CHARLOTTE
»Krieg jetzt keinen Schreck, okay?«, bat ihr Kollege sie, während er durch die belebte Urbanstraße fuhr und den Blinker setzte, um die Spur zu wechseln.
»Wieso?«, fragte sie, weil sie keine Ahnung hatte, worauf er hinaus wollte.
»An der Adresse waren wir schon mal. Du wahrscheinlich öfter als ich«, deutete er an.
Wie viel öfter, registrierte sie erst, als der Wagen direkt vor Emis Wohnhaus zum Halten kam. Vor einigen Monaten hatten sie gemeinsam in einem Fall ermittelt, bei dem die junge Yogalehrerin unverschuldet in den Fokus der Ermittlungen geraten war, und Stelter wusste, dass sie inzwischen gut mit der damaligen Hauptverdächtigen befreundet war.
»Hier wurde der Tote gefunden?«, fragte sie ungläubig. Stelter hatte einen merkwürdigen Sinn für Humor, weshalb sie vermutete, er könnte sie bloß hochnehmen.
Stelter nickte und stieg aus. Charlotte begann zu akzeptieren, dass er offenbar nicht scherzte.
Ein Toter in Emis Hausflur – was sollte das denn nun bedeuten?
Zum Glück war der Tote ein Mann. So musste sie sich wenigstens nicht um ihre Freundin sorgen, aber sie würde im Rahmen der Anwohnerbefragung auf jeden Fall bei ihr vorbeischauen.
Am Eingang begrüßte sie eine junge Beamtin. Ihr Partner hatte bereits seinen Ausweis vorgezeigt und hielt ihr die Tür zum Flur auf. Sie marschierte voraus und ließ Stelter weit hinter sich. Treppauf hatte er erhebliche Probleme mit seiner Ausdauer, das kannte Charlotte bereits gut. Aber sie würde sich hüten, ihn schon wieder auf seinen übermäßigen Zigarettenkonsum hinzuweisen.
In der zweiten Etage trieben sich bereits mehr Menschen herum. Eine schaulustige Nachbarin im Morgenmantel versuchte, sich in ihrem Windschatten an einem Beamten vorbei die Treppe hoch zu mogeln. Doch er hielt sie auf.
»Gehen Sie bitte zurück in Ihre Wohnung«, forderte er nachdrücklich.
»Aber ich wollte doch nur…«, begann die ältere Dame zaghaft zu erklären und hielt dann inne, weil sie erkannte, dass ihre Bemühungen zwecklos waren.
Auf Emis Treppenabsatz waren alle Türen geschlossen. Ein Team Rettungsassistenten kam ihr entgegen. Sie erkannte unter ihnen ein bekanntes Gesicht. Wenn sie sich recht erinnerte, hieß der größere der beiden Sanitäter Pascal, aber sicher war sie sich nicht mehr.
Vor einigen Wochen hatten sie bei einem Einsatz miteinander zu tun.
»Hi Charlotte«, grüßte er souverän. Er erinnerte sich also an ihren Namen. Wenn sie sich doch bloß ähnlich sicher bei seinem wäre.
»Hi«, gab sie unbeholfen zurück. »Schön dich zu treffen.«
Sie versuchte, den fehlenden Namen mit etwas freundlichem Smalltalk wieder wettzumachen, denn sie fand ihn nett und wollte nicht, dass er sie für eine unnahbare Zicke hielt. Er zwinkerte ihr freundlich zu und setzte seinen Weg nach unten fort.
Auf der Treppe zur nächsten Etage lag schließlich das Opfer. Ihr fiel auf den ersten Blick auf, dass der Mann einen Schlafanzug trug. Jeweils graubraun gemustert passten Hemd und Hose zusammen. Das Hemd war jedoch hochgerutscht und entblößte ein Stück seines käsig weißen Rückens, was die Durchgängigkeit des Karomusters unterbrach. Die Beine des Toten zeigten nach unten. Es sah aus, als wäre er beim Hinaufgehen gestürzt. Ein Notarzt stand neben ihm und hob zwei Finger zum Gruß an die Stirn.
»Guten Morgen, Charlotte Rothenburg von der Kriminalpolizei«, stellte sie sich vor. »Gibt es schon Erkenntnisse?«
»Moin«, gab er zurück. »Sieht auf den ersten Blick nach einem kräftigen Schlag auf den Hinterkopf aus. Als wir hier ankamen, war nichts mehr zu machen.«
Er zuckte mit den Schultern und griff nach seinem Koffer.
»Danke. Gibt es noch irgendwas?«, hakte sie nach. Bislang war offenbar kein Rechtsmediziner zu seiner Ablösung erschienen. Deshalb versuchte sie, von ihm alle Informationen zu bekommen, die sie brauchte, damit sie mit den Ermittlungen loslegen konnte.
»Nein, mehr kann ich dazu nicht sagen. Der Rechtsmediziner wurde bereits angefordert.« Erneut zuckte er die Schultern. »Ich müsste dann auch wieder los, oder braucht ihr mich noch?«
»Nein, nein, schon okay.«
Charlotte ließ ihn ziehen. Inzwischen war auch Stelter auf ihrer Höhe angekommen und schnappte nach Luft. Sie warf einen intensiven Blick auf die Leiche, während sie Stelter Zeit ließ, wieder zu Atmen zu kommen.
Der Hinterkopf des Mannes trug klare Spuren eines kräftigen Schlages. Genau wie der Arzt gesagt hatte. Blut und Haare hatten eine Kruste gebildet. Seine Arme sahen aus, als hätte er versucht, seinen Sturz abzufangen.
»Und?«, japste Peter Stelter.
»Bislang nichts. Aber schau mal, das ist merkwürdig. Er hat eine Platzwunde am Hinterkopf, liegt aber mit dem Gesicht nach unten. Da kann er ihn sich kaum bei dem Sturz selbst aufgeschlagen haben, oder was meinst du?«
Sie wusste, dass es wenig brachte, sich ungesicherten Vermutungen hinzugeben, aber irgendeine Annahme mussten sie treffen, wenn sie mit den Ermittlungen zielgerichtet beginnen wollten. So ging sie vorerst von der Beteiligung einer zweiten Person aus, die es zu ermitteln galt. Stelter zuckte die Achseln und nickte, als wolle er sie in ihrem Ansatz bestätigen. Er wusste, dass sie genau das brauchte. Ohne ein Feedback funktionierte sie nur eingeschränkt. Vielleicht gab es auch eine ganz andere Erklärung, aber mit irgendwas mussten sie anfangen.
Weil er weiterhin nach Atem rang, wandte sich Charlotte zum oberen Treppenabsatz, wo sich ein weiterer Sanitäter um eine Frau kümmerte. Sie schob sich vorsichtig zwischen Wand und Opfer ins Dachgeschoss nach oben und versuchte dabei keine Spuren zu zerstören. Nachdem bereits ein halbes Dutzend Menschen hier herumspaziert war wie auf einem Jahrmarkt, gab es vermutlich nicht mehr viel, was sie zerstören konnte. Trotzdem wollte sie nicht für verwischte Spuren verantwortlich gemacht werden, denn sie konnte sich keine weiteren Minuspunkte bei ihrem Chef leisten.
»Gibt es irgendjemanden, den wir für Sie anrufen können, damit Sie jetzt nicht allein sein müssen?«, fragte der Sanitäter einfühlsam. In sich zusammengesunken lehnte die Frau an der cremeweiß gestrichenen Wand des Treppenhauses. Neben ihr stand eine Wohnungstür auf.
»Ich habe doch nur meinen Manfred«, gab die Frau weinerlich zurück und deutete auf die Treppe. Charlotte zählte eins und eins zusammen.
»Guten Tag«, mischte sie sich in gemäßigter Lautstärke in das intime Zwiegespräch ein. »Ich bin von der Polizei und müsste Ihnen einige Fragen stellen, wenn das möglich ist.«
Die Frau sah sie aus großen Augen an, blieb aber stumm wie ein Fisch. Der Sanitäter nickte ihr knapp zu und schob die Frau mit sanftem Druck in Richtung der Wohnungstür. Charlotte warf einen unauffälligen Blick auf das Namensschild an der Klingel, folgte der Frau hinein und entschied, das Gespräch auch ohne aktive Zustimmung zu beginnen.
»Frau Kreutzer, haben Sie Tee im Haus? Sicher würde es Ihnen ganz gut tun, erstmal eine Tasse zu trinken. Sagen Sie mir einfach, wo ich alles finden kann und setzen Sie sich.«
Die Wohnung hatte einen ähnlichen Schnitt wie die ihrer Freundin eine Etage tiefer. Die ältere Dame ging mit kleinen schlurfenden Schritten voran und zeigte ihr den Weg in die Küche. Sie deutete auf einen Hängeschrank und ließ sich schlaff auf einen Stuhl mit Metallgestell und Kunstlederbezug fallen. Das Polster gab einen zarten Pufflaut von sich, doch auch das schien sie kaum zu registrieren. Vollkommen in ihre Fassungslosigkeit versunken kapselte sie sich von ihrer Umwelt ab. Charlotte stellte den Wasserkocher auf und öffnete den Hängeschrank, in dem sie Instantkaffee und einige Beuteltees vom Discounter fand. Sie entschied sich für Kamille und griff nach zwei Tassen aus dem Fach darüber.
»Lassen Sie uns doch zunächst die Formalien abhandeln. Wie ist denn Ihr vollständiger Name?« Sie zückte ihren Notizblock und zog die Kappe von der Spitze ihres Stiftes.
»Regina Kreutzer«, gab die Angesprochene monoton zurück.
»In welchem Verhältnis standen Sie zu dem Opfer?«
Charlotte lehnte an der Küchenzeile und notierte sich die Eckdaten, während sich das Wasser im Kocher erhitzte.
»Manfred war mein Mann.« Sie schniefte leise, als ihr bewusst wurde, dass sie gerade selbst ebenfalls zur Vergangenheitsform übergegangen war. Die Erkenntnis schlich sich langsam ein.
Nach einigen weiteren formalen Fragen pausierte Charlotte, um den Tee aufzugießen. Sie reichte der Frau eine Tasse und ließ sich ihr gegenüber nieder, um ihr auf Augenhöhe zu begegnen.
»Frau Kreutzer, ich kann mir vorstellen, dass diese Situation für Sie im Moment nur schwer zu ertragen ist.« Sie machte eine kurze Pause und wartete auf eine Reaktion der Frau. Erst als die ältere Dame zu ihr aufsah, fuhr sie fort. »Wir müssen natürlich schnellstmöglich herausfinden, was Ihrem Mann widerfahren ist. Sicher können Sie uns dabei jetzt am besten helfen. Entschuldigen Sie deshalb bitte, wenn ich Sie mit meinen Fragen in Ihrer Trauer störe.«
Die Witwe nickte nur und rieb ihre Hände an der Tasse.
»Wann haben Sie bemerkt, dass Ihr Mann nicht im Bett war?«
»Er war nicht in seinem Zimmer, als ich aufstand, um den Kaffee zu machen«, begann sie. Regina Kreutzer wischte sich mit dem Handrücken über die feuchte Wange. »Das war nicht ungewöhnlich. Manchmal schlief er schlecht und ging schon früh aus dem Haus. Aber dann habe ich von draußen Geräusche gehört. Erst dachte ich, die Nachbarn streiten sich mal wieder lautstark. Trotzdem habe ich nachgesehen, warum im Treppenhaus ein solcher Aufruhr herrschte, und da lag er dann.«
»Was war denn im Treppenhaus?«, hakte Charlotte ein.
»Das wusste ich ja zu dem Zeitpunkt auch nicht. Es war einfach unruhig. Erst als ich dann selbst hinausgegangen bin, habe ich es verstanden.« Die Atmung der Frau ging zitternd. Jeden Moment rechnete Charlotte damit, dass sie doch noch einmal die Hilfe der Sanitäter brauchen würde, weil Frau Kreutzer der Situation nicht gewachsen war. Wer war das schon?
»Was verstanden?«, fragte sie dennoch weiter. Sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen und dafür war es von großer Bedeutung, dass sie alles erfuhr, was sie für ihre Ermittlungen brauchte. Übermäßige Nachsicht bei der Befragung von Angehörigen war zwar menschlich, konnte aber dazu führen, dass ihr Informationen vorenthalten wurden, die unbeabsichtigt den Täter mit seiner Tat davonkommen ließen. Das durfte Charlotte nicht riskieren.
»Dass die Nachbarn meinen Manfred gefunden hatten. Aber zu dem Zeitpunkt war das Treppenhaus schon voller Menschen. Die Sanitäter standen um meinen Mann und es dauerte einen Moment, bis ich erkannte, dass er es war.« Die trauernde Witwe schüttelte verständnislos den Kopf. Charlotte ließ ihr einige Sekunden, sich wieder zu sammeln, ehe sie ihre Befragung fortsetzte.
»Wenn Sie sagen, er war nicht in seinem Zimmer, meinen Sie dann, Sie schlafen getrennt?«
»Ja, schon seit Jahren. Er hat immer gesagt, ich würde so laut schnarchen, dass es neben mir niemand aushielte.« Sie lachte schnaubend. Aus der Tasse stieg eine Dampfwolke auf. »Dabei wusste ich genau, dass er eigentlich nur bis zum Einschlafen fernsehen wollte. Ich wollte nie einen Fernseher im Schlafzimmer und so zog er ins Wohnzimmer.«
»Sie können also nicht sagen, wann Ihr Mann die Wohnung verlassen hat?«
Die Witwe schüttelte den Kopf und senkte den Blick auf die Oberfläche des kleinen Küchentisches. Regungslos starrte sie auf den zerkratzten Kunststoff. Stumme Tränen tropften auf die Platte und verliefen in den Gebrauchsspuren.
»Wie lange waren Sie denn verheiratet?«
»Erst seit acht Jahren. Es war eine Herbstliebe, wissen Sie? Wir waren beide nicht mehr die Jüngsten. Wir lernten uns in einer Selbsthilfegruppe kennen, in der wir beide den frühen Tod unserer Ehepartner betrauerten. Und jetzt stehe ich schon wieder vor diesem Abgrund.«
Während sie die Informationen notierte, verdrängte sie das Mitgefühl, das die Worte der Frau in ihr auslösten. Die Hinterbliebenen kamen selten gut mit dieser Art von Nachricht zurecht. Charlotte vermied es nach Möglichkeit, der Bote schlechter Nachrichten zu sein, aber es gehörte eben zum Job dazu.
»Hatte Ihr Mann irgendwelche Feinde?«, tastete sie sich weiter vor.
»Ach, wissen Sie«, setzte Frau Kreutzer seufzend an. »Mein Mann war kein einfacher Mensch.«
EMI
Tibetische Klänge hallten aus den Boxen ihrer kleinen Soundanlage und schotteten Emi gegen die Außenwelt ab, während sie die gewohnten Abfolgen ihres Morning Flows absolvierte. Mit einer sanften Yogaeinheit wie dieser begrüßte sie fast jeden neuen Morgen.
Anschließend war sie voller Energie und konnte den ersten Kaffee des Tages ganz anders genießen als früher. Früher war Kaffee eine absolute Notwendigkeit gewesen. Ohne ihn hatte sie keinen klaren Gedanken fassen können. Der Alltag in der Uni oder der Klinik hatte sie jeglicher Energie beraubt und sie brauchte das Koffein wie ein Junkie seinen Schuss.
Irgendwann hatte sie selbst die Reißleine gezogen und ihren gesamten Jahresurlaub darauf verwendet, weit weg von Berlin eine Ausbildung zur Yogalehrerin zu machen. Die beste Entscheidung ihres Lebens – wenn auch nicht die leichteste.
Ein Läuten an der Haustür setzte dem Training ein vorzeitiges Ende. Sie verließ achtsam die eingenommene Pose, schaltete die Musik aus und spähte im Flur durch den Türspion.
»Nanu, was machst du denn so früh hier?«, fragte sie Charlotte, ehe sie den Trubel im Treppenhaus bemerkte. Irritiert schob sie gleich die nächste Frage hinterher. »Was ist denn hier los?«
»Ich bin dienstlich hier. Kann ich kurz reinkommen?«
Emi trat in den Flur zurück und ließ ihre Freundin herein.
»Klar, möchtest du trotzdem einen Kaffee?«
»Gerne, ich hatte gerade den miesesten Kamillentee meines Lebens«, erklärte Charlotte seufzend, als die Tür hinter ihr zufiel.
In der Küche begann Emi bereits mit den Vorbereitungen für den Kaffee. Sicher würde Charlotte auch ohne weitere Nachfragen gleich erklären, welchem dienstlichen Ereignis sie den Besuch verdankte.
»Einer deiner Nachbarn ist gestorben«, platzte Charlotte bereits mit der Neuigkeit heraus.
»Aha, aber warum bist du deshalb hier?«
Im Haus lebten einige ältere Leute. In der Etage unter ihr lebte eine ältere Dame, die sich ständig beklagte und ihre Nase in fremde Angelegenheiten steckte.
Wenn Emi einmal die Hauswoche verpasste, gab es gleich einen bösen Brief an die Hausverwaltung. Das hatte sie von ihrer verlängerten Kanadareise noch in lebhafter Erinnerung. Nur weil sie aufgrund ihres Krankenhausaufenthalts und einiger angenehmer Nebenwirkungen ihrer Reise etwas länger geblieben war, hatte sie es versäumt, das Treppenhaus zu kehren.
Dann gab es im vierten Stock ein älteres Ehepaar. Manchmal hörte sie die beiden zanken, aber alles in allem wirkten sie noch recht rüstig.
Es wunderte Emi dennoch wenig, dass einer von ihnen gestorben war, aber Charlotte gehörte zur Mordkommission. Ein Greis, der in seinem Fernsehsessel starb, gehörte sicher nicht in ihre Zuständigkeit.
»Wir können eine Fremdeinwirkung nicht ausschließen.«
Emi schmunzelte über die gestelzte Ausdrucksweise ihrer Freundin. Dennoch gab ihr der unerwartete Todesfall in ihrer direkten Umgebung zu denken.
»Ist mit dir alles okay?«, fragte sie inzwischen argwöhnisch.
»Ja, ja, ich hatte nur wenig Schlaf. Dieser Kamillentee hat mir gerade den Rest gegeben. Wie kommt es, dass du schon so fit bist?«
»Yoga ist der Schlüssel«, erklärte Emi stolz. Ihren eigenen Kater verschwieg sie geflissentlich. Er passte nicht recht zu ihrem Selbstbild. »Vielleicht buchst du ein paar Stunden bei mir und ich bringe dir meine geheimen Rituale bei.«
Sie grinste. Natürlich würde sie einer Freundin nie Geld dafür abnehmen, aber das war möglicherweise einer der Gründe, warum es bislang an wirtschaftlichem Erfolg eher mangelte. Der Kaffee war durchgelaufen und sie schenkte zwei Tassen ein. Ihre eigene füllte sie außerdem mit einem kräftigen Schluck Kokosmilch. Sie liebte diesen cremig-süßen Hauch von Exotik.
»Wer ist denn gestorben?«, fragte sie nun doch ein bisschen neugierig.
»Herr Kreutzer, eine Etage über dir.« Die Kommissarin nickte zur Decke. »Er lag im Treppenhaus.«
»Was?« Emi schnappte nach Luft. Die Vorstellung einer Leiche im Treppenhaus schockierte sie.
»Hast du heute Morgen irgendwas mitgekriegt?«
Charlotte nahm einen Schluck aus dem Becher und schaute durch das Fenster hinaus auf die Straße.
»Nö, ich habe geschlafen wie ein Stein. Vor einer halben Stunde bin ich aufgestanden und habe mit meinen Übungen angefangen.«
»Und als du heute Nacht nach Hause gekommen bist?«, hakte Charlotte nach, die natürlich genau wusste, dass es gestern spät geworden war. Irgendetwas war da. Die Erinnerung wollte sich nur noch nicht herauslocken lassen.
»Lass mich kurz überlegen.«
Sie nahm einen Schluck Kaffee und massierte ihre Schläfen, um die an ihr nagenden Kopfschmerzen zurückzudrängen.
»Liam hat mich nach Hause gefahren. Als ich ankam, ging das Licht im Treppenhaus nicht. Er hat mich dann nach oben begleitet und mit seinem Handy geleuchtet. Ich muss gestehen, ich stand ein wenig neben mir und habe nicht viel mitgekriegt.«
Verschämt senkte Emi den Blick.
Es hatte schon seine Gründe, warum sie eigentlich keinen Alkohol trank. Das Problem mit ‚eigentlich‘ war, dass es eben doch manchmal vorkam und sie dann überhaupt keine Übung hatte. So wie gestern kam sie sich dann vollkommen hilflos vor.
Glücklicherweise war Liam kein Typ, der das ausnutzte.
»Das Licht war kaputt?« Charlotte interessierten ganz andere Aspekte in ihrer Erzählung als Emi erwartet hatte. »Das ist spannend. Wir werden gleich mal nachsehen, ob das immer noch so ist. Weißt du sonst irgendwas? Hast du jemanden bemerkt?«
Emi überlegte weiter, aber da war nichts als gähnende Leere.
»Was weißt du denn über den Nachbarn?«, wandte sich Charlotte einem anderen Thema zu.
»Der alte Kreutzer? Ein komischer Kauz, aber mehr weiß ich nicht. Hat sich ein paar Mal bei meinem Einzug über Lärm beschwert. Ansonsten kenne ich ihn nur vom Grüßen im Treppenhaus.«
Sie grübelte, was sie sonst über ihn wusste. Kreutzer hatte schon hier gewohnt, als sie vor einigen Jahren eingezogen war.
»Soweit ich weiß, ist er schon länger pensioniert. War wohl bei der Bundeswehr oder so. Er hat mal erwähnt, dass er Hunde ausgebildet hat. Für Sprengstoffsuche oder Drogen oder irgendwas. Ich habe ehrlich gesagt nicht so richtig zugehört.«
»Man weiß echt wenig über seine Nachbarn, oder?« Charlotte klang nachdenklich.
»Ja, es ist schon recht anonym in der Stadt. Man wohnt so dicht zusammen und kennt sich überhaupt nicht.«
»Ich überlege gerade, was ich über meine Nachbarn erzählen könnte. Eigentlich kenne ich sie nur vom Sehen. Bei meiner direkten Nachbarin war ich mal im Flur als ich mich ausgeschlossen hatte und den Schlüsseldienst rufen musste. Das war schön blöd. Ich stand in Pantoffeln vor meiner eigenen Tür und kam nicht mehr rein. Dabei wollte ich nur kurz den Müll rausbringen.«
Als Charlotte ihren Kaffee ausgetrunken hatte, verabschiedete sie sich, um ihre Befragungen bei den anderen Bewohnern des Hauses fortzusetzen.
Emi hoffte, sie würde von irgendwem mehr erfahren als von ihr. Sie erschauderte bei der Erinnerung an den nächtlichen Weg durch ihr Treppenhaus. War das Licht kaputt gewesen, bevor Kreutzer starb? War er im Dunkeln einfach gestürzt? Oder hatte jemand nachgeholfen?
In letzter Zeit hatte Emi mit mehr Kriminalfällen zu tun gehabt, als sie sich jemals hatte vorstellen können. Dieser betraf sie zum Glück nicht direkt, denn sie hatte überhaupt keine Zeit, sich schon wieder auf Tätersuche zu begeben.
Obwohl es natürlich auch seinen Reiz hatte, ein Rätsel zu lösen. Trotzdem forderte ihr wirtschaftlicher Neustart alle Konzentration, die sie aufbringen konnte. Ablenkungen brauchte sie definitiv keine.