dein Herr kommt, mein Schöner. Er kann nicht mehr fern sein.«

»Karon?«, rief Niro leise, und die Antwort des alten Knechts ging im donnernden Wiehern des Hengstes unter.

Niro glitt vom Balken, baumelte einen Moment lang in der Luft und ließ sich dann in eine Pferdebox fallen. Die Stute darin sprang erschrocken beiseite, aber da war er schon draußen und verriegelte das Gatter hinter sich.

Arlin schlug erneut mit dem Vorderhuf auf das Pflaster der Stallgasse.

»Ruhig«, befahl Niro leise, wie er es immer getan hatte.

Der Hengst schnaubte, stand dann aber still. Der Knecht streckte eine Hand nach Niro aus, die dieser warm mit seinen beiden umschloss.

»Herr, ich habe alles vorbereitet …«

»Sie werden wissen, dass du mir geholfen hast, alter Narr.«

Karon lachte leise auf. »Das hätten sie wohl gerne. Den ganzen Tag summte das Anwesen vor Aufregung, weil sie mit deinem Kommen rechneten. Aber die Suppe versalzen wir ihnen. Wir gehen jetzt zum großen Tor da drüben am Ende der Stallgasse, Herr. Da werde ich Alarm schreien, bis mir die Ohren wehtun. Ich wäre dankbar, wenn du mich dann kräftig niederschlagen könntest. Das Tor ist verriegelt, die Wächter kommen da nicht herein. Und bis sie es aufgebrochen haben oder zur anderen Seite des Gebäudes gerannt sind, bist du schon über alle Berge.«

»Was hast du dir nur ausgedacht, Karon?«

»Ich hatte den ganzen Tag Zeit. Keine Sorge, Arlin ist frisch. Seit deinem Fortgang habe ich ihm immer Hafer gegeben, damit kein Fremder sich in seinen Sattel traut und ihm das Maul verdirbt oder ihm Unartigkeiten beibringt. Sieh zur anderen Seite, Herr. Siehst du das Seil von der Decke hängen?«

Niro nickte.

»Du reitest im Galopp die Stallgasse entlang und packst das Seil, Herr. Dann schwingt das Tor da drüben auf wie von Götterhand bewegt. Und die dummen Wächter werden alle hier oben an der Tür rütteln.«

»Ich entsinne mich, dass du früher nicht ganz so erbaut warst, wenn ich Streiche ausgeheckt habe.«

»Da habe ich deren Sinn und Zweck auch noch nicht verstanden, Herr. Bitte sei vorsichtig. Ich weiß nicht, wer den dummen Kerl, der sich jetzt Herr nennen lässt, benachrichtigt hat, aber dein Erscheinen beweist, dass der Denunziant wusste, was er ausplauderte. Bevor ich es vergesse: Grüße soll ich von Fürst Rheidan bestellen. Er lässt dir ausrichten, dass er immer noch dein Freund ist.« Karon legte den Finger auf die Lippen, denn sie hatten das Tor, vor dem die drei Wächter sich als Knechte zu tarnen versucht hatten, fast erreicht. Dann lächelte der Alte, drückte Niros Hand fest und flüsterte kaum hörbar: »Ich schreie gleich, Herr. Steig auf, und dann schlag mich nieder, wenn du mich liebst.«

»Ich liebe dich, Karon, und ich kann dir diese Hilfe vielleicht niemals wirklich vergelten.«

»Doch, Herr. Indem du dich nicht erwischen lässt. Jetzt verlässt mein schöner Prinz mich auch noch, und ich muss mich mit Ackergäulen und dem Kroppzeug, was der eingebildete Fatzke Pferd nennt, begnügen.« Er streichelte Arlins weiche Nüstern und zog dann die Decke vom Pferdekörper. Darunter kam eine leichte Panzerung vom Vorschein. Nicht so schwer, dass es ratsam wäre, eine Wand von entgegen gereckten Speeren niederzureiten, aber schützend genug, um einen Pfeil abzufangen, der dem Reiter gegolten hätte. Niemand, der klar bei Verstand war, würde ein Prachtexemplar wie Arlin absichtlich verletzen oder gar töten wollen!

 

Feuerschein erhellte das große Anwesen an allen Ecken und Enden. Soldaten rannten mit Fackeln umher. Selten zuvor hatte Elee ein solches Durcheinander gesehen. Selbst in den engen Gassen von Amiens Hav war es geordneter zugegangen.

Dann erkannte sie eine grobe Richtung, in der alles Licht und alle Männer strömten: ein lang gestrecktes Gebäude, das nach Pferd roch. Soldaten warfen sich gegen ein großes Tor an dem einen Ende, schrien sich gegenseitig Befehle zu und hämmerten mit bloßen Fäusten gegen das Holz.

Elee fand das sehr unsinnig. Außerdem vernahm sie hämmernden Donner im Inneren des Gebäudes, der sich von diesem Tor entfernte. Es klang nach einer göttlichen Urgewalt. Stählerner Gleichtakt auf Stein. Elee beeilte sich, auf dem Dach nahe der den Soldaten abgewandten Stirnseite zu landen. Soviel Schwung hatte sie noch, dass sie etliche Schritte über die Dachschindeln laufen musste, um wirklich zu zum Stillstand zu kommen. Unter ihr grollte der wahnsinnige Donnertakt, und als sie die Dachkante erreichte, schwang das Tor auf.

Hastig ließ sie sich auf Hände und Knie fallen, umklammerte die Schindelkante und starrte hinab, als ein Pferd aus dem Stallgebäude schoss. Wie auf Rabenflügeln galoppierte das große Tier über den Hofplatz und steuerte in einem engen Bogen die Wiesen hinter dem Anwesen an, ohne auch nur einen Deut langsamer zu werden.

Weit nach vorne gebeugt im Sattel, die Arme eng am Pferdehals: Der Mann, dessen Seele der Herr benötigte!

Einige Männer versuchten, dem rasenden Pferd den Weg zu versperren, doch das Tier galoppierte weiter, als würde es die erhobenen, winkenden Arme nicht sehen, die Schreie nicht hören, die es wohl scheuen lassen sollten. Funken stoben unter den Hufen auf. Ein dumpfes Geräusch, als einer der Soldaten von einer massigen Pferdeschulter zur Seite geschleuderte wurde. Kaum auf dem Sandweg zu den Wiesen beschleunigte das Pferd noch mehr. Als Letztes winkte der wie triumphierend leicht erhobene Schweif. Dann verschluckte die Nacht Ross und Reiter.

Elee sprang auf und rannte fast ein Viertel der Dachlänge zurück, wirbelte herum, entfaltete die Schwingen zur vollen Spannweite und nahm Anlauf. Sie schlug kraftvoll mit den Schwingen, bis es sie über die Dachkante hinweg trug und sie ins Leere trat. Sie erklomm Höhe, arbeitete keuchend vor Anstrengung, diese zu halten und gleichzeitig die Verfolgung des Flüchtenden aufzunehmen.

Das Pferd war schneller als sie. Sie lächelte anerkennend, als sie nur noch eine dunkle Silhouette über das Land fegen sah. Beinahe unsichtbar, nur verraten durch das Blinken von Metall an Zaumzeug und Panzerung. Atemberaubend schnell.

Doch Pferde mussten sich an Wege halten – oder zumindest an Gelände, das sie meistern konnten. Sie mussten um Felsen herumlaufen, während Elee die gerade Strecke fliegen konnte. Außerdem erschien es ihr sehr bald, als wollte die Beute zurück nach Amiens Hav. Dorthin kam Elee auf dem Luftwege erheblich schneller. Schon auf dem Hinweg hatte sie sich nach einem Ort für einen möglichen Hinterhalt umgesehen. Sie war zwar nach wie vor überzeugt, es nicht mit dem gefallenen Helden aufnehmen zu können, wusste aber, dass sie es zumindest auf einen Versuch ankommen lassen musste. Niemand rechnete mit einem Angriff aus der Luft, das war ihr Vorteil, den sie auszunutzen plante.

Während die Schwingen sich gleichmäßig und in beinahe rasendem Takt hoben und senkten, löste Elee die Riemen ihres Bündels, das ihr immer noch fest vor Bauch und Brust hing. Ein suchender Blick ringsum offenbarte einen verdorrten, alleinstehenden Baum. Elee ließ sich in einen Sturzflug fallen, sodass sie fast die obersten, knochentrockenen Äste berührte und die Schnüre des Bündels über einen von ihnen streifen konnte, ohne an Geschwindigkeit zu verlieren. Dann rang Elee erneut um Höhe, die ihr Überblick verschaffte, sodass sie Reiter und Pferd entdeckte. Immer noch im gestreckten Galopp. Bang fragte Elee sich, wie lange das Tier das durchstehen konnte. Sie selbst spürte unangenehme Wärme zwischen den Schwingen. Was, wenn das Pferd länger durchhielt als sie?

Die Konturen der Festung schälten sich aus der Nacht. Wachfeuer auf den Türmen und Wehrgängen, was den Eindruck einer schwebenden, brennenden Straße vermittelte. Rauchgeruch hing in der Luft, stieg verbunden mit warmer Luft unter die Schwingen und verlieh Elee ein wenig mehr Höhe und Geschwindigkeit.

Das Pferd donnerte über eine weitere Wiese, und jetzt endlich wurde es langsamer, verharrte kurz und tänzelte im Kreis auf der Stelle.

Elee vernahm trotz des rauschenden Windes in ihren Federn unter sich ein Auflachen. Triumphierend und stolz zugleich. Das Pferd prustete. Das Fell glänzte feucht an Hals und Flanken, doch die Bewegungen des Tieres zeugten noch immer von Kraft und ungebrochenen Wildheit, obwohl es den Reiter willig und vielleicht sogar freudig trug. Ebenso stolz wie der Mann, dachte Elee und lächelte selbst.

Dann stieß sie mit angelegten Schwingen hinab. Lautlos bis auf den Wind, der gegen sie schlug und an den Federn zerrte. Der Dolch fühlte sich schwer und warm in der Hand an. Der Abstand zur Beute schrumpfte binnen eines Herzschlages.

Der Mann hob den Kopf und sah Elee genau in die Augen.

So wie er gespürt hatte, dass der Herr ihn durch Magie beobachtete, hatte er auch jetzt mit Sinnen, die Elee bei einem Menschen niemals erwartet hätte, diesen Angriff wahrgenommen.

Eine Hand flog vor und schloss sich wie eine Stahlklammer um Elees Handgelenk. Sie schrie auf, denn der Kerl drückte so fest zu, dass es wehtat, dass Knorpel und Unterarmknochen sich zu verschieben drohten.

Als wären Reiter und Pferd durch eine Wirbelsäule oder die Macht der Gedanken verbunden, sprang das Tier seitwärts, um die Wucht des Aufpralls abzumildern.

Trotz der Wut über den missglückten Anschlag, trotz der Schmerzen und der Angst um sich selbst fand Elee den Blick aus den vor Anspannung geweiteten gewittergrünen Augen verwirrend und faszinierend zugleich. Der Geruch nach Pferdeschweiß hüllte Tier und Reiter ein. Für einen, zwei Herzschläge schien die Zeit beinahe stillzustehen. Elee sah alles, jede Einzelheit in erschreckender Klarheit. Auch auf des Mannes Stirn perlte ein Tropfen. In jenem Moment des stillen Ringens sah Elee dieser Perle zu, wie sie langsam über die Haut des Mannes rollte, eine schimmernde Bahn zurückließ, die Schläfe, dann die Wange hinab lief und von der kantigen Kieferlinie tropfte.

Die Zeit kehrte zurück. Mit einem Ruck entfaltete Elee die Schwingen und hämmerte Luft beiseite, um entweder den Kerl aus dem Sattel zu stoßen oder das Pferd endlich zum Scheuen zu bringen.

»Du verdammtes …!«, brachte der Mann mit einem Keuchen hervor und drückte Elee unnachgiebig nach unten. Das angespannte Beben seiner Muskeln wirkte in ihr nach, übertrug sich auf ihr Fleisch. Fast meinte sie, den Herzschlag des Mannes in ihren Knochen zu spüren. Der Grobian brach ihr fast den Arm, und sie wand sich in der Luft, um diesem Griff zu entkommen. Seine freie Hand tastete nach dem Dolchheft an seinem Gürtel. Elee zischte den Kerl zwischen zusammengebissenen Zähnen an, dann warf sie sich vorwärts, noch mehr gegen das nahezu unheimliche Paar, gegen das sie kämpfte, denn das verdammte Pferd glich jede ihrer Anstrengungen durch Tänzeln zur Seite aus, warf den Hals auf und kämpfte ebenso wie der Reiter gegen den unerwarteten Angriff.

Tief schlug Elee ihre Zähne in die Hand ihres Gegners, schmeckte Salz, Pferd und endlich Blut.

Mit einem keinesfalls gedämpften Fluch ließ der Mann von seinem Dolch ab, krallte die Finger in Elees kurzes Haar und versuchte, sie von sich wegzureißen. Doch Elee ließ nun ihre Linke vorfliegen, den Dolch aus der mittlerweile eiskalten und fast gefühllosen Hand übernehmen, und machte zumindest den Versuch, dem Kerl ein Auge auszustechen!

Er wich der Klinge rückwärts aus und brachte das Pferd durch diese plötzliche Gewichtsverlagerung leicht aus dem Takt. Mit einem unwilligen Bocksprung kam das Tier wieder unter den Schwerpunkt seines Reiters. Doch dieser kleine Satz in die Luft ließ die Finger des Mannes den Halt in Elees Haar verlieren. Sie riss den Kopf mit einem Ruck zurück. Die Schwingen donnerten durch die Luft, und endlich entglitt Elees gequältes Handgelenk der Stahlklammer, die das Blut im Arm abgedrückt hatte.

Die Schwingen katapultierten sie rückwärts, doch sie gewann nicht rasch genug an Höhe. Denn der Mann ließ das Pferd in eine enge Wendung rasen und setzte Elee nach. Sie spürte die Körperwärme seiner Hand, für einen Wimpernschlag die von Schwielen raue Haut der Finger an ihrem Fußknöchel, schlug wie wild mit den Flügeln, und der feindliche Griff fand keinen Halt, glitt warm und stahlhart über den Fußrücken, die Zehen, und endlich befand Elee sich außerhalb der Reichweite der Beute, wirbelte in der Luft herum und beschleunigte.

3.

Kräftemessen

 

Niro führte eine kurze, verbissene Diskussion mit Arlin, der sich ungebärdig verhielt und offenbar durch das Flatterwesen mehr verschreckt worden war, als er zunächst den Eindruck erweckt hatte. Dann sprang der Hengst endlich in Galopp und lief auf einen Grat Klippengestein zu. Dorthin steuerte das fremdartige Geschöpf ebenfalls. Schroff bohrte das Gestein sich oberhalb Amiens Hav durch die Grasnarbe zum Himmel. Wenn das Vieh dort ankam, bevor Niro es zu fassen bekam, hatte er seine Chance vertan.

Sein Herz hämmerte schmerzhaft in seiner Brust. Weniger vor Anstrengung, denn das fremde Geschöpf war knochendürr und nicht sonderlich stark gewesen – abgesehen von den Schwingen, deren Kraft Niro in Bedrängnis gebracht hatte. Erschrecken und auch Angst, wer ihm nach dem Verrat in seinem eigenen Haus jetzt auch noch dieses Wesen auf den Hals gehetzt hatte, mischten sich in Niros Blut und trieben den Puls noch immer nach oben, während Schweiß kalt aus den Poren kroch.

Arlin wurde langsamer, und Niro verstand, dass er das Pferd schonen sollte. Schon flockte Schaum aus dem Maul des Tieres, das trotzdem immer noch alles gab.

Das Flatterwesen erreichte die Ausläufer des Felsens, und Niro zügelte Arlin und lenkte ihn in flottem Trab wieder auf den Ursprungskurs nach Amiens Hav. Er brauchte seine Ausrüstung. In der Küstenstadt war es nicht länger sicher, und wenn er sich erst mit Pfeil und Bogen bewaffnen konnte, sollte es auch ein Leichtes sein, die fliegende Kreatur vom Himmel zu holen. Jetzt, da Niro vorgewarnt war, dass es so etwas überhaupt gab!

Langsam kühlte sein Körper ab, nahm den Muskeln etliches von ihrer Spannung und entließ Niros Verstand aus dem Würgegriff der Kampfbereitschaft. Noch einmal sah er zur Klippenlinie und atmete leicht schaudernd aus. Er war schon so einigem auf Schlachtfeldern begegnet, aber einen Angriff aus der Luft hatte er noch nie erlebt.

In seinem Kopf schwirrten zahlreiche Punkte durcheinander. Der Verrat des Auftraggebers – falls es der gleiche gewesen war wie bisher. Der Nachteil anonymer Kontaktaufnahme und Unterhaltungen nur über Mittelsmänner und knapper schriftlicher Anweisungen. Immerhin hatte der Bastard im Voraus für die scheußliche Vase bezahlt, die Niro im Herbergszimmer gegen die Wand zu schmettern plante. Konnte der Kerl sich doch die vulgär bemalten Scherben vom Boden aufklauben.

Arlin passierte das Tor und suchte sich sicheren Tritt die steilen Straßen und Wege entlang, während Niro weiter seinen eigenen Gedanken nachhing, ob die geflügelte Kreatur und deren Angriff der gleichen Quelle wie der vorgewarnte Schmarotzer entspringen konnten. Ob beides zusammengehörte, wie es den Anschein hatte. An Zufälle glaubte Niro nicht, wenn es um sein eigenes Leben und seinen Augapfel auf der Spitze eines Dolches ging.

Ein mageres Geschöpf mit großen, dunklen Augen, in denen der Schmerz deutlich geleuchtet hatte, als Niro es endlich zu packen bekam. Weiches Haar, das sich sauber angefühlt hatte. Trotz der knabenhaften Gestalt war Niro geneigt, den Angreifer für ein Mädchen zu halten. Die weiche, volle Linie der Lippen passte ebenso zu dieser Folgerung wie die großen Rehaugen.

Die schlanke Fessel, an der er keinen Halt gefunden hatte, der schmale, kleine Fuß – ja, Niro war sich sicher, es mit einem weiblichen Wesen zu tun gehabt zu haben. Zu mager, um auch nur mehr als einen winzigen Busen aufzuweisen. Dazu die Kleidung aus knielanger Hose und ärmellosem Hemd, die man eher an Knaben denn Mädchen fand. Und doch … Niro rief sich den Augenblick ins Gedächtnis, da das Wesen ihn angefaucht hatte. Ein Mädchen. Mit einer gewaltigen Flügelspannweite. Schwarzes Gefieder.

Götter, bis eben gerade hatte Niro nicht geahnt, dass es so etwas gab. Und dass es dann auch noch darauf aus war, ihn umzubringen!

Er erreichte die Gastwirtschaft ohne weitere Zwischenfälle und hatte, kaum dass er beritten in die Stadt zog, auch keinerlei Aufmerksamkeit auf harmlose Menschen mehr verschwendet. Es war spät genug, dass anständige Menschen im Bett liegen sollten. Wer Arlin nicht schnell genug Platz machte, obwohl der Hufschlag in den Häuserschluchten wie Hammerschläge auf einen Amboss erklang, war selbst schuld. Vor der Kneipe sprang Niro aus dem Sattel und führte Arlin trotz dessen aristokratisch gerümpfter Nase in den Hinterhof. Hier erregte das Kriegspferd nicht so schnell Aufmerksamkeit. Und jemand, der dumm genug war, sich dem gerüsteten Pferd zu nähern, würde rasch lernen, warum Arlins Söhne und Töchter seit Jahren Höchstpreise erzielten, den Rappschimmel aber niemand zu besitzen begehrte. Außer Niro.

Er hetzte in die Kneipe, warf drei Goldmünzen vor den verwirrten Wirt auf den Tresen und rannte die Treppe nach oben, bevor irgendjemand das Wort an ihn richten konnte. Verdammt, eine Münze hätte schon fast gereicht, diesen Schuppen käuflich zu erwerben! Egal.

Niro zerrte eine Axt aus dem Gürtel und sprang mit blanker Waffe in sein Zimmer. Nichts, alles schien unberührt.

Er riss den Kleiderschrank auf, zerrte das Bündel mit dem Bogen und die verbliebenen zwei Mäntel heraus, bevor er rücksichtslos den Schrank in das Zimmer kippte und zur Truhe stürzte. Er hatte nicht vor, lange genug in diesem Dreckloch zu bleiben, bis sich jemand über den Lärm beschwerte.

Das Schloss klickte, als er es entriegelte. Niro klappte den Deckel hoch und atmete erneut leise auf, als er das Metall des Schuppenpanzers unter den Fingern spürte. Die Truhe würde Niro zurücklassen. Arlin war kein Lastenesel. Unter einem Mantel ließ sich selbst die prachtvolle Rüstung verbergen. Doch die Zeit, hier die Panzerungen zu tauschen, nahm Niro sich nicht. Das konnte er machen, sobald er unterwegs einen sicheren Rastplatz gefunden, sieben Pfeile vor sich in Erdboden gespießt und den Bogen gespannt danebengelegt hatte. Noch einmal überraschte ihn das Federvieh nicht. Ganz bestimmt nicht.

In fliegender Eile packte Niro seine Ausrüstung zusammen, verschnürte die Rüstung in einem Mantel, schnallte den Pfeilköcher um seinen Oberschenkel und spannte den Bogen. Dann zerschlug er mit verzeihlichem Genuss Talanys widerwärtige Vase und grinste vor Erleichterung, diesen Schritt getan zu haben.

Die handliche Waffe zwischen die Zähne geklemmt hastete er zum Fenster, um kurzerhand über das Stalldach des Schweinekobens in den Hinterhof zu klettern. Arlin blickte ihm entgegen, milden Vorwurf im Blick, warum das alles so lange dauerte.

Niro erstarrte und zog zischend Luft am Bogenholz vorbei in seine Lungen. Zwei Abdrücke, schlammig, auf dem Fenstersims. Schmale, kleine Füße, jeder Zeh deutlich erkennbar. Er legte eine Hand auf einen der Abdrücke und wusste mit kristallklarer Gewissheit, dass das Flatterwesen hier gewesen war. Ihm von hier aus gefolgt war, um ihn zu überfallen und zu töten.

Ein Blick in den Nachthimmel. Leere. Doch für Niro würde der Himmel niemals wieder friedlich sein.

Er gab sich einen Ruck und kletterte nach draußen, sprang vom Stalldach in den Matsch des Hofes und eilte zu Arlin, um dem Kriegspferd Rüstung und Waffen aufzuladen, bevor Niro sich in den Sattel schwang, noch einmal nach oben blickte und dem Pferd dann den Kopf freigab.

Die Eile, mit der Arlin den Hinterhof verließ, machte deutlich, dass das Pferd eine unüberwindliche Abneigung gegen Schweinemist hatte.

Niro lenkte das Tier auf die schmalen Wege draußen und ließ Arlin das Tempo bestimmen. Immer wieder blickte er nach oben, doch zwischen Wäscheleinen und den dicht gegenüberstehenden Dachfirsten konnte er immer nur schmale Streifen Himmel erblicken. Das Federvieh konnte überall lauern. Würde ein Pfeil in eine Schwinge reichen, es herunter zu holen wie einen Fasan auf der Jagd? Niro wollte das Geschöpf nicht töten – zumindest noch nicht. Aber er musste erfahren, warum die Kreatur ihm an die Kehle wollte. Wer das Wesen gesandt hatte und warum.

Zum dritten Mal an diesem Tag ritt er unter der Brücke hindurch, welche die beiden Häuser verband. Nach seinem Willen sollte es auf lange Sicht das letzte Mal sein.

Er hatte eine ganze Liste mit weiteren Aufträgen erhalten, doch er gedachte nicht, auch nur einen einzigen davon in Angriff zu nehmen. Jeder einzelne konnte ein Hinterhalt sein für den Fall, dass der erste Versuch scheiterte. Dass der Ersteller dieser Liste somit auch gleich bewies, was er von Niros Intelligenz hielt, ärgerte diesen beträchtlich. Für einen blöden Klotz gehalten zu werden, der treudoof mehrfach auf den gleichen Trick hereinfiel, nagte an Niros Selbstbeherrschung.

Noch mehr allerdings knabberte die Sorge vor dem geflügelten Wesen an ihm. Mit einem Mal rann ein eisiger Schauder über seinen Rücken. Wer befehligte ein solches Geschöpf? Was mochte der Auftraggeber noch für Abscheulichkeiten aus dem Ärmel schütteln können?

Hastig und danach regelmäßig blickte Niro nach oben, bevor Arlin endlich das Stadttor passierte. Doch hier war der Himmel frei, ein heranfliegender Angreifer rascher gesichtet. Niro gestattete sich ein Aufatmen und lenkte den Rappschimmel dann auf den Weg entlang der Klippe.

Es erschien ihm weiser, sich für einige Zeit zurückzuziehen, und er wusste auch ganz genau, wo dies möglich war. Geplant hatte er es schon seit Tagen, sich nach diesem Auftrag eine sichere Basis zu suchen und eine Weile im Verborgenen zu leben. Die Diebstähle wurden zu riskant, und sie langweilten Niro inzwischen auch. So hatte er schon vor einiger Zeit beschlossen, sich ein kleines Haus oder ein Herbergszimmer in der Nähe von Rheidans Festung zu suchen, vielleicht sogar Kontakt zu seinem Freund aufzunehmen. Karons eindeutige Worte machten dies jetzt noch leichter und vor allem verlockender. An seinem alten Stallknecht zweifelte Niro nämlich nicht einen Herzschlag lang. Außerdem war Fürst Rheidan einer von vier Freunden gewesen, die Niros Flucht angesichts der sicheren Todesstrafe ermöglicht hatten. Er verdankte jedem dieser Männer sein Leben, so wie diese in ungezählten Schlachten nur deshalb in einem Stück geblieben waren, weil sie den Kommandos eines Paladins gefolgt waren, der sein Handwerk verstand.

Keine Schulden zwischen ihnen. Und es war ein Wunder, dass der König keinem dieser vier Männer etwas angetan hatte. Aber wenn er ihnen nichts hatte nachweisen können, konnte er schlecht die gesamte Elite seines Militärs eliminieren. Als König grenzte es bereits an Fahrlässigkeit, ohne einen einsatzfähigen Heeresstab zu arbeiten.

Niro presste die Zähne fest aufeinander. Dass keiner seiner Freunde den Rang des Paladins erhalten hatte, machte deutlich, dass der König ihnen nicht traute und sie nur in seinem Umfeld und in ihren Ämtern beließ, weil er keine andere Möglichkeit sah. Doch das Reich zerfiel. Menschen lebten in Ungewissheit. Wenn der kleine Handwerker sich nicht auf Wächter und Soldaten verlassen konnte, sondern Willkür fürchten musste, würde es über kurz oder lang zu einem Umsturzversuch kommen. Das schien der König nicht zu bedenken.

Niro rief sich stumm zur Ordnung. Das war nicht länger seine Sorge. Der König hatte entschieden, dass ein paar Truhen Gold ihm wichtiger waren als sein Paladin und die Ruhe und Sicherheit im Reich. Mit den Konsequenzen musste der alte Narr alleine klarkommen. Und er sollte ja nicht hoffen, dass Niro von Amiens Hav ihm im letzten Augenblick unverhofft zur Hilfe kam! Auf gar keinen Fall!

 

Elee blieb einen Moment schwer atmend auf dem Felsen liegen. Weit oben und außerhalb der Reichweite des Fremden. Der Beute, die so sehr viel wehrhafter war, als es zuerst den Anschein gehabt hatte. Ja, Elee war durch die Vision des Herrn vorgewarnt gewesen, wie schnell der Kerl sich bewegen konnte, dass er es körperlich zu spüren schien, wenn man ihn zu betrachten wagte. Doch mit der heftigen Gegenattacke hatte Elee schlichtweg nicht in diesem Umfang gerechnet. Sie hatte es auf den Versuch ankommen lassen wollen, ob sie den Kerl vom Pferd holen und von diesem Leben in das Jenseits befördern konnte. Unterwegs, während er keuchend das letzte Mal einatmete, hätte sie ihm die Seele geraubt.

Doch so einfach war das nicht gewesen.

Sie lag still und lauschte in die Nacht, bis sie ganz sicher war, dass der Hufschlag des Pferdes sich wirklich entfernte. Erst als er weit weg verklang, richtete Elee sich vorsichtig auf und spähte in die Dunkelheit. Nicht dass der Krieger das Pferd fortgesandt hatte, um selbst den Felsen zu erklettern.

Sie schauderte. Ihr Handgelenk schmerzte, die Finger fühlten sich immer noch kalt und ein wenig taub an. Die Kuppen prickelten unangenehm, da das Leben in sie zurückkehrte. Nur im spärlichen Licht von Mond und Sternen betrachtete Elee voller Ekel den Abdruck einer großen Hand, die dunkelrote Blutergüsse unter Elees Haut hinterlassen hatte, die Handgelenk und Unterarm verunzierten. Der Kerl hätte ihr fast den Arm gebrochen!

Erbost schob sie das Kinn vor, die Muskeln spannten sich an. Sie verengte zornig die Augen, dann trat sie zum Rand des Felsens und blickte in die Tiefe. Das reichte, sie brauchte nicht einmal Anlauf nehmen. Sie benötigte ihr Bündel mit der Karte, die der Herr ihr überlassen hatte. Ein zweites Mal konnte sie den Hünen mit den Augen wie Wetterleuchten nicht überrumpeln. Götter, es war ihr nicht einmal im ersten Anlauf geglückt! Aber es würden sich Wege finden lassen, dass er einer Übermacht gegenüberstand, die ihn für Elee bequem erledigen konnte. Dann, wenn der Hüne zuckend am Boden lag und Blut spuckte, konnte Elee vom Himmel stürzen und sich der letzten Kostbarkeit bemächtigen.

Mit einem energischen Nicken breitete sie die Schwingen aus und warf sich von der Kante des Gesteins. Kraftvoll schlugen die Flügel, und Elee gewann an Höhe und Geschwindigkeit. Schon sah sie den Baum in der Ferne aufragen. Morgenröte kroch über den Horizont. Eine Nacht des Jagens lag hinter Elee, und sie war müde. Der Rücken zwischen den Schwingenansätzen tat weh, aber zumindest musste sie jetzt nur noch ihr Bündel bergen und die Karte lesen, damit sie wusste, wohin sie der Beute zu folgen hatte.

Das Pferd ermüdete ebenso wie sie, das hatte es bei der Verfolgung zum Felsen schon bewiesen. Es musste sich an Wege oder freie Ebenen halten. Der direkte Weg stand nur Elee offen, und sie hatte vor, diesen Vorteil auszunutzen. Sie konnte ja auch gar nicht anders, denn der Herr hatte es befohlen. Seinen Befehl zu erfüllen, war doch alles, wofür Elee auf dieser Welt weilte.

Sie landete im trockenen Holz. Es wäre ihr möglich gewesen, das Bündel im Flug aufzuklauben und sich auch umzuschnallen, doch ihr Rücken schrie inzwischen vor Überlastung. Jede Rast war Elee recht, und hier oben im Baum saß es sich nicht schlecht.

Müde strich sie sich über die Augen und öffnete dann die Schnüre des Bündels, um die Karte hervorzuziehen. Behutsam entrollte Elee das Pergament und suchte die zweite Markierung, nachdem sie ja bei der ersten versagt hatte.

Eine Festung nahe dem Gebirge. Der Name Rheidan sagte Elee nichts, doch ihr Herr war sich sicher, dass die Beute dorthin unterwegs war.

Elee rollte die Karte wieder zusammen und verstaute sie. Dann sah sie sich um, suchte in der Nähe nach einem hochgelegenen Rastplatz. Sie brauchte Schlaf. Nur ein paar Stunden, und noch war es dunkel genug, dass sie sich dafür nicht in einer Felsspalte verkriechen musste, damit kein Mensch auf das geflügelte Wesen aufmerksam wurde. Mit einem Seufzen band Elee sich das Bündel wieder vor Brust und Bauch, ballte sich um dieses halbwegs taugliche Kissen zusammen und zog die Schwingen um sich, um in deren Schutz und Wärme nur für einen Moment die Augen zu schließen und den Schmerzen der Überanstrengung zu entkommen. Nur ein oder zwei Stunden schlummern, dann konnte sie sich an die Verfolgung machen. Die Schmerzen würden verebben, die Kraft zurückkehren. Wenn sie nur hoch genug flog, würde kein Mensch ahnen, dass über ihm etwas anderes als ein Vogel seine Bahnen zog. Sonnenlicht auf den Schwingen und dem schmerzenden Rücken. Ach, nein, der tat ja dann nicht mehr weh. Elee schlief ein.

 

Im Windschutz der Schwingen schlief Elee so lange, bis es deutlich warm wurde. Sie hob in der Dunkelheit der Flügel den Kopf, bewegte den linken Arm vorwärts und dann zusammen mit den schwarzen Federn zur Seite. Pralles Sonnenlicht schien Elee ins Gesicht, und sie atmete erschrocken tief ein. Wie lange mochte sie geschlafen haben? Wie weit war der gefallene Held inzwischen entfernt?

Panik ergriff sie. Vielleicht hatte er die Festung schon erreicht! Das durfte nicht sein, Elee hätte ihm unterwegs eine Falle stellen müssen, einen Hinterhalt, irgendetwas, um den Befehl ihres Herrn erfüllen zu können!

Sie fuhr sich verzweifelt mit den Fingern durch die Haare und verfluchte ihre Erschöpfung. Tief atmete Elee ein und aus und versuchte, sich einzureden, dass noch lange nicht alles verloren war, dass sie ohnehin so erschlagen von rasendem Flug und Kampf nichts hätte bewirken können. Jetzt war sie frisch und erholt, das war ein Vorteil, hoffte sie.

Kraftvoll breitete Elee die Schwingen aus und sprang vom Baum. Er war beinahe nicht hoch genug, und ihre Füße streiften den Boden, taten zwei, drei lange Sätze, bis der Schwung ausreichte, sie abheben zu lassen. Sie nahm die Verfolgung auf und sagte sich, dass auch der Krieger irgendwo hatte Rast machen müssen. Er hatte in dem Anwesen gewütet, das Elee nun in großer Höhe passierte. Das war ganz bestimmt selbst für einen solchen Hünen anstrengend gewesen. Hinzu kam, dass sein Pferd ihn nicht ewig mit hoher Geschwindigkeit tragen konnte. Sie hatte das sichere Gefühl, dass er das Tier nicht zuschanden reiten würde. Zu eingespielt war dieses Paar gewesen, gut aufeinander eingestimmt, sodass das Tier auch ohne Signale seines Reiters im Kampf handelte, um dem Mann jeden möglichen Vorteil zu verschaffen.

Elee machte die Straße aus, die sich in Windungen entlang der Abbruchkante der Klippen einen sicheren Weg suchte. Sie selbst musste diesen Kurven nicht folgen. Solange sie nur hoch genug flog, konnte sie die Straße überblicken und genau sehen, wo eine neuerliche Biegung das Pflaster wieder genau unter Elees Schatten brachte.

Die Landschaft flog unter ihr hinweg, und tief unten auf dem harten Boden bewegte Elees Schattenbild die Schwingen, raste über die Straße, über grünes Gras, dann wieder über das Meer, in gerader Linie auf der Fährte der Beute.

Als Rauchgeruch in Elees Atemwege stieg, ohne dass ein Haus in Sichtweite stand, flog sie Kreise und verringerte ihre Höhe. Angespannt hielt sie Ausschau. Der große Kerl konnte gar nicht zu übersehen sein. Das Pferd ebenfalls nicht.

Doch sie wurde enttäuscht. Eine verlassene Feuerstelle fand sich am Wegesrand. Elee sah in die Ferne und entdeckte den Flüchtigen immer noch nicht. Sie landete und eilte zur Asche eines Lagerfeuers, das in einem von Steinen gebildeten Kreis gebrannt hatte. Große Hufspuren im weichen Boden bewiesen Elee, dass dies der richtige Rastplatz sein könnte. Sie pustete Asche beiseite, und darunter glomm noch ein winziger Rest Glut, dessen Geruch Elee an diese Stelle gelockt hatte.

Im Gras befand sich eine Mulde, wo der Krieger geschlafen haben mochte. Weitere Spuren deuteten darauf hin, dass er das Pferd von Rüstung und Sattel befreit haben könnte. Doch beides fehlte nun ebenso wie Mann und Tier. Elee suchte weiter und fand frisch aufgeworfene Erde. Ein Loch war hier gegraben und wieder zugeschüttet worden. Groß genug, ein Kind zu bestatten. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und sie wühlte mit bloßen Händen die Erde beiseite, bis ihre Finger etwas Hartes, Schuppiges ertasteten. Verwirrt hielt Elee inne, wischte sich einen Schweißtropfen von der Stirn und arbeitete weiter.

Die Lederrüstung lag in der Erde. Vergraben, um keine Spur zu hinterlassen. Elee zerrte den Panzer ans Tageslicht, tastete über das stabile Material und wunderte sich. Welcher Krieger ließ seine Rüstung zurück? Und warum? Um leichter zu sein, damit das Pferd länger durchhielt? Dies verwirrte sie mehr, als ihr behagen konnte. Ein wenig Rätselraten erschien Elee üblicherweise recht lustig, doch dies war eines, das sie nicht lösen konnte. Es erschien ihr als krasser Widerspruch im Verhalten des Mannes, als unerklärlicher Bruch, was den Kerl unberechenbar machte. Sie korrigierte sich im Geiste: noch unberechenbarer.

Zu groß, zu schnell, mit Sinnen ausgestattet, die ihn vor jeglicher Gefahr zu warnen schienen. Elee wischte sich Erdkrümel von den Händen und stand auf. Wie sollte man sich an jemanden wie den Kerl anschleichen? Kinderspiel hatte der Herr es genannt. Elee fand das mit einem Mal sehr grausam, denn sie war in die Irre geführt worden. Der Herr hatte gelogen. Sie seufzte tief und lief dann leichtfüßig zum Rande der Klippe, wobei sie die Schwingen ausbreitete und schon mit ihnen schlug, bevor sie sich in die Tiefe stürzte.

 

Elees Magen knurrte schmerzhaft. Sie versuchte, sich zu erinnern, wann genau sie das letzte Mal gegessen hatte. Sich einzureden, dass sie nach dem Frühstück im Turm des Herrn doch ganz bestimmt mehr als nur die Frucht der netten Frau gehabt haben musste.

Im Lager des Kriegers hatte sie nicht ein Krümelchen Brot gefunden, keinen weggeworfenen, halb abgenagten Knochen eines über der Glut gegarten Tieres. Der Mann verschwendete nichts, und so war auch nichts für Elee übriggeblieben, womit sie ihren hungrigen Magen ein wenig hätte trösten können.

Sie kannte sich nicht aus, was sie unbeschadet vom Strauch rupfen und in sich stopfen durfte. Beinahe war sie sich sicher, dass es auch giftige Sachen in der Natur gab. Beeren, Pilze … Ein Tier zu fangen und zu töten, traute sie sich nicht recht zu. Außerdem hätte sie keine Ahnung, was sie dann mit dem toten Geschöpf machen sollte. Das Fell aß man bestimmt nicht mit.

Ihr Magen knurrte wieder. Fast klang es, als säße ein sehr zorniger Wolf in Elees Eingeweiden. Sie verdrängte jeden Gedanken an Essen. Oder versuchte es zumindest tapfer. Bilder von dampfender Suppe mit Gemüsestückchen und Streifen gekochten Fleisches tanzten vor ihrem inneren Auge. Frisches Brot, noch warm vom Ofen. Glänzende Butter, die Elee dick auf die Scheibe strich, dazu ein wenig Salz und frische Kräuter … Ihr Magen brüllte wütend, und für einen Moment sackte Elee in der Luft ab, bevor sie sich wieder fangen und heftig mit den Schwingen schlagen konnte.

Die Aufgabe zählte jetzt alleine. Der Befehl des Herrn. Je schneller sie ihm die Seele des gefallenen Helden bringen konnte, desto rascher bekam Elee etwas zu essen. Nicht sehr tröstlich, doch im Augenblick hatte sie nichts anderes, woran sie sich festklammern konnte. Der Herr würde zufrieden sein. Lächeln, Elee vielleicht sogar über den Kopf streicheln. Keine Ohrfeige, keine gemurmelten Zauberformeln, die mehr wehtaten als der Hunger in Elees schrumpfendem Magen. Keine Flamme aus den Fingerspitzen, welche die Federn anzusengen drohte.

Elee biss tapfer die Zähne zusammen und flog weiter über eine grüne Landschaft voller Wälder und aus dem Boden ragender Felsen. Als bestünde das Land nur aus Stein, der sich an dünnen Stellen durch die Grasnarbe bohrte, um zu zeigen, dass es da war, dass es nur schlief, während die Menschen meinten, der Boden gehöre ihnen.

Weit vor Elee ein dunkler Schemen auf der Straße. Sie atmete auf und beschleunigte. Viel schneller ging es einfach nicht mehr, doch sie kam dem dunklen Fleck langsam näher. Das Pferd rannte dieses Mal nicht im gestreckten Galopp, sondern ging im Schritt am langen Zügel, erkannte Elee. Nur wenige Herzschläge später erhielt sie Gewissheit. Pferd und Reiter konnte sie nur als unverkennbar bezeichnen.

Das Tier trug wie in der Nacht zuvor einen Panzer, der Brust, Hals und Flanken schützte. Den Reiter umwehte ein langer Mantel in dunklem Grau, der die Konturen seines wuchtigen Körpers verwischte.

 

Der Schatten malte sich vor Arlins Hufen auf die Straße, und sofort richtete Niro sich im Sattel auf. Der Mantel fiel auseinander, und die Sonne schien mit voller Wucht auf die Metallschuppen des Panzers. Niro hoffte, dass das Flattervieh durch dieses Funkeln abgelenkt oder sogar geblendet wurde.

Er selbst erkannte die Kontur des Geschöpfes über sich als scharfen Schattenriss gegen den klarblauen Himmel, und bevor Niro noch ganz abschätzen konnte, wie hoch die Kreatur flog, ob die Reichweite des Bogens genügte, raste der Pfeil schon von der Sehne.

Niemand fand Niro von Amiens Hav ein zweites Mal unvorbereitet!

Arlin wirbelte in eine Drehung, und schon lag das zweite Geschoss auf Niros Sehne, die unter dem Zug leise vibrierte. Für den zweiten Angriff nahm Niro sich mehr Zeit. Doch er fürchtete, dass die Kreatur sich außerhalb der Reichweite hielt. Mit einem leisen Sirren raste der Pfeil in kerzengerader Linie himmelwärts.

 

Elee sah das erste Geschoss, das beinahe kraftlos bei ihr eintraf, kommen und wich ihm mühelos aus. Ihre Augen verengten sich, und sie stieß hinab, die Flügel dicht an den Körper gezogen – nicht den Krieger zum Ziel, sondern Deckung, Felsen, wo sie sich mit Steinen bewaffnen konnte, um die Attacken mit gleicher Münze heimzuzahlen.

Sie winkelte eine Schwinge ein wenig an, um dem zweiten Pfeil zu entgehen – und keuchte überrascht auf. Sofort schwenkte sie zur Seite und arbeitete daran, erneut Höhe zu gewinnen. Nicht wegen eines dritten Angriffs, sondern weil aus den umliegenden Gebüschen ein Heer brach!

Gerade hier lag die Straße zwischen hochaufragenden Klippen aus weißem Stein. Elee flüchtete zur einen Seite, landete hastig und wirbelte herum, um das zu überblicken, was nur in der Niederlage des Kriegers enden konnte. Dann musste Elee zur Stelle sein, und sie hatte ein wenig Angst, inmitten so vieler Menschen in die Tiefe zu stürzen, um die Seele der Beute an sich zu reißen. Fest biss Elee sich auf die Unterlippe, bis es weh tat. Es gab einfach keinen anderen Weg! Sobald der Krieger zu Boden ging, hatte Elee dorthin zu fliegen. Sie wusste ja, wie schnell sie sein konnte. Dazu kam das Element der Überraschung. Das musste gelingen. Sie durfte nicht zulassen, dass die Seele des Kriegers in die andere Welt wechselte. Ihr Herr wäre sehr erzürnt.

Elee fiel auf die Knie, die Schwingen weit ausgebreitet, um sich im richtigen Moment abstoßen und hinabstürzen zu können. Ihre Hände umklammerten Gestein. Ihr Atem beschleunigte sich, und der knurrende Magen rückte in der Reihenfolge der wichtigen Dinge ganz auf den letzten Platz, als der Krieger dort unten seinen Bogen fallen ließ und zwei kleine Kriegsäxte aus den Köchern am Pferdesattel zerrte. Der dunkle Mantel bauschte sich, bevor er beim ersten Galoppsatz des Pferdes wie eine Wolke über die Kruppe des Tieres wehte und als graues Knäuel auf dem zerstampften Boden liegen blieb. Blutrot und im Sonnenlicht blitzend wie ein Edelstein zeichneten die Schuppen des Panzers die Bewegungen des großen Mannes nach. Der Donner der Pferdehufe erklang hinauf bis zu Elee, die unwillkürlich die Luft anhielt.

 

Viele – nicht zu viele. Mit einer hastigen Bewegung löste Niro die Mantelschnalle, ließ im gleichen Moment den Bogen fallen und zerrte die Äxte hervor. Wer dachte, ihn so einfach zu fassen zu bekommen, würde jetzt eine bittere Lektion lernen.

Wer so ein Hornochse war, ihn anzugreifen, verdiente es, von Arlin in den Staub der Straße getreten zu werden!

Der perfekte Ort für einen Hinterhalt. Das hätte er selbst kaum besser geschafft. Rechts und links die Klippen, vor und hinter Niro ausreichend Truppen, ebenso von beiden Seiten, um den Vogelfreien, der Niro seit vier Jahren war, in die Zange nehmen zu können.

Arlin riss den Kopf hoch und sprengte im wilden Galopp auf die erste Reihe Männer zu. Ein schrilles Wiehern entrang sich der breiten Brust, übertrug sich als harte Vibration durch Muskeln, Knochen, Sattel und Panzer auf den Reiter und ließ die Temperatur in Niros Muskeln sprunghaft ansteigen.

Der Hengst beschleunigte rasant. Riesige Hufe hämmerten ohrenbetäubend auf dem Pflaster der Straße. Die nachtgraue Mähne flatterte im Wind, der Geruch nach erhitztem Pferd füllte Niros Lungen, und da waren die ersten Gegner heran!

Niro starrte in geweitete Augen, sah einen Speer dem Pferd entgegen zucken, lehnte sich schwungvoll zur Seite und hieb dem Soldaten die Axt mitten ins Gesicht. Karminrot spritzte es Niro entgegen, und der schwere und so vertraute Duft des Bluts beschleunigte seine Atmung und seinen Herzschlag. Seine Sicht wurde klarer, zeigte Einzelheiten, die Niro sonst niemals wahrnahm. Kleinigkeiten, die das zukünftige Schlachtfeld in ein Meer aus Farben verwandelten, bevor alles in feurigem Rot untergehen würde.

Er bleckte unwillkürlich die Zähne und ließ das Pferd herumfliegen, hörte eine Klinge über Arlins Panzer kratzen, schwang nach rechts herum und brachte beide Äxte gleichzeitig hinab.

Viele Gegner, von allen Seiten strömten sie heran, doch fielen sie in hilflos zuckenden Bündeln in die eigenen Reihen zurück, brachten den Vormarsch zum Stocken, während Arlin schnaufend auf Gliedmaßen trat, die unter seinen Hufen brachen. Die gepanzerte Schulter des Tieres stieß Soldaten zurück und zu Boden.

Die Reihen lichteten sich. Das gewaltige zahlenmäßige Ungleichgewicht verschob sich tatsächlich. Schweiß rann an Niro hinab, tränkte Hemd und Lederunterrüstung gleichermaßen. Jetzt glühten die Schuppen der Panzerung dunkelrot. Blut troff bei jedem Schlag von den Axtklingen, während die mit Stahl gepanzerten Stiele der Waffen tropfnass waren. Rote Funken flogen bei jeder Bewegung, und Niro hatte das Gefühl, jeden einzelnen Tropfen Karmin für einen Herzschlag in der Luft hängen zu sehen, bevor die rote Nässe wie ein Regenschauer in die Gesichter der Feinde prasselte oder gegen Arlins Rüstung flog.

Muskeln glühten vor Hitze und Anstrengung, aber noch konnte Niro frei atmen und spürte noch nicht die drohenden Anzeichen der Überlastung.

Die Schweine wollten ihn lebend haben, begriff er. Sie wollten ihn atmend, damit sie ihn hinrichten konnten. Jeder der Soldaten wusste, wen er vor sich hatte. Doch sie sahen nicht den einstigen Helden des Reichs, sondern den flüchtigen Dieb, den der König zum Tod verurteilt hatte. Und woher verdammt wussten die Männer, wo sie Niro hatten auflauern müssen?

Das ganze Reich zog sich wie eine Schlinge zu, und zum ersten Mal seit vier Jahren fürchtete Niro sich, dieser Falle nicht noch einmal entrinnen zu können.

Verdammter, schwachköpfiger alter Narr! Verflucht deine Münzenzählerei und dein Geiz! Jetzt wirfst du mir ein halbes Heer entgegen, obwohl du dir ausrechnen kannst, dass ich die eine Hälfte töte und die andere als Krüppel heimschicke!

Arlin wirbelte erneut in eine Drehung, zermalmte unter seinen gewaltigen Hufen Brustkörbe, Arme und Beine. Ein Kopf rollte davon. Die Straße verschwand unter roter Flut, als etwas Hartes Niro an der Schläfe traf. Dunkelheit kroch die Beine des Pferdes nach oben, umhüllte ihn und riss ihn aus dem Sattel in die Arme seiner Häscher. Als Letztes, während er mit gewaltiger Kraftanstrengung um den Erhalt des Bewusstseins rang, erblickte Niro die Gestalt des geflügelten Mädchens. Viel zu nahe war sie ihm gekommen. War das ein Stein in ihrer Hand?

Niro versank in totaler Finsternis, hörte Arlin schrill und zornig wiehern, dann war da nichts mehr.

 

Elee hatte mit wachsender Fassungslosigkeit zugesehen, wie der Krieger mit den Truppen aufräumte. Der Kerl hinterließ eine blutige Schneise, und wen er nicht zu Boden sandte, wurde vom Pferd gebissen oder geschlagen.

Das sollte der Kerl nicht können! Verdammt, er sollte tödlich verwundet zu Boden gehen, damit Elee ihm die Seele rauben konnte. Schafften die Soldaten denn gar nichts ohne Hilfe?

Elees Finger krallten sich um die Felsbruchstücke, und eines davon löste sich und kam frei. Einen Moment lang starrte sie es an, dann atmete sie entschlossen tief ein, packte zwei weitere Brocken und sprang im Segelflug von der Klippe, raste mitten auf das Kampfgetümmel zu, das schon nicht mehr als solches bezeichnet werden konnte. Wenigstens war der Krieger vollauf mit seinen wenigen verbliebenen Gegnern beschäftigt, sodass er nicht aufblickte, keine Zeit hatte, den Himmel über sich auch noch im Auge zu behalten.

Elee bekam eine Nase voll vom Geruchsgewirr aus Pferdeschweiß, Blut und ekelhaftem Schleim aus zerrissenen Eingeweiden. Wie eine dunkle Unternote wurde dieses Gemisch vom Duft des feindlichen Körpers getragen. Würziger, frischer Schweiß, der dem Krieger aus den raspelkurzen Haaren troff.

Fast meinte Elee, einen Dunstkreis über triefendem Pferd und schuftenden Krieger zu erblicken, doch alles, was sie zu sehen bekam, war spritzendes Blut, das von der Klinge einer Axt davon geschleudert wurde.

Ein Tropfen traf Elees nacktes Schienbein, und im gleichen Moment warf sie den Stein mit aller Kraft, während die Schwingen Luft schlugen und sie für diesen Augenblick an Ort und Stelle hielten.

Elee meinte, ein Knirschen zu hören, ein hohles Pochen, da der Stein die Schläfe des Kriegers traf. Er verkrampfte mitten im Schwungholen für den nächsten vernichtenden Hieb. Für einen Herzschlag erstarrte der große Kerl zu einer Statue, die Muskeln angespannt, bevor sie alle gleichzeitig nachgaben, weich wurden und ihn seitwärts vom Pferd rutschen ließen. Ein letzter, klarer Blick aus den wetterleuchtenden Augen streifte Elee. Der harte Mund verzog sich zu einer hasserfüllten Grimasse, dann verdrehte der Krieger die Augen, bis nur noch Weiß zu sehen war. Er verlor endlich den Halt und schlug neben dem Pferd hart auf den blutgetränkten Boden auf.

Die Soldaten johlten. Einer versuchte, die Zügel des nachtgrauen Hengstes zu erwischen, doch das Tier ging zum Angriff über und spaltete einen Schädel, bevor es über die Ebene davon galoppierte.

Zurück blieb der Krieger, aus dessen erschlafften Händen die Soldaten die Axtstiele zerrten, bevor der Hüne aufwachen und erneut Tod und Verderben in die kleine Schar Überlebender tragen konnte.

Elee hielt sich bereit. Es waren so wenige Männer, und die Kerle schienen sie noch nicht bewusst wahrgenommen zu haben. Gleich würde sie niederstoßen und dem Krieger das letzte Etwas entreißen, das er auf dieser Welt noch besaß. Elee zitterte vor Anspannung und brauchte einige Zeit, bis sie verstand, dass kein Dolch gezückt und in eine hilflose Kehle gerammt wurde. Keine Schlinge geknüpft, um dem Hünen den Heldentod zu verwehren, indem man ihn einfach erdrosselte.

Sie zwinkerte verwirrt, als die Männer den Bewusstlosen banden, ihn herumrollten in Blut und Dreck, um ihm die Hände fest auf den Rücken zu fesseln. Rot und Braun befleckten die Rüstung, hafteten in den Haaren des Kriegers, beschmierten sein Gesicht. Die dunklen Wimpern flatterten nicht, kein Muskel zuckte in dem kantigen Gesicht, das mit einem Mal verletzlich und weich wirkte.

Elee versuchte, solche Gedanken von sich zu schieben. Ebenso erfolglos, wie sie sich kurz zuvor abgemüht hatte, Bilder von Suppe und frischem Brot zu vertreiben. Dafür hatte erst das Blutbad gesorgt, das der Krieger entfesselt hatte.

Sie drehten ihn zurück auf den Rücken, und sein Kopf rollte mit knochenloser Leichtigkeit zur Seite, die bartstoppelige Wange im blutigen Morast, die Züge entspannt und hilflos.

Zum ersten Mal erblickte Elee mehr als nur einen gewaltbereiten Hünen. Sie sah den Mann hinter Blut und Rüstung, und es fühlte sich unheimlich an.

Wohin mochte man ihn jetzt bringen? Ihr war nur klar, dass sie in der Nähe bleiben musste, um ihre Gelegenheit wahrnehmen zu können. Sie flog höher und fort von den Soldaten, die den Bewusstlosen mit sich über das rote Feld zogen. Seine Füße hinterließen eine Furche im weichen Boden, der sich an diesem Tag mit dem Blut der Erschlagenen vollgesogen hatte.

Elee flüchtete wieder auf den weißen Felsen und behielt die Soldatengruppe im Auge. Ein Mann lief vor. Er humpelte, aber wahrscheinlich schätzte er sich angesichts des Schlachtfeldes in seinem Rücken überglücklich, dass er noch atmete und irgendwie laufen konnte. Am Waldrand, erkannte Elee jetzt, stand eine Bauernkate inmitten frisch bestellter Felder.

Dort hämmerte der Soldat so lange an die Pforte, bis ihm geöffnet wurde. Elee vermutete kühn, dass diese Streitmacht nicht einen Moment lang bezweifelt hatte, rasch und siegreich aus dem Kampf gegen einen Einzelnen hervorzugehen. Mit einer solch verheerenden Niederlage hatten die Männer nicht gerechnet. Elee auch nicht. Sie wusste, dass alle Männer tot gewesen wären, wenn sie den Stein nicht geworfen hätte. Aber die Kerle hielten sich nicht an Elees Pläne.

Wieder knurrte ihr Magen. Selbst das viele Blut reichte nicht aus, um diesen nörgelnden Wegbegleiter vollends zum Verstummen zu bringen. Sie redete sich ein, dass es der Hunger war, der sie am Erfolg der Mission zweifeln ließ. Der Krieger war zu stark. Das konnte doch selbst der Herr nicht abstreiten. Sie musste ein Kichern unterdrücken, als sie den Blick erneut über das Schlachtfeld schweifen ließ. Sie schlug sich die Hand vor den Mund. Das leise Lachen hatte gar nicht gut geklungen und schien nur ein Ausdruck von Entsetzen und Ausweglosigkeit zu sein.

Müde stieß Elee sich vom Felsen ab, als der humpelnde Soldat auf dem Kutschbock eines Bauernkarrens seinen Kameraden entgegenfuhr. Gemeinsam luden die Männer den offenbar immer noch Bewusstlosen auf. Ein gutes Dutzend Soldaten blieb zurück, wanderte über das Schlachtfeld und sah nach, wer tot war, wer noch lebte. Der Bauernkarren rumpelte ungerührt davon, und Elee nahm die Verfolgung ihrer Beute auf.

Niemand, so hoffte sie, schickte ein Heer, wenn er nur einmal freundlich mit einem Krieger plaudern oder ihn – ihr Magen knurrte erneut bösartig – zum Essen einladen wollte. Und doch hatten sie ihn lebendig haben wollen.

Elee lächelte böse. Sie hoffte, dass man Schlimmes mit dem Krieger vorhatte, sodass sie selbst den Befehl ihres Herrn ausführen konnte. Zurück zum Turm, die Beute überreichen und mit einer warmen Mahlzeit belohnt zu werden … Sie schloss für einen Moment die Augen, riss sie sofort wieder auf. Sie durfte den Gefangenentransport nicht aus den Augen verlieren!

4.

Die Stadt der Grube

 

Niros Kopf fühlte sich an, als würde jemand mit einem abartigem Sinn für Humor mit einem kleinen Hämmerchen abwechselnd die linke und dann die rechte Schläfe abklopfen. Wie ein gekochtes Ei sich vorkommen musste, wenn die Schale auf der Tischplatte zerschlagen wurde.

Es kostete ihn einige Kraft, die Augen aufzuschlagen. Vor ihm ein grinsendes Gesicht mit hervorstehenden Pferdezähnen. Leider nicht Arlin, das wäre ein angenehmer Anblick gewesen. Und beruhigend, denn Niro besaß nur noch verschwommene Erinnerungen an seinen Sturz vom Pferderücken. Er hatte keine Ahnung, was dem Hengst zugestoßen war.

»Wenn meinem Pferd ein Leid zugefügt wurde, werde ich dieses verdammte Kaff dem Erdboden gleichmachen«, sagte er, obwohl jede Silbe seinem armen Kopf Schmerzen zufügte.

Das Pferdegesicht vor ihm brach in Gelächter aus. Wie eine Ziege klang der Kerl. Er klopfte Niro auf die Wange, dass dieser dachte, dies müsse das Ende seines Kopfes bedeuten.

»Niro, der Vogelfreie und verurteilte Dieb. Du hast meine Truppen ziemlich dezimiert.«

»Pferdefresse, bis ich es dir gestatte, wirst du mich nie wieder mit meinem Vornamen ansprechen. Für dich und Deinesgleichen bin ich immer noch Paladin von Amiens Hav. Du wirst sterben, wenn du das noch einmal vergessen solltest.«

»Große Worte für einen Dieb. Der König nahm dir den Titel, Niro. Er verurteilte dich zum Tod. Mein Bote ist schon unterwegs, Seine Hoheit über diesen Fang zu informieren. Doch das Schönste ist, dass Haftbefehl und Todesurteil mir schriftlich vorliegen. Bei Sonnenaufgang beginnen wir mit der Hinrichtung.«

»Spannend. Frettchen, du kannst einen Mann nur einmal töten. Was hast du vor? Ausweiden, Kastrieren und Vierteilen? Die übliche Kombination für Männer wie dich, die keinerlei Phantasie besitzen? Mir soll es recht sein. Notfalls erdrossele ich dich mit meinen Innereien. Das wollte ich schon immer mal versuchen.«

Die Pferdefresse meckerte erneut vor Lachen. Dann grinste der Kerl, dass jeder gelbe Zahn Niro fast ins Gesicht sprang. »Nein, solche langweiligen Sachen machen wir hier nicht. Das ginge ja viel zu schnell. Ich lasse dir jetzt Zeit, mit deinem Schöpfer ins Reine zu kommen. Falls ein Schlächter wie du das überhaupt kann. In einer halben Stunde holen wir dich. Dann wirst du sehen, dass ich … sehr viel … Phantasie besitze.«

Die Tür fiel hinter dem Mann ins Schloss, und Niro verschaffte sich eine rasche Übersicht seiner misslichen Lage. Ketten hielten ihn unbarmherzig an einer Eisenstange fest, die an der Wand eingehängt war. Selbst falls er die Ösen aus der Wand reißen könnte, wurde er die Stange nicht so leicht los, denn die Ketten waren daran angeschmiedet.

Eine recht saubere Kerkerzelle. Sogar ein Wasserkrug und ein Aborteimer standen in einer Ecke – für Niro natürlich nicht erreichbar. Aber nach dem Willen der Pferdefresse brauchte er beides nicht. Er warf einen Blick zum Fenster, um abschätzen zu können, ob der Morgen schon graute. Verdammt, Niro war die ganze Nacht bewusstlos gewesen!

Er schnappte nach Luft, als er das schmale Mädchengesicht am Fenster sah. Jetzt war er sich ganz sicher, dass das Flügelwesen weiblich war. Die großen Augen unter dunklen Brauen, der weiche Mund, in dessen Winkel sich ein kleines Lächeln eingenistet hatte.

»Wenn ich dich erwische, drehe ich dir den dünnen Hals um!«, versprach Niro inbrünstig.

»So wie es aussieht, Niro«, sie betonte seinen Namen leicht, wie um zu zeigen, dass sie das Gespräch mit Pferdefresse belauscht hatte, »wirst du sterben, bevor du die Gelegenheit dazu bekommst.«

»Vielleicht kehre ich als Geist wieder und mache dir dein Dasein zu einem immerwährenden Aufenthalt in der Unterwelt. Aber das stört dich Miststück wohl wenig. Wahrscheinlich kommst du genau da her!«

»Das tu ich nicht. Ich habe selten so einen groben Klotz wie dich erlebt. Ich mache nur meine Aufgabe.«

Er legte den Kopf schräg. »Wie eine Götterbotin, welche die Seelen gefallener Helden ins Jenseits geleitet, siehst du nicht aus. Die haben erheblich mehr Oberweite als du.«

Sie wich empört ein Stückchen vom Fenster zurück, und jetzt konnte Niro sehen, dass der Himmel hinter dem kleinen Kopf glutrot schimmerte. Morgenröte. Verdammt!

Das Mädchen stieß sich vom Sims ab und verschwand in einem Aufflattern schwarzer Federn.

Niro versuchte, sich aus den Ketten zu winden, aber eher brach er sich etwas, als dass er entkommen sollte. Er versuchte es mit einem Stoßgebet zu irgendeinem lauschenden Gott, kam sich dabei aber so lächerlich und erbärmlich vor, dass er es lieber sein ließ.

An der Zellentür rasselten Riegel, dann schwang die Pforte auf, und ein Käfig auf Rädern kam in das Gelass. Geschoben von zwei schwitzenden Kerlen mit nackten Oberkörpern. Hinter ihnen ragte Pferdefresse auf und machte dem von Niro verliehenen Namen alle Ehre.

»Das läuft jetzt so ab, Dieb Niro: Die Stange wird mittels Ketten an dieser Kurbel befestigt und dann von der Wand gelöst. Dann darfst du zappeln, schreien und toben, während die Männer hier gemütlich an der Kurbel drehen, um dich in den Käfig zu ziehen. Ich freue mich auf diesen Anblick.«

»Ich möchte dir wirklich in die toten Augen pissen«, antwortete Niro beinahe fröhlich.

»Schade, dass von deinen Augen nichts übrigbleiben wird, worauf ich pissen kann. Vielleicht hätte ich dir die Zunge rausschneiden lassen sollen. Andererseits hat noch jeder in der Grube geweint und gebettelt. Und das möchte ich mir in deinem Fall ganz bestimmt nicht entgehen lassen.«

Niro blieb ihm eine weitere Antwort schuldig, da er das dumpfe Gefühl hatte, dass jedes weitere Wort nur ihn selbst erniedrigen würde. Stumm sah er zu, wie die Knechte Ringe in die Stange einhakten. Dann trat einer zur Kurbel und zog die Ketten stramm, bevor der andere die Stange von der Wand löste und sofort zu seinem Kumpan hinter den relativen Schutz des Gitters stürzte.

Niro folgte dem Zug ohne jede entwürdigende Gegenwehr. Er hatte das Gefühl, einen Blick zwischen den Schulterblättern brennen zu spüren. Wenn das gefiederte Scheusal zusah, sollte es sehen, wie ein Paladin aufrecht zur Hinrichtung schritt, verdammt!

Außerdem sparte es Kraft, sich nicht sinnlos zu widersetzen. Energie, die Niro vielleicht noch brauchen würde, sobald er ein Schlupfloch und eine Chance wahrnahm. Sinnloses Randalieren hingegen war nicht seine Art und vor allem unergiebig.

Die Käfigtür schnappte zu, kaum dass Niro sich im Gittergeviert befand. Die Pferdefresse grinste nun beinahe im Kreis. Hätte sie keine Ohren, würde der obere Teil des Kopfes wahrscheinlich herunterfallen. Niro stellte sich in kürzester Zeit zwei Dutzend Todesarten für den Kerl vor. Darunter einige sehr Phantasievolle.

Die beiden Knechte lösten die Ketten und zogen die Stange aus dem Käfig.

Erniedrigt, auf Knien in dem engen Gitterkasten zu kauern, wartete Niro mit allem Anschein von Seelenruhe ab. Doch selbst durch die dicken Mauern hörte er den Pöbel schon. Draußen vor dem Gefängnis warteten Hunderte von Menschen auf die Hinrichtung des einstmals gefeierten und verehrten Paladins. So wie das klang, würde es erneut eine Feier geben – rund um Niros Kadaver.

Eine Tür schwang auf, und rotes Licht flutete den Gang, durch den der Käfig geschoben wurde. Das Gejohle wirkte wie eine Wand, durch die sich die Knechte mühen mussten. Von einem recht ebenen Flur mündete die Fahrt auf Kopfsteinpflaster. Niro ließ die Gitter los, an denen er bislang Halt gesucht hatte, und stützte sich am Boden des stinkenden Gitterwürfels ab, um seine Knie zu entlasten. Vielleicht konnte er sie ja doch noch gebrauchen.

Für eine Vierteilung war der Käfig zu eng. Die Knechte mussten Niro herausholen, und dann hatte er vielleicht noch eine verschwindend geringe Aussicht, sich zu befreien oder zumindest Pferdefresse mit sich zu nehmen, bevor er durchbohrt wurde.

Er ließ den Blick rundum fliegen. Alles leuchtete in klarem, blutigem Rot. Wie passend. Voraus ein Tempel, vor dem der Pöbel sich zusammengerottet hatte. Keine Festung, das Kuhdorf durfte also noch nicht einmal den Zusatztitel Hald im Namen führen. Wie erbärmlich, dass es den Paladin von Amiens Hav ausgerechnet in so einer Bauernsiedlung erwischen sollte.

Niro erblickte einen Marktplatz vor dem Tempel, wo die Menschentraube jeden Schritt der Knechte und der Pferdefresse mit Kreischen und Gegröl quittierte. Gaststätten, Händlerhäuser, einfache Wohngebäude. Nichts, worauf ein Kerl wie Pferdefresse wirklich stolz sein durfte. Amtsvorsteher in einem Kaff, von dem Niro noch nicht einmal gewusst hatte, dass es existierte.

Er konzentrierte sich auf die Schonung seiner Gelenke, auf die Wärme seiner Muskeln, die sich langsam für einen Kampf vorbereiteten. Da standen bestimmt irgendwo Wächter herum. Der erste Angriff musste einem Soldaten gelten, dem Niro die Waffe zu entreißen gedachte. Er würde seine Haut so teuer wie möglich verkaufen!

Die Menschenmasse teilte sich, gab einen schmalen Gang frei. Niro duckte sich instinktiv, atmete aus und versuchte, den Käfig nicht vollkommen auszufüllen, um wild nach ihm greifenden Händen zu entgehen, nicht jetzt schon Schaden zu nehmen. Er brauchte seine Kraftreserven. Und nur einen Herzschlag lang Zeit! Nur einen winzigen Augenblick! Selbst die verstockten, tauben Götter mussten da doch ein Einsehen haben!

Der Karren rumpelte weiter durch die Menschengasse, und Niro erblickte einen Zaun. Dahinter: nichts.

Direkt vor den Tempeltoren befand sich ein riesiges, umzäuntes Loch. Kein schmückendes Geländer, sondern massive Eisenstangen, die an den Verbindungsstellen mit geschmiedeten Ringen fest verbunden waren. Ausreichend Abstände zwischen den Gittern, sodass jeder Kaffeinwohner in das dräuende Nichts blicken konnte. Das ganz eindeutig das Ziel für Niro samt Käfig darstellte.

Eine Grube. Da unten konnte alles Mögliche sein. Ausgehungerte wilde Hunde, Bären, Wasser, Feuer …

Niro schnupperte angespannt, konnte aber weder Rauch noch tierische Ausdünstungen über dem wabernden Gestank des Pöbels wahrnehmen. Eine frische Note wie von Brot und Gebäck, der muffige Dunst von Alkohol, der Niro mit jedem Atemzug der johlenden Menschenmasse entgegenwehte. Ein Volksfest, wie befürchtet.

Blaues Licht glomm hinter dem Zaun auf, kämpfte gegen das rosige Strahlen des aufgehenden Gestirns und gewann eine hässliche, pulsierende Kraft. Ein Pfad über der Grube. Aus magischem Licht.

Niro hoffte verzweifelt, dass man ihn vorher aus dem Käfig ließ, bevor man von ihm erwartete, auf dieses Leuchten zu treten. Aber seine Erwartungen auf eine Möglichkeit, zumindest ehrenhaft im tollwütigen Pöbel unterzugehen, schwanden, je näher er an den Zaun heran geschoben wurde. Ketten wurden vorne und hinten am Käfig angebracht. Dann zogen grinsende Wächter das Tor auf, und die Meute der Gaffer wich ein wenig zurück.

Schlagartig wurde es leise. So still, dass Niro das Rauschen des Windes und ein feuchtes Schmatzen aus der Grube vernehmen konnte.

Er schluckte krampfhaft und zwang sich, den Anschein von Seelenruhe aufrecht zu erhalten. Es fiel ihm mit einem Mal sehr schwer. Der Dunst des Pöbels wurde von einem widerwärtigen, warmen Geruch überlagert, der direkt durch die geöffnete Pforte nach Niro zu greifen schien.

Der Gitterwagen passierte die Pforte. Ketten rasselten, und Niro starrte in die Tiefe. Er wusste wirklich nicht mehr, was er erwartet hatte. Aber gewiss nicht etwas Derartiges. Unter der Brücke aus blauem Licht wogte ein schwarzes Meer, das ölig glitzerte und kleine Wogen wie Fühler einer Schnecke aufwärts streckte, als würde es spüren, dass dort etwas war.

Das Tor schlug zu, Riegel wurden vorgeschoben und landeten mit sehr endgültigem Krachen in ihren Halterungen. Der Pöbel schien die Luft anzuhalten, während Knechte entlang der Umzäunung an den Ketten zogen, um den rollenden Käfig weiter und weiter auf die Mitte der Grube zuhalten zu lassen.

Jetzt konnte Niro erkennen, dass der Lichtpfad nicht unvermittelt aufhörte. In der Mitte der Grube ragte eine Säule auf. Die obere Fläche bot einem Mann gerade genug Platz, zusammengekauert darauf zu sitzen.

Der Schleim in der Grube geriet heftiger in Bewegung. Immer mehr tentakelartige Wogen versuchten, nach Lichtbrücke und Käfig zu greifen.

Niro biss die Zähne schmerzhaft fest zusammen, um sie am Klappern zu hindern. Seine Muskeln krampften, damit sie nicht bebten. Schweiß strömte an ihm hinab, tropfte aus den Haaren und schließlich auf den dreckigen Boden des Käfigs.

Die erste nahezu panische Sorge, dass Pferdefresse seinen Gefangenen samt Käfig in den Schleim kippen würde, wich dem dämmernden Verständnis, dass man Niro auf die Säule bringen wollte. Und dann?

Zwei knappe Ellen vor der Säule hielt der Käfig an. Niro musste seine gesamte Selbstbeherrschung aufbringen, um nicht empfindlich zusammenzuzucken, als die Ketten entfernt wurden – alle.

Der Gitterwagen blieb wie verwaist auf der Lichtbrücke zurück.

Niro verharrte in der angespannten Haltung und griff nicht nach den Eisenstangen seines Käfigs. Angestrengt kämpfte er darum, zumindest nach außen hin ruhig zu erscheinen.

»Geliebte Bürger! Untertanen von Tolonis Hald!« Pferdefresses Stimme rollte über den erwartungsvoll schweigenden Pöbel.

Für diese kurze Begrüßung bekam der Kerl donnernden Applaus. Es dauerte, bis Kreischen und Johlen verebbten. Niro kam es wie Stunden vor. Seine Knie schmerzten, seine Finger fühlen sich kalt und taub an.

»Der Hochverräter und Dieb Niro ist unseren tapferen Truppen in die Hände gefallen!«

»Die Handvoll, die ich übriggelassen habe, nennst du Truppen?«, grollte Niro beinahe lautlos. Er sah mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination einem schwarzschillernden Schleimfaden zu, der die Säule hinaufkroch, sich zur Seite bog, als versuchte er den Käfig zu erreichen. Niros Puls beschleunigte sich rasant.

»Der königliche Haftbefehl liegt mir ebenso vor wie das über diesen erbärmlichen Schurken gesprochene Todesurteil.«

»Ich pisse in deine Augen, bevor du tot bist«, wiederholte Niro flüsternd seine Drohung und sah weiteren Tentakeln zu, die sich mühten, die Gitter zu erreichen. Sein Herzschlag hämmerte ganz oben in seiner Kehle.

Doch der Schleim reichte nicht hoch genug hinauf. Immer wieder fielen die schwarzen Spinnenbeine in sich zusammen und klatschten mit leisem Schmatzen zurück in die unruhig wogende Masse.

Ein Würgen kitzelte in Niros Kehle, kletterte mit eisigen Krallen die Speiseröhre hinab, schlug winzige Klauen in die weiche Innenhaut des Magens und nistete sich ein. Eierlegend, brutpflegend und so eiskalt, dass eine Gänsehaut über Niros gesamten Körper raste, jedes Nackenhaar aufstellte und wie eine Armee von Frostameisen über seine Kopfhaut rannte.

»Aber wir vergessen unsere Gebote der Höflichkeit! Jenes Scheusal, das es für angemessen hielt, unser aller König zu bestehlen«, die Stimme wand sich in schrille Höhen, »weiß ja noch gar nicht, wie es sterben wird!«

Das Schreien des Pöbels erreichte Niro kaum noch. Eine Wand aus Geräusch und Gestank menschlicher Ausdünstungen zog über ihn hinweg. Doch er hatte nur noch Augen für die schwarzen Fäden, die sich immer wieder hoffnungsvoll erhoben. Vielleicht hatten diese Tentakel Stimmen, die alles andere in den Hintergrund drängten. Vielleicht schnurrten sie wie Katzen, die mit einer Maus spielten. Oder sie röchelten leise wie zu Tode Verwundete auf dem Schlachtfeld, die nur ein Schluck Wasser sofort wieder beleben würde. Möglicherweise flüsterten die Stimmen aller erschlagenen Feinde zu Niro herauf, ließen die Stangen des Käfigs sanft vibrieren, als sie ihn allesamt anklagten und ihm versprachen, sich in der Unterwelt ganz besonders seiner anzunehmen.

Das Leinenhemd klebte wie eine zweite Haut an Niros Rücken, kühlte die bebenden Muskeln schmerzhaft ab.

Eine Bewegung wie eine Welle lief durch den Pöbel, dann kehrte wieder erwartungsvolle Stille ein. Unterbrochen vom Angstgeschrei eines Mannes.

Niro hob den Kopf, riss den Blick mit aller Kraft von den Schleimfäden los.

Aus dem Tempelportal trat eine Gruppe von Kopf bis Fuß verhüllter Männer in schwarzen Roben. Silbergarn vollführte protzige Linien auf dem dunklen Stoff. In der Mitte der Prozession vier Wächter, die einen halbverhungerten Mann mit sich schleiften. Haut und Knochen, das wenige, was noch von ihm da war, mit Striemen von Stockhieben überzogen.

»Ein Tempelfrevler!«, gellte Pferdefresses Stimme über den Markt, die Menschenmasse, über die Grube hinweg zum Tempel. »Seine Tochter war für das heilige Ritual erwählt, und er schaffte sie in der Nacht zuvor davon! Meine Soldaten und die Krieger des Tempels sind auf der Suche nach ihr. Doch mit Hilfe des Frevlers werden wir dem Dieb und Hochverräter zeigen, wie er sterben wird! Hinein mit dem dreckigen Schwein!«

»Lass den Mann in Ruhe!« Doch Niros Stimme ging unter im orkanartigen Kreischen der Menge.

Auf der Tempelseite wurde ein zweites Tor in der Umzäunung geöffnet. Der Pöbel quetschte sich überall dicht an die Absperrung. Menschen wurden beinahe zu Tode gedrückt. Niro sah überall nur rote, gierige Gesichter. Sein Magen hob sich, doch Niro biss die Zähne zusammen. Auf gar keinen Fall. Vor dieser Meute würde er sich keinesfalls soweit erniedrigen.

Der Schleim wogte zum zweiten Tor, und jetzt klang das Schmatzen und Klatschen zurückfallender Tentakel gierig, mehr als lebendig und eindeutig hungrig.

Die Priester verharrten still, und die Soldaten warfen den schreienden, um sich schlagenden Mann ohne das geringste Zögern in die Tiefe. Hunderte von Schleimzungen reckten sich dem Opfer entgegen, wickelten ihn noch über der brodelnden Oberfläche ein, bildeten einen öligen Film auf seiner Haut und zogen ihn mit einem Ruck hinunter ins Schwarz.

Gedämpft erklangen Schreie unter der brodelnden Schleimschicht. Eine Hand schoss nach oben, als hoffte sie auf einen Helfer. Die Haut war weggeätzt, rohe Muskeln, gelbe Sehnen und Bänder bewegten sich in unablässigen Zuckungen. Immer noch schrie der Mann unter den schwarzen Schichten. Ein Beinstumpf kam an die Oberfläche, Unterschenkel und Fuß komplett skelettiert.

 

Elee hockte hinter einem Türmchen der Tempelfassade und sah mit offenem Mund zu, was dem alten Mann geschah. Tränen des Entsetzens brannten in ihren Augen, als die Schreie nach viel zu langer Zeit endlich verstummten, während die Schleimtentakel Eingeweide durch die Gegend zerrten und ein nackter Schädel für einen Moment an der Oberfläche der widerwärtigen Masse trieb.

Mit einem halberstickten Keuchen wandte Elee sich ab und würgte hinter einer Götterstatue Galle hoch. Ihr Magen fühlte sich an wie mit Feuer ausgekleidet. Ein Krampf folgte dem ersten, bis Elee schwach und wie ausgebrannt neben der dampfenden Pfütze niedersank und sich Tränen von den Wangen wischte.

Der arme alte Mann!

Ihr Kopf ruckte hoch. Niro! Sie robbte eilig hinter der Götterstatue hervor, die Flügel ganz eng angelegt. Wenn die Kerle ihn nun in die Suppe stießen … schon gestoßen hatten, dann kam Elee vielleicht zu spät, um seine Seele zu bergen! Der Herr würde kochen vor Wut.

Doch der Käfig stand noch immer auf dem Lichtband. Gerade als Elee wieder klare Sicht auf die Grube bekam, wurde der vordere Deckel mittels eines Seiles hochgezogen.

Die Stimme des Mannes mit den gelben Zähnen erklang: »Ich zähle bis drei, Dieb Niro. Dann zerfällt die magische Brücke. Hast du bist dahin nicht die Säule erreicht, hast du deinen sofortigen Tod gewählt. Eins …«

Weiter kam der Kerl nicht, denn mit einer raubkatzenartigen Agilität schoss Niro aus dem engen Gitterkasten und kaum auf der Säule auf die Füße, richtete sich langsam auf und hielt den Kopf hoch.

Obwohl sie wegen der Bemerkung über ihre Oberweite noch verstimmt war und es Niro übel nahm, dass er bislang überlebt hatte, konnte Elee dieser aufrechten Haltung und betont würdevollen Ruhe doch etwas abgewinnen.

Mit knurrendem Magen nahm Elee zu Füßen des Gottes im Schneidersitz Platz, hüllte sich in die Schwingen und richtete sich auf geduldiges Warten ein. Wie lange überlebte ein Mensch ohne Wasser und Nahrung? Vielleicht schlief der große Kerl ja in der Nacht ein und plumpste in die schwarze Brühe. Oder ihm wurde in der Sonne zu warm, und er kippte deswegen von der Säule?

Dann sah Elee, dass Niro klatschnass geschwitzt war. Das Hemd klebte an seinem Körper und zeichnete deutlich jeden Muskel nach. Und das waren etliche, die sich dort entlang der Wirbelsäule, zu den Schultern hin und auf den Armen ballten.

Kritisch musterte Elee den Gott, der in heldenhafter Pose und nur äußerst mangelhaft bekleidet seine Brustmuskeln der Sonne entgegen reckte. Dann spähte Elee wieder zur Säule in der Mitte der Grube, sah erneut zum Gott auf und rümpfte die Nase. Ausgestochen von einem Sterblichen. Kümmerlich.

Während Elee gedankenverloren an einer Federspitze kaute, weil der Magen so wütend tobte, betrachtete sie das Muskelpaket genauer. Der Kerl sah aus wie ein bevorstehendes Gewitter mit Blitz, Donner und Hagel. Wie ein Pfeil auf der Bogensehne. Gespannt und bereit, irgendjemanden umzubringen. Außerdem war er kein netter Mann.

Niro setzte sich auf den Steinsockel, zog die Beine an, schlang die Arme um die Schienbeine und ließ den Kopf nach vorne auf die Knie sinken. Verzweifelt angesichts eines widerwärtigen Tods sah das nicht aus. Wahrscheinlich war ihm kalt, dachte Elee. Oder er wollte die Gaffer nicht länger sehen. Die fand Elee auch abscheulich.

Dagegen imponierte ihr die Ruhe des Kriegers. Auch wenn dies nur erzwungene Ruhe war und er gemeine Sachen über Elee gesagt hatte.

Ihr Magen rumpelte vernehmlich, als sich rund um die Grube die Menschen ein wenig mehr verteilten. Der Geruch nach bratendem Fleisch ließ Wasser in Elees Mund zusammenlaufen. Jetzt grollte ihr leerer Bauch nicht nur, er tat richtig weh. Da unten flossen Wein, Bier und Säfte in Strömen. Elee roch sogar frische, heiße Milch. Gekochte Grütze, ofenwarmes Brot, Suppen und vor allem der bratende Ochse am Spieß waren zu viel für sie. Sie musste Tränen fortzwinkern, bis ihr die Idee kam, sich einen Überblick über die Stadt zu verschaffen. Wieder zur Grube und vor allem zu den vielen Menschen zu sehen.

Elee atmete tief durch, spähte prüfend zu Niro, der keinesfalls so aussah, als wollte er sich innerhalb der nächsten Augenblicke freiwillig dem Schleim überantworten. Dann huschte Elee um die Säulen und Götterbilder herum zur Seite des Tempels, blickte in eine verlassene Gasse und breitete die Schwingen aus.

Wenn die Stadtbewohner sich alle die Bäuche rund um die Grube vollschlugen, standen Häuser und Läden doch bestimmt leer, oder? Nur ein Kanten Brot! Sie brauchte ja gar nicht viel, um ihren schmerzenden Magen zu besänftigen. Seit der Frucht vor so vielen Stunden hatte Elee nichts mehr gegessen!

Niro.

Sie schlug sich eine Hand vor den Mund und fühlte unter ihren Fingerspitzen ihre Wange heiß werden.

Elee wusste, wie der Mann hieß. Die Beute besaß einen Namen. Ein Name, der sich sehr wohl in Elees Gedanken zu fühlen schien!

Sein verlorener Ruhm und vergangener Titel erklärten das wundervolle Pferd, die rotleuchtende Rüstung – und Niros Fähigkeit, sich unbeschadet durch ein Schlachtfeld zu metzeln. Ja, fast hätte es Elee leid getan, den Stein zu werfen, der den Hünen gefällt hatte. Doch der Befehl des Herrn überwog alles, selbst Elees wohlig gruselnde Faszination angesichts eines Kriegers in der Blüte seiner Fähigkeiten und Kraft.

Wenn er der Paladin von Amiens Hav gewesen war, dann hatte er früher bestimmt in der Festung über der bunten Hafenstadt das Kommando innegehabt. Und ein so schönes Haus wie das Anwesen bewohnt, von dem aus Elee ihn bis zum ersten Zusammentreffen verfolgt hatte.

Sie sprang vom Sims, flatterte, um den Fall abzubremsen, und kam auf dem Straßenpflaster auf. Mit klopfendem Herzen sah sie sich über die Schulter nach dem lautstarken Treiben auf dem Platz rund um die Grube um, dann rannte Elee los. Irgendein Laden, ein offenstehendes Haus, irgendwo musste etwas zu Essen sein in dieser Siedlung! Und Elee brauchte Wasser. Im Gegensatz zu Niro, der auf seiner dummen Säule hockte und den vollkommen gelassenen Helden markierte, würde Elee sich satt trinken dürfen!

Sie kam auf einen kleinen Platz, der verlassen in der Morgensonne lag. Hühner wackelten geschäftig umher und kratzten im Unrat auf der Suche nach Dingen, die Hühner köstlich fanden. Oder unterhaltsam. Die Häuser besaßen keine Vorgärten, sondern standen direkt am Saum des gepflasterten Areals. Fenster standen offen, um die milde Morgenluft einzulassen. Auf Fenstersimsen im ersten Stock lagen Bettdecken zum Lüften.

Elee schlich auf Zehenspitzen an den Hühnern vorbei und versuchte die erste Tür. Die Klinke gab nach, und die Pforte schwang auf. Der Geruch nach frischem Brot überwältigte Elee beinahe. Auf dem Tisch lagen unter Tüchern drei Laibe, gerade zum Morgengrauen aus dem Ofen geholt.

Wie eine Schlange schoss Elee vor und packte eines der Brote samt des Tuches, presste diesen Schatz an die Brust und sah sich mit rasendem Puls und lautstark nach der Nahrung verlangendem Magen um, ob sie noch etwas stibitzen konnte.

Äpfel! Ein Korb stand neben dem Ofen. Hastig kniete Elee nieder und stopfte ein halbes Dutzend der Früchte in ihr Bündel, das sie immer noch umgebunden trug. Dann floh sie aus dem Haus und stürmte zum nächsten. Wenn sie überall nur eine Kleinigkeit mitgehen ließ, tat sie ja niemandem weh, nicht wahr? Und vielleicht fiel der Diebstahl auch nicht gleich auf.

Noch bevor sie das nächste Haus betrat, musste Elee einfach vom Brot abbeißen. Ihr leerer Magen hätte sie sonst umgebracht.

Lautlos überschritt sie die Schwelle und stand erneut in einer Küche, die vom Herdfeuer angenehm warm war nach der durchfrorenen Nacht. Elee hatte sich dicht an einen Schornstein in ihren Mantel gekuschelt und die Abwärme des Steins genutzt, um nicht die ganze Nacht mit den Zähnen zu klappern.

Hier war es gemütlich, und die Luft duftete nach einem köstlichen Eintopf, nach schmorendem Fleisch. Elee keuchte leise auf und rannte zum Herd, der wohlige Hitze abstrahlte. Ganz hinten am Rand stand ein Topf, in dem es leise gurgelte und blubberte. Elee verbrannte sich die Finger, als sie den Topfdeckel abhob und verzückt in die braune Masse blickte. Hastig griff Elee zum Kochlöffel und schaufelte sich vier große Portionen Eintopf in den Mund. Sie schluckte, ohne sich die Mühe des Kauens gemacht zu haben, fühlte die Wärme des Essens langsam in ihren Magen rutschen und stahl noch einen großen Löffel voll. Dieses Mal kaute sie, genoss die faserige Substanz des Fleisches, die Gewürze und die cremige Soße. Während Elee schluckte, spähte sie schon umher, ob sie noch etwas gebrauchen könnte. Ein verkorkter Wasserkrug neben dem Herd schien ihr wie gemacht, ihn mit in ihren Unterschlupf in der Tempelfassade zu nehmen.

Energisch bemächtigte Elee sich ihres Proviants, schob die Tür zum Platz ein Stück weit auf und spähte hinaus. Die Luft war rein! Elee rannte nach draußen und entfaltete dabei die Schwingen. Sie lief weiter, während die Flügel Luft schlugen und Elee endlich anhoben. Jetzt war es ein Leichtes für sie, dicht über den Hausdächern fliegend zum Tempel zurückzukehren und hastig in ihren kleinen Winkel zu schlüpfen. Sie lud Bündel, Wasser und Brot ab und kroch ein Stückchen nach vorne, um nach Niro zu sehen.

Unverändert kauerte er auf der Säule. Elee hatte nichts anderes erwartet, denn die Meute, die rund um die Grube ein Fest feierte, hätte bestimmt laut und begeistert gekreischt, wenn es den Krieger erwischt hätte.

Die Sonne entwickelte inzwischen mehr Kraft und trocknete Niros Hemd. Elee fand das ein wenig bedauerlich, denn der Anblick hatte ihr vorher sehr gefallen.

Sie entkorkte den Wasserkrug und trank gierig. Komisch schmeckte das Wasser, und es brannte auf Elees Zunge und Gaumen, bevor es sich wie glühende Kohlen den Weg die Speiseröhre hinab in den Magen bahnte. Dort brannte es weiter, und Elee verharrte erschrocken. War das am Ende gar kein Wasser? Doch als sie am Flaschenhals schnupperte, roch das Getränk nach Wasser – mit einer scharfen Note, die flüchtig wie Blumenduft sofort wieder verschwand, als Elee meinte, sie ausgemacht zu haben. Misstrauisch stellte sie den Krug sorgfältig verkorkt hinter die Götterstatue, die vorher als eine Art Abort hatte herhalten müssen.

Gedankenverloren rupfte sie Stückchen vom Brot ab, das immer noch einen Rest Wärme besaß. Es tat gut, etwas in den Bauch zu bekommen. Elee trank sogar noch etwas von dem brennenden Wasser, als ihr Mund sich trocken anfühlte. Beim zweiten Mal fühlte sich die Flüssigkeit schon gar nicht mehr so heiß an.

Elee fielen fast die Augen zu. Sie fühlte sich warm und sehr schläfrig. Außerdem musste sie feststellen, dass das Brot aufgegessen war. Es war wirklich kein sehr großer Laib gewesen, trotzdem überraschte es Elee, als sie das leere Tuch betrachtete.

Sie musste zwinkern, um Niro sicher ins Auge fassen zu können. Er verharrte wie zuvor. Sie wischte sich über die müden Lider. Es war bestimmt in Ordnung, wenn sie jetzt ein wenig schlief. Niro war zu stolz, um dem betrunkenen Pöbel ein Schauspiel zu liefern, von dem diese widerwärtigen Menschen noch ihren Enkeln berichten könnten. Wenn er sich entschied, in den Schleim zu springen, würde er das nachts tun, wenn die Aussichten gut standen, dass es keine oder nur wenige Zeugen für seinen elenden Tod gab. Elee fand diese Schlussfolgerung sehr weise. Auch befand sie, dass es eher zu Niro passen würde, sich freiwillig in das schwarze Elend zu stürzen, als auf Ohnmacht oder Schlaf zu warten. Dieser vormalige Paladin bestimmte sein Schicksal selbst.

Elee seufzte ein wenig neiderfüllt. Aber sie war mit einem Mal wirklich hundemüde. Nur ein wenig schlummern. Sie würde schon aufwachen, falls etwas Unvorhergesehenes geschah.

Ganz bestimmt. Elee kuschelte sich in die Schwingen, bettete den schweren Kopf auf das Bündel und schlief innerhalb eines Herzschlages ein.

 

Donner und stechende Schmerzen am ganzen Körper rissen Elee aus tiefem Schlummer.

Instinktiv riss sie die Schwingen über den Kopf und spähte unter der Deckung hervor.

Ein Gewitter zog über die Stadt. Blitze erhellten den Himmel mit gleißendem Silber, und sofort darauf hämmerte Donner durch die verlassenen Straßen. Hagelkörner gingen wie eine weiße Wand aus den tintenschwarzen Wolken nieder. Trotz der Deckung unter dem Götterdach wurde Elee von Splittern getroffen, als die Eisklumpen gegen Säulen und Statuen prallten und zerschellten.

Die Luft war so kalt, dass Elee Finger und Zehen nicht mehr spürte. Der Atem eine Wolke vor ihrem Gesicht, die vom niederprasselnden Hagel in Stücke gerissen wurde.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739465296
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (September)
Schlagworte
Helden Krieg König Zauberei Magie Schlachten Fantasy Heroic Romantic Fantasy Liebe Paladin Episch High Fantasy Liebesroman

Autor

  • Tanja Rast (Autor:in)

Geboren 1968 als echte Kieler Sprotte im nördlichsten Bundesland, wohne ich mit vielen Tieren auf dem Land. Nun habe ich neben meinen bisherigen und zukünftigen Verlagsveröffentlichungen das Abenteuer Selfpublishing für mich entdeckt. Ich schreibe Fantasy in allen möglichen Richtungen: Urban, Geistergeschichten, Gay Romance und Heroic Romance („Schmachten & Schlachten“, wie ich dieses Subgenre mit einem Augenzwinkern nenne) und noch viel mehr.
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Titel: Niro