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Böser Geist

Moorkamps dritter Fall

von Erin J. Steen (Autor:in)
260 Seiten
Reihe: Moorkamps Fälle, Band 3

Zusammenfassung

Yogalehrerin Emi Moorkamp kehrt mit einem frischen Businesskonzept zurück ins sommerliche Berlin. Kopfüber stürzt sie sich in die Arbeit, um ihrem Liebeskummer zu entfliehen. Während ihre Freundin und Kriminalkommissarin Charlotte in ihrem aktuellen Fall im Trüben fischt, mischt sich neben zahlreichen neuen Klienten auch ein böser Geist in Emis Leben und bringt es gehörig durcheinander. Nicht nur Emi fragt sich, was es mit dem Toten in ihrem Hausflur auf sich hat...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ÜBER DAS BUCH

Ein Toter vor ihrer Wohnungstür verunsichert Emi

Yogalehrerin Emi Moorkamp kehrt mit einem frischen Businesskonzept zurück ins sommerliche Berlin. Kopfüber stürzt sie sich in die Arbeit, um ihrem Liebeskummer zu entfliehen. Während ihre Freundin und Kriminalkommissarin Charlotte in ihrem aktuellen Fall im Trüben fischt, mischt sich neben zahlreichen neuen Klienten auch ein böser Geist in Emis Leben und bringt es gehörig durcheinander. Nicht nur Emi fragt sich, was es mit dem Toten in ihrem Hausflur auf sich hat...

Über die Autorin

Erin J. Steen lebt und arbeitet in Niedersachsen, nachdem sie einige Jahre in verschiedenen Orten im In- und Ausland verbracht hat. Haus und Garten teilt sie mit einem Mann, einer Tochter und zwei tierischen Gefährten.

Ihre Freizeit verbringt sie nicht nur mit dem Schreiben, sondern auch mit Spaziergängen im Wald, der Familie und stetig wechselnden kreativen Hobbys. Sie fotografiert, näht und denkt hin und wieder daran, das Töpfern zu erlernen.

Für alle, die lieber das Gute in allem sehen.

PROLOG

WER DIE NACHTIGALL STÖRT

Zwar lief der Fernseher nur leise, doch er konnte trotzdem keinen Schlaf finden. Wieder einmal gelang es ihm nicht, seine Gedanken, die flüsternden Stimmen und seine rastlosen Glieder gleichzeitig zur Ruhe zu zwingen.

Sein Atem rasselte träge dahin. Er raffte sich von seinem Schlaflager auf und öffnete das Fenster zum Hof. Die Füße quälten ihn wie immer, wenn er länger geruht hatte. Draußen war alles ruhig und dunkel.

Zu ruhig und dunkel, um ihn schlafen zu lassen.

In den weichen Hausschlappen schlurfte er durch den Flur in die Küche, um sich einen Snack aus dem Kühlschrank zu stibitzen. Regina schlief um diese Zeit für gewöhnlich tief und fest. Auch jetzt hörte er kein Geräusch aus ihrem Zimmer. Etwas anderes allerdings erregte seinen Argwohn.

Draußen im Treppenhaus war irgendwas. Ein Kratzen oder Schaben. Es hatte sich doch wohl keiner der Bewohner unerlaubt ein Haustier angeschafft, oder etwa doch?

Suspekt. Mitten in der Nacht. Das konnte doch nicht wahr sein. Wer wagte es, hier in der Dunkelheit unbefugt herumzustromern?

Nicht mit ihm. Wer auch immer das war, er würde ihn von seiner unangenehmsten Seite kennenlernen. Denjenigen würde er sich richtig zur Brust nehmen.

Er trat aus der Wohnungstür, schob den Hausschlüssel in die Brusttasche seines Schlafhemdes und zog die Tür leise hinter sich zu. Um seinen locker sitzenden Schlafanzug spürte er einen kühlen Luftzug, als hätte jemand im Hausflur für Durchzug gesorgt. Das zu schaffen, glich einem Wunder.

Im Treppenhaus brannte kein Licht. Etwas klapperte. Er knipste den Schalter an, doch nichts geschah. Wer veranstaltete hier so einen Zirkus in der Dunkelheit?

Es dauerte einen Moment, bis er verortet hatte, woher die Geräusche kamen. Dann stampfte er die Stufen herunter. Die Dunkelheit machte es schwierig, doch ein fahler Lichtschein fiel wenigstens durch das Fenster in den Hausflur, sodass er die Stufen vor seinen Füßen gerade so erkennen konnte.

»Hallo?«, rief er in der nächtlichen Uhrzeit angemessener Lautstärke in den Hausflur.

Die Geräusche verstummten. Gut so. Er wollte schließlich nichts weiter, als seine Ruhe haben. Hatten ihm seine Sinne einen Streich gespielt? Wieder einmal?

In letzter Zeit hörte er immer öfter Stimmen und Geräusche, die niemand anders hörte. Wie Ermahnungen aus einer anderen Zeit, einer anderen Welt, die zu ihm durchdringen wollten. Nur dass er keine davon hören wollte. Sie alle waren tot und gehörten einer längst vergangenen Zeit an.

Weil es ruhig blieb, machte er auf halber Treppe kehrt und bewegte sich wieder hinauf zu seiner Wohnung. Wieder umspielte ein Lufthauch seine Kleidung.

Humbug, schalt er seine Wahrnehmung. Hier war niemand. Nur eine Erinnerung, die ihm Streiche spielte. So würde es wohl den Rest seines Lebens gehen, wenn er keine Lösung fand, die Geister abzuschütteln.

Von einer Sekunde auf die Andere wurde es noch dunkler um ihn. Das Licht des Mondes erstarb und für einen winzigen Moment spürte er Schmerz. Dann verschwanden sowohl das Flüstern der Geister als auch seine alltäglichen Wehwehchen...

KAPITEL EINS

FRISCHE IDEEN

EMI

»Meinst du nicht, es wird Zeit, uns zu erzählen, warum wir alle hier sind?«, drängte Miriam. Der Geräuschpegel war auf ein beachtliches Niveau angeschwollen seit Emi und ihre Freunde vor einer Stunde in der Bar angekommen waren.

Nun sollte sie langsam mit der Sprache rausrücken, bevor es noch lauter wurde. Ihre beste Freundin sah sie herausfordernd an. Unbefriedigte Neugier ertrug die Journalistin nicht.

»Reicht es nicht, dass ich euch sehen wollte?«

Emi schmunzelte. Seit ihrer Rückkehr aus Nordamerika hatte sie ihre Freunde nicht mehr in so großer Zahl um sich versammelt. Es tat gut, die Menschen, die ihr so wichtig waren, wieder in ihrer Nähe zu wissen. Die Auszeit war in vielerlei Hinsicht atemberaubend gewesen, doch es war irgendwann an der Zeit nach Hause zurückzukehren.

»Irgendwie nehme ich dir nicht ab, dass du deshalb Sekt trinkst.«

Miriam zog die Brauen in die Höhe und musterte sie skeptisch und sie hatte recht damit, denn normalerweise trank Emi keinen Alkohol. Nur zu hohen Feiertagen und besonderen Anlässen gönnte sie sich mal einen Schluck. Grund genug für ihre engste Freundin, zu vermuten, dass sich hinter der Zusammenkunft eine entscheidende Neuigkeit versteckte.

Die Gespräche am Tisch erstarben und alle Augen richteten sich auf Emi. So viel Aufmerksamkeit würde sie wohl lange nicht mehr bekommen, also konnte sie wirklich mit dem Vorspiel aufhören.

»Na gut, Miriam hat natürlich recht. Wir sind heute nicht nur deshalb zusammen, weil ich Sehnsucht nach euch hatte.«

Sie hatte ihren Aufenthalt in Kanada ein ums andere Mal verlängert und den Rückflug hinausgezögert, so lange es nur ging. Gemeinsam mit ihren neuen kanadischen Freunden hatte sie sich gründlich Gedanken darüber gemacht, wie es für sie weitergehen sollte.

»Ich habe euch hierher gebeten, weil ich eure Unterstützung brauche. In Kürze starte ich noch einmal voll durch und das wird ohne euch nichts. Liam setzt mir gerade eine Homepage auf, damit auch ich endlich im Internetzeitalter ankomme. Und dann geht es richtig rund. Ich werde komplett ohne feste Basis arbeiten und mein ganz eigenes Ding machen. Keine Fitnessstudios, keine Gastspiele – nur 100% Emi Moorkamp.«

Charlotte, die zurückhaltende Polizistin, die sie im vergangenen Herbst kennengelernt hatte, saß mit weit aufgerissenen Augen neben ihr. Sie war neben Johanna, einer Kollegin aus dem Medizinstudium, die einzige im Raum, die mit ihrer Rolle als Angestellte wirklich zufrieden wirkte.

Alle anderen hatten mehr oder weniger starke Bestrebungen, sich selbstständig zu machen oder diesen Schritt bereits hinter sich. Maris, die eine kleine Werbeagentur betrieb, war an diesem Abend dabei, obwohl sie sonst nur selten Zeit fand, sich mit ihrer alten Schulfreundin zu treffen.

Sonja war selbst gerade vollauf mit ihrer Selbstständigkeit als Köchin beschäftigt. Eigentlich hätte sie ihrer Freundin in dieser Zeit nicht zur Last fallen sollen, aber möglicherweise konnten sie sich füreinander zu einer Art Motor entwickeln. So jedenfalls Emis Plan.

Miriam arbeitete selbstständig in der Redaktion eines Frauenmagazins und konnte für die Zeitschrift schreiben, was sie wollte. Und dann war da noch Isa, die sich gleich zu Beginn des gemeinsamen Medizinstudiums umorientiert hatte und nun Trainingspläne für Leistungssportler mit vorübergehenden oder langfristigen Einschränkungen konzipierte. Sie gab zwar gelegentlich Unterricht in Fitnessstudios, aber das diente im Wesentlichen der Rekrutierung neuer Privatklienten.

In ihrer Runde fehlte eigentlich nur einer. Der einzige Mann in der Clique. Liam, Miriams Freund, hatte an diesem Abend nicht kommen können, weil er länger arbeitete. Deshalb hatte sie ihn schon vor einigen Tagen an Bord geholt und ihn gebeten, über ihre Pläne zu schweigen. Sie wollte die große Bombe gern selbst platzen lassen.

Natürlich hatten ihre Freunde damit rechnen müssen, dass sie mit neuen Ideen von dem Seminar aus Quebec zurückkehrte, deshalb war sie schließlich auch dorthin geflogen. Dass diese Fortbildung etwas anders verlaufen war als geplant, wusste allerdings nur Miriam. Gespannt sah die versammelte Runde sie an. Sie waren hungrig auf Details.

»In zwei Wochen möchte ich eine große Eröffnungsparty machen – auf dem Tempelhofer Feld. Mit einer kostenlosen offenen Stunde und Snacks. Da sollen natürlich möglichst viele Leute kommen und ich brauche eure Hilfe bei der Organisation und der Durchführung… und… ach ihr wisst schon, es wird irre viel zu tun sein.«

Sie machte eine Pause, um ihre Gedanken zu sortieren. Allein die Genehmigung für diese kleine Feier zu bekommen hatte ihr beinahe die ersten grauen Haare beschert, aber inzwischen hatte sie sie bekommen.

»Ich werde anschließend Privatunterricht anbieten und an wechselnden Orten freie Klassen unterrichten. Ohne festen Kursplan und ohne Mitgliedschaften – Pop-Up-Yoga! Wer Zeit und Lust hat, kommt dazu und bezahlt wird an Ort und Stelle. Auf diese Weise bekommt jeder genau das, was er auch nutzt. Niemand hat ein schlechtes Gefühl, weil er bezahlte Stunden verpasst oder irgendwelche Verpflichtungen eingeht.«

»Das klingt cool«, unterbrach Sonja ihren Monolog. »Die Snacks gehen natürlich auf mich – damit kann ich dann gleich für meine Eröffnung werben!«

Darauf hatte Emi zwar gehofft, aber sie hätte niemals direkt darum gebeten. Sie wusste, wie viel für Sonja von ihrem eigenen Unternehmenserfolg abhing. Die vegane Köchin mit den asiatischen Wurzeln hatte in den vergangenen fünf Jahren daraufhin gespart, sich diesen Traum erfüllen zu können. Sämtliche Reserven waren zusammengekratzt und nun setzte sie alles auf eine Karte. Wenn ein veganes Restaurant irgendwo funktionieren konnte, dann in Berlin – davon war auch Emi fest überzeugt.

Die Veganerszene in der Hauptstadt war groß und bunt. Wenn Standort und Konzept zusammenpassten, würde Sonja Erfolg haben, aber es gab keine Garantien. Natürlich hatte Emi sich bereits als Aushilfskellnerin beworben und wollte nicht einmal Geld dafür, aber davon wollte Sonja nichts wissen.

»Ja, natürlich!«, stimmte Emi begeistert zu. »Vielleicht können wir bei der Gelegenheit auch Gutscheine oder Flyer für deine Eröffnung verteilen?«

»Gute Idee, eventuell einen Rabatt-Coupon für die Eröffnungswoche. Das passt zeitlich gut.«

»Ich kann dir Werbematerial gestalten, wenn du mir erzählst, was du für Vorstellungen hast,« bot sich Maris für diese knifflige Aufgabe an.

Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Mit Gestaltungsdingen kannte sie sich überhaupt nicht aus und da hatte sogar Liam die Segel streichen müssen. Webseiten waren genau sein Ding, aber im Bereich Design hielt er sich für eine Niete. Sie mochte den Lotus, der bei vielen Yogalabels Verwendung fand. Durfte sie den ebenfalls verwenden? All diese Dinge würde sie mit Maris klären müssen. »Komm doch einfach morgen früh bei mir in der Agentur vorbei und wir besprechen alles!«

»Wow, ihr seid klasse. Ich liebe euch, Mädels.«

Nichts von dem, was ihre Freunde für sie aufboten, war selbstverständlich. Es waren Geschenke. Wertvolle Geschenke. Natürlich gab Emi etwas zurück, wann immer sie konnte, aber sie hatte nie das Gefühl, dass es aufwiegen konnte, was ihr gegeben wurde.

»Wenn du irgendwelche Texte zu schreiben hast, helfe ich dir gerne«, flüsterte ihr Miriam zu.

Dass sie sich auf ihre beste Freundin verlassen konnte, war ihr von Anfang an klar gewesen. Sie gab ihr einen Kuss auf die Wange. Ihre Dankbarkeit für Freunde wie diese war in diesem Augenblick grenzenlos. Charlotte und Johanna sahen sich über den Tisch hinweg an und zuckten mit den Schultern.

»Ich weiß nicht, wie ich dich unterstützen kann, aber ich würde wirklich gerne etwas für dich tun«, gestand die Kommissarin leise.

»Ich brauche zum Beispiel jemanden, der mich vor Ort unterstützt und ganz viel Hilfe bei der Werbung online und offline. Ich wollte Flyer verteilen und Leute ansprechen. Vielleicht ist da ja irgendwas für dich dabei und wenn nicht, ist das auch nicht schlimm.«

»Gib mir auf jeden Fall ein paar Flyer mit, ich wüsste da ein paar Locations, wo ich welche auslegen könnte. Und online mache ich auch was für dich!«

Isa konnte als Fitnesstrainerin einige ihrer früheren Kursteilnehmerinnen erreichen. Aber auch andere Leute, die sie kannte, waren für Emi von großem Wert. Es war erstaunlich, wie sich Yoga auch unter Spitzensportlern als Ausgleichstätigkeit durchgesetzt hatte. Der Multiplikatoreffekt, den Isa über ihre Klienten erzielte, konnte sich für Emi zu einem entscheidenden Erfolgsfaktor entwickeln.

»Oh ja, machst du Poster? Wir könnten eins in die Ladentür hängen!« Sonja klatschte begeistert in die Hände.

Noch war der Laden zwar nicht geöffnet, aber die Werbefläche befand sich im relevanten Einzugsbereich ihres Angebots und wurde täglich von hunderten oder gar tausenden Menschen gesehen. Die Idee gefiel Emi. Sie warf einen Seitenblick zu Maris, die zustimmend nickte. Ein Poster war also kein Problem.

»Ich helfe dir beim Flyerverteilen!«, bot Johanna schließlich an. Charlotte und Miriam stimmten ebenfalls mit ein.

»Super, dann sind wir ja schon zu viert«, erklärte Isa. »Wollen wir zwei Teams bilden?«

Das Ganze entwickelte eine wunderbare Eigendynamik. Emi staunte über das Engagement ihrer Freunde für ihren Plan. Ohne diese schlagkräftige Truppe hätte sie das Projekt niemals auch nur in Erwägung gezogen, doch sie wusste, dass sie sich auf ihre Freunde jederzeit verlassen konnte. Aber dass sie so sehr zu ihrem Erfolg beitragen wollten, erstaunte selbst sie.

»Wollen wir zusammen losziehen?«, fragte Miriam an Johanna gewandt. »Ich kann allerdings nächste Woche nur am Freitag.«

»Mist, ausgerechnet da kann ich nicht«, gab Johanna enttäuscht zurück.

»Du hast in letzter Zeit wirklich immer was vor«, beklagte sich Miriam bei der Ärztin und Johanna sah betroffen zu Boden.

»Aber ich könnte Freitag, wenn du auch mit mir vorliebnehmen würdest?«, bot sich Charlotte unsicher an.

»Es gibt da etwas, das passt möglicherweise jetzt nicht hierher, aber ich wollte es euch trotzdem erzählen.« Johanna sah von Emi zu Miriam und wartete, bis sie die Aufmerksamkeit aller hatte. »Clemens und ich werden heiraten und ich wünsche mir, dass ihr an diesem Tag an meiner Seite steht!«

»Das sind ja tolle Neuigkeiten.« Die beiden Ärzte hatten sich vor einigen Jahren im Medizinstudium über Emi kennengelernt und waren seitdem so ziemlich das undramatischste Paar der Geschichte. Manchmal glaubte sie, einem von ihnen würde es irgendwann zu langweilig werden. Höhen und Tiefen erlebte fast jedes Paar dann und wann, nur Clemens und Johanna standen wie zwei Felsen nebeneinander in der Brandung und ließen das Wasser toben.

Miriam sah weniger enthusiastisch aus, aber auch sie gratulierte der gemeinsamen Freundin. Dann wandte sie sich wieder an Charlotte, die wie ein Häufchen Elend auf ihrem Stuhl hockte. »Ich gehe gerne mit dir.«

Emi griff nach Charlottes Hand und drückte sie. Ihr war nicht entgangen, dass die stille Kommissarin sich weniger einbrachte als üblich. Der Freundeskreis bestand größtenteils aus Menschen, die sich einfach nahmen, was sie haben wollten, während Charlotte eher der Typ war, der wartete, welche Karten ausgeteilt wurden.

»Ist alles okay mit dir?«

»Ja, natürlich«, versicherte die Polizistin und schenkte ihr ein Lächeln. »Hochzeiten machen mich nur immer so wehmütig.«

Dieses Gefühl verstand Emi im Augenblick nur zu gut. Irgendwo in Kanada war dieser eine Mann, dem sie gern ihr Herz schenken würde, aber die Entfernung schien unüberbrückbar. Rick war ein wundervoller Freund und mit Sicherheit ein ebenso wundervoller Partner, aber solange sie in Berlin lebte und er auf einem weit entfernten Kontinent, würde aus ihnen kein Paar werden. Und selbst wenn sich einer von ihnen entschied, dem anderen zuliebe seine Heimat zu verlassen, gab es keine Garantien.

KAPITEL ZWEI

LIEBE MACHT KUMMER

EMI

»Puh, das war ein Abend«, stöhnte Miriam erschöpft, als sie sich auf den Beifahrersitz von Liams dunkler Limousine älteren Baujahrs fallen ließ.

Emi stieg hinter ihr ein und legte den Gurt an. Auch sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Das weiche Polster verhieß baldige Erholung. Der Abend war lang gewesen und für sie nicht weniger anstrengend als für Miriam.

Sie hatte die ganze Zeit wahnsinnig unter Strom gestanden und war mit den Gedanken an so vielen Orten zugleich, dass sie nun dringend ins Bett gehörte. Jeder einzelne Muskel in ihrem Körper war erschöpft.

»Danke, dass du uns abholst.« Miriam hauchte ihrem Freund einen Kuss auf die Wange. »Ich bin hundemüde.«

Liam warf erst ihr und dann Emi über den Rückspiegel ein Lächeln zu. »Ist doch kein Problem, ich war ohnehin noch unterwegs.«

Das schlechte Gewissen nagte an Emi. War er ihretwegen so lange beschäftigt gewesen? Sie wusste, dass er ohnehin im Job stark eingebunden war. Die Arbeit an ihrem Internetauftritt verlangte ihm den Rest seiner Ressourcen ab.

Irgendetwas Schönes würde sie sich für ihn als Belohnung einfallen lassen müssen. Eventuell konnte sie von ihren ersten Einnahmen ein Wellness-Wochenende an der Ostsee für ihre beiden Freunde organisieren. Auf diese Weise konnte das junge Paar mal wieder etwas Zeit miteinander verbringen. Das würde ihnen sicher guttun.

»Du arbeitest in letzter Zeit echt ganz schön lange. Wann können wir denn mal wieder etwas Schönes unternehmen?«, fragte Miriam in leicht nörgelndem Tonfall und nahm damit Emis Idee den Wind aus den Segeln.

Das Prickeln des Anfangs war abgeklungen und ihre beste Freundin fand sich mit Liam in einer Findungsphase, in der sich entscheiden würde, ob die Beziehung langfristiger Art war oder ob sie zukünftig wieder getrennte Wege gehen würden.

Emi hoffte, dass sie diese Klärung in ihrer Abwesenheit fortsetzen würden. Sie fühlte sich überhaupt nicht wohl bei dem Gedanken, in Kürze Zeugin eines elementaren Beziehungsstreits zu werden.

Sie ließ das Fenster herunter. Es war ein warmer Maiabend, der den Sommer bereits vorsichtig ankündigte. Die Gruppe hatte an diesem Abend viel zu feiern gehabt und noch mehr Gründe zum Anstoßen. Eine Hochzeit und zwei Eröffnungen waren Anlass genug, um etwas mehr zu trinken, als gewohnt.

Da Emi normalerweise von Alkohol einen Sicherheitsabstand von einem Meter hielt, war sie es zudem nicht gewohnt, dass die Welt um sie herum, ihre Bezugspunkte änderte, wie es ihr beliebte. Sie mochte dieses nebelige Gefühl in ihrem Kopf nicht und war fast sicher, sich zuhause übergeben zu müssen. Miriam hatte deutlich mehr getrunken, aber sie vertrug es erheblich besser.

Liam ging nicht auf Miriams provokante Frage ein. Wahrscheinlich war das auch klüger als ein Versuch der Verteidigung, da Miriam ohnehin nicht in der Stimmung für versöhnliche Worte schien.

Sie schaute trotzig aus dem Fenster und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Emi wusste, dass Johannas Verlobung auch sie mitnahm. Miriam hatte immer heiraten wollen. Aber ob Liam dafür der richtige Mann war? Er war immer hilfsbereit und ein netter Kerl, doch Miriam klang in letzter Zeit häufiger unzufrieden mit ihrer Beziehung. Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit waren zweifellos gute Charaktereigenschaften, nur nicht unbedingt die, die einen Mann begehrenswert machten.

Ihre Gedanken schweiften über den Ozean und den Sankt-Lorenz-Strom hinauf. Dort gab es einen Mann, der auch hilfsbereit und manchmal sogar freundlich war, aber Rick hatte viel mehr zu bieten. In seinen Armen konnte sie den Rest der Welt vergessen.

Sie hatte mit ihm den Kopf verloren und ihr Herz gefunden – und doch war sie nun wieder in Berlin und er in Kanada. Ende der Geschichte.

Auch Verliebtsein allein reichte nicht für eine Beziehung, wenn die Umstände widrig genug waren. Er fehlte ihr furchtbar, aber sie musste sich konzentrieren und ihre Existenz auf zwei solide Beine stellen. Das war wichtiger als eine potenziell flüchtige Liebschaft.

»Hey, hörst du mir überhaupt zu?«, beschwerte sich Miriam vollkommen berechtigt. Natürlich hatte Emi kein Wort davon mitbekommen, was ihre Freundin erzählt hatte. Sie blinzelte die Erinnerungen fort. Eine einsame Träne löste sich dabei aus ihrem Augenwinkel und rann ihre Wange hinab. Entschlossen wischte sie sie fort. Zu spät. Miriam war es nicht entgangen.

»Was ist los? Denkst du etwa wieder an deinen Ranger?«, fragte sie einfühlsam. »Oder Mountie oder was auch immer?«

»Er ist weder Ranger noch ein Mountie. Er … ach, ist doch egal.«

Sie war es leid das immer wieder zu erklären. Das Polizeisystem Kanadas war kompliziert. Sogar für jemandem, der es von einem Insider erklärt bekam. Außerdem ging es in Miriams Frage gar nicht darum, welcher Behörde er angehörte oder wie man seinen Beruf bezeichnete. Es ging um Gefühle. Diese mistigen Dinger, die sich im Herzen einnisteten und Chaos stifteten.

»Du bist ja so unfassbar unromantisch! Da triffst du endlich deinen Prinzen und reitest ihm einfach davon!«

Miriam hatte ihr von Anfang an einreden wollen, wenigstens einer Fernbeziehung eine Chance zu geben. Aber Rick und sie waren sich einig, dass das keinen Sinn hatte. Emi war dankbar für die Erfahrung, die sie mit ihm hatte machen dürfen. Er hatte ihr gezeigt, dass es sich lohnte, ihr Herz für einen Mann zu öffnen. Doch es tat leider auch verdammt weh, wenn sie es wieder schloss.

Der Wagen stoppte. Als Emi aus dem Fenster sah, stellte sie fest, dass sie bei Miriam gelandet waren.

»Oh, dann schläfst du wohl nicht bei mir?« Die Journalistin klang verwundert. Eigentlich hatte auch Emi stillschweigend angenommen, dass Liam die Nacht bei Miriam verbrachte.

»Nein, du hast doch gesagt, dass du müde bist. Da dachte ich mir, ich bringe dich schnell rum. Emis Wohnung liegt auf dem Weg zu meiner und…«

Seine Stimme verlor sich in dem Satz, als er erkannte, dass er ihn nicht beenden musste, damit sie verstand, worauf er hinaus wollte.

»Ja, klar, ich hatte nur gedacht… Na ja, vergiss es. Ist nicht schlimm.«

Emi hörte an ihrer Stimme, dass es sehr wohl schlimm war, aber sie mischte sich nicht ein. Das würde alles nur schlimmer machen. Deshalb tat sie, als wäre sie nicht da und strengte sich an, im Polster zu verschwinden. Erfolglos. Ihre Tarnfähigkeiten reichten nicht aus, um Miriam ihre Anwesenheit vergessen zu lassen.

»Mach‘s gut, Süße. Wir quatschen die Tage, ja?!«

»Klar, schlaf gut!«, rief sie ihr hinterher, ehe die Tür satt hinter ihr zufiel. Plötzlich war es still im Wagen. Ihr war bis eben gar nicht aufgefallen, dass nicht einmal das Radio lief.

»Hörst du gar keine Musik, während du fährst?«

»Nein, meistens genieße ich die Ruhe. Bei der Arbeit habe ich häufig laute Musik an, um den Rest der Welt auszublenden, aber den Effekt will ich beim Fahren nicht unbedingt erzielen.«

Er lachte unbefangen und sie stimmte ein. Möglicherweise war Liam einer dieser Männer, die die Dinge wörtlich nahm und nicht zwischen den Zeilen las. Emi konnte sich nicht vorstellen, wie das funktionierte. Sie war oft viel zu empfänglich für die Stimmungen ihrer Mitmenschen, aber er registrierte die schlechte Stimmung seiner Freundin offenbar nicht einmal.

»Ja, das wäre wohl nicht so klug«, stimmte sie ihm zu.

Es waren nur wenige Minuten Fahrt bis zu ihrer Wohnung, doch sie wusste nicht, mit welchem Gesprächsthema sie die Stille füllen sollte. Darum schwieg sie, bis der Wagen vor ihrer Tür zum Stehen kam.

»Danke für alles, Liam«, bedankte sie sich aufrichtig. »Du weißt gar nicht, was du mir für eine riesige Hilfe bist. Ich werde mich bei Gelegenheit revanchieren, versprochen.«

Er nickte unverbindlich und winkte ihr zum Abschied durch die Seitenscheibe zu. Sie überquerte den Fußweg und fühlte, dass der Alkohol sie wacklig auf den Beinen machte.

Emi schob den Schlüssel ins Schloss der Haustür und betätigte den Lichtschalter, doch nichts geschah. Die Tür schwang auf, aber im Treppenhaus blieb es stockfinster. Das war gruselig.

Eine ähnliche Situation hatte sie in den Jahren, die sie hier wohnte, noch nie erlebt. Unsicher sah sie sich um.

»Ist alles okay?«, rief Liam ihr vom Wagen aus zu.

»Ja, ich glaube schon, aber irgendwas stimmt mit dem Licht nicht.« Sie drückte ein weiteres Mal. Vielleicht hatte sie beim ersten Mal nicht kräftig genug gedrückt. Doch auch dieses Mal blieben die Lampen aus. Ihr Blick glitt an der Fassade empor. Auch bei den Nachbarn war nirgends Licht zu sehen.

Ob es einen Stromausfall im Haus gab? Andererseits war es spät. Wahrscheinlich schliefen sie schon.

»Warte, ich komme und sehe nach«, erbot sich Liam und ließ den Wagen in zweiter Reihe stehen. Im Laufschritt sprintete er zu ihr. Wo sie sich wackelig auf den Beinen fühlte, wirkte er stabil und sicher. Irgendwie männlich und selbstbewusst.

»Lass nur, ich komme schon klar«, winkte sie ab, als der Engländer sich an ihr vorbei in den Hausflur schob. Die plötzliche Nähe ließ sie erschaudern.

Was war bloß mit ihr los? Die aufgewühlten Emotionen, der Alkohol, all das war zu viel für sie. Mit Liam hatte ihre Reaktion nichts zu tun, da war sie sich sicher.

»Ach, stell dich nicht so mädchenhaft an, ich will doch nur schauen, dass alles okay ist!«, brummte er belustigt. Er bot ihr seinen Arm an, um sie die Treppe hinaufzuführen, deren Stufen sie im Dunkeln kaum erkennen konnte.

Wohl oder übel musste sie dieses Angebot annehmen, wenn sie nicht stürzen wollte. Als sie vor ihrer Wohnungstür standen, schaltete er das Display seines Handys ein, um ihr zu helfen, das Schlüsselloch zu finden. Gar nicht so einfach, während die Erde unberechenbar schlingerte.

Schließlich klappte es. Automatisch griff sie nach dem Lichtschalter. Hektisch blinzelnd versuchte sie, sich an die plötzliche Helligkeit zu gewöhnen. Aber das verstärkte gleichzeitig das Schwindelgefühl. Nicht gut. Sie stützte sich mit dem Rücken an der Wand ab.

»Danke, Liam«, wiederholte sie ihre Abschiedsworte.

Insgeheim hoffte sie, dass er nun endlich ging, sie die Tür schließen und ihren unerwünschten Rausch ausschlafen konnte. Seine braunen Augen lagen tief in den Höhlen. Sogar seine Haut sah müde aus.

»Kein Problem, wirklich. Gute Nacht, Emi«, flüsterte er matt.

»Gute Nacht«, erwiderte sie.

Er drehte sich auf dem Absatz und setzte sich schwerfällig in Bewegung. Das Licht aus ihrem Flur erleuchtete das Treppenhaus, während sie ihm nachsah.

Erst als er um die Kurve ins Untergeschoss verschwand, schloss sie die Tür und sackte leise seufzend daran zu Boden. Alkohol und Emi passten wirklich nicht zusammen. Sie zog die Schuhe von ihren Füßen und warf sie halbherzig in Richtung der Garderobe.

Was für ein sonderbarer Abschluss dieses Abends.

* * *

CHARLOTTE

»Charlotte, es gibt Arbeit für uns«, erklärte Peter Stelter, als er in inniger Umarmung mit seinem Kaffeebecher das Büro betrat.

Sie sah hoffnungsvoll von ihrem Papierberg auf. Das konnte nur eins bedeuten. Jemand war tot. Kein Grund für positive Gedanken. Doch alles erschien ihr in diesem Augenblick besser als ein weiterer Tag mit diesen Akten.

Seit Wochen mussten ihre Kollegen und sie ihre Fallakten in einem neuen IT-System organisieren. Eigentlich hätte alles problemlos vom alten System ins neue übertragen werden sollen, aber leider hatte es bei einigen Unterlagen aus der jüngeren Vergangenheit Probleme gegeben.

»Was gibt‘s denn?«, fragte sie neugierig und rieb sich den Kopf.

Ganz ohne Kater war sie aus dem Vorabend nicht herausgekommen, aber die Tablette hatte den Kopfschmerz ziemlich gut eingedämmt.

»Ein älterer Mann lag tot in seinem Hausflur in Kreuzberg. Platzwunde am Hinterkopf. Eine Nachbarin hat ihn am Morgen gefunden«, fasste ihr erfahrener Partner zusammen. »Die Umstände sind etwas merkwürdig. Wir müssen uns das mal ansehen.«

»Könnte er gestürzt sein?« Charlotte sah sich schon wieder ohne Fall an die verhasste Schreibtischarbeit zurückkehren.

Dennoch stand sie auf und griff nach ihrer Jacke. Es war erst kurz vor acht und in den Morgenstunden relativ kühl.

»Komm, wir fahren erstmal hin. Das Papier läuft uns nicht weg.«

»Ich nehme mir noch einen Kaffee mit«, erklärte sie und beeilte sich, ihren Abstecher in die Teeküche zu absolvieren, ehe Stelter ungemütlich wurde.

Zu ihrer Verwunderung folgte er ihr. Sie warf einen Blick in seinen Becher. Halbvoll.

»Du hast doch noch.«

»Das ist doch nur eine Pfütze. Außerdem nehme ich heute, was ich kriegen kann.« Er zuckte die Achseln und füllte sich nach, ehe er ihr die Kanne überließ. »Sybille hat mich daheim auf Entzug gesetzt. Ich kriege nur noch Kräutertee.«

»Wie kommt sie denn darauf?«

Charlotte war der Meinung, dass Kaffee eine vollkommen legitime Droge war. Lebensnotwendig. Und viele Menschen stimmten ihr zu. Wenn sie jemanden traf, der keinen Kaffee trank, war dieser ihr bis zum Beweis des Gegenteils suspekt. Sicher konnte man darüber diskutieren, wann jemand zu viel Kaffee trank, aber ihn generell zu verbannen, fand sie völlig übertrieben.

Wie mit allem im Leben ging es um das richtige Maß.

»Ach, irgend ein New Age Mist. Sie meint, ich müsste endlich mal mehr auf meine Gesundheit achten.«

Kopfschüttelnd ging er im Treppenhaus voran und versuchte, den randvollen Becher nicht zum Überlaufen zu bringen.

»Da hat sie sicher nicht Unrecht, aber solltest du dafür nicht möglicherweise beim Rauchen anfangen?«

Seit dem ersten Tag war ihr sein ständiges Gequalme ein Dorn im Auge. Natürlich war er alt genug, selbst zu wissen, was gut für ihn war, aber sie konnte sich dennoch die eine oder andere Spitze in diese Richtung nicht verkneifen.

»Bring sie bloß nicht auf solche Ideen«, wehrte er energisch ab. Charlotte folgte ihm schmunzelnd und nahm wie gewohnt auf dem Beifahrersitz platz.

KAPITEL DREI

TOT IM HAUSFLUR

CHARLOTTE

»Krieg jetzt keinen Schreck, okay?«, bat ihr Kollege sie, während er durch die belebte Urbanstraße fuhr und den Blinker setzte, um die Spur zu wechseln.

»Wieso?«, fragte sie, weil sie keine Ahnung hatte, worauf er hinaus wollte.

»An der Adresse waren wir schon mal. Du wahrscheinlich öfter als ich«, deutete er an.

Wie viel öfter, registrierte sie erst, als der Wagen direkt vor Emis Wohnhaus zum Halten kam. Vor einigen Monaten hatten sie gemeinsam in einem Fall ermittelt, bei dem die junge Yogalehrerin unverschuldet in den Fokus der Ermittlungen geraten war, und Stelter wusste, dass sie inzwischen gut mit der damaligen Hauptverdächtigen befreundet war.

»Hier wurde der Tote gefunden?«, fragte sie ungläubig. Stelter hatte einen merkwürdigen Sinn für Humor, weshalb sie vermutete, er könnte sie bloß hochnehmen.

Stelter nickte und stieg aus. Charlotte begann zu akzeptieren, dass er offenbar nicht scherzte.

Ein Toter in Emis Hausflur – was sollte das denn nun bedeuten?

Zum Glück war der Tote ein Mann. So musste sie sich wenigstens nicht um ihre Freundin sorgen, aber sie würde im Rahmen der Anwohnerbefragung auf jeden Fall bei ihr vorbeischauen.

Am Eingang begrüßte sie eine junge Beamtin. Ihr Partner hatte bereits seinen Ausweis vorgezeigt und hielt ihr die Tür zum Flur auf. Sie marschierte voraus und ließ Stelter weit hinter sich. Treppauf hatte er erhebliche Probleme mit seiner Ausdauer, das kannte Charlotte bereits gut. Aber sie würde sich hüten, ihn schon wieder auf seinen übermäßigen Zigarettenkonsum hinzuweisen.

In der zweiten Etage trieben sich bereits mehr Menschen herum. Eine schaulustige Nachbarin im Morgenmantel versuchte, sich in ihrem Windschatten an einem Beamten vorbei die Treppe hoch zu mogeln. Doch er hielt sie auf.

»Gehen Sie bitte zurück in Ihre Wohnung«, forderte er nachdrücklich.

»Aber ich wollte doch nur…«, begann die ältere Dame zaghaft zu erklären und hielt dann inne, weil sie erkannte, dass ihre Bemühungen zwecklos waren.

Auf Emis Treppenabsatz waren alle Türen geschlossen. Ein Team Rettungsassistenten kam ihr entgegen. Sie erkannte unter ihnen ein bekanntes Gesicht. Wenn sie sich recht erinnerte, hieß der größere der beiden Sanitäter Pascal, aber sicher war sie sich nicht mehr.

Vor einigen Wochen hatten sie bei einem Einsatz miteinander zu tun.

»Hi Charlotte«, grüßte er souverän. Er erinnerte sich also an ihren Namen. Wenn sie sich doch bloß ähnlich sicher bei seinem wäre.

»Hi«, gab sie unbeholfen zurück. »Schön dich zu treffen.«

Sie versuchte, den fehlenden Namen mit etwas freundlichem Smalltalk wieder wettzumachen, denn sie fand ihn nett und wollte nicht, dass er sie für eine unnahbare Zicke hielt. Er zwinkerte ihr freundlich zu und setzte seinen Weg nach unten fort.

Auf der Treppe zur nächsten Etage lag schließlich das Opfer. Ihr fiel auf den ersten Blick auf, dass der Mann einen Schlafanzug trug. Jeweils graubraun gemustert passten Hemd und Hose zusammen. Das Hemd war jedoch hochgerutscht und entblößte ein Stück seines käsig weißen Rückens, was die Durchgängigkeit des Karomusters unterbrach. Die Beine des Toten zeigten nach unten. Es sah aus, als wäre er beim Hinaufgehen gestürzt. Ein Notarzt stand neben ihm und hob zwei Finger zum Gruß an die Stirn.

»Guten Morgen, Charlotte Rothenburg von der Kriminalpolizei«, stellte sie sich vor. »Gibt es schon Erkenntnisse?«

»Moin«, gab er zurück. »Sieht auf den ersten Blick nach einem kräftigen Schlag auf den Hinterkopf aus. Als wir hier ankamen, war nichts mehr zu machen.«

Er zuckte mit den Schultern und griff nach seinem Koffer.

»Danke. Gibt es noch irgendwas?«, hakte sie nach. Bislang war offenbar kein Rechtsmediziner zu seiner Ablösung erschienen. Deshalb versuchte sie, von ihm alle Informationen zu bekommen, die sie brauchte, damit sie mit den Ermittlungen loslegen konnte.

»Nein, mehr kann ich dazu nicht sagen. Der Rechtsmediziner wurde bereits angefordert.« Erneut zuckte er die Schultern. »Ich müsste dann auch wieder los, oder braucht ihr mich noch?«

»Nein, nein, schon okay.«

Charlotte ließ ihn ziehen. Inzwischen war auch Stelter auf ihrer Höhe angekommen und schnappte nach Luft. Sie warf einen intensiven Blick auf die Leiche, während sie Stelter Zeit ließ, wieder zu Atmen zu kommen.

Der Hinterkopf des Mannes trug klare Spuren eines kräftigen Schlages. Genau wie der Arzt gesagt hatte. Blut und Haare hatten eine Kruste gebildet. Seine Arme sahen aus, als hätte er versucht, seinen Sturz abzufangen.

»Und?«, japste Peter Stelter.

»Bislang nichts. Aber schau mal, das ist merkwürdig. Er hat eine Platzwunde am Hinterkopf, liegt aber mit dem Gesicht nach unten. Da kann er ihn sich kaum bei dem Sturz selbst aufgeschlagen haben, oder was meinst du?«

Sie wusste, dass es wenig brachte, sich ungesicherten Vermutungen hinzugeben, aber irgendeine Annahme mussten sie treffen, wenn sie mit den Ermittlungen zielgerichtet beginnen wollten. So ging sie vorerst von der Beteiligung einer zweiten Person aus, die es zu ermitteln galt. Stelter zuckte die Achseln und nickte, als wolle er sie in ihrem Ansatz bestätigen. Er wusste, dass sie genau das brauchte. Ohne ein Feedback funktionierte sie nur eingeschränkt. Vielleicht gab es auch eine ganz andere Erklärung, aber mit irgendwas mussten sie anfangen.

Weil er weiterhin nach Atem rang, wandte sich Charlotte zum oberen Treppenabsatz, wo sich ein weiterer Sanitäter um eine Frau kümmerte. Sie schob sich vorsichtig zwischen Wand und Opfer ins Dachgeschoss nach oben und versuchte dabei keine Spuren zu zerstören. Nachdem bereits ein halbes Dutzend Menschen hier herumspaziert war wie auf einem Jahrmarkt, gab es vermutlich nicht mehr viel, was sie zerstören konnte. Trotzdem wollte sie nicht für verwischte Spuren verantwortlich gemacht werden, denn sie konnte sich keine weiteren Minuspunkte bei ihrem Chef leisten.

»Gibt es irgendjemanden, den wir für Sie anrufen können, damit Sie jetzt nicht allein sein müssen?«, fragte der Sanitäter einfühlsam. In sich zusammengesunken lehnte die Frau an der cremeweiß gestrichenen Wand des Treppenhauses. Neben ihr stand eine Wohnungstür auf.

»Ich habe doch nur meinen Manfred«, gab die Frau weinerlich zurück und deutete auf die Treppe. Charlotte zählte eins und eins zusammen.

»Guten Tag«, mischte sie sich in gemäßigter Lautstärke in das intime Zwiegespräch ein. »Ich bin von der Polizei und müsste Ihnen einige Fragen stellen, wenn das möglich ist.«

Die Frau sah sie aus großen Augen an, blieb aber stumm wie ein Fisch. Der Sanitäter nickte ihr knapp zu und schob die Frau mit sanftem Druck in Richtung der Wohnungstür. Charlotte warf einen unauffälligen Blick auf das Namensschild an der Klingel, folgte der Frau hinein und entschied, das Gespräch auch ohne aktive Zustimmung zu beginnen.

»Frau Kreutzer, haben Sie Tee im Haus? Sicher würde es Ihnen ganz gut tun, erstmal eine Tasse zu trinken. Sagen Sie mir einfach, wo ich alles finden kann und setzen Sie sich.«

Die Wohnung hatte einen ähnlichen Schnitt wie die ihrer Freundin eine Etage tiefer. Die ältere Dame ging mit kleinen schlurfenden Schritten voran und zeigte ihr den Weg in die Küche. Sie deutete auf einen Hängeschrank und ließ sich schlaff auf einen Stuhl mit Metallgestell und Kunstlederbezug fallen. Das Polster gab einen zarten Pufflaut von sich, doch auch das schien sie kaum zu registrieren. Vollkommen in ihre Fassungslosigkeit versunken kapselte sie sich von ihrer Umwelt ab. Charlotte stellte den Wasserkocher auf und öffnete den Hängeschrank, in dem sie Instantkaffee und einige Beuteltees vom Discounter fand. Sie entschied sich für Kamille und griff nach zwei Tassen aus dem Fach darüber.

»Lassen Sie uns doch zunächst die Formalien abhandeln. Wie ist denn Ihr vollständiger Name?« Sie zückte ihren Notizblock und zog die Kappe von der Spitze ihres Stiftes.

»Regina Kreutzer«, gab die Angesprochene monoton zurück.

»In welchem Verhältnis standen Sie zu dem Opfer?«

Charlotte lehnte an der Küchenzeile und notierte sich die Eckdaten, während sich das Wasser im Kocher erhitzte.

»Manfred war mein Mann.« Sie schniefte leise, als ihr bewusst wurde, dass sie gerade selbst ebenfalls zur Vergangenheitsform übergegangen war. Die Erkenntnis schlich sich langsam ein.

Nach einigen weiteren formalen Fragen pausierte Charlotte, um den Tee aufzugießen. Sie reichte der Frau eine Tasse und ließ sich ihr gegenüber nieder, um ihr auf Augenhöhe zu begegnen.

»Frau Kreutzer, ich kann mir vorstellen, dass diese Situation für Sie im Moment nur schwer zu ertragen ist.« Sie machte eine kurze Pause und wartete auf eine Reaktion der Frau. Erst als die ältere Dame zu ihr aufsah, fuhr sie fort. »Wir müssen natürlich schnellstmöglich herausfinden, was Ihrem Mann widerfahren ist. Sicher können Sie uns dabei jetzt am besten helfen. Entschuldigen Sie deshalb bitte, wenn ich Sie mit meinen Fragen in Ihrer Trauer störe.«

Die Witwe nickte nur und rieb ihre Hände an der Tasse.

»Wann haben Sie bemerkt, dass Ihr Mann nicht im Bett war?«

»Er war nicht in seinem Zimmer, als ich aufstand, um den Kaffee zu machen«, begann sie. Regina Kreutzer wischte sich mit dem Handrücken über die feuchte Wange. »Das war nicht ungewöhnlich. Manchmal schlief er schlecht und ging schon früh aus dem Haus. Aber dann habe ich von draußen Geräusche gehört. Erst dachte ich, die Nachbarn streiten sich mal wieder lautstark. Trotzdem habe ich nachgesehen, warum im Treppenhaus ein solcher Aufruhr herrschte, und da lag er dann.«

»Was war denn im Treppenhaus?«, hakte Charlotte ein.

»Das wusste ich ja zu dem Zeitpunkt auch nicht. Es war einfach unruhig. Erst als ich dann selbst hinausgegangen bin, habe ich es verstanden.« Die Atmung der Frau ging zitternd. Jeden Moment rechnete Charlotte damit, dass sie doch noch einmal die Hilfe der Sanitäter brauchen würde, weil Frau Kreutzer der Situation nicht gewachsen war. Wer war das schon?

»Was verstanden?«, fragte sie dennoch weiter. Sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen und dafür war es von großer Bedeutung, dass sie alles erfuhr, was sie für ihre Ermittlungen brauchte. Übermäßige Nachsicht bei der Befragung von Angehörigen war zwar menschlich, konnte aber dazu führen, dass ihr Informationen vorenthalten wurden, die unbeabsichtigt den Täter mit seiner Tat davonkommen ließen. Das durfte Charlotte nicht riskieren.

»Dass die Nachbarn meinen Manfred gefunden hatten. Aber zu dem Zeitpunkt war das Treppenhaus schon voller Menschen. Die Sanitäter standen um meinen Mann und es dauerte einen Moment, bis ich erkannte, dass er es war.« Die trauernde Witwe schüttelte verständnislos den Kopf. Charlotte ließ ihr einige Sekunden, sich wieder zu sammeln, ehe sie ihre Befragung fortsetzte.

»Wenn Sie sagen, er war nicht in seinem Zimmer, meinen Sie dann, Sie schlafen getrennt?«

»Ja, schon seit Jahren. Er hat immer gesagt, ich würde so laut schnarchen, dass es neben mir niemand aushielte.« Sie lachte schnaubend. Aus der Tasse stieg eine Dampfwolke auf. »Dabei wusste ich genau, dass er eigentlich nur bis zum Einschlafen fernsehen wollte. Ich wollte nie einen Fernseher im Schlafzimmer und so zog er ins Wohnzimmer.«

»Sie können also nicht sagen, wann Ihr Mann die Wohnung verlassen hat?«

Die Witwe schüttelte den Kopf und senkte den Blick auf die Oberfläche des kleinen Küchentisches. Regungslos starrte sie auf den zerkratzten Kunststoff. Stumme Tränen tropften auf die Platte und verliefen in den Gebrauchsspuren.

»Wie lange waren Sie denn verheiratet?«

»Erst seit acht Jahren. Es war eine Herbstliebe, wissen Sie? Wir waren beide nicht mehr die Jüngsten. Wir lernten uns in einer Selbsthilfegruppe kennen, in der wir beide den frühen Tod unserer Ehepartner betrauerten. Und jetzt stehe ich schon wieder vor diesem Abgrund.«

Während sie die Informationen notierte, verdrängte sie das Mitgefühl, das die Worte der Frau in ihr auslösten. Die Hinterbliebenen kamen selten gut mit dieser Art von Nachricht zurecht. Charlotte vermied es nach Möglichkeit, der Bote schlechter Nachrichten zu sein, aber es gehörte eben zum Job dazu.

»Hatte Ihr Mann irgendwelche Feinde?«, tastete sie sich weiter vor.

»Ach, wissen Sie«, setzte Frau Kreutzer seufzend an. »Mein Mann war kein einfacher Mensch.«

* * *

EMI

Tibetische Klänge hallten aus den Boxen ihrer kleinen Soundanlage und schotteten Emi gegen die Außenwelt ab, während sie die gewohnten Abfolgen ihres Morning Flows absolvierte. Mit einer sanften Yogaeinheit wie dieser begrüßte sie fast jeden neuen Morgen.

Anschließend war sie voller Energie und konnte den ersten Kaffee des Tages ganz anders genießen als früher. Früher war Kaffee eine absolute Notwendigkeit gewesen. Ohne ihn hatte sie keinen klaren Gedanken fassen können. Der Alltag in der Uni oder der Klinik hatte sie jeglicher Energie beraubt und sie brauchte das Koffein wie ein Junkie seinen Schuss.

Irgendwann hatte sie selbst die Reißleine gezogen und ihren gesamten Jahresurlaub darauf verwendet, weit weg von Berlin eine Ausbildung zur Yogalehrerin zu machen. Die beste Entscheidung ihres Lebens – wenn auch nicht die leichteste.

Ein Läuten an der Haustür setzte dem Training ein vorzeitiges Ende. Sie verließ achtsam die eingenommene Pose, schaltete die Musik aus und spähte im Flur durch den Türspion.

»Nanu, was machst du denn so früh hier?«, fragte sie Charlotte, ehe sie den Trubel im Treppenhaus bemerkte. Irritiert schob sie gleich die nächste Frage hinterher. »Was ist denn hier los?«

»Ich bin dienstlich hier. Kann ich kurz reinkommen?«

Emi trat in den Flur zurück und ließ ihre Freundin herein.

»Klar, möchtest du trotzdem einen Kaffee?«

»Gerne, ich hatte gerade den miesesten Kamillentee meines Lebens«, erklärte Charlotte seufzend, als die Tür hinter ihr zufiel.

In der Küche begann Emi bereits mit den Vorbereitungen für den Kaffee. Sicher würde Charlotte auch ohne weitere Nachfragen gleich erklären, welchem dienstlichen Ereignis sie den Besuch verdankte.

»Einer deiner Nachbarn ist gestorben«, platzte Charlotte bereits mit der Neuigkeit heraus.

»Aha, aber warum bist du deshalb hier?«

Im Haus lebten einige ältere Leute. In der Etage unter ihr lebte eine ältere Dame, die sich ständig beklagte und ihre Nase in fremde Angelegenheiten steckte.

Wenn Emi einmal die Hauswoche verpasste, gab es gleich einen bösen Brief an die Hausverwaltung. Das hatte sie von ihrer verlängerten Kanadareise noch in lebhafter Erinnerung. Nur weil sie aufgrund ihres Krankenhausaufenthalts und einiger angenehmer Nebenwirkungen ihrer Reise etwas länger geblieben war, hatte sie es versäumt, das Treppenhaus zu kehren.

Dann gab es im vierten Stock ein älteres Ehepaar. Manchmal hörte sie die beiden zanken, aber alles in allem wirkten sie noch recht rüstig.

Es wunderte Emi dennoch wenig, dass einer von ihnen gestorben war, aber Charlotte gehörte zur Mordkommission. Ein Greis, der in seinem Fernsehsessel starb, gehörte sicher nicht in ihre Zuständigkeit.

»Wir können eine Fremdeinwirkung nicht ausschließen.«

Emi schmunzelte über die gestelzte Ausdrucksweise ihrer Freundin. Dennoch gab ihr der unerwartete Todesfall in ihrer direkten Umgebung zu denken.

»Ist mit dir alles okay?«, fragte sie inzwischen argwöhnisch.

»Ja, ja, ich hatte nur wenig Schlaf. Dieser Kamillentee hat mir gerade den Rest gegeben. Wie kommt es, dass du schon so fit bist?«

»Yoga ist der Schlüssel«, erklärte Emi stolz. Ihren eigenen Kater verschwieg sie geflissentlich. Er passte nicht recht zu ihrem Selbstbild. »Vielleicht buchst du ein paar Stunden bei mir und ich bringe dir meine geheimen Rituale bei.«

Sie grinste. Natürlich würde sie einer Freundin nie Geld dafür abnehmen, aber das war möglicherweise einer der Gründe, warum es bislang an wirtschaftlichem Erfolg eher mangelte. Der Kaffee war durchgelaufen und sie schenkte zwei Tassen ein. Ihre eigene füllte sie außerdem mit einem kräftigen Schluck Kokosmilch. Sie liebte diesen cremig-süßen Hauch von Exotik.

»Wer ist denn gestorben?«, fragte sie nun doch ein bisschen neugierig.

»Herr Kreutzer, eine Etage über dir.« Die Kommissarin nickte zur Decke. »Er lag im Treppenhaus.«

»Was?« Emi schnappte nach Luft. Die Vorstellung einer Leiche im Treppenhaus schockierte sie.

»Hast du heute Morgen irgendwas mitgekriegt?«

Charlotte nahm einen Schluck aus dem Becher und schaute durch das Fenster hinaus auf die Straße.

»Nö, ich habe geschlafen wie ein Stein. Vor einer halben Stunde bin ich aufgestanden und habe mit meinen Übungen angefangen.«

»Und als du heute Nacht nach Hause gekommen bist?«, hakte Charlotte nach, die natürlich genau wusste, dass es gestern spät geworden war. Irgendetwas war da. Die Erinnerung wollte sich nur noch nicht herauslocken lassen.

»Lass mich kurz überlegen.«

Sie nahm einen Schluck Kaffee und massierte ihre Schläfen, um die an ihr nagenden Kopfschmerzen zurückzudrängen.

»Liam hat mich nach Hause gefahren. Als ich ankam, ging das Licht im Treppenhaus nicht. Er hat mich dann nach oben begleitet und mit seinem Handy geleuchtet. Ich muss gestehen, ich stand ein wenig neben mir und habe nicht viel mitgekriegt.«

Verschämt senkte Emi den Blick.

Es hatte schon seine Gründe, warum sie eigentlich keinen Alkohol trank. Das Problem mit ‚eigentlich‘ war, dass es eben doch manchmal vorkam und sie dann überhaupt keine Übung hatte. So wie gestern kam sie sich dann vollkommen hilflos vor.

Glücklicherweise war Liam kein Typ, der das ausnutzte.

»Das Licht war kaputt?« Charlotte interessierten ganz andere Aspekte in ihrer Erzählung als Emi erwartet hatte. »Das ist spannend. Wir werden gleich mal nachsehen, ob das immer noch so ist. Weißt du sonst irgendwas? Hast du jemanden bemerkt?«

Emi überlegte weiter, aber da war nichts als gähnende Leere.

»Was weißt du denn über den Nachbarn?«, wandte sich Charlotte einem anderen Thema zu.

»Der alte Kreutzer? Ein komischer Kauz, aber mehr weiß ich nicht. Hat sich ein paar Mal bei meinem Einzug über Lärm beschwert. Ansonsten kenne ich ihn nur vom Grüßen im Treppenhaus.«

Sie grübelte, was sie sonst über ihn wusste. Kreutzer hatte schon hier gewohnt, als sie vor einigen Jahren eingezogen war.

»Soweit ich weiß, ist er schon länger pensioniert. War wohl bei der Bundeswehr oder so. Er hat mal erwähnt, dass er Hunde ausgebildet hat. Für Sprengstoffsuche oder Drogen oder irgendwas. Ich habe ehrlich gesagt nicht so richtig zugehört.«

»Man weiß echt wenig über seine Nachbarn, oder?« Charlotte klang nachdenklich.

»Ja, es ist schon recht anonym in der Stadt. Man wohnt so dicht zusammen und kennt sich überhaupt nicht.«

»Ich überlege gerade, was ich über meine Nachbarn erzählen könnte. Eigentlich kenne ich sie nur vom Sehen. Bei meiner direkten Nachbarin war ich mal im Flur als ich mich ausgeschlossen hatte und den Schlüsseldienst rufen musste. Das war schön blöd. Ich stand in Pantoffeln vor meiner eigenen Tür und kam nicht mehr rein. Dabei wollte ich nur kurz den Müll rausbringen.«

Als Charlotte ihren Kaffee ausgetrunken hatte, verabschiedete sie sich, um ihre Befragungen bei den anderen Bewohnern des Hauses fortzusetzen.

Emi hoffte, sie würde von irgendwem mehr erfahren als von ihr. Sie erschauderte bei der Erinnerung an den nächtlichen Weg durch ihr Treppenhaus. War das Licht kaputt gewesen, bevor Kreutzer starb? War er im Dunkeln einfach gestürzt? Oder hatte jemand nachgeholfen?

In letzter Zeit hatte Emi mit mehr Kriminalfällen zu tun gehabt, als sie sich jemals hatte vorstellen können. Dieser betraf sie zum Glück nicht direkt, denn sie hatte überhaupt keine Zeit, sich schon wieder auf Tätersuche zu begeben.

Obwohl es natürlich auch seinen Reiz hatte, ein Rätsel zu lösen. Trotzdem forderte ihr wirtschaftlicher Neustart alle Konzentration, die sie aufbringen konnte. Ablenkungen brauchte sie definitiv keine.

KAPITEL VIER

SINGLE IN JOGGINGHOSEN

CHARLOTTE

»Komm doch morgen vorbei!«, rief Miriam einer sympathisch wirkenden Passantin hinterher, der sie vor wenigen Augenblicken einen der letzten Flyer in die Hand gedrückt hatte.

Es war unglaublich. Von dem fetten Stapel waren nur wenige Zettel übrig. Sie hatten fast alle verteilt. Natürlich hatten sie auch alle Emis Facebooks Seite und ihre Postings geteilt, um die Leute darauf aufmerksam zu machen, was am nächsten Tag auf dem Tempelhofer Feld los sein würde. Alle ihre Freunde machten mit.

»Hoffentlich kommen ein paar von denen wirklich«, bangte Charlotte skeptisch.

Zwar wünschte sie ihrer Freundin viel Erfolg bei dem Projekt, hielt es aber selbst für sehr gewagt. Eine kostenlose Veranstaltung ist immer ein netter Anreiz, aber ob sich damit ein Geschäft aufbauen ließ, mit dem sie ihre Miete bezahlen konnte?

Sie wusste ihren Job als Landesbeamtin in dieser Hinsicht wirklich zu schätzen. Das Gehalt kam regelmäßig und sie musste sich keine Gedanken darüber machen, ob es in diesem Monat reichen würde. Es reichte immer. Ausgaben und Einnahmen waren berechenbare Größen und wenn man nicht über seine Verhältnisse lebte, was sie nicht tat, blieb am Ende des Monats noch Geld übrig.

»Das ist ja das Gute an so einer offenen Veranstaltung«, erklärte Miriam, die an Charlottes Seite zurückgekehrt war, deutlich zuversichtlicher. »Die Leute können unverbindlich hinkommen und sich alles aus der Ferne ansehen, wenn sie nicht genau wissen, ob es etwas für sie ist. Der Duft von Sonjas Essen wird dann für den Rest sorgen.«

Charlotte nickte. Die Kochkünste Sonjas hatte sie auch schon genießen dürfen. Mit ziemlicher Sicherheit würde das sämtliche Menschen, die sich im Park einfanden, dazu bringen, näher zu kommen.

Woher ihr plötzlicher Pessimismus kam, konnte sich Charlotte nicht recht erklären. Irgendwie trug sie seit einigen Wochen ein Gefühl der Kälte mit sich herum, das sich nicht vertreiben ließ. Es hatte begonnen, als Emi noch in Kanada war. Sie hatte sich mal wieder einsam gefühlt und es war niemand da gewesen, der etwas gegen dieses Gefühl ausrichten konnte.

Stelter und die Kollegen bei der Arbeiten waren zwar da, aber auch sie beeinflussten nicht, ob sie einsam war oder nicht. Wenn sie nach Hause kam, war die Wohnung leer und still.

Sie hatte einen neuen Fall, der sie beruflich beschäftigt hielt. Privat war sie oft von netten Menschen umringt. Doch enge Freunde hatte sie eben nur wenige. Wenn man es genau nahm, war Emi im Augenblick ihre engste Freundin.

Sie wusste, dass sie im Leben der liebenswerten Yogalehrerin nicht die erste Geige spielte und das war in Ordnung für sie. Es fehlte ihr, mit ihr zu quatschen und Zeit mit ihr zu verbringen.

Seit sie wieder zurück war, hatte sich irgendwas geändert. Emi war verschlossener, hatte kaum Zeit und ihr kurzer Besuch nach dem Tod ihres Nachbarn war auch nicht gerade die passende Gelegenheit gewesen, ein wenig über Persönliches zu plaudern. Überhaupt erschien Charlotte die Welt trotz des unübersehbaren Frühlings um sie herum sehr herbstlich.

»Ja, wahrscheinlich hast du recht. Was gibt es eigentlich sonst Neues bei Emi?«, fragte sie ihre beste Quelle. »Du hast doch engeren Kontakt zu ihr.«

Miriam drückte einer weiteren Fußgängerin einen Flyer in die Hand. Als sie sich zu ihr umdrehte, zog sie die Augenbrauen in die Höhe, wie nur sie es konnte. Miriams Gesicht war ausgesprochen lebendig. Sie mochte die Journalistin, die immer ohne jeden Filter sagte, was sie dachte. Sogar dann, wenn es weh tat.

»Sie ist gerade echt schwer beschäftigt mit diesem ganzen Zeug.« Sie deutete auf die Zettel und zuckte die Achseln. »Für mich hat sie meist auch nur Zeit, wenn ich mich aufdränge, aber damit habe ich ja kein Problem. Ich komme einfach vorbei und gehe erst wieder weg, wenn meine Zeit um ist.«

Miriam grinste frech und Charlotte glaubte ihr jedes Wort. Sie konnte es sich lebhaft vorstellen, wie Miriam sich in die Wohnung drängte, aufs Sofa fallen ließ, Emis Arbeit vom Tisch schob und sich Gehör verschaffte.

Manchmal wünschte sie, sie könnte auch so sein, aber Charlotte war privat eher leise und zurückhaltend. Auch im Beruf hatte sie in den vergangenen Monaten merklich an Biss verloren.

Als sie sich für die Kriminalpolizei empfohlen hatte, war sie viel durchsetzungsfähiger gewesen. Irgendwo musste ihr diese Eigenschaft in der letzten Zeit verloren gegangen sein. Möglicherweise lag es daran, dass sie sich so oft allein und abgelehnt fühlte.

Das Singleleben in der Stadt bekam ihr nicht. Sie vergrub sich zwischen den Kissen ihres Sofas und verbrachte die freie Zeit in Jogginghosen auf der heimischen Couch, statt sich unter Menschen zu mischen. Angefangen hatte das mit ihrer heimlichen Beziehung zu Erik. Sie war weniger ausgegangen, hatte ihre damaligen Kontakte vernachlässigt und sich von allem zurückgezogen, um mehr Zeit mit ihm verbringen zu können. Nun kam sie aus diesem Trott kaum heraus.

»Hat sie dir schon von ihrem Kanadier erzählt?« Mit diesen Worten riss Miriam Charlotte aus ihren Überlegungen. »Ich habe Fotos gesehen – wow, er ist echt heiß.«

Ein Mann? Nein, davon wusste sie nichts.

Ihr war aufgefallen, dass Emi länger in Kanada geblieben war als geplant, aber sie hatte sich nicht viel dabei gedacht. Irgendwann hatten sie mal telefoniert und da hatte Emi etwas von einem Brand erwähnt, aber Charlotte hatte damals nur mit halbem Ohr zugehört, weil sie tief in den Ermittlungen zu einem Fall gesteckt hatte.

Seit Emis Rückkehr war bei ihr wieder Ruhe eingekehrt. Nur dieser neue Fall in Emis Treppenhaus beanspruchte ihre Dienstzeit. In den letzten Tagen hatten Stelter und sie viel Zeit darauf verwendet, etwas über den Mann in Erfahrung zu bringen. Doch alles, was sie fanden, warf neue Fragen auf.

Emis Hinweis auf eine Zeit als Hundeausbilder bei der Bundeswehr hatte sich als falsch herausgestellt. Das Märchen vom Hundeausbilder hatte er mehreren Nachbarn und Bekannten erzählt. Seine Frau wollte von alldem nichts gewusst haben, weil sie ihn damals noch nicht kannte. Doch die Unterlagen der Behörden bestätigten, dass er einer solchen Tätigkeit nie nachgegangen war.

Überhaupt hatte er in seiner Zeit nach dem Wehrdienst nicht mehr für die Bundeswehr gearbeitet.

Sie ermittelten in alle Richtungen und Ansätze gab es viele. Er hatte sich hinter einem derart dichten Konstrukt aus Lügen verschanzt, dass alle und niemand gleichzeitig Motive für eine Bluttat haben mochten.

Stelters entspannte Ermittlungseinstellung war in diesem Fall von Vorteil. Er ließ den Dingen ihren Lauf und Charlotte stand daneben und sah zu. Irgendwann würden sie über den richtigen Hinweis stolpern, wenn sie nur beharrlich blieben.

Ihre Gedanken kehrten zu ihrem Privatleben zurück – ihrem nicht existenten Privatleben. War der neue Mann in Emis Leben der Grund, warum sich Charlotte so isoliert fühlte? Waren alle um sie herum plötzlich zu Pärchen geworden und nur sie war allein zurückgeblieben?

Letztes Jahr um diese Zeit hatte sie wenigstens Erik, aber das war nun auch schon so lange vorbei, dass es kaum mehr real war. Sie waren im Guten auseinandergegangen und hatten erkannt, dass sie füreinander nicht das sein konnten, was der jeweils andere brauchte.

Solche Dinge passierten. Überall auf der Welt. An jedem Tag. Trotzdem stimmte es sie traurig. Sie wünschte sich so sehr jemanden, dessen Welt sich um sie drehte. Jemanden, der sich freute, wenn sie von der Arbeit kam und der fragte, wie ihr Tag gelaufen war.

Bis auf die Kommunikation klangen ihre Wünsche auch in ihren Ohren ganz nach einem Hund, aber nicht einmal den konnte sie bei ihrem Schichtplan halten.

Erik besaß einen Hund. Für Spark galt bei der Berliner Polizei eine Sonderregelung. Der Mischling durfte den Mann, der häufig als verdeckter Ermittler im Einsatz war, meist mit zur Arbeit begleiten. Eigentlich eine ziemlich bescheuerte Sonderregelung, weil sie ihn angreifbar machte. Allerdings zeigte Erik nur selten, wie viel ihm der Hund tatsächlich bedeutete und wie angreifbar er seinetwegen war. Aber in den Kreisen, in denen er eingesetzt wurde, fiel er mit Hund weniger auf als ohne.

Er selbst war heute für Charlotte nur noch ein attraktiver Kollege. Bestenfalls ein Kumpel, der dann und wann auf eine Pizza oder ein Bier vorbei kam. Gegen mehr verschloss sie sich kategorisch, auch wenn er dazu gelegentlich bereit schien. Aber ihr Herz hatte er verloren, als es damals schief gegangen war. In dieser Hinsicht bestand für sie keine Gefahr mehr.

»Na, okay, also da war dieser Typ, wegen dem sie noch ein paar Wochen Urlaub an das Seminar gehängt hat«, setzte Miriam ihre Erklärung von Charlottes Schweigsamkeit wenig irritiert fort. »Ich kann sie echt verstehen. Sie hatte ewig niemanden mehr. Manchmal habe ich geglaubt, sie hätte aufgegeben. Aber umso weniger verstehe ich, warum sie überhaupt wieder zurückgekommen ist. Ich meine, ich liebe sie, aber manchmal muss man im Leben einfach waghalsige Entscheidungen treffen und ein Abenteuer erleben. Sag mal, hast du eigentlich einen Freund?«

Charlotte sah von dem Flyer auf, den sie anstarrte, während sie in Gedanken bei Erik und der gescheiterten Beziehung weilte.

»Ich? Nein, mein letztes Date ist auch schon wieder ein halbes Jahr her.«

Ein anderer Mann aus einer anderen Welt. Attraktiv und spannend, aber die Arbeit hatte ihr einen Strich durch diese Rechnung gemacht.

Sie dachte hin und wieder an ihn, rief ihn aber trotzdem niemals an. Was daraus hätte wachsen können, würde sie wohl niemals erfahren. Sie war zu stolz, ihn nach dem Desaster von damals um ein zweites Date zu bitten.

»Eventuell ist das gar nicht so übel, wenn man die Alternativen bedenkt«, sinnierte Miriam weiter, aber Charlotte verstand nicht, was sie damit meinte.

Vielleicht hatte sie nicht richtig zugehört. Die letzten Yogis waren in dem niedlichen Studio am Ende des Häuserblocks verschwunden, in dessen Nähe sie sich postiert hatten. Die Shops schlossen langsam aber sicher die Türen. Nur die Spätis und Kneipen hatten auch in dieser Gegend noch immer geöffnet. Die Lichter in den Schaufenstern wurden auf den Nachtmodus geschaltet.

»Wieso das? Ich dachte, du bist froh, dass du Liam hast.«

»Hm, ich weiß nicht«, brummte Miriam und sah auf die Zettel, die ihnen geblieben waren. »Wollen wir etwas trinken gehen? Dann lassen wir diese Zettel einfach auf dem Tisch liegen und hoffen, dass sie noch ein paar Leute erreichen.«

Zuhause wartete nichts und niemand auf sie, also musste sie nicht lange überlegen. Klar ging sie mit der Journalistin auf einen Drink aus.

Die Anfrage überraschte sie allerdings schon ein wenig. Sie hatte bislang nie den Eindruck gehabt, dass sich Miriam besonders für sie interessierte. Die brünette Brillenträgerin schien auch ohne sie ein spannendes Leben zu führen und hatte ständig irgendwas um die Ohren. Charlotte kam nur selten zu Wort, wenn sie sich gemeinsam mit Emi und weiteren Freunden der Yogalehrerin trafen. Manchmal glaubte sie, sie müsste mit Miriam um Emis Gunst wetteifern, aber dabei zog sie klar den Kürzeren. Miriam war spannender, witziger und sie schien Emi schon ihr ganzes Leben lang zu kennen. Wie sollte sie mit dieser Frau auch nur im Ansatz mithalten können?

Emi hingegen hatte ihr nie das Gefühl gegeben, sie müsse irgendwie besonders sein oder jemanden übertrumpfen. Das war einer der Gründe, weshalb sie sich bei ihr so wohl fühlte. Endlich gab es einen Ort in ihrem Leben, an dem keine Erwartungen auf sie einprasselten und wo sie einfach nur sie selbst sein konnte. Der Rest ihres Lebens war von Konkurrenz dominiert. Sei es auf der Arbeit, wo sie immer besser sein musste als ihre männlichen Kollegen, nur um ebenso ernst genommen zu werden, oder in der Familie, in der es von Polizeigeschichten nur so wimmelte, weil sich ihr Vater und ihr Onkel ständig gegenseitig überbieten mussten. Seit einigen Jahren, die sie nun ebenfalls im Dienst war, wurde auch von ihr erwartet, dass sie beeindruckende Geschichten aus dem Alltag erzählte. Wie sie Verbrecher zur Strecke brachte, über Mauern kletterte, vor bissigen Hunden flüchtete oder großartige Leistungen auf dem Schießplatz vollbrachte. Leider hatte sie dergleichen nur selten zu bieten. Die meiste Zeit ihrer Arbeit verbrachte sie im Büro und übte, wie man fest zusammengedrückte Papierkugeln zielsicher in den nächstgelegenen Papierkorb feuerte.

In der Nische einer nahegelegenen Cocktailbar nahmen sie Platz. Die einzelnen Tische waren mit rustikalen Birkenstämmen voneinander getrennt, die dem Raum eine Art natürliches Gerüst verliehen. Charlotte saß Rücken an Rücken mit den Gästen des nächsten Tischs in der Reihe, doch die Birkengerüste verliehen ihrer Nische eine gewisse Privatsphäre. Sie waren nicht weit von ihrer Wohnung entfernt. Drei oder vier Häuserblocks in Richtung des Zentrums ihres Viertels. Charlotte war überrascht, dass es in ihrer Nähe so hübsche Bars gab, die sie noch nicht entdeckt hatte. Schade nur, dass sie so selten Gelegenheit fand, mit jemandem auszugehen. Sie musste wirklich dringend ihren Freundeskreis erweitern.

»Was nimmst du?«, fragte Miriam in ihre stummen Überlegungen hinein. Sie hatte sich mit der Karte noch gar nicht richtig auseinandergesetzt, obwohl sie sie seit einigen Minuten aufgeschlagen in der Hand hielt. Spontan entschied sie sich für das erste Getränk auf der Seite, das sie ansprach.

»Die Brombeere«, teilte sie ihrer Begleiterin mit. Mit einem herbfruchtigen Drink auf Gin-Basis machte sie sicher nichts verkehrt. Statt wie Charlotte es gewöhnt war, darauf zu warten, dass sie ein Kellner bemerkte, entschied sich Miriam für eine gänzlich andere Strategie. Sie sah sich aktiv um und winkte einen von ihnen herüber.

»Hallo Ladies, was darf es für euch sein?«, fragte ein attraktiver Kerl in den späten Zwanzigern, der daraufhin herbeigeeilt kam.

»Einen Mojito für mich und eine Brombeere für meine Freundin«, bestellte sie eloquent und zwinkerte ihm kokett zu. Der Kellner nickte zustimmend und verschwand hinter der Bar, um ihre Bestellung weiterzugeben. Charlotte kam nicht umhin, Miriam für ihre Art zu bewundern. Sie wünschte, sie hätte diese Fähigkeit auch. Hätte sie versucht, einen Kellner auf sich aufmerksam zu machen, hätte dieser ihr vermutlich in den Drink gespuckt, weil er sie unhöflich fand. Dieser hier fand Miriam vermutlich sogar ganz süß. Zumindest sah es so aus, denn er beobachtete sie nun unablässig vom Bestellcounter aus. Sobald sein Kollege mit den beiden Drinks fertig war, kam er mit den beiden großen Gläsern und einer kleinen Schale Knabbereien wieder zu ihnen.

»Danke«, murmelte Charlotte fast unhörbar.

»Erzähl mal, auf was für Männer stehst du so?«, fragte Miriam ungeniert, als der Kellner wieder außer Hörweite war. Überrumpelt starrte Charlotte sie an.

»Wenn ich das mal so genau wüsste«, erklärte sie vage. Hatte sie eigentlich einen bestimmten Typ Mann, den sie favorisierte? Optisch hatte sie eine Tendenz zu viel Muskeln, aber da diese all zu oft mit wenig Hirn einhergingen, hielt sie meist dennoch gebührenden Sicherheitsabstand zu ihnen.

»Ach komm, schau dich um, welcher von denen hier würde dir am ehestens gefallen?«, sprudelte es aus Miriam heraus. »Keine Angst, du musst ihn ja nicht ansprechen.«

Miriam war zwar einiges zuzutrauen, aber was sollte schon passieren, wenn sie sich in dem Raum ein wenig umsah? Sie verwarf ihre Sorgen und wagte einen Blick. Die Bar war voll mit ganz unterschiedlichen Menschen. Viele von ihnen waren Frauen, die entweder in Begleitung von Freundinnen hier waren oder in Gruppen von Pärchen. Für ein romantisches Date schien sich niemand hier zusammengefunden zu haben. Dafür war wahrscheinlich auch die Musik eine Spur zu laut.

»Groß sollte er sein«, erklärte sie nun schon etwas konkreter. »Ich mag dunkelblondes Haar, helle Augen und er darf gern breite Schultern haben.« Während sie ihre Anforderungen formulierte, bemerkte sie, wen sie da beschrieb. Der Handballer, mit dem sie ein Beinahe-Date gehabt hatte. Trotz des Reinfalls fand sie ihn attraktiv. Er war genau so muskulös, wie sie es gerne mochte, und er war überhaupt nicht dumm gewesen. Ihr Exfreund Erik hingegen war optisch ganz anders. Schlank, fast schon hager, strubbeliges, dunkles Haar und ein freches Grinsen, das alles aufwog, was ihr an ihm nicht gefiel. Aber Erik war nun einmal nur ein Kumpel. Es war Zeit für einen neuen Mann in ihrem Leben. Ganz eindeutig. Sie ließ den Blick weiter schweifen.

»Der da hinten sieht ungefähr so aus, wie ich mir einen attraktiven Mann vorstelle.« Sie zeigte nicht mit dem Finger auf den Mann, der mit seinen Freunden oder Kollegen drei Tische weiter saß. Aus Angst Miriam würde sie zu irgendwas drängen wollen, wozu sie nicht bereit war, fügte sie an. »Nur so vom Typ her.«

Miriam nickte nach einem halbherzigen Blick über ihre Schulter zu dem Tisch nachdenklich. »Und du?«, fragte Charlotte, um das Gespräch aufrecht zu erhalten.

»Ach, ich habe gar keinen richtigen Typ. Ich mag Männer, die mich intellektuell beeindrucken können. Optik ist eher zweitrangig. Ich will interessante Gespräche führen können. Aber das macht es eigentlich nur schwerer, jemand passenden kennenzulernen, weil unsere Gesellschaft so sehr auf das Äußere reduziert ist.«

So hatte Charlotte das noch gar nicht gesehen, aber spontan musste sie ihr zustimmen. Diese ganzen Internetpartnerbörsen reduzieren ihre Mitglieder letztlich auch nur auf ihre Fotos. Kaum ein Nutzer las sich die Texte durch, wenn der erste optische Eindruck nicht passte. Na gut, einen hässlichen Kerl wollte sie auch nicht, aber dass sie an optisch so unterschiedliche Männer geraten war, zeigte wohl auch, dass Optik nicht alles war.

»Hmh,« brummte sie zustimmend. Sie hatte Miriams Freund nur ein paar mal flüchtig gesehen und keinen bleibenden Eindruck gewonnen, aber sie wusste dank Emi eine ganze Menge von ihm. »Du bist doch noch mit Liam zusammen, oder?«

Sie atmete tief und geräuschvoll. Dann nahm sie einen großen Schluck von ihrem Cocktail und zuckte die Achseln.

»Doch, wenn er mal Zeit hat, glaube ich schon, dass wir noch zusammen sind. Und ich kann mich super mit ihm unterhalten, aber es ist nicht mehr wie am Anfang. Ich habe das Gefühl, dass das mit uns zu Ende geht. Wie wenn das Wasser im Brunnen alle ist…«

Puh, was sollte sie nun dazu sagen? Sie hätte nicht erwartet, dass Miriam ihr ihr Herz ausschütten würde. So gut kannten sie sich schließlich nicht, aber Miriam wirkte glücklicherweise auch nicht, als wäre sie den Tränen nahe. Charlotte nahm ebenfalls einen Schluck durch ihren Strohhalm.

»Verstehe. Es ist also nicht für immer und die ganz große Liebe.« Das hatten vermutlich in ihrem Alter alle schon einmal erlebt. »Dann ist es wenigstens am Ende auch nicht das ganz große Drama mit zerbrochenem Geschirr und gebrochenen Herzen.«

»Nein, ich denke nicht«, erklärte Miriam erneut von einem Achselzucken begleitet. »Ich überlege seit Tagen, ob ich von mir aus Schluss machen sollte oder ob ich weiter abwarte, wie es sich entwickelt. Er hat im Augenblick viel Stress auf der Arbeit und wahrscheinlich ist er nur deshalb seit Wochen so komisch. Vielleicht muss ich einfach ein bisschen Geduld haben und darf nicht erwarten, dass ich immer die Erste bin, auf deren Bedürfnisse er nach Feierabend eingeht. Immerhin sollte man sich zuerst um sich selbst kümmern, damit man auch für andere da sein kann. Aber im Moment habe ich den Eindruck, er wäre überhaupt nicht für mich da.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ach, lass uns das Thema wechseln. Das führt doch zu nichts. Was machst du sonst so in deiner Freizeit?«

KAPITEL FÜNF

BREST UND SEHNSUCHTSORTE

EMI

Erneut ging sie ihre handschriftlichen Notizen zur Eventorganisation durch. Sie hatte sich für das Catering mit Sonja auf Mengen geeinigt. Tische waren besorgt und sie hatte jemanden mit einem Auto organisiert, um sie zu transportieren.

Eine Location hatte sie ebenfalls ausgesucht und auch eine Ausweichmöglichkeit, falls ihre Ecke von jemand anderem besetzt war. Sie hatte ihre Freunde zum Aufbau zwei Stunden vorab einbestellt, damit sie auch wirklich alles schaffen konnten.

Außerdem hatte sie viele Decken, Yogamatten und andere Hilfsmittel zusammengesammelt. Trotzdem kam sie sich so unglaublich unvorbereitet vor. Es war das erste Mal, dass sie ganz allein unterrichtete. Niemand, der ihr vorgab, wann sie anzufangen hatte und wie lange die Stunde zu gehen hatte.

Emi hatte ein tolles Konzept für die Outdoor-Einheit aufgestellt und es ein paar Mal probiert. Daran würde es sicher nicht hapern. Musste sie irgendeine Rede halten?

Ein paar einführende Worte in die Stunde hatte sie natürlich parat. Aber wie sollte sie sich und ihr Konzept vorstellen? Als sie sich daraufhin kurz mit ein paar Marketingtipps aus dem Internet behelfen wollte, purzelte sie postwendend rückwärts wieder in die analoge Welt. Dabei gab es ja so viel zu beachten. Außerdem benutzten diese Marketingpropheten Ausdrücke, die sie nicht mal im Ansatz zuordnen konnte.

Zum zehnten Mal schaute sie in ihrem Gepäck nach, ob sie auch wirklich alles dabei hatte. Ihr schmaler Flur war komplett vollgestellt mit all den Matten und Decken, die sie nur für den Notfall dabei hatte, falls jemand keine eigene Matte mitbrachte.

Wenn in dieser Nacht ein Feuer im Haus ausbrach, würde sie vor lauter Krempel nicht aus ihrer Wohnung kommen. Kopfschüttelnd räumte sie alles noch einmal um. Mit Feuer hatte sie in jüngster Vergangenheit unangenehme Erfahrungen gemacht, außerdem passierten in jüngster Zeit seltsame Sachen in ihrem Haus.

Nach wenigen Minuten hatte sie alles neu sortiert und aufgestapelt, sodass sie im Falle eines Brandes alle Türen aufbekam und auch im Dunkeln den Ausgang fand.

Diese merkwürdige Geschichte mit dem toten Nachbarn drängte sich in ihr Bewusstsein. Sie hatte bislang kaum einen Gedanken daran verschwendet, doch sie bemerkte, dass sie sich im Haus weniger sicher fühlte. Irgendwas war anders.

Sie blickte sich häufiger um, achtete auf Fluchtwege und sah die Menschen anders an, die ihr begegneten. Durch das Treppenhaus musste sie zwangsläufig mehrmals am Tag, aber sie schlug die Wohnungstür heftiger zu als sonst, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich zu war.

Eine Nachricht ging auf ihrem Smartphone ein und lockte sie zurück ins Wohnzimmer. Sie ließ sich völlig erschöpft wieder aufs Sofa fallen und griff nach dem Gerät.

Ella 22:13

HEY, WAS TREIBST DU?

Die junge Kanadierin mit dem strahlenden Hollywood-Lächeln war ihr binnen kürzester Zeit zu einer guten Freundin geworden, als sie vor wenigen Monaten nach Quebec aufbrach, um dort an einem Seminar teilzunehmen.

Sie hatten einiges miteinander durchgemacht und nach dem gemeinsamen Abenteuer für ein paar Wochen eine Wohnung miteinander geteilt. Denn Ella hatte einen großen Bruder, der nicht nur seine kleine Schwester beherbergte, sondern auch Gefallen an Emi gefunden hatte. Die Kurznachricht brachte Emi dazu, in ihrem Aktionismus innezuhalten und zu reflektieren.

Emi 22:17

ICH BIN EIN NERVÖSES WRACK, WEIL MORGEN MEIN NEUES KONZEPT STARTET. UND DU?

Sicher würde ein Tee ihre angeschlagenen Nerven ein wenig beruhigen. Sie legte das Telefon aus der Hand und stand erneut auf, um am Mattenstapel vorbei in die Küche zu gehen. So konnte das schließlich nicht weitergehen.

Ella 22:16

OH, DANN HAST DU BESTIMMT KEINE ZEIT ZU TELEFONIEREN, ODER?

Statt einer erneuten schriftlichen Antwort, rief sie die Kanadierin kurz darauf mit der Videotelefonie-App auf ihrem Handy an. Der Tee zog inzwischen im heißen Wasser und war ohnehin noch nicht trinkbar. Vielleicht wirkte ein Gespräch mit Ella ebenso beruhigend auf ihre Nerven. Oder zumindest ablenkend.

»Hey, wo treibst du dich rum?«, fragte Emi zur Begrüßung.

»Ich bin in Frankreich, in der Nähe von Brest.«

Ella befand sich seit fast zwei Monaten auf einer Art Selbstfindungsreise. Sie hatte beschlossen, endlich herauszufinden, wo ihr ganz eigener Platz in der Welt war und welche Talente sie in Zukunft einsetzen wollte, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, anstatt sich von irgendwelchen Menschen zum Mindestlohn ausnutzen zu lassen.

»Wow, das ist ja beinahe um die Ecke – also für kanadische Verhältnisse«, erklärte Emi schmunzelnd. Auch Ella kicherte los. »Nur eine Tagesreise weit.«

»Wie geht es dir?«, fragte Ella.

»Ganz gut«, flunkerte Emi.

Es ging ihr gut, wenn sie nur an die Arbeit dachte. Und das war auch der Grund, warum sie sich Hals über Kopf hineinstürzte, aber es ging ihr lausig, wenn sie an Rick dachte. Die Zeit würde ihre Wunden heilen und dann ging es ihr bald besser. Zumindest sagte sie sich das immer wieder.

»Echt?«, hakte Ella nach. »Es gibt da nämlich jemandem, dem geht es mit eurer Trennung gar nicht so gut.«

»Ella, bitte mach das nicht.«

Es tat ihr weh, das zu hören. Emi wollte nicht, dass es irgendwem ihretwegen schlecht ging. Und schon gar nicht Ellas großem Bruder Rick. Er war der mit Abstand beste Kerl, den Emi jemals getroffen hatte.

Sein großes Herz und seine unverstellte Natürlichkeit hatten sie sofort tief beeindruckt. Wenn er etwas lustig fand, lachte er ohne Rücksicht. Ganz egal, ob es wegen ihres albernen Pyjamas war oder wegen eines dummen Scherzes im Fernsehen, den Emi nicht verstand. Und wenn er jemanden in sein Herz schloss, dann sagte er es einfach, statt damit hinterm Berg zu halten.

»Es ist schon schwer genug, aber gerade du musst es doch verstehen.«

»Klar, du kannst nicht einfach so dein Leben aufgeben. Nicht wegen eines Kerls, den du gerade mal ein paar Wochen kennst. Das ist verrückt. Du musst dein Ding machen«, bestätigte Ella, was Emi selbst auch dachte. Zumindest meistens. »Aber ihr seid doch auch Freunde, oder? Ruf ihn einfach mal an, okay?«

Möglicherweise hatte sie recht und sie sollte das tun. Sie hatte versucht, den Kontakt zu vermeiden, bis es ihr besser ging. Doch es ging ihr nicht besser. Vielleicht funktionierte diese Strategie nicht.

So wie es aussah, konnte es noch eine ganze Weile dauern, bis sie über ihn hinwegkam. Rick hatte etwas in ihr bewegt. Natürlich waren sie auch Freunde geworden und Freunde ließen einander nicht in der Luft hängen.

»Was machst du in Brest?«, lenkte sie das Gespräch in eine andere Richtung.

Sie war gespannt, was Ella aus ihrer Selbstfindungsreise machte und wie lange sie wohl dauern mochte. Wer würde am Ende zurückkehren? Würde es die gleiche herzensgute Ella sein oder kam sie als jemand ganz anderes zurück?

»Ich musste den Kontinent verlassen – nicht dass ich in den USA festhänge und mich nicht mehr weiter wegbewege, verstehst du?«, erklärte sie wild gestikulierend.

»Oh, ja. Absolut richtige Entscheidung«, bestätigte Emi.

Sie hatte nicht verstehen können, warum Ella ihre Reise ausgerechnet in den USA begonnen hatte. Die junge Kanadierin suchte Kontraste statt Einheitsbrei. Dafür musste sie nach Emis Meinung nach Europa, Asien oder zumindest nach Südamerika. Vielleicht sogar nach Afrika. Irgendwo da draußen würde sie finden, was sie zu ihrem Glück brauchte.

»Genau, und deshalb habe ich einfach in Frankreich ausgewählt, wo ich wenigstens die Landessprache beherrsche«, führte Ella mit bestechender Logik aus. »Außerdem war es simpel, denn ich kann mit meinem Working Holiday Visum hier arbeiten ohne mich um mehr Papierkram zu kümmern. Also starte ich erstmal einfach und steigere den Schwierigkeitsgrad später.«

Sie hatte von Anfang an Ellas Organisationstalent bewundert und kam nicht umhin es erneut zu tun. Während Emi Bürokratie und Planungsaufwand bei jeder Reise fast in den Wahnsinn trieben, war dies für Ella kinderleicht.

Es war kaum zu glauben, dass ihre Freundin mit Mitte zwanzig noch immer nicht wusste, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte, wo sie doch so voller offensichtlicher Talente steckte.

»Und wieso ausgerechnet Brest? Warum nicht Paris oder Nizza?«

Über die Stadt Brest wusste Emi absolut nichts, außer dass sie an der rauen Atlantikküste lag. Irgendwo relativ weit nördlich in Frankreich.

»Ach, hier gab es ein Jobangebot, das ich im Internet gefunden habe. Ich habe mich beworben und die haben mich genommen. Ende der Geschichte«, gab Ella pragmatisch zurück.

Es tat Emi gut, die stets gut gelaunte Freundin wenigstens durch die Kamera zu sehen. Ihre Nervosität hatte sich merklich verringert, aber seit sie mit ihr sprach, spürte sie auch die Sehnsucht nach Rick wieder besonders deutlich. Wie spät war es jetzt eigentlich in Kanada?

»Erzähl mal von Morgen. Was hast du geplant?«

Emi ließ sich bäuchlings aufs Sofa plumpsen und stellte das Telefon so in die Polster, dass die Kamera sie auch dann erfassen konnte, wenn sie davor lag.

»Also«, begann sie gedehnt. »Wir haben Catering von meiner Freundin Sonja, ich habe Tische besorgt, auf die wir alles wie bei einem Büffet stellen können. Es gibt eine Open Class. Das heißt alle können einfach mitmachen, egal, ob sie schon jahrelang Yoga machen oder ganz neu dabei sind.«

»Sogar ich?«, fragte Ella skeptisch.

Bevor sie Emi kennenlernte, hatte Ella nie etwas mit Yoga zu tun gehabt. Dank Emi kannte sie nun immerhin ein paar grundlegende Techniken zur Entspannung, aber eine richtige Yogastunde hatte sie noch nie erlebt.

»Also die grundlegenden Asanas solltest du kennen, sonst weißt du ja nicht, was du tun sollst, wenn ich den herabschauenden Hund ansage.«

Damit schied Ella eindeutig aus.

»Okay, also Grundkenntnisse sollten alle mitbringen. Aber hast du einen Plan, was du machst, wenn jemand wie ich kommt?«

Das war eine wirklich gute Frage. Zwar unterrichtete sie gerne Neulinge, aber für die geplante Klasse hatte sie diesen Fall nicht bedacht.

»Da mache ich mir nachher gleich mal ein paar Notizen. Eventuell kann ich es für den Fall einfach etwas leichter verständlich ansagen.«

Emi griff nach dem Block und einem Stift, die in einem wilden Durcheinander auf ihrem Couchtisch lagen. In letzter Zeit brauchte sie ständig ein tragbares Gedächtnis, weil ihr Kopf so viele verschiedene Ideen produzierte, die sie unmöglich sofort abarbeiten konnte. Manchmal notierte sie Ideen für zukünftige Artikel oder für Angebote. Meistens aber waren es Dinge, die sie auf keinen Fall vergessen durfte. Wie in diesem Fall.

»Gut, also es wird die Gratisstunde geben, Getränke und Essen sind vorbereitet. Ich habe kleine Flyer mit meinen Kontaktdaten, damit mich alle wiederfinden, denen es gefallen hat. Aber ich überlege immer noch, was ich sagen soll…«

Ella hörte ihr geduldig zu und nickte.

»Große Ansprachen sind auch nicht so mein Ding. Sei doch einfach du selbst«, riet sie ihr. »Hast du ausreichend Helfer dabei?«

»Ja, ich glaube, das wird reichen. Ich bin so aufgeregt. Hoffentlich geht alles gut.«

»Das wird schon!«, munterte die Kanadierin sie auf. »Tief durchatmen und vergiss nicht, Rick anzurufen.«

»Ich versprech’s.« mit einem tiefen Seufzer beendeten sie das Gespräch schließlich.

Wie sollte sie bloß ihr verrücktes Herz davon überzeugen, dass Rick und sie nur Freunde waren? Das war sicherlich der schwierigste Teil bei dem bevorstehenden Gespräch. Eine weitere Kurznachricht ging auf ihrem Handy ein.

Liam 22.57

VIEL GLÜCK FÜR MORGEN. ICH DENKE AN DICH.

Emi hob die Brauen. Das war mal wieder typisch für Liam. Er war so verdammt aufmerksam.

Obwohl er am nächsten Tag nicht kommen konnte, dachte er daran, dass es für sie ein wichtiger Tag war. Sie schickte einen Dank zurück und wählte Ricks Nummer.

KAPITEL SECHS

DUNKLE ORTE

CHARLOTTE

Ihre Beine fühlten sich an, als trüge sie Bleimanschetten um die Knöchel. Seit wann waren Treppen ein derart unüberwindliches Hindernis?

Sie waren ihr nie so wahnsinnig hoch vorgekommen, allerdings hatte sie auch lange nicht mehr so viel getrunken. Irgendwie war es nach dem etwas befremdlichen Start noch ein sehr netter Abend geworden. Mit jedem Drink wurde es ein bisschen besser. So gut, dass sie am Ende nicht mehr gezählt hatte, wie viele es eigentlich waren.

Inzwischen war Charlotte überzeugt, dass Miriam und sie viel mehr gemeinsam hatten als ursprünglich gedacht. Verschwunden waren ihre Gedanken an Rivalität oder Unzulänglichkeiten.

Weitere 15 Stufen bis zu ihrer Wohnung. Das Treppenhaus war ein dunkler Ort, der niemandem gehörte. Nicht ihr, nicht ihren Nachbarn. Niemandem.

Sie dachte an Emis Treppenhaus. Wie so oft in der letzten Woche. Was, wenn sie vor ihrer Wohnung einen Toten fand? Was würde das mit ihr machen? Fühlte sich Emi im Haus eigentlich noch sicher?

Sie folgte der Wendung der Treppe, sah hinauf zu ihrer Wohnungstür und zuckte zusammen. Da saß jemand. Ihre Augen nahmen die Umwelt nur unscharf wahr, aber da war jemand.

Wer war das und was machte er vor ihrer Tür? Neben ihm lag eine Tasche. Hatte sich ein Obdachloser ins Haus geschlichen? Der Eindringling regte sich nicht, aber die Tasche hob den Kopf.

Was zur Hölle? Ah, okay, Charlotte, beruhige dich. Die Tasche ist ein Hund.

Und wenn sie nicht alles täuschte, war es Spark, der sie von oben musterte. Als sie drei weitere Schritte hinauf machte, begann er freudig mit dem gesamten Hinterteil zu wedeln. Wenn dieser Hund sich freute, geriet alles an ihm in Bewegung. Es war also wirklich Spark. Dann musste der Obdachlose Erik sein. Blieb nur die Frage: Was macht er hier?

Sie kniete sich neben den Mischling und kraulte ihm den weichen Kopf. Erik rührte sich nicht. Charlotte beschloss, die Chance zu nutzen, um das letzte wirklich schwierige Hindernis zu bewältigen. Die Tür. Es war immer schwierig, diesen riesigen Schlüssel in das winzige Schlüsselloch zu bekommen.

Wer hatte sich dieses Prinzip bloß ausgedacht? Ein Fingerabdruckscanner wie beim Telefon wäre doch viel sicherer und außerdem viel leichter zu bedienen und man vergaß auch nie seinen Zeigefinger.

»Hi, komme ich ungelegen?«, fragte ihr Exfreund verschlafen und sah zu ihr auf.

»Ist nicht die beste Zeit für einen Besuch«, antwortete sie redlich bemüht, nicht ganz so betrunken zu wirken, wie sie war.

»Darf ich auf deiner Couch weiterschlafen?«

Erleichtert, dass sein Anliegen so simpel war, winkte sie ab.

»Ja, ja, mach ruhig.«

»Soll ich dir helfen?«, fragte er mit diesem typischen halben Grinsen, das seine Augen erreichte, ohne seine Mundwinkel zu bewegen. Sie übergab ihm den Schlüssel und lehnte sich gegen die Wand. »Willkommen zuhause. Warst du feiern?«

»Nur ein paar Drinks mit einer Freundin«, erklärte sie kurz angebunden und verschwand ins Bad. Als sie nach einer halben Ewigkeit wieder raus kam, hörte sie Erik leise auf dem Sofa schnarchen.

* * *

Am nächsten Morgen wurde sie vom Schrillen ihres Weckers aus dem Schlaf gerissen. Orientierungslos blinzelte sie ein paar Mal. Die Sonne schien gleißend hell in ihr Schlafzimmer verursachte Blitze in ihrem Kopf.

Verdammt, wo waren noch gleich die Kopfschmerztabletten?

»Charlie, magst du einen Kaffee?«, rief eine tiefe Stimme irgendwo aus den unentdeckten Tiefen der Zweizimmerwohnung.

Dann setzte sich das Puzzle aus Erinnerungsfetzen zusammen. Flyer, Miriam, leckere Cocktails, gut riechender Obdachloser, flauschige Tasche. Ja, alle Bruchstücke waren da und ließen sich in eine sinnvolle Reihenfolge bringen.

Sie streckte sich und schwang die Beine aus dem Bett. Zu schnell für ihren Brummschädel. Es dauerte einen Moment, bis die Welt wieder gerade gerückt war und sie antworten konnte.

»Nur, wenn du mich nie wieder Charlie nennst.«

Schon als sie es aussprach, wusste sie, dass diese Forderung unhaltbar war. Sie wollte unbedingt Kaffee, aber sie hasste diesen Spitznamen. Schallendes Gelächter hallte durch die Zimmer.

»Das kannst du sowas von knicken, Schätzchen!«, antwortete Erik, als er sich wieder eingekriegt hatte. Sie seufzte und nahm ihre Bemühungen wieder auf, aus dem Bett zu kommen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752101676
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juni)
Schlagworte
deutsche Krimis Cosy Crime Ermittlerinnen Landhauskrimi Krimi Stalking Thriller Spannung Ermittler

Autor

  • Erin J. Steen (Autor:in)

Erin J. Steen wurde im Herbst 1983 in Niedersachsen geboren. Dort lebt und arbeitet sie auch heute wieder, nachdem sie einige Jahre in verschiedenen Orten im In- und Ausland verbracht hat. Sie liebt große Städte, möchte aber nicht mehr längere Zeit in einer Großstadt leben. Das Haus teilt sie mit einem Mann, einer Tochter und und zwei tierischen Gefährten.
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Titel: Böser Geist