EMI
Sie trieb im Strom der hungrigen Seminarteilnehmer aus dem Raum. An der Seite von Chloé ging sie ein paar Schritte langsamer. Während sie erste Eindrücke austauschten, fielen sie hinter der Gruppe zurück.
Wo das Foyer in den Flur zur Küche und zum Speisesaal überging, versperrte ihnen ein dunkelhäutiger Mann, der ebenfalls an dem Seminar teilnahm, den Durchgang. Wie ein Betonpoller stand er mitten im Weg und starrte argwöhnisch in ihre Richtung.
Emi drehte sich um, weil sie wissen wollte, wen oder was er da inspizierte. Nach eingehender Betrachtung ihres Umfelds war sie jedoch überzeugt, er konnte nur Chloé oder sie meinen.
»Entschuldige, aber kennen wir uns nicht irgendwoher?«
Er war überdurchschnittlich groß, schlank, aber nicht schmächtig und erweckte insgesamt den Eindruck eines intelligenten Mannes, der Sport trieb. Seine Stimme klang sehr melodisch. Dank der Namensschilder, die Jacob nach seiner Ansprache verteilt hatte, erkannte sie, dass er Carter Sloan hieß.
Sein Blick war nur auf die Frau an ihrer Seite gerichtet. Außer ihr schien für ihn in dem Moment nichts von Bedeutung zu sein. Auch die Kanadierin inspizierte ihn gründlich von oben bis unten und schüttelte dann den Kopf.
»Nein, sorry, ich glaube nicht«, erklärte sie kurz angebunden.
Sie wollte sich gerade an ihm vorbeidrängen, als er sie am Arm festhielt und noch einmal nachhakte.
»Ich hätte schwören können, dass du es warst.«
Der Klang seiner Worte war so sanft, als wollte er sie damit in ein Seidentuch hüllen. Emi kam sich vor, als stünde sie abseits der Szenerie, obwohl sie Chloés Arm an ihrem spürte.
Mit seiner eindringlichen Art zu reden vermittelte er eine Intimität in dem Gespräch, die ihr nur den Status eines Zuschauers hinter Glas verlieh. Fast war es ihr peinlich, dass sie überhaupt da war.
»Vielleicht«, schwankte sie nun doch noch in ihrer Meinung. »Wo kommst du denn her?«
Die billige Masche schien auf diese Weise sogar bei der selbstbewussten Frau ihre Wirkung zu entfalten. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen den Türrahmen, womit er es ihr ermöglichte, sich an ihm vorbeizuquetschen, aber sie blieb stehen und musterte ihn erneut. Dieses Mal interessierter als zuvor.
»Ich bin viel herumgekommen. Einige Jahre in Atlanta, danach Cleveland und Pittsburgh. Im Augenblick lebe ich in New York City.«
»Hm, nein, da klingelt bei mir wirklich nichts«, grübelte Chloé.
Als bräche mit einem Mal der Bann, zuckte sie mit den Schultern und schob sich Emi am Ärmel mit sich ziehend an ihm vorbei. Erst im Speisesaal blieb sie an einem Tisch stehen und legte die Hände auf eine freie Stuhllehne.
»Hier! Du sitzt gleich neben mir!«, verkündete sie und deutete auf die Platzkärtchen.
Vorsichtig warf sie noch einmal einen Blick zurück. Carter war nirgends zu sehen. Vielleicht ließ er sich noch etwas Zeit mit dem nächsten Akt in seinem Schmierentheater. Emi kam sein Auftreten vor, wie der hinterhältige Trick eines Hypnose-Künstlers. Diese plötzliche und sachlich vollkommen unbegründete Intimität zu schaffen, war nichts, was einem versehentlich gelang. Es bedurfte mit Sicherheit einiger Übung.
Sie kannte sich mit Manipulationstechniken nicht aus, aber sicher hatte er irgendwas mit seiner Stimme gemacht. Diese ganz besondere Melodie. Vielleicht konnte er damit irgendwelche Schwingungen aussenden. Sie hatte keine Ahnung, wie es funktionierte, aber sowas in der Art musste es doch gewesen sein. Zufall schloss sie kategorisch aus.
»Was war denn das gerade?«, fuhr Chloé mit gesenkter Stimme fort. Emi verzog die Lippen zu einem schrägen Schmollmund. »Keine Ahnung? Eine Anmache? Eine Verwechslung? Wer weiß? Aber irgendwas daran war komisch, findest du nicht?«
Die Kanadierin schüttelte den Kopf. Es war keine Antwort mehr auf ihre Frage, sondern eine ganz willkürliche Bewegung, um den Gedanken aus ihrem Kopf zu verjagen. Sara saß bereits mit dem Rücken zum restlichen Raum und hielt den Blick gesenkt.
Ehe Emi sie fragen konnte, was mit ihr los war, kam auch der Mann mit der Ledertasche an ihren Tisch und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Seine energiegeladene Ausstrahlung machte ihr bewusst, wie sehr die weite Reise sie erschöpft hatte. Schon wieder hätte sie augenblicklich ins Bett fallen können.
»Wow, endlich Abendessen. Ich habe wahnsinnigen Hunger! Ihr auch?«
Emi rang sich ein Lächeln ab. Matt konnte nun wirklich nichts dafür, dass sie sich so erschlagen fühlte.
»Ja, ich bin auch sehr hungrig«, erklärte sie deshalb freundlich.
»Du bist die aus Europa, nicht wahr?«
Er hatte offenbar bei der kleinen Vorstellungsrunde gut genug zugehört, um sich diesen Informationsfetzen zu merken. Ihr eigener Kopf war hingegen wie leergefegt.
Während der ganzen Vorstellungsrunde hatte sie gegrübelt, was sie über sich selbst erzählen konnte und dabei die Worte der anderen Teilnehmer wie ein Rauschen im Hintergrund wahrgenommen. Nur über Chloé, die nach ihr an der Reihe war, wusste sie anschließend ein bisschen mehr als zuvor.
»Ja, aus Deutschland. Warst du denn schon einmal in Europa?«
Sein offenes Lächeln lud dazu ein, ihn näher kennenzulernen. Heftig nickend wirkte er fast wie seine eigene Karikatur, was Emi absurderweise noch mehr für ihn einnahm.
»Ja, sehr oft. Ich bin früher viel in der ganzen Welt herumgekommen.«
Er sprach über sich, als läge der Großteil seines Lebens bereits hinter ihm, doch er konnte seinem Aussehen nach kaum älter als vierzig sein.
»Interessant. Du siehst gar nicht aus, wie einer dieser Jetset-Typen.«
Sie warf einen Blick zu Chloé, die ihrem Gespräch interessiert folgte. Wie bei einem spannenden Tennismatch blickte sie zwischen ihnen hin und her, hielt sich aber selbst im Hintergrund.
»Nein, ich bin Sportler.« Er zuckte mit den Schultern. »Genau genommen war ich Sportler. Jetzt bin ich sozusagen in Rente.«
Das erklärte zumindest die Vergangenheitsform, dachte Emi schmunzelnd. Für einen Sportler im Ruhestand sah er noch ausgesprochen fit aus. Er hatte die schlanke Figur eines Tänzers und eine Körperspannung, um die sie ihn beneidete.
»Ach echt? Sorry, ich war vorhin wohl nicht besonders aufmerksam. Was ist denn dein Sport?«
Er legte ein schelmisches Grinsen auf und sah demonstrativ an sich herab. »Na, rate doch mal!«
Die kreative Seite ihres Gehirns war noch nie besonders ausgeprägt gewesen und im Augenblick schien sie sich sogar in einer Art Winterschlaf zu befinden. Was für Disziplinen gab es überhaupt? Konnte er die Auswahl nicht ein bisschen eingrenzen? Mannschaftssport oder etwas, das man alleine machte? Hach, es war zum Mäusemelken.
Chloé war ihr keine Hilfe. Sie saß mit vor der Brust verschränkten Armen auf ihrem Platz und grinste wissend. Na, herzlichen Dank auch. Hilflos stammelte sie irgendetwas vor sich hin, bis sie sein schallendes Lachen aus ihren unstrukturierten Gedanken riss.
»Lass nur, ich verrate es dir auch so. Ich bin ein Kanute.«
Er war was? Und was hatte das bitte mit der Frage zu tun? War das eine Glaubensgemeinschaft, ein Volksstamm oder eine sexuelle Orientierung, von der sie noch nie etwas gehört hatte?
In ihrem Kopf ratterte es, doch das Wort konnte sie nirgends anknüpfen. Es klang vollkommen fremd. Die Fremdsprache machte die Sache natürlich auch nicht leichter. Vielleicht hätte sie ihn auf Deutsch verstanden oder nach ein paar Stunden Schlaf.
»Wassersport mit einem Kanu.«
Er hatte ihren verwirrten Gesichtsausdruck richtig gedeutet und erlöste sie mit einer Erklärung, die sogar jeder Idiot verstanden hätte. Mit den Händen Paddel imitierend tanzte er seinen Beruf.
Sie kicherte halb über ihre Gedanken und halb über ihre Begriffsstutzigkeit und vergrub ihr Gesicht kopfschüttelnd hinter der Serviette.
»Bist du gut?«
Die Frage entlockte ihm ein erneutes Lachen.
»Ich war Weltklasse, aber jetzt bin ich ein bisschen zu alt, um mit dem Nachwuchs mitzuhalten. Ich bin übrigens Matt!«
»Ich weiß, es steht auf dir«, gluckste sie mit einem Fingerzeig auf seine Brust, wo groß und gut lesbar das Namensschild prangte. »Ich bin Emi.«
Chloé stieg ebenfalls mit ein, stellte sich vor und beteuerte, dass sie ihn natürlich aus den Medien kannte. Offenbar war er eine Art Nationalstar, aber woher hätte Emi das wissen sollen? Sara blieb noch immer still und starrte teilnahmslos auf ihren leeren Platzteller.
Ella schob einen Servierwagen vor sich durch die Tür. An einer Reihe Tische, auf denen bereits Besteckkörbe, Teller und Schalen bereitstanden, blieb sie stehen. Die silbernen Gefäße, die sie mitgebracht hatte, verströmten einen herrlichen Duft. Alle sahen wie gebannt zu ihr.
Nur Carter sprang von seinem Platz zwischen zwei attraktiven Seminarteilnehmerinnen auf und eilte ihr zur Hilfe. Zu zweit wuchteten sie die Speisen auf die Tische. Die junge Kanadierin schenkte ihm für seinen Einsatz ein strahlendes Lächeln.
»Guten Abend zusammen!« Mit hinter dem Rücken verschränkten Armen baute sie sich zwischen dem Buffet und der Gästeschar auf.
»Wir haben uns zwar alle beim Einchecken schon kurz kennengelernt, aber ich möchte mich trotzdem noch einmal offiziell vorstellen. Mein Name ist Ella Savage. Ich kümmere mich um alles Organisatorische, damit ihr euch hier wohl fühlt und euer Seminarziel erreicht.«
Nach diesen einleitenden Worten erschien wieder dieses unvergleichliche Strahlen auf ihrem Gesicht, das jeden in seinen Bann schlagen musste. Ella sah aus wie das Mädchen von nebenan, das im Film dem Hauptdarsteller den Kopf verdrehte. Gepflegt, wenig geschminkt und insgesamt ziemlich durchschnittlich, aber wenn sie lächelte, verströmte sie einen Zauber.
Es veränderte alles an ihrer Erscheinung. Die hellbraunen Augen leuchteten, winzige Grübchen bildeten sich auf ihren Wangen und ihr Körper schien vor Elektrizität zu vibrieren. »Bevor ich euch nun eurem Abendessen überlasse, habe ich noch eine kleine Bitte an euch.«
Sie nahm ein Klemmbrett mit einem Stift an einem Band daran vom Wagen und hielt es in die Höhe.
»Da ich hier allein für alles zuständig bin, würde ich mich freuen, wenn mir der Eine oder Andere von euch während seines Aufenthalts ein wenig zur Hand geht. Das läuft natürlich auf freiwilliger Basis und nur während der Seminarpausen. Tragt euch einfach in diese Liste ein, wenn es für euch okay wäre, mich zu unterstützen.«
Es folgte eine weitere Pause, in der sie den Blick hoffnungsvoll über die Gäste streifen ließ. Bei Emi verweilten ihre Augen einen Moment länger und Ella lächelte erneut, doch dieses Mal zurückhaltender.
Sie machte das ganz großartig. Nur ein Mensch ohne Herz konnte sich nun dagegen sperren, seinen Namen auf die Helferliste zu setzen.
Emi hatte sich ohnehin schon gefragt, wie sie den ganzen Laden hier zusammenhielt. Die Aufgabe war gewaltig, wenn man keine Unterstützung hatte. Vom edlen Herrn Institutsleiter konnte man sicher nicht erwarten, dass er mit anpackte.
Er saß während ihres Auftritts mit mürrischem Blick am Tisch und starrte Ella an. Sie wich seinem Blick jedoch gekonnt aus, als wüsste sie, dass er unzufrieden war.
»Dann wünsche ich euch einen guten Appetit und einen schönen Abend. Wenn irgendwas ist, findet ihr mich meistens entweder an der Rezeption oder in der Küche.«
Ein Raunen ging durch den Raum, als Ella durch den Durchgang entschwunden war. Erst in dem Moment wurde Emi bewusst, wie andächtig sie zuvor geschwiegen hatten. Kein Geschnatter, kein Getuschel. Alle hörten ihr zu.
Nun erhoben sich die ersten Gäste von ihren Stühlen und schlenderten langsam plaudernd zum Buffet. Um die Liste machten sie zu Emis Verwunderung jedoch einen großen Bogen. Hatten sie Angst, die Ersten zu sein?
Entschlossen stand sie auf und marschierte hinüber. Sie teilte die Schlange, die für das Abendessen anstand.
»Entschuldigung, dürfte ich bitte mal an die Liste?«
Vorsichtig versuchte sie, sich zwischen den beiden Frauen hindurch zu schieben, die mit ihren Ehemännern angekommen waren. Eine von ihnen musste die Frau sein, die den Fahrer des einen SUVs ein Arschloch genannt hatte. Höflichkeit und Mäßigung waren jedoch bei keiner der beiden an der Tagesordnung. Beide Frauen verharrten stur an ihren Positionen, sodass Emi nicht an ihr Ziel kam.
»Hey Entschuldigung, ich möchte da mal ran«, wurde Emi lauter.
Dafür erntete sie nun von beiden Damen pikierte Blicke, doch wenigstens die dunkelhaarige Zicke bewegte sich endlich einen Schritt zur Seite. Sie trug sich auf dem leeren Blatt ein. Wie erhofft, löste ihr Verhalten einen Dominoeffekt aus. Nach und nach kamen weitere Teilnehmer heran und notierten ihre Namen.
»Kluger Schachzug«, lobte Chloé leise, als sie Emi zum Salatbuffet folgte.
Sie hatte sich natürlich direkt nach ihr eingetragen und beobachtete nun ebenfalls, wie die meisten der Anderen ihrem Vorbild folgten. Emi schmunzelte, weil sich irgendwann sogar die dunkelhaarige Zicke genötigt sah, sich einzutragen.
Der Rest ihres Gefolges hielt aber weiterhin respektvollen Abstand, damit sich nicht irgendwie ihre Namen darauf verirrten. Vielleicht lebten sie so sehr in ihrer eigenen Welt, dass der soziale Druck der Gemeinschaft keinen Einfluss auf sie hatte, grübelte Emi.
Ein unüberhörbarer Streit am Nebentisch lenkte sie von ihrem Essen ab. Der Salatteller stand unberührt vor ihr, als die Zicke los keifte.
»Du könntest ruhig auch mal einen Finger rühren!«, fuhr sie den älteren der beiden Männer an.
»Kommt überhaupt nicht in Frage.«
Mit vor der Brust verschränkten Armen sah er ihr mürrisch zu, wie sie seinen Teller vor ihm aus einigen Zentimetern Höhe fallen ließ.
»Alles lässt du dir nachtragen!«, ereiferte sie sich weiter.
»Ich bin hier Gast. Ich zahle. Und zwar nicht zu knapp. Ich werde mich sicher nicht selbst bedienen.«
»Trotzdem bin ich nicht deine Kellnerin. Hol dir deinen Scheiß in Zukunft selbst!«
Das Gespräch schien völlig aus dem Ruder zu laufen, bis der Zweite, ein hochgewachsener Mann mit erkennbaren süd- oder mittelamerikanischen Wurzeln, hinzukam und dem Streit Einhalt gebot. Er stellte sich vor die beiden Streithähne und schirmte sie mit seinem Körper vom Rest des Raums ab.
»Jetzt beruhigt euch doch mal«, schlichtete er in gesenktem Tonfall, ohne Partei zu ergreifen. »Wir sind noch keine vier Stunden hier und ihr reißt euch schon wieder die Haare aus!«
Emi konnte nicht verhindern, dass die negative Stimmung sich ein wenig auf sie selbst übertrug. Normalerweise war sie gut gelaunt und versuchte, allem mit positiven Gedanken zu begegnen, aber die Müdigkeit und die Anstrengung ließen ihre Abwehrmechanismen nachlässig werden. Seufzend schüttelte sie den Kopf.
Chloé ließ sich neben ihr wieder auf ihren Platz nieder und blickte verwundert auf den vollen Teller. »Na nu, was ist los?«
»Ich bin nicht mehr wirklich fit, da fällt es mir schwer, das Gezicke am Nachbartisch zu überhören«, erklärte sie mit gesenkter Stimme.
Sie wollte nicht lästern, nur erklären, was sie bedrückte, und das hatte nun einmal irgendwie mit diesen sonderbaren Menschen zu tun.
»Verstehe«, bestätigte Chloé. »Was machst du eigentlich als Yogalehrerin den ganzen Tag?«
Der Themenwechsel tat ihr gut. Im Gespräch über ihren Job, der zur Zeit noch mehr Berufung denn Einkommenslieferant war, fühlte sie sich wohl.
»Die meiste Zeit verbringe ich damit, mir neue Engagements zu suchen und meinen Unterricht zu planen. Weißt du, ich bin niemand, der ständig das gleiche Programm abspult«, erklärte sie, darum bemüht, sich verständlich zu machen.
Sara und Matt kehrten unterdessen ebenfalls mit ihren Tellern an den Tisch zurück und lauschten schweigend ihren Ausführungen.
»Ich versuche, mich immer ein bisschen danach zu richten, was für Schüler meinen Kurs besuchen und wie die allgemeine Stimmung ist. Manche Kursteilnehmer brauchen etwas mehr Stabilität in der Bauchmuskulatur, weil sie zu Rückenschmerzen neigen. Manchmal fördert das Wetter Kopfschmerzen, dann mache ich ein Programm, das dagegen hilft. Solche Sachen halt.«
»Oh, das klingt ja interessant«, gab Chloé aufmerksam zurück.
»Und du? Was machst du genau?«, hakte Emi nun bei Chloé nach.
Sie hatte bei der Vorstellungsrunde nur grob angerissen, dass sie eine Art Hotel für besondere Urlaubserlebnisse führte. Dahinter konnte sich viel verbergen.
»Ich betreibe eine kleine Pension und biete meinen Gästen Hundeschlittentouren an.« Ihre Augen glänzten selig. »Ich habe ein eigenes Hundegespann, mit dem ich sehr gern arbeite. Und weil wir ein großes Haus südlich der Stadt besitzen, haben wir dort eben für meine Passion ein paar Gästezimmer eingerichtet.«
»Wow, Hundeschlitten? Da wäre das jetzt wahrscheinlich das ideale Wetter, oder?«, mutmaßte Emi im Hinblick auf die winterlichen Temperaturen.
Chloé steckte eine Gabel voller Salat in den Mund und stockte.
»Nein, überhaupt nicht. Dieser alte Schnee ist furchtbar«, murmelte sie, während sie den Salat hinunterwürgte. »Wir hatten seit Tagen keinen Neuschnee. Darauf fährt es sich toll und für die Touristen ist es auch viel schöner, wenn sie die ersten Spuren in den Schnee fahren!«
»Oh, da sieht man mal, dass ich davon echt keine Ahnung habe.«
»Woher solltest du das auch wissen? In Deutschland habt ihr ja fast keine Hundeschlitten«, stellte Chloé achselzuckend fest. »Außerdem vertritt zum Thema Schnee irgendwie jeder Musher seine eigene Philosophie.«
»Musher?«
Emi spürte, dass es immer später wurde. Ihr Geist war nicht einmal mehr in der Lage, die einfachsten Worte zu verstehen. Dabei sprach sie sowohl ein passables Französisch, als auch sehr gutes Englisch, aber sie wusste nicht einmal, welcher der beiden Sprachen sie den Ausdruck zuordnen sollte.
»Das ist der Fachbegriff, mit dem man den Hundeschlittenführer bezeichnet«, erklärte sie geduldig. Sie nahm den letzten Bissen von ihrem Teller auf und sah sie dann ein wenig verträumt an. »Kennst du eigentlich die Geschichte von der Diphtherieepidemie in Nome?«
Sie schüttelte den Kopf. Zwar wusste sie aus ihrem Medizinstudium sehr wohl, was Diphtherie war, aber von Nome hatte sie noch nie etwas gehört.
Matt lehnte sich in seinem Stuhl zurück und lächelte.
»Du kennst sie, oder?«, fragte sie an ihn gewandt.
»Ja, ist aber eine gute Geschichte. Erzähl ruhig!«
In den folgenden Minuten bannte Chloé sie trotz ihrer Erschöpfung mit einer dramatischen Geschichte über ein Antiserum.
Es musste per Hundeschlitten über eine Distanz von mehr als 1.000 km durch den eisigen Winter Alaskas transportiert werden, um eine Epidemie einzudämmen, die in der 20.000-Einwohner-Stadt Nome ausgebrochen war.