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Sündenfeuer

Moorkamps zweiter Fall

von Erin J. Steen (Autor:in)
280 Seiten
Reihe: Moorkamps Fälle, Band 2

Zusammenfassung

Yoga könnte so entspannend sein, wenn da nicht ständig diese Leichen wären... Eine Leiche im Feuer stellt Emi vor ein Rätsel Klappentext: Die Yogalehrerin Emi Moorkamp möchte sich nicht mehr verbiegen. Von einem Seminar in ländlicher Idylle erhofft sie sich Impulse, wie sie ihre Berufung mit der Notwendigkeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen vereinbaren kann, ohne fortwährend faule Kompromisse zu machen. Als mitten in der Nacht ein Feuer im Gästehaus ausbricht, findet sie statt der erhofften Erleuchtung eine Leiche und schnell ist ihr klar: Es handelt sich um Mord! Mit Hilfe ihrer neuen Freundin Ella will Emi dem Täter auf die Spur kommen. Denn sie ist sicher, dass er sich in ihrem direkten Umfeld befindet. Gemeinsam suchen sie nach der Nadel im Aschehaufen und stoßen dabei auf mehr Geheimnisse als erwartet. Leserstimmen "Der Roman enthält durch das Brandopfer ein bisschen Krimi und durch die Konstellation der Personen ganz viel zwischenmenschliche Gefühle." "Erin zaubert einzigartige Charaktere." "Ein toller Cosy-Crime, der einen völlig mitnimmt. Spannend bis zum Schluss, Rätselfreude bis zum Schluss." Die bisherigen Bände der Reihe im Überblick: 1. Unter Verdacht: Moorkamps erster Fall 2. Sündenfeuer: Moorkamps zweiter Fall 3. Böser Geist: Moorkamps dritter Fall

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ÜBER DAS BUCH

Ein gutes Feuer reinigt alles. Nur Leichen lässt es nicht verschwinden.

Yogalehrerin Emi ist für ein Seminar auf Reisen in den kanadischen Wäldern. Was harmonisch aussieht, entwickelt sich zu einem heißen Fall, in dessen Verlauf sie sich nicht nur am Feuer die Finger verbrennen könnte...

Über die Autorin

Erin J. Steen lebt und arbeitet in Niedersachsen, nachdem sie einige Jahre in verschiedenen Orten im In- und Ausland verbracht hat. Haus und Garten teilt sie mit einem Mann, einer Tochter und zwei tierischen Gefährten.

Ihre Freizeit verbringt sie nicht nur mit dem Schreiben, sondern auch mit Spaziergängen im Wald, der Familie und stetig wechselnden kreativen Hobbys. Sie fotografiert, näht und denkt hin und wieder daran, das Töpfern zu erlernen.

Für Niko, meinen Hafen.

PROLOG

UNSCHULD UND SÜHNE

Tief seufzend stand er vor der Schlafnische in seinem Zimmer und streckte sich. Zwar hatte er an diesem Tag bereits reichlich Bewegung gehabt, aber ein innerer Drang trieb ihn trotzdem noch einmal nach draußen. Es war wie ein Juckreiz, der sich nicht durch Kratzen bekämpfen ließ.

Er schnürte sein wetterfestes Schuhwerk und warf sich die Jacke über. Die schmale Stufe vor der Tür knarzte, als er darauf trat. Aus den offenen Fenstern des Gästehauses drangen trotz der späten Stunde noch Stimmen. Das Team, das sich zu diesem Seminar hier traf, war wirklich speziell.

So viele Geheimnisse, so viel aufgestaute Wut, so viel Energie – ein Feldversuch in soziologischen Studien.

Der Boden unter seinen Schuhen knirschte. Das gefrorene Laub brach unter seinem Gewicht. Kleine Haufen zusammengekehrten Schnees lagen am Rand der Gehwege. Das Meiste war jedoch schon getaut.

Die Luft roch weiterhin nach Schnee. Sicher würde es diesen Winter noch einmal schneien. Ob es noch Stunden oder sogar Tage dauerte, wusste er nicht. Den Wetterbericht hatte er lange nicht mehr verfolgt. Es passierte ohnehin, was auch immer passieren sollte.

Das Dorf lag still und friedlich vor ihm. Strammen Schrittes marschierte er auf die ersten Häuser zu und durchquerte die inzwischen vertrauten Straßen. Nur in wenigen Fenstern schimmerte noch Licht nach draußen. Die meisten hatten sogar ihre Vorhänge zugezogen.

Kaum zu glauben, dass sich auch hinter diesen Wänden so viel Wut angestaut hatte. Schlechte Taten führten immer zu Reaktionen. Er war selbst lang genug vor seinen Verfehlungen davongelaufen, aber das gehörte der Vergangenheit an. Jetzt war er mit sich selbst im Reinen.

Als er ins warme Haus zurückkehrte, glaubte er nun endlich schlafen zu können. Das innere Kribbeln war gelindert. Alles war leise und die Lichter erloschen. Sein Körper war angenehm schwer und sein Kopf für diesen Moment leer.

Er hängte die Jacke zurück an den Haken und zog die Schuhe aus, ehe er den Schmutz unnötig im Raum verteilte. Er würde die Erholung vor dem morgigen Tag brauchen, ob er nun einschlief oder nicht.

Rasch schlüpfte er unter die Decke und schloss die Augen. Ein leises Quietschen hielt seinen Körper auf Anspannung. Da war nichts. Nur die alten Dielen, die sich regten. Davon hatte er sich er Sekunden zuvor überzeugt. Er zwang sich, die Augen geschlossen zu halten, um dem Drang nicht wieder und wieder nachzugeben.

Nur sein Geist, wollte mal wieder keine Ruhe geben. Dieses Haus, diese Menschen, diese Umgebung, irgendwas hier kratzte ihn so furchtbar auf. So fahrig, dass er ohne Gesellschaft nicht einschlafen konnte. Die Nähe eines anderen Körpers könnte ihm die Ablenkung schenken, die er brauchte, um sich für eine weitere Nacht zu erholen.

Dann spürte er eine Bewegung der Matratze. Es war tatsächlich jemand hier. In diesem Zimmer. Als er sich endlich erlaubte, die Augen aufzureissen, sah er nichts mehr. Keine Spur eines Lichtschimmers.

Etwas Weiches wurde ihm von dem Eindringling ins Gesicht gepresst. Etwas, das ihm langsam die Luft zu Atmen raubte. Er schlug um sich. Sein Puls raste. Doch selbst das Pochen in seinen Ohren war nicht laut genug, um das seltsame Knistern zu übertönen.

KAPITEL EINS

IM RAUSCH DER STILLE

EMI

In ein abgewetztes Ledersofa gekuschelt genoss Emi Moorkamp die Stille des Waldes rund um das Institut. Mächtige Bäume umstanden den Parkplatz und kündigten an, welche Naturgewalten jenseits der Gebäude auf die Besucher warteten. Sobald das Wetter, die Zeit und ihre körperliche Verfassung es zuließen, musste sie raus und erkunden, was die entlegene Gegend zu bieten hatte.

Nach der anstrengenden Reise wollte sie gleich etwas gegen den drohenden Jetlag unternehmen. Deshalb gab sie ihrem Drang nicht nach, sich schon am frühen Nachmittag ins Bett zu legen. Gefühlt hatte der Trip in das Dorf einige Kilometer nördlich der Stadtgrenze von Trois-Rivières im kanadischen Bundesstaat Quebec sie Wochen ihres Lebens gekostet.

Emi blätterte in einem Buch, das sie in einem Laden neben der Busstation in Montreal erstanden hatte. Ihre mitgebrachte Reiselektüre hatte sie schon im Flugzeug aufgebraucht. Wer hätte gedacht, dass sie für diese Reise mehr als einen durchschnittlichen Roman brauchte?

Normalerweise beschäftigte sie sich mit anderen Tätigkeiten, doch wenn sie an einen Sitz gefesselt war, brauchte sie ein Buch oder zumindest eine Zeitschrift. In den Bus zu steigen und die rund zweistündige Fahrt nach Trois-Rivières anzutreten, ohne weiteren Lesestoff zu besorgen, war also ein Ding der Unmöglichkeit. Zu ihrem Glück verfügte das Geschäft neben französischsprachigen Büchern auch über eine Ecke mit Romanen in englischer Sprache. Das Eckregal war schmal und bot nur eine eingeschränkte Auswahl, doch ein Buch fiel ihr sofort ins Auge. Es war bunt und strahlte Kreativität und Neuanfang aus.

Dann waren ihr im Bus jedoch so schnell die Augen zugefallen, dass sie nicht zum Lesen kam. An der Haltestelle in der kanadischen Stadt am Zusammenfluss des Sankt Lorenzstroms mit dem Saint Maurice wurde sie von einer kommunikationsfreudigen Kanadierin abgeholt. Sie hieß Ella und schien ein wahrer Quell positiver Energie zu sein. Mit jedem ihrer Worte versprühte sie gute Laune und Zuversicht. Bereits auf ihrer ersten gemeinsamen Autofahrt hatte sie Ella ins Herz geschlossen. Die Kanadierin war ein paar Jahre jünger als Emi und arbeitete als Mädchen für alles in dem Institut, an dem Emi ein einwöchiges Seminar besuchte.

Dort hatte sich Emi sofort wohl gefühlt, als sie das urige Holzhaus am Waldrand zum ersten Mal betrat. Der Holzfußboden lud dazu ein, ihn auf dicken Socken zu erkunden. Also hatte sie ihre Schuhe im Zimmer ausgezogen und an der kleinen Garderobe neben der Zimmertür abgestellt. Es war ein Raum, der gerade genug Platz für das Bett und ihren Koffer bot. Doch das war genug, weil es ein gemütliches Foyer gab, in dem sie sich aufhalten konnte. Direkt nebenan wohnte Ella und noch hatten sie das ganze Haus für sich. Erst am nächsten Tag ging der Trubel so richtig los. In weiser Voraussicht hatte Emi ihre Ankunft um einen Tag vorgezogen, denn sie hatte geahnt, dass sie nach der Reise um den halben Erdball nicht in der Lage wäre, den Ausführungen ihres Seminarleiters zu folgen. Ella erwartete noch einen weiteren Gast, der ebenfalls einen Tag früher anreiste, doch bislang war von dem nichts zu sehen.

Draußen hatte ein feiner Nieselregen eingesetzt, der den verbliebenen Schneematsch langsam aufweichte. Die Temperaturen sanken auf den Gefrierpunkt. Emi war froh, dass sie nicht mehr mit dem Auto unterwegs waren. Sicher gefror das Wasser auf den freien Straßen zu einer Eisschicht. Der Winter war in diesem Teil der Welt Mitte März noch nicht ganz vorbei. Die Dachbalken über ihrem Kopf knirschten unheimlich, aber das Holzhaus stand seit vielen Jahren und würde sicher auch diesem Winter standhalten. Sie warf einen Blick auf den Eingang. Der Parkplatz davor war noch immer so leer wie bei ihrer Ankunft.

Emi zog die Füße auf die Polster und umfasste die Tasse mit dampfendem Kakao. Ella hatte ihr sofort gezeigt, wo alles stand, und ihr gesagt, sie dürfe sich jederzeit an allem bedienen. Im Augenblick wuselte die junge Kanadierin durch das Haus und erledigte die letzten Vorbereitungen auf die Seminarwoche. Deshalb hatte sie von dem Angebot gleich Gebrauch gemacht und sich eine heiße Schokolade zubereitet. Der Umstand, den manche als mangelnden Service empfinden mochte, gab Emi ein wenig mehr das Gefühl, hier zuhause zu sein. Ein Ort so weit weg von daheim und doch bewahrte sie sich dadurch ein Stück Eigenständigkeit. Weder musste sie auf jemanden warten noch darum bitten, ihr etwas zu bringen. Sie konnte sich selbst nehmen, was sie wollte und wann immer sie es wollte. Für Emi war das genau die richtige Art zu reisen.

Das süße Schokoladenaroma stieg ihr in die Nase und verlockte sie, an der Tasse zu nippen. Noch zu heiß. Stattdessen nahm sie ihr Buch zur Hand und tauchte erneut in die Seiten ab.

»Was liest du denn da?«

»Oh, das ist ‚Big magic‘.« Emi klappte das Buch zu und sah zu der jungen Blondine auf. Ella hatte ein ausgesprochen hübsches Gesicht. In Hollywood wäre sie unter den amerikanischen Schönheitsköniginnen nicht aufgefallen, hier in der Wildnis strahlte sie hingegen wie ein Stern.

»Ein Zaubererhandbuch?«, fragte Ella mit einem schelmischen Grinsen auf den Lippen.

»Sowas in der Art«, gab Emi schmunzelnd zurück. »Aber eigentlich ein Leitfaden für Menschen, die sich mit einer kreativen Arbeit selbstständig machen wollen.«

»Aha, was machst du denn beruflich?«

»Nichts Kreatives, glaube ich«, erwiderte Emi plötzlich unsicher. Nachdem sie die ersten Seiten des Buches gelesen hatte, schwand ihre Überzeugung, dass ihr Beruf kein Kreativer war. Die Beschreibungen der Autorin schienen einfach zu gut auf sie zu passen. »Ich unterrichte Yoga, aber eigentlich habe ich vorher Medizin studiert.«

»Verdient man in Deutschland nicht eine Menge Geld als Arzt? Warum gibst du das auf?«

»Ich habe es nicht wirklich aufgegeben. Ich versuche nur, mir meinen Traum zu erfüllen, und der ist es, mein Lebensgefühl an andere Menschen weiterzugeben. Yoga hat mir selbst so viel gegeben, dass ich gerne etwas zurückgeben würde, verstehst du?«

»Hm, ja irgendwie schon.« Ella richtete ihren Blick in die Ferne. »Aber verdienst man damit denn auch was? Du musst doch von irgendwas leben.«

Damit traf sie den Nagel auf den Kopf. Genau aus diesem Grund war Emi zu dem Seminar gereist. Sie wollte dabei lernen, welche Veränderungen sie an ihrem Businessmodell vornehmen musste, um davon auch leben zu können. Für sich selbst brauchte sie nicht viel, aber wenigstens das Geld für Miete, Essen und ab und zu ein paar Kleidungsstücke oder eine Reise wollte sie mit ihrer Arbeit verdienen. Bislang reichte es nicht einmal regelmäßig für die komplette Monatsmiete. Ohne die Unterstützung ihrer Eltern hätte sie ihren Traum niemals verwirklichen können. Sie war den Beiden unendlich dankbar, dass sie ihr nun auch noch dieses Seminar finanzierten, aber danach sollte mit der elterlichen Finanzierung endgültig Schluss sein.

Wenn es nach dem Coaching nicht funktionierte, würde sie zurück in die Klinik gehen und ihre Facharztausbildung absolvieren. Das hatte sie ihren Eltern versprochen, obwohl weder ihr Vater noch ihre Mutter davon etwas hören wollten.

* * *

ELLA

Sie hatte das Ausräumen des Trucks bis zur letzten Minute aufgeschoben. Aber wenn sie die Sachen noch länger draußen ließ, riskierte sie, dass die Bananen einen Frostschaden bekamen. Der Regen hatte die Stufen vor dem Hintereingang glitschig werden lassen. Ella war jedoch umsichtig genug, deshalb nicht zu stolpern. Ein unverkennbares Knirschen kündigte ein Fahrzeug an, das auf den Parkplatz des Seminarhauses einbog. Das war bestimmt der zweite Gast, der an diesem Tag noch kommen sollte, denn normalerweise verirrte sich sonst niemand hierher. Das Gebäude lag am nördlichen Ende des Dorfes. Es war hinter einer Reihe Bäume so gut versteckt, dass man es von der Straße aus nicht sehen konnte, wenn man nicht aktiv danach suchte.

Sie schnappte sich die letzte Kiste, balancierte sie auf einem Knie und schlug mit der freien Hand die Kofferraumklappe zu. Um rechtzeitig an der Rezeption zu sein, ließ sie den Stapel Kisten zunächst mitten in der Küche stehen und huschte hinaus ins Foyer.

Eine kleine Frau mit aschblondem Haar trat genau in dem Augenblick durch den Eingang. Sie zog einen unhandlichen Koffer hinter sich her, der wie ein ungestümer Hengst bockte. Ella eilte herbei, um der Blondine zu helfen, den Koffer zu zähmen, und erntete für ihr Engagement ein breites Lächeln.

»Vielen Dank, das ist sehr lieb. Das Ding hat eine kaputte Rolle und hier in dem Schnee, kann ich ihn nur hinter mir her schleifen,« klagte sie.

»Ja, es ist wirklich noch ziemlich verschneit bei uns,« stimmte Ella ihr zu. Für Gäste, die aus weiterer Entfernung anreisten, war es manchmal unvorstellbar, dass in Quebec tiefster Winter herrschte, während anderenorts bereits der Frühling in vollem Gang war. »Vielleicht habt ihr Glück und der restliche Schnee ist bis morgen Geschichte.«

Mit dem Finger zeigte sie nach draußen. Der andauernde Regen ließ die Schneeschicht porös werden. Wenn es lange genug so blieb, würde alles schmelzen. Im Augenblick war es noch zu kalt, aber möglicherweise gab es am nächsten Tag richtiges Tauwetter. Ella konnte es gar nicht erwarten, dass der Winter endlich das Land aus seinen Fängen entließ.

»Na, das wäre doch etwas«, gab die Frau mit dem störrischen Koffer zurück.

Ella bat sie um ihre Unterlagen, damit sie schon einmal mit den Formalitäten beginnen konnte. In ihrer übergroßen Handtasche wühlend fluchte die Amerikanerin leise. Doch schließlich beförderte sie die beiden Dokumente zutage.

Emi kletterte flink von dem Podest, auf dem die Sofalandschaft stand, und trat zu ihnen. »Soweit ich gehört habe, sind wir bis morgen allein hier, deshalb wollte ich mich kurz vorstellen.« Mit einem offenen Lächeln verwickelte sie die Neue schnell in ein Gespräch. Ella nutzte die Chance und verzog sich hinter die Theke, die den Rezeptionsbereich vom Gemeinschaftsbereich trennte. Erst dort warf sie einen Blick auf den Ausweis und verglich die Frau vor ihr mit den Daten.

Das Dokument wies die Blondine als die 24-jährige Sara Walker aus, doch sie wirkte deutlich älter. Da sie bei ihrer Arbeit täglich mit Menschen zu tun hatte, kannte sie sich mit Gesichtern aus. Auf der Stirn bildeten sich bei ihr Sorgenfalten und sogar an den Augen waren erste Fältchen erkennbar. Ein paar harte Jahre hatte sie sicher hinter sich, um vorzeitig so sehr zu altern.

»Du bist also Sara. Freut mich, dich kennenzulernen.« Sie reichte ihr die Hand über die Theke hinweg, die Sara begeistert schüttelte. »Ich bin Ella und kümmere mich hier um alles, was Essen, Zimmer und Organisation betrifft. Wenn du irgendwelche Fragen hast, kannst du dich jederzeit an mich wenden.«

Die Amerikanerin lächelte noch einmal breit. »Ich bin so froh, dass ich endlich hier bin. Ich kann es kaum erwarten.«

Sie zeigte Sara ihr Zimmer, das wie ihr eigenes im Erdgeschoss lag. Gerade als sie wieder im Haupthaus ankam, ertönte aus der Küche ein ohrenbetäubendes Scheppern. Ella ahnte Böses. Es konnte nur eine Erklärung für einen solchen Tumult geben. Sie warf einen Blick hinüber zu Emi, die ebenfalls von den Geräuschen aufgeschreckt vom Sofa gesprungen war. Mit den Händen signalisierte sie ihr, dass sie sich wieder setzen sollte, und trat den unvermeidlichen Weg in die Küche alleine an. Die ersten lautstarken Flüche donnerten ihr entgegen, noch ehe sie die Tür ganz geöffnet hatte. Genau wie erwartet, waren ihre Einkäufe umgekippt und dutzende Tomaten rollten über die Fliesen. Mitten in dem Chaos stand ihr Chef und funkelte sie böse an.

»Kannst du nicht aufpassen, wo du deinen Scheiß hinstellst?«, moserte Jacob Gordon. Sie seufzte schwer und ersparte sich eine vorlaute Antwort. In den Monaten, die sie jetzt bei ihm arbeitete, hatte sie ihn mehr als einmal schlecht gelaunt erlebt. Er war ein Mann, der seine Emotionen nur auf der Bühne im Griff hatte. In letzter Zeit fuhr er immer häufiger ohne erkennbaren Grund aus der Haut. Woran das liegen mochte, konnte Ella nur raten. Mangelnde sexuelle Auslastung war es sicher nicht. Das junge Mädchen aus dem Ort war so oft in Jacobs kleiner Hütte zu Gast, dass er ausreichend Sex hatte, wenn er es nicht komplett falsch anstellte.

»Entschuldige, ich bin noch nicht dazu gekommen, alles wegzuräumen.«

Ella kniete sich zwischen die Kisten, um die verstreuten Tomaten aufzusammeln. In ihrem Kopf begann es zu arbeiten. Wenn sie den Essensplan etwas anpasste und schon heute die für den nächsten Tag angedachte Tomatensuppe kochte, entstand durch das Missgeschick vielleicht kein Schaden. Leider waren die Mengen eher für die große Gruppe zum Seminarstart geplant, aber wenn sie die angestoßenen Früchte nicht schnell verarbeitete, konnte sie gleich wegwerfen. Das bedeutete aber, dass sie sich für den nächsten Tag etwas Neues einfallen lassen und noch einmal zum Großmarkt fahren musste.

»Wo zur Hölle warst du überhaupt so lange?«

Sie hatte wirklich genug von seiner miesen Laune, aber er war immerhin ihr Chef. Falls er meinte, er fände an der nächsten Ecke eine Bessere für den Job, würde er sie bedenkenlos vor die Tür setzen und sie konnte zusehen, womit sie in Zukunft ihr Geld verdiente. Sie wollte ihrem großen Bruder nicht schon wieder monatelang auf der Tasche liegen.

»Tut mir leid, es hat alles etwas länger gedauert in der Stadt. Ich musste noch zu einem zweiten Supermarkt, weil ich im Ersten nicht alles bekommen habe.«

Viel lieber hätte sie natürlich gesagt, er solle seinen faulen Arsch selbst mal bewegen, statt immer nur sie arbeiten zu lassen, aber sie riss sich am Riemen, um den Frieden zu wahren.

»Ach, lass mich doch mit diesem Quatsch in Ruhe. Du kannst die Gäste hier nicht ewig warten lassen.«

Langsam war es aber genug. Sie ließ sich zwar viel sagen, aber irgendwann riss sogar ihr der Geduldsfaden. Die Gäste mussten bei ihr nie unnötig warten. Sie trödelte nicht und überhaupt machte sie in diesem Haus die Arbeit von mindestens drei Mitarbeitern.

»Es war doch noch niemand hier, jetzt reg dich nicht so künstlich auf!«

Es hätte leicht sein können. Er hätte nun nachgeben können, aber er wäre nicht Jacob Gordon, wenn er sich von seiner Mitarbeiterin etwas sagen ließe. Sie sah in seinen Augen, wie er nach irgendetwas suchte, dass er ihr vorwerfen konnte.

»Ich rege mich auf, wann es mir passt. Wenn du so klug wärst, hättest du ja selbst einen Uniabschluss machen können, anstatt hier für ein paar Kröten zu jobben.«

Ihr Unterkiefer schmerzte, als hätte er ihr einen Haken versetzt, dabei waren seine Worte eigentlich ein Tiefschlag. Er hatte genau die Stelle erwischt, die ihr wirklich weh tat. Sein besonderes Talent war es, die Menschen zu durchschauen. So verkaufte er zwar einerseits seine Seminare, aber er vergraulte auf diese Weise auch jeden Menschen in seinem Umfeld. Sie war 26 und wusste immer noch nicht, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte. Ihr fehlten eine fundierte Ausbildung und vor allem ein Ziel. Mit Sicherheit hatte sie nicht vor, ewig für einen Pascha zu arbeiten, der erwartete, dass sie sich ein zweites Paar Arme wachsen ließ, während er sich den Hintern platt saß.

KAPITEL ZWEI

ALLES FLIESST

EMI

Der Duft nach reifen Tomaten erfüllte das ganze Haus. Emi schlug die Augen auf. Es dauerte einen Moment, bis sie sich wieder vollständig orientiert hatte. Sie befand sich im Foyer des Instituts.

Vor den Fenstern war es dunkel geworden, doch im Inneren des Hauses herrschte eine behagliche Beleuchtung. Ganz leise erklangen fremde Melodien über die Lautsprecher. Der Rücken tat ihr weh. Das Sofa war für erholsamen Schlaf offenbar nicht geeignet.

Trotzdem waren ihr beim Lesen irgendwann die Augen zugefallen. Auf ihrer Brust lag noch immer das Buch, das ihre Träume durcheinander gewirbelt hatte. Es war inspirierend. Vieles geriet in ihr dadurch in Bewegung.

Der Ratgeber stellte Dinge in Frage, die sie für unumstößlich gehalten hatte. Im Traum hatte sie begonnen, ihr Leben gründlich zu entrümpeln. Und dann gab es da einen Streit. Hatte sie das auch geträumt oder war es wirklich passiert?

Sie folgte dem Lockruf des Gemüses in die Küche. Während Ella das Essen abschmeckte, erkundete Sara die Funktionen der Kaffeemaschine.

»Willst du auch was trinken?«, fragte die Amerikanerin mit einem Fingerzeig auf das Gerät. »Ich kenne mich jetzt super damit aus.«

Ella schmunzelte, sagte jedoch nichts. Sara winkte ab und lachte.

»Ja, ja, ich habe mich vorher zweimal verdrückt und musste dann das ganze Programm über Satzbehälter leeren, Düsen spülen und Bohnen nachfüllen absolvieren.« Sie machte eine abwägende Handbewegung und zuckte schließlich mit den Schultern. »Wahrscheinlich erkennt die Maschine, dass ich hier neu bin!«

Emi musste ebenfalls über die aufgedrehte Amerikanerin grinsen und tat ihr den Gefallen. »Dann nehme ich bitte noch einen Kakao.«

Zehn Minuten später saßen die drei Frauen zusammen im Speisesaal, der viel zu groß für sie wirkte. Emi hatte sich beim Eindecken viel Mühe gegeben, den Raum gemütlich zu gestalten, doch ihre Möglichkeiten waren begrenzt. Ein paar Kerzen hier und da mussten genügen.

»Mhh, echt lecker«, lobte Emi Ellas Kochkünste aufrichtig. Die gewählten Gewürze ließen den Tomatengeschmack intensiv in den Vordergrund treten. Wann immer sie zuhause Suppe aus holländischen Tomaten kochte, wurde sie fade und wässrig. Sie musste sich unbedingt das Rezept von Ella geben lassen. »Was hat dich eigentlich in diesen Laden hier verschlagen?«

Ella legte den Kopf schief und zog einen Mundwinkel hoch.

»Göttliche Fügung? Nein, wahrscheinlich nicht. Es gab eine Anzeige und ich habe mich beworben. Ende der Geschichte.«

»Hast du hier in der Gegend gelernt?«, schaltete sich nun auch Sara ein.

»Nein, ich habe nichts Richtiges gelernt. Ich bin noch immer auf der Suche nach mir selbst.« Ihre Worte begleitete ein Lächeln, aber das nahm ihnen nicht das Gewicht. Emi verstand, was es hieß, ziellos zu treiben, obwohl sie mittlerweile wusste, was sie vom Leben wollte.

»Du wirst bestimmt bald fündig, aber vielleicht solltest du nicht unbedingt hier suchen«, riet sie der jungen Kanadierin. »Es klang vorhin nicht so, als wüsste dein Chef dich zu schätzen.«

Sie konnte nun wieder klar Traum von Realität trennen und war sich sicher, dass es den Streit tatsächlich gegeben hatte. Den genauen Wortlaut bekam sie zwar nicht mehr zusammen, aber dass es hier nicht besonders freundlich zuging, hatte sie sehr wohl gespürt.

»Ach, das war doch nichts.« Ella winkte ab und schien plötzlich dringend darauf bedacht, das Thema zu wechseln. »Was verschlägt euch denn beide hierher?«

Emi lehnte sich zurück und ließ Sara den Vortritt. Einerseits war sie selbst neugierig auf die Geschichte der anderen Teilnehmer und freute sich, dass sie so schon vorab die Gelegenheit hatte, etwas über eine von ihnen zu erfahren. Andererseits hinterließen Ellas Worte und die Erinnerung an den Streit bei ihr ein Bauchgefühl, das sie nicht so recht einzuordnen wusste. Sie beobachtete das Mädchen, das ihr von Anfang an so extrem positiv vorgekommen war. Mit einem Mal überzeugt, dass es Geheimnisse gab, die sie vor ihr verbarg. Natürlich war Emi eine vollkommen fremde Person für Ella, doch sie hatte geglaubt, sie schwangen auf der gleichen Wellenlänge.

»Ich habe einen Job, der mir keinen Spaß macht, und eine Tochter, der ich nicht vorleben möchte, dass man keine Träume haben darf. Deshalb versuche ich jetzt, herauszufinden, was mein großer Traum ist und wie ich ihn verwirklichen kann. Meine Kayla soll sehen, dass es sich lohnt, nach den Sternen zu greifen«, schloss Sara ihre Vorstellung ab.

»Das klingt doch toll.« Ella mied Emis Blick und konzentrierte sich darauf, Sara am Reden zu halten. »Darf ich fragen, warum du nicht weißt, was dein großer Traum ist? Ich meine, ich sehe hier so viele Leute, die alle genau zu wissen scheinen, was sie erreichen wollen. Da kommt es selten vor, dass jemand – genau wie ich – einfach keinen Schimmer hat.«

Sara kaute auf ihrer Unterlippe und grübelte. »Es ist nicht so, dass ich nie einen Traum hatte. Aber der Traum ist Geschichte. Jetzt brauche ich einen Neuen.«

»Was ist denn mit deinem alten Traum passiert?«, fragte Emi vorsichtig. In Saras Augen konnte sie Traurigkeit und Enttäuschung erkennen.

»Ich wurde schwanger«, antwortete sie knapp.

»Aber das ist doch kein Grund, seine Träume aufzugeben«, wandte nun Ella ein.

Schwer atmend blickte Sara zwischen ihnen hin und her. »Ich hatte gerade mit meinem Studium angefangen, als ich schwanger wurde. Meine Eltern haben mich rausgeschmissen und zu meiner Tante nach Boston geschickt. Damit konnte ich mein Studium erstmal vergessen.« Sie stützte den Kopf auf die Hände und schaute verträumt in ihre Suppe. »Wisst ihr, ich bin in einer strengen Gemeinde aufgewachsen. Es gehörte sich einfach nicht für ein Mädchen, schwanger zu werden, ohne dass es einen Vater gab, der Verantwortung übernahm. Und so musste ich eben weg, ehe ich meinen Eltern Schande machen konnte.«

Kopfschüttelnd schwiegen Ella und sie über die traurige Geschichte der jungen Frau. Kaum zu glauben, was ihr widerfahren war. Wie ungerecht es in ihrer Welt zuging. Als nächste erzählte Emi, wie sie zu diesem Seminar kam. Viel weniger dramatisch war ihr eigenes Schicksal. Deshalb berichtete sie auch deutlich zurückhaltender von den Dingen, die Ella bereits grob kannte: Medizinstudium, Yoga, Selbstständigkeit, Versagen. Sie warf einen Blick auf die Uhr ihres Telefons.

»Hey, wenn ihr möchtet, gebe ich euch gerne sofort eine Probestunde.«

Etwas Bewegung konnte sie vor dem Einschlafen wirklich gut gebrauchen und es wäre schön, wenn sie den Beiden etwas von ihrem Können zeigen dürfte. »Danke für das Angebot, aber ich gehe lieber gleich ins Bett. Vielleicht morgen«, lehnte Sara sofort ab. Auch Ella schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das ist nichts für mich.«

Die Zurückhaltung enttäuschte Emi, doch sie war Profi genug, es sich nicht anmerken zu lassen. Solche Ausreden und weit Schlimmeres hatte sie im letzten Jahr oft genug gehört, um es verkraften zu können. Ihr Entschluss, noch etwas zu tun, geriet dadurch nicht ins Wanken.

»Kann ich trotzdem irgendwo einen Raum benutzen, der etwas größer ist als mein Zimmer?«

»Ja, klar, komm mit.« Ella sprang vom Tisch auf und zog Emi mit sich. Sie durchquerten das Haupthaus, bis sie schließlich vor einer geschlossenen Tür im Foyer stehen blieben. Mit dem Schlüsselbund an ihrer Hüfte öffnete Ella sie und bat Emi hinein.

»Das ist der Raum, in dem euer Seminar stattfinden wird. Weil hier der Beamer und der Laptop stehen, ist meistens abgeschlossen, aber natürlich darfst du hier trainieren.«

»Danke, das ist lieb.«

»Willst du mich vielleicht morgen früh in die Stadt begleiten? Ich muss noch etwas einkaufen und wir könnten irgendwo nett frühstücken.«

Überrascht von der unvermittelten Rückkehr zur anfänglichen Vertrautheit, nickte Emi wortlos. Vielleicht hatte sie sie doch nicht falsch eingeschätzt, sondern nur ein Thema berührt, das ihr unangenehm war.

»Super. Ich wecke dich dann rechtzeitig.«

Mit diesen Worten verschwand sie wieder in Richtung des Speisesaals und ließ Emi in dem Raum zurück, der nur von dem aus dem Foyer einfallenden Licht erhellt wurde. Die schummrige Beleuchtung gefiel ihr. Sie überlegte, die Matte aus ihrem Zimmer zu holen, entschied sich aber dagegen. Ein paar Dehnübungen für den Pranafluss würden für den Abend reichen, dafür brauchte sie keine Unterlage.

Sie hockte sich im Schneidersitz vor die tiefen Fenster. Ihr Nacken gab knackende Laute von sich, als sie ihren Kopf in alle Richtungen bewegte. Für ein paar Minuten schloss sie die Augen, um zu erspüren, in welchen Körperregionen ihre Blockaden von der Reise lagen und mit welchen Übungen sie sich austreiben ließen. Ihr Atem floss ruhig dahin und sie genoss den leisen Wind, der durch die Bäume strich. Noch immer fielen Regentropfen durch die Äste und gefroren auf dem Schnee zu einer zarten Eisdecke.

Als sie glaubte, zu wissen, was ihr Körper brauchte, begann sie mit ihren Übungen. Energie strömte durch sämtliche Gliedmaßen. Sie dehnte die Flanken und spürte in einer tiefen Vorbeuge ihre rückseitigen Faszien. Jenseits der Fenster hörte sie ein Knacken. Es war so ruhig um das Haus herum, dass sie mit ihren geschärften Sinnen sogar das Brechen eines Astes hören konnte. Sie schüttelte den Kopf und besann sich wieder auf ihre Haltung. Da war es erneut. Dieses Mal schien es näher zu sein. Aus einem unbestimmten Gefühl heraus zog sie sich hinter die Wand zurück und spähte durch das Fenster. Was oder wer auch immer da draußen war, sollte sie auf keinen Fall sehen. Zwischen den Bäumen drang ein Leuchten hindurch. Sie sah genauer hin. Dort hinten stand gut versteckt eine Hütte, deren Tür sich öffnete. Der Lichtstrahl wurde größer und eine schlanke Gestalt huschte durch den Spalt. Dann schloss sich die Tür und das Licht verschwand.

* * *

ELLA

Der alte Geländewagen schnurrte wie eine Katze, die es sich vor dem Ofen gemütlich gemacht hatte und rollte mitsamt seiner Ladung sanft auf die Rue des Prairies. Die Einkäufe waren endlich erledigt. Sie war es so leid, alle Besorgungen für einen ganzen Hotelbetrieb in einem Supermarkt zu erledigen. Doch Jacob weigerte sich strikt, für Lieferungen aufs Land extra zu bezahlen. Er zahlte lieber für Ellas Zeit und das Benzin und motzte sie anschließend dafür an, dass sie so lange unterwegs war. Nach seinen Beleidigungen vom Vortag hatte sie sich vorgenommen, mit ihm in Zukunft nur das Nötigste zu besprechen. Er verdiente weder ihre Freundschaft noch ihre Loyalität. Wenn sie in der Woche nach dem Seminar wieder ein paar Tage frei hatte, wollte sie sich einen anderen Job suchen. Sie mochte die Arbeit in einem kleinen Hotelbetrieb und die Gäste, aber seine Launen hielt sie einfach nicht mehr aus.

Sie durchquerten das nordwestliche Ende der Stadt, wo die Station der Sûreté du Québec lag, bei der ihr Bruder Rick arbeitete. Sein Haus, in dem sie ebenfalls wohnte, lag auch in diesem Teil von Trois-Rivières. Zur Belohnung für den stressigen Einkauf steuerte Ella als nächstes die Boulangerie Manette an. Bei Manette gab es nicht nur die besten Croissants der Stadt, sondern genau die friedvolle Atmosphäre, die sie nach jedem Streit zu schätzen wusste. Mit Emi an ihrer Seite war alles gleich viel leichter zu ertragen. Sie warf ihr einen kurzen Blick zu und schmunzelte.

»Hast du Hunger?« Ella bog auf den Parkplatz ein, der neben dem freistehenden Haus der Bäckerei für Gäste vorgesehen war. Ricks weißer Pick-up stand ebenfalls dort. Wie sie liebte auch ihr großer Bruder den Laden heiß und innig.

»Auf jeden Fall«, gab Emi ohne Umschweife zurück. Es war bereits kurz nach zehn. Für Sara, die am Vormittag zu einer kleinen Spritztour aufgebrochen war, hatte Ella ein Carepaket gepackt, doch Emi und sie hatten noch immer kein Frühstück im Magen.

Ella stellte den Wagen ab und kletterte hinaus. Wie der Zufall es wollte, fuhr ihr Bruder genau in diesem Augenblick aus der Parklücke neben ihr. Er hob kurz durch die Scheibe die Hand zu einem Gruß und rollte auf die vielbefahrene Verbindungsstraße. Emi trat neben sie, als sie ihm nachsah.

»Wer war das?«

»Mein großer Bruder«, erklärte sie. Doch in ihrer Stimme schwang unbeabsichtigt ein wenig Enttäuschung darüber mit, dass sie ihn so knapp verpasst hatten. »Was ist?« Emis blaue Augen musterten sie aufmerksam. Vor ihr konnte man wirklich nicht viel verbergen. Sie hatte ein feines Gespür für ihre Umwelt. Ob das von diesem Yoga-Kram kam?

»Ach, es ist nichts«, wehrte sie ab, nur um sich gleich darauf selbst zu korrigieren. »Ich finde es nur ein bisschen schade, dass ich euch nicht vorstellen konnte.« Sie konnte es nicht an etwas Bestimmten festmachen, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass eine Frau wie Emi gut für ihren Bruder wäre. Er hatte für die Auswahl leider selbst bislang kein so gutes Händchen bewiesen, aber vielleicht sollte sie dem Schicksal auch nicht hineinpfuschen. Wenn es so kommen sollte, würden die Zwei sich schon früher oder später über den Weg laufen. Sie zuckte mit den Schultern, um den Gedanken abzuschütteln, und marschierte mit Emi am Arm auf den Eingang zu.

»Ihr versteht euch also gut, dein Bruder und du?«, fragte sie.

»Ja, er ist doch alles, was ich noch habe«, erklärte sie wahrheitsgemäß. »Seit unsere Eltern damals gestorben sind, gibt es nur noch ihn und mich.«

»Oh, das tut mir leid, das wusste ich nicht.«

»Woher solltest du auch?« Es war schon so lange her, dass es kaum noch weh tat, darüber zu sprechen. »Sie sind bei einem Bootsunglück vor Halifax ertrunken. Jedenfalls nimmt man das an. Sie wurden nie gefunden.«

Emi wurde ganz blass um die Nase. Vielleicht hätte sie nicht so mit der Tür ins Haus fallen sollen, aber nun war es zu spät. Sie öffnete die Glastür und wurde von einem betörenden Duft nach frischem Backwerk gefangen genommen. Manette, eine pummelige Frau in den Vierzigern, stand wie immer selbst hinter dem Tresen und bediente ihre Gäste.

»Ella, ma cherie, que puis-je faire pour toi?«, in feinstem kanadischen Französisch begrüßte Manette ihre Stammkundin herzlich.

Ella schaltete ebenfalls schnell um und verließ ihre kleine Insel der Anglophonie. In diesem Teil Kanadas sprach nun einmal fast jeder französisch, viele verstanden kein englisch oder wollten es nicht verstehen. Bei Jacob im Institut wurde hingegen ausschließlich englisch gesprochen, denn er beherrschte die Sprache der Region kaum.

Das kam Ella sehr entgegen. Sie war in Halifax aufgewachsen, wo englisch nun einmal die Amtssprache war, doch es isolierte Jacob von seiner Umgebung. Die Bewohner des kleinen Ortes am Fluss waren dem Amerikaner gegenüber ohnehin von Anfang an skeptisch gewesen, dass sie nicht miteinander sprechen konnten, errichtete schließlich eine unüberwindbare Mauer zwischen ihm und den Dörflern.

Ellas Blick glitt über die angebotenen Waren, doch dort, wo ein Schild die Croissants anpries, gab es nur noch das blanke Metall der Auslage.

»Sind sie etwa schon alle?« Sie hätte es wissen müssen. Wer zu spät kam, hatte keine Chance, sich eines von den begehrten Teilchen zu sichern.

»Dein Bruder hatte gerade das Letzte, tut mir leid«, antwortete Manette geknickt.

»Hach, der Glückliche«, seufzte Ella darauf theatralisch. »Aber da kann man nichts machen.«

Emi trat neben sie und warf ebenfalls einen Blick auf die belegten Brote und Sandwiches. Da der Laden an einer Einfallstraße zur Stadt lag, hatte Manette auch immer ein paar Angebote zum Mitnehmen für die Pendler. Belegte Brote, Salate und Joghurt mit Müsli, hier fand jeder etwas Passendes.

»Was möchtest du?«, fragte sie Emi, damit sie für beide gemeinsam bestellen konnte.

»Das da sieht toll aus.« Sie zeigte auf ein Sandwich mit Currycreme und Falafel, das von einem grünen Band zusammengehalten wurde. Ella entschied sich für ein belegtes Baguette mit luftgetrocknetem Schinken und würzigem Käse.

»Bist du Vegetarierin?«, fragte sie Emi, nachdem sie mit den Tellern an einem freien Tisch Platz genommen hatten. Vielleicht hätte es sie nicht wundern sollen, dass die Yogalehrerin nicht zu einem Wurstbrot griff. Für ihre Essenspläne im Institut wollte Ella es jedoch genau wissen.

»Ja, irgendwie schon. Ich esse meistens vegan, aber ich nehme das nicht so streng. Fleisch mag ich allerdings gar nicht.«

Sie überkam ein leichtes Schuldgefühl, weil sie den Mund voller Schinken hatte. Man musste nicht in allem gleich sein, um Freundschaft zu schließen, oder? Am liebsten hätte sie den Bissen endlich runtergeschluckt, doch er schien sich zu vermehren und wollte einfach nicht verschwinden. Plötzlich schmeckte das vormals köstliche Baguette überhaupt nicht mehr.

»Iss du ruhig, was du magst. Ich bekehre gewiss niemanden.« Emi biss herzhaft in ihr Sandwich, wobei ihre Wangen eine gehörige Portion Currycreme abbekamen. »Ich finde es schlimm, wie es immer in Diskussionen ausartet, wenn jemand irgendwas nicht isst oder nicht trinkt. Das kann man sich doch alles sparen. Es macht am Ende sowieso jeder, wie er es für richtig hält.«

Das Baguette in ihrem Mund verschwand wie von Zauberhand und machte einer entspannten Leichtigkeit Platz. Ihr war bis zu jenem Augenblick nicht bewusst gewesen, wie viel ihr Emis Urteil bedeutete. Rick kritisierte immer, dass sie sich zu schnell an neue Menschen band und genau das tat sie schon wieder. Doch es fühlte sich eben für sie richtig an. Vielleicht hatte er recht und es verschreckte die Leute mehr, als es ihnen schmeichelte, aber so war sie nun einmal. Wer damit nicht umgehen konnte, gehörte nicht in ihr Leben.

Leider war es nur in den Augenblicken so einfach, in denen es ihr gut ging. Viel öfter jedoch, wenn sie erneut von einem vermeintlichen Freund oder einer vermeintlichen Freundin sitzengelassen wurde, zweifelte sie an sich selbst. Das sollte sie nicht tun. Natürlich nicht, aber es war nun einmal so.

»Schön, dass du es so siehst. Manche Leute sind da ganz anders drauf!«

Emi lächelte sie an. Noch immer war sie über und über mit gelber Currycreme beschmiert, ein belustigtes Funkeln in ihren Augen verriet Ella, dass sie genau wusste, wie sie aussah.

KAPITEL DREI

ÖKONOMISCHE GLÜCKSELIGKEIT

EMI

Es blieb ausreichend Zeit, die Umgebung und den Ort ein wenig zu erkunden, bevor das offizielle Programm startete. Während nach und nach die anderen Teilnehmer eintrafen, wusste sie im Haus sowieso nichts Vernünftiges mit sich anzufangen.

Also schnürte Emi ihre gepolsterten Wanderstiefel und schlüpfte in den schlammgrünen Parka, den sie so sehr liebte.

Im Foyer traf sie auf eine schnatternde Meute aus Damen mittleren Alters, die sofort durch ihren außergewöhnlichen Modegeschmack auffielen. Keine von ihnen war schlank, doch sie wussten ihre Körper gut in Szene zu setzen, was Emi neidlos mit einem Nicken quittierte.

Sie grüßte knapp, aber freundlich und marschierte durch die Eingangstür hinaus in den angetauten Schnee. Die Temperaturen erreichten wie am Vortag nur knapp den Plusbereich, sodass der Matsch weder taute, noch die Feuchtigkeit wirklich zu einer Gefahr wurde. Trotzdem tastete sie sich besonders vorsichtig voran, bis sie sich an die Beschaffenheit des Untergrunds gewöhnt hatte.

Sie folgte der Auffahrt hinunter zur Hauptstraße durch den Ort. Bäume säumten dicht gedrängt die Straße und ließen kaum einen Blick auf das private Institut zu, wenn man nicht bereits in die Zuwegung eingebogen war. Ausgeschlossen, dass sich jemand zufällig hierher verirrte. Am Ende der Zufahrt angekommen hielt sie einen Moment inne und genoss die kalte Luft.

Ein Röhren zerriss kurz darauf die behagliche Stille. Einige hundert Meter weiter knickte die Straße ab und genau dort tauchten in diesem Augenblick zwei teure SUVs auf, deren Fahrer sich eine Art Rennen lieferten.

An der Abzweigung bremste der Erste scharf und schlingerte ein wenig, bevor er in die Auffahrt einbog. Auch der Fahrer des zweiten Fahrzeugs ließ die Bremsen quietschen, um einen Auffahrunfall zu vermeiden. Wenn das die typische Gesellschaft für dieses Seminar war, hätte Emi ihren Urlaub lieber woanders verbracht. Sie setzte sich nach einer Schrecksekunde wieder in Bewegung. Vom Parkplatz erklang hysterisches Gekreische.

»Dir mag es ja egal sein, aber ich hänge an meinem Leben, du verdammtes Arschloch!« Eine Tür wurde zugeschlagen. Die Antwort des Fahrers war nicht zu verstehen.

Emi schüttelte den Kopf und nahm Kurs auf das Zentrum des Ortes. Mehrmals glitt ihr Blick hinauf zu den riesigen Nadelbäumen, die nicht nur in einigem Abstand die Straße säumten, sondern auch überall hinter den Dächern zum Vorschein kamen, als hielten sie den Ort fest umklammert. Nur in einer Richtung gab es keine derartige Baumumarmung. Dorthin marschierte Emi, da musste sich der Fluss befinden.

Hin und wieder fuhr in gemächlichem Tempo ein Auto an ihr vorbei, aber die meiste Zeit war es erstaunlich ruhig, seit sie das Institut hinter sich gelassen hatte. Vor einem unscheinbaren Gebäude parkten einige Fahrzeuge. Erst als sie näher kam, fiel ihr das »Diner«-Schild im Fenster auf.

Es erinnerte an die USA in den 60ern. Irgendwie erwartete sie im Inneren des Restaurants Teile alter Autos und eine echte Jukebox, die Platten aus dieser Zeit auflegte. Doch als sie die verglaste Eingangstür passierte, musste sie einsehen, dass die Besonderheiten beim Reklameschild schon aufhörten. Es gab Plätze am Fenster, die ganz normale Sitzbänke hatten, eine Theke mit Hockern davor und ein paar freistehende Tische mit gewöhnlichen Stühlen. Ein winziger Kaufmannsladen schloss sich an.

Ein paar Gebäude weiter sah sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Kirchturm. Die Kirche selbst war der Größe der Ortschaft angemessen. Damit hatte sie den Kern der Siedlung bereits hinter sich gelassen. Sie bog von der Durchgangsstraße ab und sah endlich das Wasser.

Der Fluss war so breit, dass man ihn für einen See halten konnte. In der Ferne erkannte sie am anderen Ufer ebenfalls Bäume. Der Saum war unbebaut. Emi vermutete, dass der Fluss sich bei Tauwetter noch einmal verbreiterte. Kein Wunder, dass die Ortschaft auf ansteigendem Gelände gebaut war.

Wenn der Saint Maurice im Frühjahr wegen der Schneeschmelze über die Ufer trat, wollte Emi dennoch keins der Häuser in der Nähe bewohnen. So groß und mächtig wie der Fluss war, legte man sich besser nicht mit ihm an.

Alle Häuser hielten respektvollen Abstand. Nur ein hölzernes Bootshaus ragte ins Wasser hinein. Der letzte Anstrich war schon eine Weile her. Die rote Farbe blätterte an vielen Stellen ab.

Auf Stelzen stehend war der einzige Zugang zum Gebäude ein unsicherer Steg ohne Geländer, auf den sich Emi nicht im Traum gewagt hätte. Sie hatte zwar keine Angst vor dem Fall, aber das Wasser musste furchtbar kalt sein, wenn man hineinfiel. Nicht auszudenken, was passierte, wenn sie dann auch noch in eine Strömung geriet, die sie vom Ufer wegzog.

Keine zehn Pferde würden sie dort hinüber kriegen.

Und dennoch könnte das Haus, so wie es dort stand, auch in einem Reiseführer für diese Region werben. Die Idee, im Sommer mit einem Boot hinauszufahren, war durchaus verlockend. Dann war es schließlich auch in Quebec einige Grad wärmer.

Sie warf einen Blick auf ihr Handy und kehrte zur Hauptstraße zurück. In weniger als einer Stunde begann das Seminar und sie wollte vorher noch duschen, um den Rest der Müdigkeit abzuschütteln.

Das Foyer lag verlassen da. Entweder waren alle schon wieder auf ihren Zimmern oder Emi hatte den Beginn bereits verpasst. Mit einem erneuten Blick auf ihr Mobiltelefon vergewisserte sie sich, dass sie nicht zu spät war. Vielleicht hatte Ella sie zu einem kleinen Snack im Speisesaal zusammengetrommelt, das sähe ihr ähnlich.

Nach der wärmenden Dusche war auch sie bereit für das erste Kennenlernen der anderen Gäste und für ein Zusammentreffen mit Jacob Gordon. Nach dem Wortgefecht zwischen ihm und Ella am Vortag wusste sie noch immer nicht, was sie von ihm halten sollte.

Das Seminarhaus war angenehm beheizt, weshalb Emi in einer einfarbigen Yogahose, einem Oversize-T-Shirt und einer Sweatjacke dem Gemurmel von Stimmen folgend in den Unterrichtsraum schlurfte. Sollten die Anderen sie nach ihrem Outfit beurteilen, war das deren Problem. Immerhin erkannte man sofort, was ihre Berufung war. Sie hatte schließlich nicht vor, daraus ein Geheimnis zu machen.

Die Stühle standen nun in einem Kreis aufgestellt vor dem Rednerpult. Auf der Fensterseite gegenüber der Tür war noch ein Platz für sie frei. Sie schritt erhobenen Hauptes durch die Menge der Teilnehmer und bemerkte tatsächlich einige abfällige Blicke.

Die Anderen waren ausnahmslos schicker gekleidet als sie. Die vier molligen Frauen trugen geschmackvolle Blusen über schlichten Hosen, als hätten sie sich vorher abgestimmt. Zwei Paare mit eleganter Kleidung saßen am Kopfende des Stuhlkreises.

Auf der einen Seite neben dem freien Stuhl sah ein Mann in Cargohose und grauem T-Shirt von seiner Lektüre auf und nickte ihr unverbindlich zu. Emi schätzte ihn auf knapp vierzig. Eine abgewetzte braune Ledertasche lag neben ihm.

Auf der anderen Seite neben dem freien Platz blätterte eine dunkelhaarige Frau mit blondierten Spitzen in einem orange eingebundenen Timer. Eine enge grüne Hose, betonte ihre schlanken Beine. Komplettiert wurde ihr Outfit durch einen schwarzen Rollkragenpullover. Sie lächelte ihr sofort zu, als Emi sich näherte. Das verstand sie als Einladung, sich vorzustellen.

»Hi, mein Name ist Emi.«

Sie streckte ihrer Sitznachbarin mit einem freundlichen Lächeln die Hand entgegen. Ihr Griff war kräftiger, als Emi ihrer zarten Statur zugetraut hätte.

»Hi, ich bin Chloé. Du bist nicht von hier, stimmt‘s?«

Die Worte kamen fast wie Gewehrschüsse aus dem schmalen Mund gefeuert. Emi legte den Kopf schief und versuchte Chloé einzuschätzen. Waren ihre Worte eine versteckte Kritik oder pure Neugier?

»Nein, ich komme aus Deutschland«, erklärte sie zurückhaltend.

»Deutschland? Wow, das ist ja wahnsinnig weit weg. Wie hat es dich hierher verschlagen?« Froh darüber, dass es doch nur Neugier war, gerieten sie schnell ins Plaudern.

»Ich habe über eine Anzeige von dem Seminar erfahren und dachte, ein Ausflug in die Wälder Kanadas täte mir mal ganz gut. Woher kommst du denn?«

»Ich wohne ein paar Kilometer südlich von Trois-Rivières, also ganz in der Nähe.«

Chloé hatte eine lebhafte Mimik und ein ansteckendes Lachen. Es fiel Emi zunehmend leichter, sich mit ihr zu unterhalten. Während alle Teilnehmer langsam ihre Plätze einnahmen, plauderten sie ungeniert noch eine Weile über die Region und das Wetter bis sie schließlich von Jacob Gordons Auftritt unterbrochen wurden.

Der Mann war mittelgroß, dunkelhaarig und von durchschnittlicher Attraktivität, dennoch zog er sofort die Blicke aller Anwesenden auf sich. Ein selbstgefälliges Schmunzeln verriet Emi, dass er diese Form von Aufmerksamkeit gewohnt war und sie für selbstverständlich hielt. Emi konnte ihm nichts abgewinnen.

Die Worte, die er an die liebenswürdige Ella gerichtet hatte waren eine Spur zu hart gewesen. Sicherlich war man beruflich mal unterschiedlicher Meinung, aber es gab Regeln, die ein respektvolles Miteinander gewährleisteten. Diese hatte er Ella gegenüber ohne Zögern gebrochen. Das sagte ihr viel mehr über seine Persönlichkeit aus, als die Worte, mit denen er sich vorstellte.

»Willkommen zu meinem Seminar über berufliche Selbstverwirklichung! Mein Name ist Jacob Gordon und ich leite das ‚Institute of Economic Happiness‘« Seine Arme breitete er bei diesen Worten weit aus, als wollte er sie tatsächlich herzlich willkommen heißen. Doch das war nur Fassade, das spürte Emi genau. Sie hatte ein feines Gespür für Aufschneider von seiner Sorte.

Langsam begann sie zu bereuen, dass sie das viele Geld für diese Reise ausgegeben hatte. Aber nun war sie hier und sie war entschlossen, das Beste aus ihrer Lage machen. Er schwadronierte noch eine ganze Weile über sein Geschäftsmodell und seine Erfahrungen im Coaching namhafter Unternehmer.

Emi kannte keinen seiner Kunden, doch bei einigen Namen tuschelten die anderen Zuhörer aufgeregt mit ihren Nachbarn. Also nahm sie an, dass es sich um bekanntere kanadische oder amerikanische Persönlichkeiten handelte. Zumindest im Kreis der Anwesenden waren die Namen ein Begriff und erzeugten den erwünschten Effekt.

Auch für Emi war es nicht nur die Anzeige in dem Magazin, die sie ausgerechnet hierher gebracht hatte. Sie hatte sich vorab im Internet über die Referenzen des Institutsleiters informiert und ihn für geeignet erachtet, ihr beizubringen, was sie lernen wollte.

Viel wichtiger war ihr aber, das Seminar mit einer Auszeit außerhalb ihres gewohnten Alltags zu verbinden. Über das letzte Jahr hinweg hatte sich alles in ihrem Leben darum gedreht, Yoga als Lebensmodell zu etablieren.

Diese Idee war so sehr mit ihr verwachsen, dass sie sich für die Frage, ob es so weitergehen konnte, von allem lösen musste, was ihr vertraut war. Dazu gehörte es für sie eben auch, das Seminar in einer fremden Sprache zu besuchen und weit weg von Zuhause zu sein. Sie wollte für sämtliche Möglichkeiten offen sein.

Vielleicht stellte sich hier heraus, dass sie etwas anderes machen musste, um sowohl zufrieden zu werden als auch Geld zu verdienen. In ihrem heimischen Umfeld hätte sie sich auf keinen Fall davon lösen können, die Emi zu sein, die ihre Freunde und Klienten kannten. Aber was wenn es diese Emi bei ihrer Rückkehr nicht mehr gab?

Ihr Kopf fuhr Achterbahn bei all diesen Möglichkeiten und Fragestellungen. Sie folgte Jacobs Ausführungen schon einige Minuten lang nicht mehr und war umso überraschter, als er sich plötzlich direkt an sie wandte.

»Und wer sind Sie? Was wollen Sie hier für sich erreichen?«

Seine Augen schienen sie zu löchern. Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter und begann, sich eine Antwort zurechtzulegen, als sie bemerkte, dass die Frage an sie alle gerichtet war.

* * *

ELLA

Das Abendessen stand auf dem Herd und Ella konnte sich endlich dem Speisesaal widmen. Ausnahmsweise gab es heute Platzkarten für jeden, denn Jacob nahm ganz gegen seine sonstigen Gewohnheiten an dem Essen teil.

Er wollte mit einem alten Freund an einem Tisch sitzen und wünschte sich zwei attraktive Damen als ‚Gesellschaft‘, wie er es nannte. Eigentlich war es unter ihrer Würde, für ihn die Kupplerin zu spielen. Wenigstens hatte sie jedoch so viel Einfluss auf die Sitzordnung, dass sie entscheiden konnte, wen sie zu ihm setzte.

Zwei Gruppen hatten bereits zu viert eingecheckt, die würde sie nicht trennen. Denn die Erfahrung aus den vergangenen Kursen hatte sie gelehrt, dass Menschen, die gemeinsam anreisten, sich nicht gerne mit den anderen mischten.

Sie wusste natürlich, dass Jacob junge Frauen bevorzugte, und vermutete, dass es sich bei seinem Freund Carter genauso verhielt. Deshalb sortierte sie die alleinreisenden Frauen zunächst nach dem Alter.

Die jüngsten waren Sara und Cassie. Beide Frauen konnten durchaus als attraktiv durchgehen. Beim Check-In hatte aber Leah, eine Frau mit der Hautfarbe von dunklem Honig, viel mehr Eindruck auf sie gemacht. Auch Emi fand sie hübscher als Sara und Cassie, aber es stand vollkommen außer Frage, sie zu den zwei Männern zu setzen. Wenn sie irgendwie verhindern konnte, dass sie zum One-Night-Stand von einem von ihnen wurde, würde sie es tun.

Die aufgeschlossene Deutsche verdiente etwas Besseres als das. Außerdem wäre sie Jacob gegenüber sicher zu reserviert, denn sie hatte schon am Vortag mitbekommen, dass er sich nicht immer freundlich und charmant verhielt.

Zwar hatte sie nichts zu dem Thema gesagt, weil man sowas einerseits nicht tut und weil sie andererseits noch viel zu sehr daran zu knabbern hatte, was er ihr an den Kopf geworfen hatte, aber Emi war mit Sicherheit nicht dumm.

Die Frauen, die letztlich an dem Tisch der Aufreißer sitzen würden, konnte frei entscheiden, ob sie auf die Avancen eingingen oder nicht. Widerstandsfähig genug war Sara bestimmt. Sie hatte am Vorabend durchaus den Eindruck erweckt, sie könne für sich selbst sorgen. Dann konnte sie sicher auch ‚Nein‘ sagen, wenn sie Nein meinte.

Auch Cassie hatte den Anschein erweckt, als wüsste sie was sie wollte. Also war es klar, die Beiden saßen an einem Tisch mit Carter und Jacob. Blieben noch Leah, Emi, Chloé und Matt für den vierten Tisch. Zufrieden besah sie sich ihr Werk.

Die gestärkte Tischwäsche strahlte weiß, Kerzen standen auf jedem Tisch und überall auf den Plätzen lagen hübsch gefaltete Servietten in der Form von Bischoffsmützen. Das war die einzige Falttechnik, die sie außer dem einfallslosen Tafelspitz beherrschte.

Auch wenn sie Schwäne und vor allem die Lilie als Symbol des Bundesstaates viel schöner fand und sich immer wieder vornahm, sie einmal zu lernen, konnte sie diese nicht falten. Die Dekoration verlieh dem ganzen Raum einen besonderen Touch und machte ihn noch einladender. Ella stand in der Tür und lächelte versonnen.

Spätestens morgen weht hier ein anderer Wind, dachte sie traurig, während sie zurück in die Küche schlenderte. Der Anreisetag war immer der entspannteste aller Seminartage für sie.

Danach kam es Schlag auf Schlag. Sie musste Essen vorbereiten, reinigen, was erneut gebraucht wurde, frische Waren einkaufen, die Bäder sauber halten und sich um die Bedürfnisse jedes einzelnen Gastes kümmern. Nebenher den Seminarraum in den Unterrichtspausen wieder in Schuss bringen, Getränke nachfüllen, die Gläser tauschen und die Kekse hübsch anrichten. Und das alles am besten zur gleichen Zeit und vollkommen unsichtbar, wenn es nach Jacob ging.

An Atempausen war für Ella bei diesem Pensum nicht mehr zu denken. Sie arbeitete von früh am Morgen bis spät in den Abend. Also hatte sie darauf bestanden, dass Jacob ihr wenigstens permanent ein Zimmer im Institut freihielt.

Denn in den Nächten auch noch zwischen der Stadt und ihrem Arbeitsplatz zu pendeln, kam aus Gründen ihrer persönlichen Sicherheit überhaupt nicht in Frage. Sie wollte so müde nicht mehr fahren müssen, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ.

Nach dem gestrigen Streit hatte sie jedoch einen Plan zur Bewältigung der vielen Arbeit ausgeheckt, der vielleicht bei Jacob nicht auf Gegenliebe stoßen würde. Aber sie hatte ihn mehr als einmal gewarnt.

KAPITEL VIER

HUNDESCHLITTEN UND KANUTEN

EMI

Sie trieb im Strom der hungrigen Seminarteilnehmer aus dem Raum. An der Seite von Chloé ging sie ein paar Schritte langsamer. Während sie erste Eindrücke austauschten, fielen sie hinter der Gruppe zurück.

Wo das Foyer in den Flur zur Küche und zum Speisesaal überging, versperrte ihnen ein dunkelhäutiger Mann, der ebenfalls an dem Seminar teilnahm, den Durchgang. Wie ein Betonpoller stand er mitten im Weg und starrte argwöhnisch in ihre Richtung.

Emi drehte sich um, weil sie wissen wollte, wen oder was er da inspizierte. Nach eingehender Betrachtung ihres Umfelds war sie jedoch überzeugt, er konnte nur Chloé oder sie meinen.

»Entschuldige, aber kennen wir uns nicht irgendwoher?«

Er war überdurchschnittlich groß, schlank, aber nicht schmächtig und erweckte insgesamt den Eindruck eines intelligenten Mannes, der Sport trieb. Seine Stimme klang sehr melodisch. Dank der Namensschilder, die Jacob nach seiner Ansprache verteilt hatte, erkannte sie, dass er Carter Sloan hieß.

Sein Blick war nur auf die Frau an ihrer Seite gerichtet. Außer ihr schien für ihn in dem Moment nichts von Bedeutung zu sein. Auch die Kanadierin inspizierte ihn gründlich von oben bis unten und schüttelte dann den Kopf.

»Nein, sorry, ich glaube nicht«, erklärte sie kurz angebunden.

Sie wollte sich gerade an ihm vorbeidrängen, als er sie am Arm festhielt und noch einmal nachhakte.

»Ich hätte schwören können, dass du es warst.«

Der Klang seiner Worte war so sanft, als wollte er sie damit in ein Seidentuch hüllen. Emi kam sich vor, als stünde sie abseits der Szenerie, obwohl sie Chloés Arm an ihrem spürte.

Mit seiner eindringlichen Art zu reden vermittelte er eine Intimität in dem Gespräch, die ihr nur den Status eines Zuschauers hinter Glas verlieh. Fast war es ihr peinlich, dass sie überhaupt da war.

»Vielleicht«, schwankte sie nun doch noch in ihrer Meinung. »Wo kommst du denn her?«

Die billige Masche schien auf diese Weise sogar bei der selbstbewussten Frau ihre Wirkung zu entfalten. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen den Türrahmen, womit er es ihr ermöglichte, sich an ihm vorbeizuquetschen, aber sie blieb stehen und musterte ihn erneut. Dieses Mal interessierter als zuvor.

»Ich bin viel herumgekommen. Einige Jahre in Atlanta, danach Cleveland und Pittsburgh. Im Augenblick lebe ich in New York City.«

»Hm, nein, da klingelt bei mir wirklich nichts«, grübelte Chloé.

Als bräche mit einem Mal der Bann, zuckte sie mit den Schultern und schob sich Emi am Ärmel mit sich ziehend an ihm vorbei. Erst im Speisesaal blieb sie an einem Tisch stehen und legte die Hände auf eine freie Stuhllehne.

»Hier! Du sitzt gleich neben mir!«, verkündete sie und deutete auf die Platzkärtchen.

Vorsichtig warf sie noch einmal einen Blick zurück. Carter war nirgends zu sehen. Vielleicht ließ er sich noch etwas Zeit mit dem nächsten Akt in seinem Schmierentheater. Emi kam sein Auftreten vor, wie der hinterhältige Trick eines Hypnose-Künstlers. Diese plötzliche und sachlich vollkommen unbegründete Intimität zu schaffen, war nichts, was einem versehentlich gelang. Es bedurfte mit Sicherheit einiger Übung.

Sie kannte sich mit Manipulationstechniken nicht aus, aber sicher hatte er irgendwas mit seiner Stimme gemacht. Diese ganz besondere Melodie. Vielleicht konnte er damit irgendwelche Schwingungen aussenden. Sie hatte keine Ahnung, wie es funktionierte, aber sowas in der Art musste es doch gewesen sein. Zufall schloss sie kategorisch aus.

»Was war denn das gerade?«, fuhr Chloé mit gesenkter Stimme fort. Emi verzog die Lippen zu einem schrägen Schmollmund. »Keine Ahnung? Eine Anmache? Eine Verwechslung? Wer weiß? Aber irgendwas daran war komisch, findest du nicht?«

Die Kanadierin schüttelte den Kopf. Es war keine Antwort mehr auf ihre Frage, sondern eine ganz willkürliche Bewegung, um den Gedanken aus ihrem Kopf zu verjagen. Sara saß bereits mit dem Rücken zum restlichen Raum und hielt den Blick gesenkt.

Ehe Emi sie fragen konnte, was mit ihr los war, kam auch der Mann mit der Ledertasche an ihren Tisch und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Seine energiegeladene Ausstrahlung machte ihr bewusst, wie sehr die weite Reise sie erschöpft hatte. Schon wieder hätte sie augenblicklich ins Bett fallen können.

»Wow, endlich Abendessen. Ich habe wahnsinnigen Hunger! Ihr auch?«

Emi rang sich ein Lächeln ab. Matt konnte nun wirklich nichts dafür, dass sie sich so erschlagen fühlte.

»Ja, ich bin auch sehr hungrig«, erklärte sie deshalb freundlich.

»Du bist die aus Europa, nicht wahr?«

Er hatte offenbar bei der kleinen Vorstellungsrunde gut genug zugehört, um sich diesen Informationsfetzen zu merken. Ihr eigener Kopf war hingegen wie leergefegt.

Während der ganzen Vorstellungsrunde hatte sie gegrübelt, was sie über sich selbst erzählen konnte und dabei die Worte der anderen Teilnehmer wie ein Rauschen im Hintergrund wahrgenommen. Nur über Chloé, die nach ihr an der Reihe war, wusste sie anschließend ein bisschen mehr als zuvor.

»Ja, aus Deutschland. Warst du denn schon einmal in Europa?«

Sein offenes Lächeln lud dazu ein, ihn näher kennenzulernen. Heftig nickend wirkte er fast wie seine eigene Karikatur, was Emi absurderweise noch mehr für ihn einnahm.

»Ja, sehr oft. Ich bin früher viel in der ganzen Welt herumgekommen.«

Er sprach über sich, als läge der Großteil seines Lebens bereits hinter ihm, doch er konnte seinem Aussehen nach kaum älter als vierzig sein.

»Interessant. Du siehst gar nicht aus, wie einer dieser Jetset-Typen.«

Sie warf einen Blick zu Chloé, die ihrem Gespräch interessiert folgte. Wie bei einem spannenden Tennismatch blickte sie zwischen ihnen hin und her, hielt sich aber selbst im Hintergrund.

»Nein, ich bin Sportler.« Er zuckte mit den Schultern. »Genau genommen war ich Sportler. Jetzt bin ich sozusagen in Rente.«

Das erklärte zumindest die Vergangenheitsform, dachte Emi schmunzelnd. Für einen Sportler im Ruhestand sah er noch ausgesprochen fit aus. Er hatte die schlanke Figur eines Tänzers und eine Körperspannung, um die sie ihn beneidete.

»Ach echt? Sorry, ich war vorhin wohl nicht besonders aufmerksam. Was ist denn dein Sport?«

Er legte ein schelmisches Grinsen auf und sah demonstrativ an sich herab. »Na, rate doch mal!«

Die kreative Seite ihres Gehirns war noch nie besonders ausgeprägt gewesen und im Augenblick schien sie sich sogar in einer Art Winterschlaf zu befinden. Was für Disziplinen gab es überhaupt? Konnte er die Auswahl nicht ein bisschen eingrenzen? Mannschaftssport oder etwas, das man alleine machte? Hach, es war zum Mäusemelken.

Chloé war ihr keine Hilfe. Sie saß mit vor der Brust verschränkten Armen auf ihrem Platz und grinste wissend. Na, herzlichen Dank auch. Hilflos stammelte sie irgendetwas vor sich hin, bis sie sein schallendes Lachen aus ihren unstrukturierten Gedanken riss.

»Lass nur, ich verrate es dir auch so. Ich bin ein Kanute.«

Er war was? Und was hatte das bitte mit der Frage zu tun? War das eine Glaubensgemeinschaft, ein Volksstamm oder eine sexuelle Orientierung, von der sie noch nie etwas gehört hatte?

In ihrem Kopf ratterte es, doch das Wort konnte sie nirgends anknüpfen. Es klang vollkommen fremd. Die Fremdsprache machte die Sache natürlich auch nicht leichter. Vielleicht hätte sie ihn auf Deutsch verstanden oder nach ein paar Stunden Schlaf.

»Wassersport mit einem Kanu.«

Er hatte ihren verwirrten Gesichtsausdruck richtig gedeutet und erlöste sie mit einer Erklärung, die sogar jeder Idiot verstanden hätte. Mit den Händen Paddel imitierend tanzte er seinen Beruf.

Sie kicherte halb über ihre Gedanken und halb über ihre Begriffsstutzigkeit und vergrub ihr Gesicht kopfschüttelnd hinter der Serviette.

»Bist du gut?«

Die Frage entlockte ihm ein erneutes Lachen.

»Ich war Weltklasse, aber jetzt bin ich ein bisschen zu alt, um mit dem Nachwuchs mitzuhalten. Ich bin übrigens Matt!«

»Ich weiß, es steht auf dir«, gluckste sie mit einem Fingerzeig auf seine Brust, wo groß und gut lesbar das Namensschild prangte. »Ich bin Emi.«

Chloé stieg ebenfalls mit ein, stellte sich vor und beteuerte, dass sie ihn natürlich aus den Medien kannte. Offenbar war er eine Art Nationalstar, aber woher hätte Emi das wissen sollen? Sara blieb noch immer still und starrte teilnahmslos auf ihren leeren Platzteller.

Ella schob einen Servierwagen vor sich durch die Tür. An einer Reihe Tische, auf denen bereits Besteckkörbe, Teller und Schalen bereitstanden, blieb sie stehen. Die silbernen Gefäße, die sie mitgebracht hatte, verströmten einen herrlichen Duft. Alle sahen wie gebannt zu ihr.

Nur Carter sprang von seinem Platz zwischen zwei attraktiven Seminarteilnehmerinnen auf und eilte ihr zur Hilfe. Zu zweit wuchteten sie die Speisen auf die Tische. Die junge Kanadierin schenkte ihm für seinen Einsatz ein strahlendes Lächeln.

»Guten Abend zusammen!« Mit hinter dem Rücken verschränkten Armen baute sie sich zwischen dem Buffet und der Gästeschar auf.

»Wir haben uns zwar alle beim Einchecken schon kurz kennengelernt, aber ich möchte mich trotzdem noch einmal offiziell vorstellen. Mein Name ist Ella Savage. Ich kümmere mich um alles Organisatorische, damit ihr euch hier wohl fühlt und euer Seminarziel erreicht.«

Nach diesen einleitenden Worten erschien wieder dieses unvergleichliche Strahlen auf ihrem Gesicht, das jeden in seinen Bann schlagen musste. Ella sah aus wie das Mädchen von nebenan, das im Film dem Hauptdarsteller den Kopf verdrehte. Gepflegt, wenig geschminkt und insgesamt ziemlich durchschnittlich, aber wenn sie lächelte, verströmte sie einen Zauber.

Es veränderte alles an ihrer Erscheinung. Die hellbraunen Augen leuchteten, winzige Grübchen bildeten sich auf ihren Wangen und ihr Körper schien vor Elektrizität zu vibrieren. »Bevor ich euch nun eurem Abendessen überlasse, habe ich noch eine kleine Bitte an euch.«

Sie nahm ein Klemmbrett mit einem Stift an einem Band daran vom Wagen und hielt es in die Höhe.

»Da ich hier allein für alles zuständig bin, würde ich mich freuen, wenn mir der Eine oder Andere von euch während seines Aufenthalts ein wenig zur Hand geht. Das läuft natürlich auf freiwilliger Basis und nur während der Seminarpausen. Tragt euch einfach in diese Liste ein, wenn es für euch okay wäre, mich zu unterstützen.«

Es folgte eine weitere Pause, in der sie den Blick hoffnungsvoll über die Gäste streifen ließ. Bei Emi verweilten ihre Augen einen Moment länger und Ella lächelte erneut, doch dieses Mal zurückhaltender.

Sie machte das ganz großartig. Nur ein Mensch ohne Herz konnte sich nun dagegen sperren, seinen Namen auf die Helferliste zu setzen.

Emi hatte sich ohnehin schon gefragt, wie sie den ganzen Laden hier zusammenhielt. Die Aufgabe war gewaltig, wenn man keine Unterstützung hatte. Vom edlen Herrn Institutsleiter konnte man sicher nicht erwarten, dass er mit anpackte.

Er saß während ihres Auftritts mit mürrischem Blick am Tisch und starrte Ella an. Sie wich seinem Blick jedoch gekonnt aus, als wüsste sie, dass er unzufrieden war.

»Dann wünsche ich euch einen guten Appetit und einen schönen Abend. Wenn irgendwas ist, findet ihr mich meistens entweder an der Rezeption oder in der Küche.«

Ein Raunen ging durch den Raum, als Ella durch den Durchgang entschwunden war. Erst in dem Moment wurde Emi bewusst, wie andächtig sie zuvor geschwiegen hatten. Kein Geschnatter, kein Getuschel. Alle hörten ihr zu.

Nun erhoben sich die ersten Gäste von ihren Stühlen und schlenderten langsam plaudernd zum Buffet. Um die Liste machten sie zu Emis Verwunderung jedoch einen großen Bogen. Hatten sie Angst, die Ersten zu sein?

Entschlossen stand sie auf und marschierte hinüber. Sie teilte die Schlange, die für das Abendessen anstand.

»Entschuldigung, dürfte ich bitte mal an die Liste?«

Vorsichtig versuchte sie, sich zwischen den beiden Frauen hindurch zu schieben, die mit ihren Ehemännern angekommen waren. Eine von ihnen musste die Frau sein, die den Fahrer des einen SUVs ein Arschloch genannt hatte. Höflichkeit und Mäßigung waren jedoch bei keiner der beiden an der Tagesordnung. Beide Frauen verharrten stur an ihren Positionen, sodass Emi nicht an ihr Ziel kam.

»Hey Entschuldigung, ich möchte da mal ran«, wurde Emi lauter.

Dafür erntete sie nun von beiden Damen pikierte Blicke, doch wenigstens die dunkelhaarige Zicke bewegte sich endlich einen Schritt zur Seite. Sie trug sich auf dem leeren Blatt ein. Wie erhofft, löste ihr Verhalten einen Dominoeffekt aus. Nach und nach kamen weitere Teilnehmer heran und notierten ihre Namen.

»Kluger Schachzug«, lobte Chloé leise, als sie Emi zum Salatbuffet folgte.

Sie hatte sich natürlich direkt nach ihr eingetragen und beobachtete nun ebenfalls, wie die meisten der Anderen ihrem Vorbild folgten. Emi schmunzelte, weil sich irgendwann sogar die dunkelhaarige Zicke genötigt sah, sich einzutragen.

Der Rest ihres Gefolges hielt aber weiterhin respektvollen Abstand, damit sich nicht irgendwie ihre Namen darauf verirrten. Vielleicht lebten sie so sehr in ihrer eigenen Welt, dass der soziale Druck der Gemeinschaft keinen Einfluss auf sie hatte, grübelte Emi.

Ein unüberhörbarer Streit am Nebentisch lenkte sie von ihrem Essen ab. Der Salatteller stand unberührt vor ihr, als die Zicke los keifte.

»Du könntest ruhig auch mal einen Finger rühren!«, fuhr sie den älteren der beiden Männer an.

»Kommt überhaupt nicht in Frage.«

Mit vor der Brust verschränkten Armen sah er ihr mürrisch zu, wie sie seinen Teller vor ihm aus einigen Zentimetern Höhe fallen ließ.

»Alles lässt du dir nachtragen!«, ereiferte sie sich weiter.

»Ich bin hier Gast. Ich zahle. Und zwar nicht zu knapp. Ich werde mich sicher nicht selbst bedienen.«

»Trotzdem bin ich nicht deine Kellnerin. Hol dir deinen Scheiß in Zukunft selbst!«

Das Gespräch schien völlig aus dem Ruder zu laufen, bis der Zweite, ein hochgewachsener Mann mit erkennbaren süd- oder mittelamerikanischen Wurzeln, hinzukam und dem Streit Einhalt gebot. Er stellte sich vor die beiden Streithähne und schirmte sie mit seinem Körper vom Rest des Raums ab.

»Jetzt beruhigt euch doch mal«, schlichtete er in gesenktem Tonfall, ohne Partei zu ergreifen. »Wir sind noch keine vier Stunden hier und ihr reißt euch schon wieder die Haare aus!«

Emi konnte nicht verhindern, dass die negative Stimmung sich ein wenig auf sie selbst übertrug. Normalerweise war sie gut gelaunt und versuchte, allem mit positiven Gedanken zu begegnen, aber die Müdigkeit und die Anstrengung ließen ihre Abwehrmechanismen nachlässig werden. Seufzend schüttelte sie den Kopf.

Chloé ließ sich neben ihr wieder auf ihren Platz nieder und blickte verwundert auf den vollen Teller. »Na nu, was ist los?«

»Ich bin nicht mehr wirklich fit, da fällt es mir schwer, das Gezicke am Nachbartisch zu überhören«, erklärte sie mit gesenkter Stimme.

Sie wollte nicht lästern, nur erklären, was sie bedrückte, und das hatte nun einmal irgendwie mit diesen sonderbaren Menschen zu tun.

»Verstehe«, bestätigte Chloé. »Was machst du eigentlich als Yogalehrerin den ganzen Tag?«

Der Themenwechsel tat ihr gut. Im Gespräch über ihren Job, der zur Zeit noch mehr Berufung denn Einkommenslieferant war, fühlte sie sich wohl.

»Die meiste Zeit verbringe ich damit, mir neue Engagements zu suchen und meinen Unterricht zu planen. Weißt du, ich bin niemand, der ständig das gleiche Programm abspult«, erklärte sie, darum bemüht, sich verständlich zu machen.

Sara und Matt kehrten unterdessen ebenfalls mit ihren Tellern an den Tisch zurück und lauschten schweigend ihren Ausführungen.

»Ich versuche, mich immer ein bisschen danach zu richten, was für Schüler meinen Kurs besuchen und wie die allgemeine Stimmung ist. Manche Kursteilnehmer brauchen etwas mehr Stabilität in der Bauchmuskulatur, weil sie zu Rückenschmerzen neigen. Manchmal fördert das Wetter Kopfschmerzen, dann mache ich ein Programm, das dagegen hilft. Solche Sachen halt.«

»Oh, das klingt ja interessant«, gab Chloé aufmerksam zurück.

»Und du? Was machst du genau?«, hakte Emi nun bei Chloé nach.

Sie hatte bei der Vorstellungsrunde nur grob angerissen, dass sie eine Art Hotel für besondere Urlaubserlebnisse führte. Dahinter konnte sich viel verbergen.

»Ich betreibe eine kleine Pension und biete meinen Gästen Hundeschlittentouren an.« Ihre Augen glänzten selig. »Ich habe ein eigenes Hundegespann, mit dem ich sehr gern arbeite. Und weil wir ein großes Haus südlich der Stadt besitzen, haben wir dort eben für meine Passion ein paar Gästezimmer eingerichtet.«

»Wow, Hundeschlitten? Da wäre das jetzt wahrscheinlich das ideale Wetter, oder?«, mutmaßte Emi im Hinblick auf die winterlichen Temperaturen.

Chloé steckte eine Gabel voller Salat in den Mund und stockte.

»Nein, überhaupt nicht. Dieser alte Schnee ist furchtbar«, murmelte sie, während sie den Salat hinunterwürgte. »Wir hatten seit Tagen keinen Neuschnee. Darauf fährt es sich toll und für die Touristen ist es auch viel schöner, wenn sie die ersten Spuren in den Schnee fahren!«

»Oh, da sieht man mal, dass ich davon echt keine Ahnung habe.«

»Woher solltest du das auch wissen? In Deutschland habt ihr ja fast keine Hundeschlitten«, stellte Chloé achselzuckend fest. »Außerdem vertritt zum Thema Schnee irgendwie jeder Musher seine eigene Philosophie.«

»Musher?«

Emi spürte, dass es immer später wurde. Ihr Geist war nicht einmal mehr in der Lage, die einfachsten Worte zu verstehen. Dabei sprach sie sowohl ein passables Französisch, als auch sehr gutes Englisch, aber sie wusste nicht einmal, welcher der beiden Sprachen sie den Ausdruck zuordnen sollte.

»Das ist der Fachbegriff, mit dem man den Hundeschlittenführer bezeichnet«, erklärte sie geduldig. Sie nahm den letzten Bissen von ihrem Teller auf und sah sie dann ein wenig verträumt an. »Kennst du eigentlich die Geschichte von der Diphtherieepidemie in Nome?«

Sie schüttelte den Kopf. Zwar wusste sie aus ihrem Medizinstudium sehr wohl, was Diphtherie war, aber von Nome hatte sie noch nie etwas gehört.

Matt lehnte sich in seinem Stuhl zurück und lächelte.

»Du kennst sie, oder?«, fragte sie an ihn gewandt.

»Ja, ist aber eine gute Geschichte. Erzähl ruhig!«

In den folgenden Minuten bannte Chloé sie trotz ihrer Erschöpfung mit einer dramatischen Geschichte über ein Antiserum.

Es musste per Hundeschlitten über eine Distanz von mehr als 1.000 km durch den eisigen Winter Alaskas transportiert werden, um eine Epidemie einzudämmen, die in der 20.000-Einwohner-Stadt Nome ausgebrochen war.

KAPITEL FÜNF

FLIRTS, GEHEIMNISSE UND EIN BRAND

ELLA

Zufrieden seufzend lehnte sich Ella gegen die Kühlschranktür und bestaunte ihr Werk. Die Küche glänzte wieder und alle Gäste waren entweder auf ihre Zimmer gegangen oder ließen den Abend noch bei einem Glas Wein im Speisesaal ausklingen.

Endlich fand auch sie Zeit, sich ihrem Abendessen zu widmen. Eine der wenigen guten Seiten an dem Job bei Jacob war, dass sie garantiert nicht dick würde, solange sie die Seminare betreute.

In diesen intensiven Wochen fand sie nur selten eine Gelegenheit zum Essen. Weil sie das wusste, hatte sie sich, in weiser Voraussicht eine Salatschüssel gemixt und im Kühlschrank zwischengelagert.

Sie hockte sich auf den einzigen Stuhl im Raum und schob sich eilig Gabel für Gabel in den Mund, falls gleich der nächste Gast oder – schlimmer noch – Jacob selbst etwas von ihr wollte.

Langsam sehnte sie sich nach ihrem Bett, aber bis sie den Weg dorthin fand, konnte noch einige Zeit vergehen.

Sie warf durch das Bullauge in der Tür einen Blick in den Speisesaal. Schon beim Auftragen des Buffets hatte sie sich gewundert, was bei ihrer Sitzordnung durcheinander gekommen war.

Nicht die junge, blonde Sara saß bei Jacob und Carter, sondern die ältere Leah. Vielleicht hatte Jacob noch etwas umgestellt oder sie hatten aus anderen Gründen die Plätze getauscht.

Nun aber sah es so aus, als wäre das eine ausgesprochen glückliche Fügung, denn Leah konnte gar nicht genug von Carter bekommen. Mit großen Augen himmelte sie ihn an und strich sich mit den Fingerspitzen über die Lippen. Ella konnte ein Kichern nicht unterdrücken. Es war wie interaktives Fernsehen.

Wie er auf die Charmeoffensive reagierte, konnte sie nicht erkennen, weil er mit dem Rücken zu ihr saß. Auch auf seiner anderen Seite saß mit Cassie eine Frau, die reges Interesse an seinen Worten zeigte.

Sogar Jacob, der sonst nur um sich selbst kreiste, schien ihm aufmerksam zuzuhören. Ihn begeisterte jedoch keine der Frauen. Sie waren ihm sicher alle zu alt, aber es war nicht ihre Schuld.

Ella hatte es anders geplant. Was konnte sie dafür, wenn jemand die Namensschilder vertauschte? Hoffentlich musste sie sich später nicht sein Gemecker über ihre Auswahl anhören. Jacob konnte ein richtiger Arsch sein.

Ihr Handy vibrierte kaum hörbar in der Handtasche neben dem Hintereingang. Mit ausgestrecktem Fuß angelte sie danach, um zu sehen, wer ihr schrieb. Die Nachricht ließ sie schmunzeln.

Rick 8:16pm

MORGEN 10 UHR? DIESES MAL RESERVIERE ICH DIR AUCH EIN CROISSANT.

Ella 8:17 pm

Okay, ich bin dabei. Wehe, du isst mir wieder alles weg!

Rick 8:17 pm

Wird nicht passieren. Ich verspreche es.

Die Küchentür schwang auf und Jacob trat in den Raum. Die rötliche Färbung seiner Wangen ließ erkennen, dass er selbst einiges von dem preiswerten Rotwein getrunken hatte, den sie ans Buffet gestellt hatte.

Normalerweise aß er weder mit den Teilnehmern seiner Veranstaltungen, noch trank er in ihrer Gesellschaft Alkohol. Die Veränderung bemerkte außer ihr niemandem niemand. Kam jetzt die Standpauke wegen der Helferaktion?

In der Hand hielt er das Klemmbrett, auf dem sich einige Einträge angesammelt hatten. Seine dunklen Augen musterten sie, als hätte er Schwierigkeiten, sie zu erkennen.

»Kein schlechter Schachzug«, lallte er und reichte ihr die Unterlage.

Sie schob ihr Telefon in die Tasche und nahm sie ihm ab. Etwa ein Dutzend Namen standen darauf – ein voller Erfolg.

Doch noch immer wusste sie nicht, was sie von Jacobs Auftritt halten sollte. Was wollte er hier?

»Du bist nicht sauer?«, tastete sie sich vor.

Wenn er schon ausrastete, wollte sie es wenigstens schnell hinter sich bringen. Er lehnte sich schwankend an die Arbeitsplatte und verschränkte locker die Arme vor der Brust.

»Warum sollte ich? Du hast dir freiwillige Helfer gesucht. Ich zahle nichts und du hast jemanden, der dir einen Teil der Arbeit abnimmt. Chapeau!«

Er zog seinen nicht vorhandenen Hut und vollführte eine Verbeugung. Als er den Rücken wieder aufrichtete, geriet er leicht ins Taumeln, fing sich aber gleich auf. Lachend fuhr er mit seinem spöttisch klingenden Lob fort.

»Auch unsere Tischgesellschaft hast du ganz wunderbar ausgesucht. Du hast ein echtes Talent als Kupplerin!«

In ihrer Verwirrung über die Worte in Kombination mit seinem Tonfall schwieg sie. Lobte er sie tatsächlich oder holte er nur zu einem kräftigeren Schlag aus?

Eigentlich könnte es ihr egal sein, weil sie sowieso in den nächsten Wochen kündigen wollte, sofern sie eine neue Anstellung fand. Sie hasste es dennoch, wenn er sie anschrie.

In seinem Atem roch sie den Alkohol. Vielleicht war er ein richtig netter Kerl, wenn er mal den Stock aus seinem Hintern zog. Aber sie hatte keine Lust, das herauszufinden. Er sollte einfach aus ihrer Küche verschwinden und sie in Ruhe lassen.

»Wir müssen uns Carter gewogen halten«, flüsterte er mit verschwörerisch an die Lippen gelegtem Zeigefinger.

Machte der Wein ihn wirr im Kopf? War das der Grund, warum er sonst nichts trank?

»Warum?«, entfuhr es ihr vor lauter Verblüffung.

»Das, liebe Ella, bleibt mein Geheimnis! Du machst schön, was ich dir sage und die großen Pläne bleiben meine Sache.«

* * *

RICK

Mitten in der Nacht riss ihn das Klingeln des Telefons aus dem Tiefschlaf. Es lag grundsätzlich eingeschaltet auf dem Nachttisch, weil jederzeit ein Notfall eintreten konnte. Auf dem Display erkannte er zunächst nur verschwommen den Namen seines Partners.

Ehe er das Gespräch annahm, blinzelte er zweimal und warf einen Blick auf den Radiowecker. 3:24 Uhr. Na, wunderbar. Damit war klar, dass er in dieser Nacht keinen Schlaf mehr bekommen würde.

»Oui?«, brummte er in den Hörer. Ein bisschen verärgert, weil es ausgerechnet zu nachtschlafender Zeit sein musste, aber auch ein bisschen erfreut darüber, dass er gebraucht wurde.

»Savage, aufstehen, wir haben zu tun!«, flötete die Stimme am anderen Ende der Leitung. Der künstlich fröhliche Tonfall von Alex Thibault ging Rick tierisch auf die Nerven.

Thibault wusste genau, wie sehr er es hasste, aus dem Schlaf gerissen zu werden, weshalb er sich diebisch über die seltenen Gelegenheiten freute, wenn er ihn wecken durfte. Normalerweise verstanden sie sich gut, aber Thibault hatte eben auch so seine Macken.

»Als hätte ich mir das nicht denken können, wenn du um diese Zeit anrufst.« Er rollte sich auf die Seite und ließ ein Bein auf den Boden gleiten. »Was gibt es?«

»Ein Feuer außerhalb der Stadt. Die Feuerwehr vermutet Brandstiftung.« Seine Stimme klang ungewohnt nasal – mehr noch, als er es ohnehin von den frankophonen Kollegen gewöhnt war. »Ich bin in fünf Minuten bei dir. Beeil‘ dich!« Hustend unterbrach Thibault das Gespräch.

Für eine Dusche fehlte ihm die Zeit und er wusste, wenn er an einen brennenden Tatort fuhr, war es ohnehin vergebene Liebesmüh. Hinterher würde er stinken wie ein Biber, der aus seinem lodernden Bau geflüchtet war. Zu allem Überfluss kränkelte Thibault auch noch und Rick steckte mit ihm in einem Wagen fest.

Für das Ligaspiel am Wochenende durfte er auf keinen Fall ausfallen. Die Mannschaft kroch sowieso schon auf dem Zahnfleisch, weil gerade mal wieder die jährliche Grippewelle umging.

Er ließ den Kopf kreisen. Überall knirschte und knackte es. Langsam wurde er wirklich alt, dachte er grimmig. War 33 jetzt das neue 50?

Sein Körper fühlte sich an, wie von einem Zug überrollt. Aber es half nichts. Auf einem Stuhl neben dem Bett hingen seine Kleider vom Vortag. Etwas Neues aus dem Schrank zu nehmen, wäre genauso idiotisch wie die Idee mit der Dusche. Lieber fuhr er nach dem Einsatz noch einmal her.

Thibault war pünktlich, wie immer. Die Fahrt führte sie hinaus aus Trois-Rivières und vorbei an der Kleinstadt Shawiningan. Beinahe wären sie bei seiner kleinen Schwester Ella vor der Haustür gelandet, doch kurz vor dem Ort konnte Rick die Rauchsäule erahnen, die vom orangenen Schein der Flammen beleuchtet wurde.

Sie kam definitiv nicht von Ellas Ende des Ortes. Etwas zu abrupt bog sein Partner von der Hauptstraße ab und steuerte auf eine von Strahlern beleuchtete Ruine zu.

»Was war das hier?«

Achselzuckend räusperte sich Thibault und brachte den Wagen mit einem sanften Bremsmanöver zum Stehen. Zwar gab er sich Mühe, nicht ständig zu husten, dennoch sprang Rick aus dem Fahrzeug, sobald es ihm gefahrlos möglich war.

Er hielt es einfach keine Minute länger mit dieser Bazillenschleuder auf so engen Raum aus. Wenn er am Samstag nicht topfit war, konnten sie den Sieg vergessen. Und was viel schlimmer war, vielleicht konnten sie ohne ihn nicht einmal antreten.

Draußen roch es nach verbranntem Holz. Irgendetwas anderes lag ebenfalls in dem Geruch, aber er konnte es nicht genau zuordnen.

Der Brandursachenforscher des Countys, Gilles Fortin, stand einige Meter weiter zwischen den Fahrzeugen. Er war ein echter Fachmann für das Feuer. Nach Jahren bei der Feuerwehr hatte er begonnen, die Gesetzmäßigkeiten der Brände zu studieren. Als Vater dreier Töchter wollte er irgendwann nicht mehr mitten in den Flammen stehen.

Rick verstand das nur zu gut. Wenn er eines Tages Familie hatte, würde er sich auch zweimal überlegen, ob er in einen gefährlichen Einsatz ging oder seinen Dienst an der Gesellschaft auf andere Weise leistete.

Fortins Hände steckten in feuerfesten Handschuhen, weshalb er zur Begrüßung nur nickte. Sie kannten sich, eine Vorstellung war überflüssig. Mit einer weiteren Kopfbewegung bedeutete er ihnen, näher zu treten, obwohl er gerade mitten im Gespräch mit einigen Kollegen steckte.

»Guten Morgen, ihr Zwei«, begann er gedehnt.

Die Feuerwehrmänner schwärmten wieder aus und Alex Thibault trat an seine Seite. Er hielt dabei einen gewissen Sicherheitsabstand. Argwöhnisch blickte Fortin zwischen ihm und seinem Partner hin und her.

»Habt ihr Stress?«

Rick lachte und Thibault versuchte es ebenfalls, begann jedoch stattdessen zu husten.

»Nein, er will mich nicht anstecken und das ist vollkommen richtig so«, antwortete Rick schließlich.

»Scheiße, hast du etwa auch die Seuche? Bleib‘ bloß weg von mir.« Fortin hielt die Hände überkreuzt in Thibaults Richtung.

Rick warf einen Blick auf sein Handy. Er vermisste einen guten Schuss Koffein, um den Tag zu überstehen. Ohne einen morgendlichen Kaffee stand ihm der Sinn nur selten nach Smalltalk, weshalb er zügig zur Sache kam.

»Okay, was weißt du?«

Der Brandermittler nickte zustimmend, wies auf die qualmende Ruine und begann aufzuzählen, was er darüber in Erfahrung gebracht hatte.

»Eine alte Papiermühle, schon lange außer Betrieb, ziemlich schlechter Zustand. Der Melder gab an, dass sich hier seit Jahren nur noch gelegentlich mal die Jugendlichen aus dem Ort herumtrieben.«

Rick sah sich die Brandstätte genauer an. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er, mehr zu erkennen als bloße Schemen im gleißenden Licht der Arbeitsscheinwerfer, die den Vorplatz erhellten.

Sie blendeten ihn so sehr, dass er Schwierigkeiten hatte, die Kontraste des Gebäudes vor dem nächtlichen Himmel auszumachen. Seinen Blick richtig deutend begann Fortin auf die Mühle zuzugehen. Mit Wasserkraft wurde hier vor über einhundert Jahren Holz zu Papier verarbeitet.

»Wer hat es gemeldet?«

»Ein Nachbar, der den Rauch gerochen hat. Er wusste nicht genau, wo es brennt, aber die Kollegen haben die Flammen von der Straße aus gesehen.«

Rick erinnerte sich, dass er das Gebäude früher schon einmal wahrgenommen hatte, allerdings hatte er damals keine Ahnung, was es mit dem unscheinbaren Bau auf sich hatte.

Da Ella am anderen Ende dieses Ortes arbeitete, kam er gelegentlich bei ihr vorbei, wenn er in der Gegend zu tun hatte. So hätte er es wohl auch an diesem Tag getan, aber es war erst halb fünf am Morgen. Zu so unchristlicher Zeit wollte er sie nicht aus dem Bett holen.

Er begann, sich zu fragen, was er eigentlich hier sollte. Ein warmer Abriss oder ein zufälliger Brand in einem leerstehenden Gebäude ohne Verletzte war nicht unbedingt ein Fall, der Thibault und ihn auf den Plan rief.

»Wie kommst du auf Brandstiftung?«

Fortin nickte nachsichtig.

»Gar keine so dumme Frage, denn es hätte ja durchaus auch ein Kabelbrand sein können. Mal abgesehen davon, dass der Strom für das Gebäude schon lange abgestellt ist. Da fließt nichts mehr, außer Wasser. Das dafür umso reichlicher. Das Dach ist undicht und die Wände feucht. Eigentlich grenzt es an ein Wunder, dass die Bude überhaupt Feuer gefangen hat.«

Das weckte Ricks Interesse nun doch noch.

»Ich habe drinnen Spuren von Benzin gefunden. Es scheint mir so, als wollte der Brandstifter etwas beseitigen und das Ganze ist dabei ein bisschen außer Kontrolle geraten.«

»Hast du schon eine Idee, was da verbrannt werden sollte?«, hakte sein Partner ein und fing erneut an zu husten.

Fortin trat einen Schritt zurück, um nicht direkt angehustet zu werden. Rick hätte sich gern eine Gasmaske ausgeliehen, fürchtete aber, er könne damit ein Stückchen am Ziel vorbeischießen und seinen Kollegen ernsthaft kränken.

»Sieht mir nach Fotos und anderen Erinnerungsstücken aus«, mutmaßte Fortin weiter. »Wenn du es genau wissen willst, solltest du die Techniker beauftragen, allerdings wird sich eine Analyse kaum lohnen.«

Der erfahrene Kollege zuckte mit den Schultern und hob die Hände, als wollte er mit diesen Details nichts zu tun haben.

»Kam da jemand mit einer Trennung nicht zurecht?«, röchelte Alex Thibault erbärmlich.

»Mann, du solltest echt zuhause bleiben, wenn du so furchtbar klingst!«, brach es aus Rick heraus.

Der Mann war ein waschechtes Sicherheitsrisiko. Wenn jeweils ein Kranker zwei weitere ansteckte, waren Polizei und Feuerwehr des Kreises bald vollkommen verwaist.

KAPITEL SECHS

MARSCH ZUR ERKENNTNIS

EMI

Draußen war es noch stockdunkel, als sie all den müden Gesichtern vom Vorabend wieder im Speisesaal gegenüber saß. Kurz nach Sonnenaufgang wollte Jacob mit ihnen zu einer Wanderung aufbrechen.

Die übergroße Kaffeekanne am Buffet war der zentrale Anlaufpunkt der unausgeschlafenen Gäste. Auch Emi pilgerte dorthin, sobald sie die Kanne erblickte. Erst danach suchte sie sich einen Sitzplatz. Chloé saß allein und starrte verschlafen in ihre Tasse.

»Guten Morgen«, brummte sie durch fast geschlossene Lippen, als sie die trägen Lider hob.

Sich zu einem Lächeln aufraffend erwiderte Emi den Gruß und ließ sich auf den Stuhl hinab gleiten. Ein Gähnen übernahm die Kontrolle über ihren Mund und unterband jegliche weitere Konversation.

»Hallo, darf ich mich zu euch setzen?«, flötete Leah, eine attraktive Frau mit einer Hautfarbe, wie Emi sie noch nie gesehen hatte. Irgendwie schien sie eher auf eine pazifische Insel zu passen als ins frostige Kanada.

»Gerne«, stimmte Emi zu. Das aparte Aussehen der Frau weckte ihre Neugier. »Darf ich dich fragen, wo du herkommst?«

Die Schönheit schien sich von der Frage nicht unangenehm berührt zu fühlen. Ein warmes Lächeln zeichnete sich auf ihren Wangen ab. Die Augen funkelten wie zwei dunkle Bernsteine und machten ihr Gesicht noch interessanter.

»Ich lebe in Vancouver, aber meine Eltern stammen aus Hawaii. Weil ich immer Tänzerin werden wollte, bin ich früh von dort weggezogen.«

»Oh, und hat sich dein Traum erfüllt?«, fragte Emi, der es zunehmend peinlich wurde, dass sie am Vortag so viel verpasst hatte.

»Ja, ich habe bis vor ein paar Jahren professionell auf Bühnen gestanden. Jetzt ist meine große Zeit leider vorbei. Deshalb habe ich eine eigene Schule gegründet und bringe nun dem Nachwuchs das Tanzen bei. Das ist auch eine schöne Aufgabe.«

Verträumt nickte sie bei Leahs Worten. Es war beeindruckend, wie unterschiedlich die Ziele der Menschen waren, die sie kennenlernte und umso erstaunter war sie, wenn sie erfuhr, dass sie sich ihre Träume wirklich erfüllten.

Natürlich kostete es jeden von ihnen auf die eine oder andere Weise etwas. Die Umsetzung mancher Wünsche verlangte Disziplin, harte Arbeit oder das Aufgeben von anderen Dingen, die einem am Herzen liegen. Jeder musste selbst entscheiden, wie weit er für seinen Traum zu gehen bereit war.

All diese zielstrebigen Menschen inspirierten sie und bestärkten sie in ihrem Streben, Yoga als Lebensmodell beizubehalten. Sie musste nur härter arbeiten, bessere Lösungen finden und vor allem ein Angebot schaffen, dass sie von Anderen unterschied.

Die Kurse in den Unternehmen waren da sicher ein guter Anfang – eine Idee, die sie einzig ihrer Freundin Miriam verdankte, in deren Redaktion sie mit dem Modell ihre ersten Stunden geben durfte.

Endlich kam auch Sara an den Frühstückstisch. Sie sah aus, als hätte sie überhaupt nicht geschlafen. Unter ihren Augen waren dunkle Ringe zu erkennen, die Haut war grau und teigig.

Auf dem Weg ins Foyer, wo sich in wenigen Minuten die Gruppe in Bewegung setzen sollte, schlenderte Emi in die Küche, um Ella zu begrüßen. Die stets gut gelaunte Kanadierin belud die Spülmaschine und sah ebenfalls alles andere als erholt aus.

»Hey, wie geht es dir? Hast du gut geschlafen?«, fragte sie wie aus der Pistole geschossen.

»Hach, ja, nur ein bisschen kurz, glaube ich. Was ist denn mit dir? Du siehst irgendwie ziemlich fertig aus.«

Die Worte waren schon raus, als sie sich fragte, ob sie das hätte sagen dürfen oder ob es zu anmaßend war.

»Erzähl mir nichts, du warst doch früh verschwunden!« Auch wenn Ella nicht auf ihre Frage einging, spürte sie, dass sie ihr die direkten Worte nicht übel nahm.

»Ja, stimmt schon. Spät ist es bei mir nicht geworden. Nun erzähl schon, was mit dir ist.«

»Ich brauche eigentlich nicht viel Schlaf. Fünf Stunden müssen während der Seminare reichen. Aber ich konnte gestern nicht gut einschlafen, irgendwie war mein Kopf sehr beschäftigt.«

Nach der knappen Erklärung ging sie jedoch sofort zum nächsten Thema über.

»Hast du denn schön warme Sachen dabei? Es soll demnächst wieder schneien, habe ich im Radio gehört.«

Emi lächelte. Die herzliche Fürsorge tat ihr gut. So hatte sie überhaupt keine Gelegenheit, sich einsam zu fühlen. Ella war ein sehr umgänglicher Mensch, mit dem sich wie von selbst interessante Gesprächsthemen fanden.

Obwohl sie durch ihre Arbeit im Institut sicher ständig neue Menschen kennenlernte und Emi für sie nichts besonderes war, gab sie ihr das Gefühl, hier in ihrer Mitte angekommen zu sein.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9781723963988
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Juli)
Schlagworte
Ermittlerin Krimi Cosy Crime Yoga starke Frauen Thriller Spannung Ermittler

Autor

  • Erin J. Steen (Autor:in)

Erin J. Steen wurde im Herbst 1983 in Niedersachsen geboren. Dort lebt und arbeitet sie auch heute wieder, nachdem sie einige Jahre in verschiedenen Orten im In- und Ausland verbracht hat. Ihre Freizeit verbringt sie nicht nur mit dem Schreiben, sondern auch mit Spaziergängen im Wald, der Familie und stetig wechselnden kreativen Hobbys. Sie fotografiert, näht und denkt hin und wieder daran, das Töpfern zu erlernen.
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Titel: Sündenfeuer