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JANINA TOT

Justizkrimi

von Peter Märkert (Autor:in)
264 Seiten

Zusammenfassung

Wo Janina auftritt, steht sie im Mittelpunkt. Dann ist sie tot, ermordet in den Ruhrwiesen. Verdächtigt werden ihr Freund und ihre Freundin. Mit beiden unterhielt sie ein intimes Verhältnis. Beide wollte sie in den Ruhrwiesen treffen. Die Ermittlungen um den Tod der jungen Abiturientin reißen Hauptkommissar Christian Kramer und Bewährungshelferin Marie Marler in eine Auseinandersetzung zwischen Profession und Beziehung.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Kapitel 1

Frederik sieht sich im Spirituosenladen nach Spiced Rum um. Janina hat ihn gebeten, eine Flasche zu ihrer Abifeier mitzubringen. Sie liebt den Rum mit Cola. Er wird ihr gleich beim Eintreffen einen Longdrink mischen, um ihr näherzukommen. Er sieht auf die Uhr. Wieso schafft er es nicht, pünktlich zu sein? Die anderen werden vor ihm da sein. Die ganze Stufe ist in Janina verknallt. Mit ihrer Lebensfreude reißt sie alle mit. Dazu trägt sie diese auffallenden Klamotten. Der totale Hingucker. In der Schule drehte sich alles um sie. Selbst bei den Lehrern stand sie im Mittelpunkt. Sie brauchte nur mit den Fingern zu schnippen, schon war sie an der Reihe.

Die Kassiererin fragt nach seinem Ausweis. Er hat ihn vorsorglich eingesteckt und reicht ihn ihr. »Der Rum ist für unsere Abifeier«, rechtfertigt er sich. Warum eigentlich? Er wird in wenigen Monaten zwanzig Jahre. Nach einem Blick auf sein Geburtsdatum gibt sie ihm den Ausweis mit einem Lächeln zurück und wünscht ihm viel Spaß bei der Feier.

Janina wohnt mit ihrem jüngeren Bruder bei ihren Eltern in einem modernisierten Zechenhaus im Bochumer Kirchviertel. Gleich beim ersten Klingeln ist sie an der Tür. Er ist etwas enttäuscht, dass sie ihre stylische Lederhose mit dem bunten Pullunder nicht trägt. Doch das enge Kleid mit dem tiefen Ausschnitt steht ihr super, es erinnert ihn an ein Video von Rihanna. Er hatte Janina vor einiger Zeit einen USB-Stick mit ausgewählten Songs der Sängerin geschenkt.

»Wir haben das Haus für uns«, verkündet sie gutgelaunt. »Meine Mam übernachtet bei einer Kollegin, Dad im Tennisclub.« Sie führt ihn zu Mitschülern ins Wohnzimmer. »Captain Cola bring ich in die Küche.« Sie verschwindet mit seinem Rum und ihrer besten Freundin. Es bleibt ihm nichts übrig, er lässt sich auf ein Gespräch über ehemalige Lehrer ein, das ihn schnell langweilt. Er sieht ständig zur Tür und fragt sich, wann sie zurückkommt. Sein Plan ist schiefgegangen, nach dem gemeinsamen Longdrink den Abend mit ihr zu verbringen. Zweifel kriechen in ihm hoch. Sie haben zusammen für das Abi gepaukt, dazu bis in die Nächte hinein gechattet. Doch was heißt das schon? Die Schulzeit ist vorbei. Er hat ihr nichts mehr zu bieten, ist einer unter ihren vielen Followern auf Instagram. Die Fotos schießt sie mit ihrer besten Freundin. Sein Angebot, sie einmal zum Fotoshooting zu begleiten, hatte sie lachend abgelehnt.

Es klingelt an der Haustür. Er sieht Janina über den Flur flitzen. Wie schafft sie es mit dem Kleid und den High Heels? Sie kommt mit einer Baccara Rose ins Wohnzimmer, gefolgt von Sebastian, einem Mitschüler. Haben sie was zusammen? Janina und Sebastian? Sie verschwinden in die Küche. Der Abend fängt ja gut an. Hoffentlich bemerken die andere seine Enttäuschung nicht. Er kann den Gesprächen nicht mehr folgen. Soll er die Feier unter einem Vorwand verlassen, ohne sich von Janina zu verabschieden? Sie kann die anderen fragen, warum er so früh gegangen ist, wenn sie es überhaupt bemerkt. Er muss sich damit abfinden, Luft für sie zu sein, doch schafft es nicht. Gestern hat sie ihm eine Nachricht über WhatsApp geschickt, dass sie sich auf ihn freut und ein Herz angehängt. Es bringt nichts, darüber nachzudenken, am Ende hat sie es jedem gesendet. Bevor er sich von der Gruppe lösen kann, steht sie mit ihrem schönsten Lächeln an der Tür, um das Buffet zu eröffnen. Sofort verwirft er den Gedanken an ein vorzeitiges Verschwinden.

Beim Vorbeigehen hofft er, dass sie ihm in die Küche folgt, doch sie beachtet ihn nicht. Sebastian entdeckt er auch nicht am Buffet. Er nimmt sich von den angebotenen Tapas und stellt sich mit seinem Teller an das große Fenster mit Blick in den beleuchteten Garten. In der Schulzeit hat er nie etwas zwischen ihnen bemerkt, war zu sehr auf sich bedacht. Er betrachtet den kräftigen Nadelbaum vor dem Fenster und fragt sich, ob es sich um eine Kiefer oder eine Zeder handelt. Er gesteht sich ein, von Bäumen keine Ahnung zu haben.

»Was stehst du hier so alleine herum? Alles gut?«

Fast wäre ihm der Teller aus der Hand geglitten. Ihre großen Augen leuchten wie Sterne. Soll er sagen, dass er auf sie gewartet hat? Dass er vermutet hat, sie wäre mit Sebastian zusammen? Ja, dass er den Abend mit ihr verbringen möchte? Er könnte es mit einem Lächeln unterstreichen, denkt an einen Smiley mit roten Wangen, doch traut sich nicht. »Alles bestens«, murmelt er und spürt seinen erhöhten Puls. Er fürchtet, dass sie weitergeht, wenn ihm nicht schnell etwas einfällt. »Der Baum vor dem Fenster.« Er zeigt hin. »Eine Kiefer oder eine Zeder?« Sie raubt ihm die Sprache. Er kann keinen Satz mehr formulieren. Wenn er bloß seine bescheuerte Nervosität ablegen könnte.

Sie kommt nah an ihn heran. »Eine Zeder. Sieht man an den kleinen Zapfen. Sagt zumindest meine Mam.« Ihr Blick wandert zu seinem Teller. »Hast du keinen Hunger? Oder schmeckt‘s dir nicht?« Sie betont die Frage und lacht. Ihr ansteckendes Lachen. Er fragt nach. »Warum lachst du?«

»Kennst du das Stück von Jan Weiler nicht? Maria, ihm schmeckt´s nicht. Es gibt einen Trailer auf YouTube. Sehen wir uns mal zusammen an.« Sie lacht wieder. Seine Mutter konnte so lachen, als zuhause noch alles in Ordnung schien. »Mir schmeckt´s jedenfalls«, sagt er. Zur Bestätigung steckt er sich eine Tapa in den Mund, hat vor Aufregung das Gefühl, als seien seine Geschmacksnerven ausgeschaltet. Ihn interessiert, ob zwischen ihr und Sebastian etwas läuft. Schon wegen der Rose, die bringt man nicht ohne Hintergedanken mit. Er muss es geschickt anstellen, sich auf ihr Gesicht konzentrieren, auf jede Regung, und die Frage unauffällig formulieren. »Hast du Sebastian gesehen?«

»Wieso? Wie kommst du darauf? Ist das wichtig?« Sie weicht zurück. Er verfolgt ihren Blick zu Larissa, die am Buffet aufgetaucht ist und die beste Stelle sucht, um es mit ihrem Smartphone zu fotografieren. Janina macht einen Schritt auf ihre Freundin zu.

»Nein«, sagt er schnell, um sie aufzuhalten. »Ist nicht wichtig ... war nur so ein Gedanke.«

»Da ist er ja ... bei Larissa. Sollen wir hingehen?« Sie dreht sich zu ihm. Ihr Blick verrät, dass sie ihn durchschaut hat. Sie kommt wieder näher an ihn heran und deutet auf den Servierwagen in der Ecke. »Mixt du uns einen Captain Cola?«

Er nickt ihr mit vollem Mund zu und stellt seinen Teller beiseite. Füllt zwei passende Gläser mit viel Rum und wenig Cola. Sie holt dunkelrote Strohhalme aus einer Schublade und zieht ihn ins Wohnzimmer, vorbei an ihrer Freundin und Sebastian.

Ihr kleiner Bruder hat die Rolle des DJs übernommen. »Zu Rihanna tanze ich sofort«, sagt Frederik mit Blick zur überdachten Terrasse, die von farbigen Leuchtern angestrahlt wird wie eine Bühne. Er erkennt die Zustimmung in ihren Augen und freut sich, die richtigen Worte gefunden zu haben. Warum wollte er die Feier vor wenigen Minuten verlassen? Er versteht sich selbst nicht mehr, fühlt die Verbundenheit zu Janina, auch zu den ehemaligen Mitschülern. Er nimmt wahr, wie sie ihrem Bruder ein Zeichen gibt und ahnt, was kommt, bevor Unfaithful von Rihanna erklingt. Mit einem Lächeln zieht sie ihn auf die Tanzfläche. Er bewundert ihren freien Tanz, ahmt die Bewegungen nach, was sie erheitert. Jedenfalls sieht sie ihn an und lacht. Dabei kommt sie so nah an ihn heran, dass sie sich berühren. Sie schlingt ihre Arme um seinen Hals und küsst ihn auf die Wange. Er versucht, sie festzuhalten, doch sie entwischt ihm wieder, um ihren freien Tanz fortzusetzen. Sie lassen kaum einen Song aus, höchstens, um weitere Longdrinks zu sich zu nehmen. Zu vorgerückter Stunde tanzen sie engumschlungen. Janina scheint verliebt in Wild Thoughts von DJ Khaled ft. Rihanna und Bryson Tiller. Ihr Bruder lässt den Song mehrmals abspielen. Bis sich Janina mit ihm auf der Couch niederlässt. Sie kniet über ihm, umarmt ihn, küsst ihn. Ihre Lippen wandern zu seinem Ohr. Sie flüstert, ob er ihr Zimmer sehen möchte.

Während er ihr die Treppe hinauf folgt, spürt er die Blicke der anderen im Rücken. Janina und er, das hat er sich immer gewünscht, die tollste Frau aus der Stufe an seiner Seite. In sein Hochgefühl mischt sich Angst, seine verfluchte Angst zu versagen. Gerade, wenn es ihm wichtig ist, keinen Fehler zu machen. Daran hat auch der Alkohol nichts geändert. Sie verschließt die Tür hinter ihm, lässt den Schlüssel stecken. Er nimmt einen süßlichen Geruch von Parfüm wahr und betrachtet die Poster an den Wänden, die von roten LEDs angestrahlt werden. Johnny Depp. Immer wieder Johnny Depp. Auf einer Großaufnahme mit Penélope Cruz aus dem vierten Teil von Fluch der Karibik. »Super Film.« Er deutet auf das Poster.

»Ich war verknallt in den Typen. Lang ist es her«, lacht sie. »Meine Wohnung richte ich anders ein. Ich freu mich riesig darauf.«

Er hält dem Blick aus ihren dunklen Augen nicht stand, weicht ihm aus und ärgert sich im selben Moment darüber. Er sollte nachfragen, wann sie umzieht.

»Gefallen dir die alten Poster?«, kommt sie ihm mit einer Frage zuvor.

»Ja, ich habe den vierten Teil mehrmals gesehen.«

»Wer gefiel dir besser? Johnny Depp oder Penelope Cruz? Ehrlich!«

Was will sie mit der Frage andeuten? Ist es, weil er nach Sebastian gefragt hatte? Dabei hat er gedacht, sie hätte ihn verstanden. Er versucht, seiner Stimme einen festen Klang zu geben. »Penelope Cruz.« Er blickt ihr direkt in die Augen.

Sie dimmt das Licht, verbindet ihr Smartphone mit der Bluetooth-Box. Diamonds erklingt von Rihanna. Das ist Wahnsinn! Sie streift ihr Kleid ab. Es folgt der BH, der Slip. Sie kommt auf ihn zu, betont ihre Schritte, umarmt ihn, küsst ihn. Mit der Geschmeidigkeit einer Katze geht sie zum Bett zurück, streckt sich aus, stützt den Kopf mit den Händen ab und fordert ihn auf, sich auszuziehen.

Er ist verzaubert, verwirrt. Sie sieht aus wie auf einem Werbeplakat, doch es geht ihm zu schnell. Soll er es sagen? Ihr sagen, dass er keine Erfahrung hat, dass er unsicher ist? Schon wegen der verdammten Vorhautverengung. Er hat sich schwer damit getan, zum Arzt zu gehen, und endlich die Operation hinter sich gebracht. Wie wird sie es aufnehmen? Soll er es ihr erklären? Oder spielt es keine Rolle? Er beginnt, sein Hemd aufzuknöpfen, streift es unter ihren Blicken ab und hält es in der Hand. Wohin damit? Er lässt es auf den Boden fallen. Jetzt die Hose. Er kommt sich albern vor, wie vorgeführt.

»Warte, ich möchte dir die Jeans ausziehen«, flüstert sie in beschwipstem Tonfall und bewegt sich auf allen vieren vom Bett herunter auf ihn zu. Sie kniet nackt vor ihm, öffnet den Reißverschluss seiner Jeans, zieht sie ihm vorsichtig über die Hüften. Unter dem Slip bildet sich sein Glied ab.

Er spürt ihr Zögern, möchte den Slip mit einem Ruck herunterziehen, doch nicht so nah vor ihren Augen. Ihre festen Brüste lösen gleichzeitig Verlangen und Angst in ihm aus. Angst, ihren Erwartungen nicht zu entsprechen und im entscheidenden Moment zu versagen. Er geht zum Bett, legt sich seitlich darauf mit dem Blick zu ihr. Sie folgt ihm, drückt sich an ihn.

»Gefalle ich dir besser in meinen Ledersachen oder in dem Kleid?«

»Steht dir beides super!«

Ihr Blick sagt ihm, dass ihr die Antwort nicht gefällt. Er streicht unsicher mit den Händen über ihren Rücken, traut sich nicht, ihren Mund zu küssen. Warum? Vorhin auf der Couch war es so leicht. Was ist mit ihm? Seine Unterlippe zittert. Sie weicht zurück, streift seine Hände ab.

»Nackt gefalle ich dir nicht?« Ihre Augen mustern ihn misstrauisch.

»Doch, total! Ich weiß auch nicht.«

»Habe ich was falsch gemacht? Sag es ruhig.«

»Nein, das ist es nicht, wirklich nicht. Du bist super. Es liegt an mir.«

»Hast du kein Kondom dabei?«, rätselt sie. »Ohne läuft nichts, das kannst du vergessen.«

»Ich wusste ja nicht …«

Sie lacht. »Schon gut. Ich habe welche.« Sie deutet zu dem Korb auf dem Nachttisch, sagt beiläufig: »Boxershorts gefallen mir bei Männern. Ich meine, du kannst sie tragen bei deiner Figur.«

Es ist wie ein Schlag in die Magengrube. Versager, hämmert es in seinem Kopf. Warum hat Vater ihm immer das Gefühl gegeben, ein Versager zu sein? Er überwindet sich, zieht mit einem Ruck den Slip herunter, greift nach einem Kondom und versucht, die Folie aufzureißen. Es geht nicht. Er spürt, wie seine Erektion schwindet.

»Das gibt´s nicht«, kichert sie. »Ich glaub, du hast das noch nie gemacht. Stimmt`s?« Sie kriegt sich nicht ein.

Er ist mit einem Mal so wütend, er möchte ihr das Lachen aus dem Gesicht schlagen. Er springt auf, sucht eilends seine Sachen zusammen, um sich blitzschnell anzuziehen. Bei der Jeans verheddert er sich, stolpert und fällt auf das Bett zurück. Er ist gleich wieder auf den Beinen, ist schon an der Tür. Sie bleibt liegen, von Lachkrämpfen geschüttelt. Wutentbrannt reißt er am Türgriff.

»Der Schlüssel steckt«, würgt sie heraus.

Er versteht, schließt auf und knallt die Tür hinter sich zu. Rennt beinahe in Larissa hinein, die wie aus dem Nichts vor ihm auftaucht. Verdutzt starrt er sie an.

»Was ist los? Wo hast du Janina gelassen?«, fragt sie. Frederik schüttelt nur den Kopf.

»Hat nicht funktioniert, was?« Sie öffnet die Tür.

»Wie kommst du darauf?«, entgegnet er scharf.

»Schon gut. Reg dich ab. Alles okay.« Sie macht eine beschwichtigende Handbewegung.

»Mann, ist der drauf«, hört er Larissas Worte, bevor sie im Zimmer der Freundin verschwindet.

Er fühlt sich mies, weiß nicht wohin. Auf keinen Fall darf er auf der Party bleiben. Hätte er nur auf seine Vorahnung gehört und wäre gleich zu Beginn verschwunden. Er möchte niemandem mehr begegnen. Die Treppe runter, den Flur entlang zur Haustür. Er gibt sich einen Ruck, steigt die Stufen hinab. Unten kommt ihm Sebastian entgegen. Ausgerechnet Sebastian, der sich immer mit Frauengeschichten gebrüstet hat. Er hat es ihm nie abgenommen, aber vielleicht stimmt es ja. Er erinnert sich an die rote Rose, seine Zweifel in der Küche, an Janinas seltsame Reaktion, als er nach ihm fragte. Die Gedanken bringen ihn um den Verstand. Er sieht die beiden vor sich, wie sie sich auf ihrem Bett rekeln.

»Wo ist Janina?«, dringt die Frage in ihn. Er bleibt stehen. »Auf ihrem Zimmer mit Larissa.« Weiter warnt die innere Stimme. Einfach weitergehen. Er kämpft mit sich. Ein helles Lachen tönt von oben herab. Er sieht hoch. Sie stehen an der Treppe. Wie hat Janina sich so schnell angezogen? Was macht Larissa mit dem Smartphone in der Hand? Klar, sie fotografiert. War es geplant? Von Anfang an? Um sich über ihn lustig zu machen? Er sieht das Grinsen in Sebastians Gesicht, wittert ein abgekartetes Spiel.

»War wohl nichts, was? Zumindest nach deinem Gesichtsausdruck zu urteilen. Du bist so ein Loser.«

Die Worte geben ihm den Rest. Er schlägt hinein in das Grinsegesicht. Ein zweites, ein drittes Mal. Mit der geballten Faust. Ehe Sebastian sich wehren kann. Mitten im Schlag fühlt er seinen Vater in sich und holt aus. Schreie von Janina und Larissa, von den anderen unten. Er schlägt zu, hört es krachen. Sebastian krümmt sich vor Schmerzen. Mitschüler greifen ein, zerren ihn weg. Er kommt zu sich, reißt sich los und stürmt zur Haustür, hinaus ins Freie. Nur weg von hier, nur weg. Gleich werden sie einen Krankenwagen rufen und die Polizei. Natürlich die Polizei.

Ziellos irrt er durch die Straßen. Wo soll er hin? Zu seinen Eltern? Unmöglich. Sie würden etwas wittern und fragen, was passiert ist. Bis zu der Pleite im Bett hätte es nicht besser laufen können. Wie lange hatte er sich gewünscht, ihr näher zu kommen? Dann ist es soweit und er versaut es. Er kann sich nirgends mehr sehen lassen, das steht fest. Wie konnte er so zuschlagen? Er hat Sebastian das Nasenbein gebrochen. Er hat gehört, wie es krachte.

Warum um alles in der Welt hat er Janina nicht gesagt, dass er keine Erfahrung hat? Was ist so schlimm daran? Er hätte ihr von der Operation erzählen können. Sie hat den ganzen Abend mit ihm verbracht, nicht mit Sebastian, auch nicht mit ihrer Freundin. Warum hat er sie im Bett nicht geküsst, sie nicht umarmt. Was hinderte ihn? Es wäre so leicht gewesen. Er erinnert sich, wie sie seine Hand nahm, ihn zur Tanzfläche führte. Er war so stolz in dem Augenblick. Was würde er darum geben, die Zeit zurückzudrehen.

Neben ihm hält ein Polizeiwagen. Die Beamten befragen ihn zu seinen Personalien. Frederik Sunter. Er holt seinen Ausweis aus dem Portemonnaie. Sie konfrontieren ihn mit der Körperverletzung auf der Feier. Er gibt alles zu, fühlt sich erleichtert und lässt sich widerstandslos festnehmen.

Kapitel 2

Bewährungshelferin Marie Marler bereitet sich in ihrem Büro auf ein Erstgespräch vor. Gefährliche Körperverletzung auf der Abifeier einer Schülerin im Mai. Sie studiert die Urteilsbegründung des Amtsgerichts. Die heftigen Schläge gegen den Kopf des Opfers stellten eine »das Leben gefährdende Behandlung« dar. Der Geschädigte wäre von der grundlosen Aggression überrascht worden.

Sie sieht auf die Uhr. Er müsste jeden Moment kommen. Sie wird ihn zu eigenen Gewalterfahrungen befragen, auch zu seinem Alkohol- und Drogenkonsum. Sie überfliegt den Text:

Mitschüler forderten einen Krankenwagen an. Im Bergmannsheil stellten die Ärzte eine Schädelprellung und eine Nasenbeinfraktur fest. Die Operation fand unter Vollnarkose statt, um einzelne Knochenfragmente zu entfernen und eine Reposition der Kieferhöhlenvorderwand vorzunehmen. Bei der Hauptverhandlung Ende Juli hatte der Geschädigte im rechten Gesichtsbereich noch kein Gefühl. Wie schnell kann ein »Ausraster« zu bleibenden Schäden führen. Marie erinnert sich an das Seminar eines Rechtsmediziners aus Essen, an dem sie teilnahm. Er zeigte ihnen schreckliche Bilder von Verletzten.

Das Telefon läutet. Nina von der Geschäftsstelle kündigt Frederik Sunter an. Auf die Minute pünktlich. Sie bittet ihm auszurichten, einen Moment zu warten.

In der Urteilsbegründung bestätigte die Jugendgerichtshilfe Reifeverzögerungen trotz seines guten Abiturs. Das Schöffengericht erkannte auf eine Jugendstrafe von acht Monaten und setzte sie gleichzeitig für die Dauer von zwei Jahren zur Bewährung aus.

Marie begrüßt ihren neuen Klienten im Wartezimmer. Sie bittet ihn, ihr ins Büro zu folgen. Nach dem Urteil hatte sie ihn sich anders vorgestellt, weniger sympathisch auf jeden Fall, mehr als Schlägertyp. Mit dem Kapuzenpulli zur blauen Jeans, den weißen Sneakers wirkt er wie ein Praktikant. In ihrem Büro betrachtet er die bunten Kunstdrucke, ihr selbsterstelltes Chaosbild und die Grünpflanzen. Sie deutet auf die Lederstühle und setzt sich ihm gegenüber an den Schreibtisch. Ihr fallen seine klaren Augen auf, die weichen Gesichtszüge. Körperverletzung passt nicht zu ihm. Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz könnte sie sich vorstellen. Als würde er ihre Gedanken lesen, kramt er aus seinen Taschen einen Personalausweis hervor und reicht ihn ihr. Während sie das Passbild mit dem Namen vergleicht, informiert sie ihn über die Zusammenarbeit in der Bewährungszeit. Er könne sich mit allen Problemen an sie wenden. Zusammen ließen sich Lösungen finden. Veränderungen, eine andere Adresse, Schule oder Arbeit, neue Ermittlungen müsse sie dem Gericht mitteilen, außerdem die richterlichen Weisungen überwachen. Er stimmt den regelmäßigen Treffen zu, in der ersten Zeit wöchentlich, bei stabiler Lebensführung monatlich. Sie reicht ihm ihre Visitenkarte, notiert sich seine Handynummer und spricht ihn auf die Körperverletzung an. Er schüttelt abwehrend den Kopf, als wollte er den Abend aus dem Gedächtnis streichen.

»Ich habe keine Ahnung, was in mich gefahren war … der Alkohol … die Enttäuschung. Haben Sie das Urteil gelesen?«

»Ja«, bestätigt Marie. Sie sieht ihn an, wartet auf eine Reaktion. Das Schweigen fällt ihr nicht leicht.

»Ich wollte raus, die Feier verlassen. Er hat sich mir in den Weg gestellt, hat mich provoziert. Es ist kein Grund, das sehe ich ein.«

»Warum wollten Sie die Feier verlassen?« In seinem Blick spürt sie die Frage, ob er ihr vertrauen kann.

»Sie wissen … von der Phimose Operation?«

»Ist nicht selten.« Sie ahnt, worauf er hinauswill.

»Ich wusste nicht, wie Janina es aufnimmt. Wir hatten getrunken, getanzt, uns geküsst. Irgendwann waren wir auf ihrem Zimmer. Verstehen Sie? Ich hatte nicht mal Kondome. Sie hatte welche.«

Soll sie ihn bei dem Thema an einen männlichen Kollegen abgeben? Udo Fröbel würde ihn sicher übernehmen. »Du hattest keine Erfahrung, warst dir unsicher. Das ist normal. Nichts Schlimmes.« Sie nimmt wahr, wie er auf dem Stuhl zurückweicht. Hat sie ihn geduzt? Sie versucht, sich auf das Chaosbild an der Wand zu konzentrieren. Sie hat es extra für solche Momente aufgehängt. Herr, gib mir Gelassenheit, betet sie im Stillen.

»Ich habe mich schlecht gefühlt ... als Versager«, sagt er. »Ich war enttäuscht, hatte es mir anders vorgestellt.«

Sie überwindet sich. »Möchten Sie mit einem männlichen Kollegen darüber sprechen?«

»Nein!« Es klingt panisch. Sie hat einen wunden Punkt getroffen. Sie wird ihn später nach der Beziehung zu seinem Vater fragen. Oder beim nächsten Termin. Vorerst wartet sie ab und konzentriert sich auf das Chaosbild an der Wand.

»Ich hatte nicht damit gerechnet. Janina hatte die Initiative übernommen, weil es das Haus ihrer Eltern war.« Er stockt.

Marie versucht, Verständnis in ihren Blick zu legen. »Weil es das Haus ihrer Eltern war, hat Janina die Initiative übernommen. Hm, leuchtet ein. Bei Ihnen hätten Sie die Initiative übernommen.« Sie lacht, steckt ihn damit an.

»Ich weiß nicht … oder nein. Ich glaube nicht.« Er sieht sie an. »Ich war immer in Janina verknallt. Seit der Schule. Ich habe es ihr zu wenig gezeigt, hatte keinen Mut. Ich meine, sie hatte früh mit Sex angefangen … im Gegensatz zu mir. Sie hatte sich beim ersten Mal ohnmächtig gefühlt. Das hat sie mir erzählt. Seither will sie bestimmen, wann und mit wem. Sie war überrascht an dem Abend, fand es überhaupt nicht schlimm, dass ich keine Erfahrung hatte. Ich hatte mich nur komisch benommen und sie hatte getrunken.« Er errötet bei seinen Worten, wischt sich mit der rechten Hand den Schweiß von der Stirn.

Marie wundert sich, dass sie über das heikle Thema gesprochen haben, und dass er es ihr beim ersten Termin anvertraut. Wie kann sie das Gespräch wieder zu der Körperverletzung lenken? Er kommt ihr zuvor.

»Vor Gericht habe ich alles gestanden. Es kam an dem Tag einiges zusammen. Es wird sich nicht wiederholen. Das verspreche ich Ihnen. Ich habe es meinen Eltern schon versprochen. Der Anwalt hat gesagt ... die Jugendstrafe wird nach zwei Jahren erlassen, wenn ich mich an die gerichtlichen Auflagen halte. Das habe ich vor«, beteuert er.

»Hat er auch gesagt, dass Jugendstrafen bis zu zwei Jahren nicht in das Führungszeugnis aufgenommen werden? Das kann wichtig sein bei einer Bewerbung um eine Arbeitsstelle. Wie sieht Ihre aktuelle Lebenssituation aus.« Marie lehnt sich im Stuhl zurück und wartet ab.

»Ich wohne bei meinen Eltern … während der Ausbildung. Das ist günstiger.«

»Sie machen eine Ausbildung? Bei Ihrem Abitur habe ich mit der Aufnahme eines Studiums gerechnet.« Sie sollte ihn ausreden lassen, vor allem sich nicht gleich in seine Berufswahl einmischen. »Das ist nicht wertend gemeint«, fügt sie hinzu. »Eine Ausbildung ist genauso gut. Wann haben Sie angefangen?« Es dauert, bis er antwortet. Sicher hat sie ihn mit ihrer Meinung verunsichert.

»Im August, also vor einem Monat.«

Sie wartet. Ob er hinzufügt, um welche Ausbildung es sich handelt und wer sein Arbeitgeber ist. Er sieht auf den Schreibtisch, bleibt stumm. Beim Thema Janina wirkte er redseliger. »Welchen Beruf erlernen Sie?«

»KFZ-Mechatroniker ... bei der Firma Schroer in Bochum. Eine gute Werkstatt ... die Mitarbeiter sind in Ordnung.«

Die Antwort kommt schleppend, klingt nicht überzeugend. »War es Ihre Entscheidung?« Eine Frage aus dem Bauch heraus. Sie bemerkt seine Anspannung. Eine Vene tritt senkrecht auf der Stirn hervor. Sie hat ins Schwarze getroffen, kein Zweifel. Sie ahnt, wer hinter der Berufswahl steckt.

»Wie meinen Sie das?« Mit der Gegenfrage versucht er, ihr auszuweichen. Sie lässt sich nicht darauf ein, sondern wartet ab. Mit Blick auf das Chaosbild gelingt es ihr, ihm die Zeit zu lassen, die er benötigt. »Vater hatte mir geraten, vor einem Studium etwas Ordentliches zu lernen. Er ist Anlagenmechaniker, Mutter Krankenpflegerin. Geschwister habe ich nicht. Vater kennt die Werkstatt, er wollte immer KFZ-Meister werden«, betont er. »Ich habe mit achtzehn den Führerschein gemacht. Zur Ausbildung haben mir die Großeltern einen gebrauchten Mini gekauft. Sie hatten dafür gespart. Die Versicherung läuft über meine Mutter … wegen der Prozente.«

Marie bittet ihn, den Ausbildungsvertrag beim nächsten Gespräch vorzulegen. Sie erkundigt sich nach seinen sonstigen Interessen.

»Sport, Musik. Ich fahre gern Fahrrad … treffe mich mit einem Freund im Fitness-Studio.«

»Und eine Freundin? Verstehen Sie mich nicht falsch. Es ist nicht zwingend ...«

»Janina«, unterbricht er sie, als müsste sie es wissen. »Sie nimmt im Oktober ihr Studium an der Ruhr Uni auf. Sie möchte Lehrerin werden. Ihre Eltern haben ihr eine kleine Wohnung am Schauspielhaus eingerichtet.«

»Janina Kamphausen?« Marie ist im ersten Moment geschockt und schüttelt den Kopf. Seine Stimme klingt leicht vorwurfsvoll.

»Wir sind seit der Abifeier zusammen. Sie hat mich am nächsten Tag angerufen … hatte sich Sorgen gemacht. Ich kam von der Wache, wo ich die Nacht verbracht hatte. Wir hatten beide zu viel Alkohol getrunken. Sebastian konnte nichts dafür. Er war zur falschen Zeit am falschen Ort. Ich verstehe bis heute nicht, was mit mir los war.«

Bei dem Thema redet er wieder flüssiger, doch der letzte Satz gefällt Marie nicht. Die Geschichte mit Janina gefällt ihr nicht. Seine Ausbildung zum KFZ Mechatroniker gefällt ihr nicht. Sie spürt bei Frederik zu viel Anpassung und zu wenig Begeisterung. Nach der Ausstrahlung und den Noten könnte sie sich ihn als Sportlehrer vorstellen, als Arzt, Psychologe, Sozialarbeiter, irgendetwas mit Menschen. Mag sein, dass sie vorschnell urteilt. Doch sie glaubt an den ersten Eindruck.

»Sie vertrauen mir nicht«, errät er ihre Gedanken. »Ich kenne den Ausdruck von meinem Vater. Der hat nie an eine Beziehung zwischen Janina und mir geglaubt. Er mag sie nicht. Trotzdem sind wir zusammen.« Er holt sein Handy aus der Tasche, zeigt auf das Display.

Marie betrachtet die junge Frau in seinem Arm. Dichte schwarze Haare, große Augen, voller Energie. »Das ist also Janina«, stellt sie fest. »Sieht interessant aus. Waren auf der Feier Drogen oder Tabletten im Spiel?«

»Nein! Damit haben wir nichts zu tun.« Er steckt das Handy zurück in die Jackentasche. »Es lag nur an dem verdammten Alkohol.«

Nach dem Urteil vermutete Marie, dass Janina ihn mit ihrer Freundin und dem Geschädigten vorführen wollte. Nie hätte sie gedacht, dass daraus eine Beziehung entstehen könnte. Sie glaubt es noch nicht, versucht allerdings, sich auf die neue Situation einzustellen.

Er kramt in seinen Taschen, holt einen Überweisungsbeleg an den Geschädigten hervor. Das Gericht hatte ihm auferlegt, monatliche Raten von hundert Euro als Wiedergutmachung bis zum Ende der Bewährungszeit zu zahlen. »Wenn das Geld nicht reicht, gibt mir meine Mutter etwas dazu. Dafür habe ich ihr versprochen, dass es nie wieder vorkommt.«

Marie spürt den eindringlichen Blick. Sie hält sich mit einem Kommentar zurück, obwohl es ihr schwerfällt. Sie möchte nicht mit seinem misstrauischen Vater verglichen werden. Nicht beim ersten Kontakt. Den Vergleich würde sie nicht wieder los.

»Die Wiedergutmachung ist okay«, sagt er. »Mit Sebastian habe ich mich versöhnt. Er hat mir verziehen. Sie können mir glauben. Er wird es Ihnen bestätigen. Ich werde ihn zum Gespräch mitbringen. Ich bin ja heilfroh, dass es bei der Bewährung blieb. Wie gesagt, ich verstehe bis heute nicht, was mit mir los war. Ich habe sonst nie jemanden geschlagen.«

Den Satz kann sie nicht unkommentiert stehen lassen. Sie muss darauf reagieren, doch dabei behutsam vorgehen. »Wenn Sie in bestimmten Situationen keine Kontrolle über sich haben, müssen wir genau diese Situationen herausfinden.«

»Was soll das bringen?«

Mit der Frage hat sie gerechnet. »Wir entwickeln eine Art Notfallplan. Sie lernen, brenzliche Situationen im Ansatz zu erkennen, um zu verschwinden, bevor etwas passiert. Spielen Sie Schach?«

»Ja, ich verstehe, was Sie meinen. Ich war ja auf dem Weg nach draußen, um die Feier zu verlassen. Hätte Sebastian mich nicht aufgehalten, wäre nichts passiert.«

Er weicht ihr aus. Sie fragt, warum er sich aufhalten ließ, ist gespannt, wie er sich wieder herausreden wird. »Es lag an dem verdammten Alkohol, das sagte ich schon. Seitdem trinke ich nichts mehr. Ich bin ständig mit dem Auto unterwegs, zur Arbeit, zur Freundin. Sie wissen, während der Probezeit gilt absolutes Alkoholverbot. Meinen Führerschein möchte ich nicht riskieren.«

Er verschweigt ihr etwas, auch wenn er so abgeklärt tut. Immerhin wird es stimmen, dass er auf Alkoholkonsum verzichtet, um die Fahrerlaubnis nicht zu gefährden. Damit reduziert sich die Rückfallgefahr. Doch wie verhält er sich in einer Ausnahmesituation? Sie spricht ihn auf das Antigewalttraining an. Neben der Wiedergutmachung an den Geschädigten hat er nach dem Bewährungsbeschluss daran teilzunehmen. Er windet sich. Fragt, ob das aufgehoben werden könne. Während der Ausbildung bleibe ihm wenig Zeit. Er sei in der Woche erst abends zurück.

»Meinen Sie ... ich brauche so ein Psychogerede! Ich bin kein Schläger. Ich weiß genau, was auf dem Spiel steht.«

»Darüber werden wir nicht diskutieren. Seien Sie froh, dass der Geschädigte rechtzeitig ins Krankenhaus kam. Das hätte anders ausgehen können. Es gibt ein Training, das an Wochenenden stattfindet. Daran werden Sie teilnehmen.« Marie möchte an der Stelle nicht nachgeben. Sie reicht ihm den Flyer eines gemeinnützigen Trägers. »Zur Sprechstunde in einer Woche erwarte ich Ihre Anmeldebestätigung«, verabschiedet sie ihn.

Kapitel 3

Das Wartezimmer ist leer. Ein Blick in den Kalender sagt Marie, dass sie niemanden mehr eingeladen hat. Ein Gefühl der Erleichterung stellt sich ein. Das Tagewerk ist geschafft. Sie freut sich auf das Treffen mit Christian Kramer in einer Stunde. Bei der Aufklärung eines Tötungsdelikts vor drei Monaten hat sie sich in den Hauptkommissar des KK11 verliebt. Ein Klient war darin verwickelt. Erst vermutete sie Christian in festen Händen. Zu ihrem Glück stellte sich heraus, dass er nach einer längeren Beziehung nur lockere Freundschaften unterhielt.

Sie sieht aus dem Fenster. Keine Wolke am Himmel. Zu schade, um in ihrem Büro auf den Feierabend zu warten. Ihr Kollege Fröbel könnte sie bis neunzehn Uhr vertreten und sie die Zeit nutzen, um in ihrer Lieblingsboutique nach dem kleinen Schwarzen zu sehen. Sie kommt nicht an dem Schaufenster vorbei, ohne das Kleid zu betrachten. Sie könnte es beim Essen tragen.

»Grüß Christian von mir«, sagt Udo Fröbel, der sofort zustimmt, sie zu vertreten. »Vielleicht gibt`s mal wieder einen gemeinsamen Fall. Muss ja kein Tötungsdelikt sein.«

Eine schnelle Umarmung, ehe noch ein Klient unvermutet hereinschneit. In ihrem Büro fährt sie den Computer runter, wirft ihre schwarze Lederjacke mit den Nieten über und macht sich auf den Weg in die Stadt. Zuerst zur Sparkasse, sie möchte auf keinen Fall zu wenig Geld bei sich haben, zahlt in den Geschäften gerne bar. Freundinnen werfen ihr vor, sie sei total »old school«. Sie nimmt es als Kompliment. Kaum hat sie den Eingang zur Hauptsparkasse erreicht, da sieht sie ihn: Christian. Auf dem Dr. Ruer Platz mit einer Frau Arm in Arm. Marie steht wie angewurzelt da. Sie muss den Schock erst verdauen. Ist es eine Arbeitskollegin? Sie nimmt ihre Kollegen auch in den Arm, wenn es sich aus der Situation ergibt, vorhin Udo für seine spontane Vertretung. Doch sie würde mit ihm niemals Arm in Arm durch die Fußgängerzone ziehen. Das Gefühl sagt ihr, dass es keine Kollegin von Christian ist, sondern seine Exfreundin, zumindest nach den teuren Klamotten und der Handtasche zu urteilen. Genauso hatte er sie beschrieben. Als Einzelkind immer die Scheckkarte des wohlhabenden Vaters zur Hand. Alina, die ihm bei der Trennung vor einem Jahr die Katze zur Pflege überließ, um auf Weltreise zu gehen, damit zwei Fliegen mit einer Klappe traf. Für Karla war gesorgt und Alina konnte ihn bei ihrer Stippvisiten zu den Eltern besuchen, um sein Gedächtnis aufzufrischen.

Marie erinnert sich an ein Gespräch mit Christian vor ein paar Tagen. Da sagte er, dass er seit Wochen keinen Kontakt zu Alina hätte. Gelogen, was soll sie sich vormachen? Einmal kommt sie früher zu einer Verabredung, schon begegnet sie ihm mit seiner Exfreundin. Sie möchte hinter ihnen herlaufen, um die Sache sofort zu klären, doch könnte sich dabei nur blamieren.

Am Bankautomaten tippt sie gedankenversunken die Zahlen in die Tastatur. Soll sie nach Hause fahren? Die Sprechstunde war aufregend genug, da legt sie keinen Wert auf privaten Beziehungsstress. Übertreibt sie? Irgendwann sitzt sie alleine vor dem Fernseher, wenn sie bei jeder Gelegenheit das Handtuch wirft. Sie muss über die eigenen Gedanken lachen. Nein, sie wird Alina nicht das Feld überlassen. Nicht ohne mit ihm gesprochen zu haben. Mag ja sein, dass sie sich täuscht, und es war nicht seine Exfreundin. Oder sie haben sich zufällig getroffen. Nein, daran glaubt sie nicht. Sind Männer nicht alle verlogen? Ihre Freundin Julie behauptet es. Sie verlässt die Sparkasse.

Hat sie das Geld eingesteckt? Sie spürt ihren erhöhten Puls. Sieht in ihr Portemonnaie. Sie hat es im Bankautomaten gelassen. Sie läuft zurück. Ein Weißhaariger kommt ihr entgegen, wedelt mit Scheinen in der Hand.

»Ihr Geld, sie haben es liegen lassen«, ruft er ihr zu.

Sie atmet auf. »Vielen Dank!« Wäre ein Finderlohn angebracht? Nein, er sieht nicht aus, als würde er etwas annehmen. »Ich habe mich so erschrocken. Heute ist nicht mein Tag.« Sie steckt das Geld ein, drückt ihm die Hand.

»Ist ja alles gut«, sagt er und lächelt. Sie macht sich auf den Weg zur Boutique. Die meisten Menschen sind ehrlich, freut sie sich. Denkt im gleichen Moment an Christian. Soll sie ihn vor dem Essen auf die Frau ansprechen? Was für eine Frage? Sie könnte nichts runterschlucken, solange sie nicht weiß, was los ist. Keine fünf Minuten, bis sie ihm die Begegnung an den Kopf werfen würde. Bei Starbucks neben der Sparkasse erkennt sie Frederik mit zwei jungen Frauen am Eingang. Die großen Augen, die dichten schwarzen Haare, die enganliegende Lederhose mit dem bunten Pullunder sind nicht zu übersehen. Genau wie auf dem Display seines Handys. Janina, kein Wunder, dass er verrückt nach ihr ist. Sie scheinen sich zu streiten. Die Frauen wollen Starbucks verlassen, er will sie zurückhalten. Sie denkt an den Gewaltausbruch auf der Abifeier.

Keine Frage, sie hat sich einzumischen, bevor etwas passiert. Es wird schon reichen, die Filiale zu betreten und einen Milchkaffee zu bestellen. Gedacht, getan. Sie grüßt, er grüßt verlegen zurück. Die beiden Frauen mustern sie und setzen sich mit ihm an einen Tisch. Der Streit war halb so schlimm, sie hat die eigene Stimmung auf Frederik übertragen. Sie sieht erst beim Hinausgehen wieder hin. »Tschüss. Bis zur nächsten Woche.« Sie wartet nicht auf seine Erwiderung. Mit dem Kaffeebecher in der Hand schlendert sie zu der Boutique. Das schwarze Kleid im Schaufenster zieht sie magisch an. Ist sie in der richtigen Stimmung, um es anzuprobieren? Sie reißt sich zusammen, trinkt den Kaffee aus, bevor sie den Laden betritt. Sie braucht unbedingt etwas Positives. Wenn sie Christian den Abend versaut, fühlt er sich bestätigt, zu seiner Ex zurückzukehren. Nein, sie wird es ihm so schwer wie möglich machen.

Das Kleid passt wie angegossen. Es betont ihre schmale Taille, ihre gesamte Figur. Die Verkäuferin nickt ihr anerkennend zu, sieht dabei auf ihr Tattoo an der rechten Wade, den Äskulap Stab. Eine Erinnerung an eine Sommerliebe in Griechenland. Sie behält das Kleid an, lässt sich zu passenden Stiefeletten überreden. Zurück in der Fußgängerzone fühlt sie sich gestärkt. Wenn sie Christian mit Alina begegnet, wird sie ihm vor den Augen der Rivalin einen Kuss geben. So lange, bis die andere das Feld räumt. Mit klopfendem Herzen erreicht sie das Restaurant. Er ist nicht da. Sie wartet. Kommt sich lächerlich vor, übertrieben gestylt. Richtig laufen kann sie in den Schuhen auch nicht, sie fühlt die Blasen voraus. Hat sie Pflaster in der Handtasche? Sie sieht in das Chaos hinein. Am besten zieht sie sich auf der Toilette wieder um und beendet den Tag auf Netflix.

Der Kellner erkundigt sich mit einem anerkennenden Blick nach ihrer Reservierung. Sie nennt ihren Namen und lässt sich zum Tisch führen. »Ich warte auf meinen Freund.« Sie besinnt sich. »Entschuldigen Sie. Können Sie mir schon ein Helles und die Karte bringen?«

»Ein Helles und die Karte«, wiederholt er.

Sie verschwindet auf der Toilette, um sich frisch zu machen. In ihrer Handtasche findet sie Pflaster. Zurück im Restaurant sieht sie sich um. Nur Pärchen an den Tischen. Zwei Frauen Mitte Zwanzig halten sich an den Händen und sehen sich verliebt an. Der sympathische Endvierziger mit den grauen Schläfen mustert Marie. Sein Blick bleibt an dem Äskulapstab hängen. Die wohlbeleibte Partnerin nimmt seine Hand und gibt ihm einen Kuss.

Was ist, wenn Christian ihr erklärt, sich für ein Leben mit Alina entschieden zu haben. Wenn er ihr anbietet, Freunde zu bleiben. Sie darf nicht daran denken. Sie würde aufstehen und verschwinden. Sofort. Nur nicht in ihre Wohnung, wo alles nach ihm riecht. Sie erinnert sich an den Augenblick, als er mit der Pizza vor ihrer Tür stand. Wie aufgeregt sie war. Nein, alleine würde sie verrückt. Eher könnte sie ins Kino gehen, noch besser eine Freundin besuchen. Lena hat Spätschicht im Krankenhaus. Julie könnte zuhause sein. Ihr Freund hat sich vor ein paar Monaten von ihr getrennt. Sie hat die erste Nacht bei ihr verbracht. Julie hätte allen Grund, sich zu revanchieren. Sie wird eine Flasche Wein mitnehmen, um mit ihr anzustoßen, wieder Single zu sein. Sie sieht auf die Uhr. Zehn Minuten über die Zeit. Normalerweise ist Christian pünktlich. Sie ahnt voraus, dass er nicht kommt. Männer sind feige, wenn es gilt, unangenehme Wahrheiten auszusprechen. Sie sucht nach Julies Nummer. Kann die Exfreundin ihn nicht in Ruhe lassen und woanders auf Männersuche gehen? Solche Frauen wollen nirgends verzichten. Sie entwickelt eine Scheißwut auf die Rivalin. Kann eine Beziehung nicht ohne Komplikationen verlaufen? Bei ihr nicht. Wenn sie sich zu sicher glaubt, passiert immer etwas. Der Kellner bringt das Bier. Sie versucht, sich abzulenken, studiert die Karte und nimmt einen kräftigen Schluck von dem Hellen.

»So einen Durst?« Sie weiß nicht, wo er plötzlich hergekommen ist. Sie stellt das Glas auf den Tisch, springt auf und fällt ihm um den Hals. »Ich habe echt geglaubt, du kommst nicht mehr. Wo hast du Alina gelassen?«

Die Überraschung steht ihm ins Gesicht geschrieben.

»Alina? Woher weißt du, dass sie in Bochum ist?«

»Ich habe euch gesehen. Arm in Arm. Vor der Sparkasse. Ich habe Geld abgeholt.« Sie hat Tränen in den Augen, wendet sich ab, um sie wegzuwischen. Denkt an die Wimperntusche und stoppt in der Bewegung.

»Schatz, sie wollte in meine Wohnung, um nach Karla zu sehen. Ich hatte das Schloss ausgetauscht, erinnerst du dich? Ist alles in Ordnung. Ich habe ihr von uns erzählt.«

Sie mustert ihn. »War es schwer? Ich meine, konnte sie es verstehen? Oder hat sie dir eine Szene gemacht?« Sie lässt die Frage unbeantwortet. Der Druck in ihrem Inneren ist zu groß. »So sah es nicht aus. Leider. Sondern harmonisch. Ich dachte, du hättest dich für sie entschieden. Oder dich gar nicht entschieden, wie ihr Männer so seid. Christian, wenn du es allen recht machen willst, wirst du alle verlieren.« Sie sieht an ihm hoch. Was redet sie da? Warum sagt er nichts? »Ich bin enttäuscht, verstehst du. Du hast mir gesagt, ihr hättet keinen Kontakt mehr. Dann sehe ich euch Arm in Arm in der Stadt. Was läuft da? Ich will eine ehrliche Antwort.« Das war lauter, als sie es beabsichtigt hatte. Sie spürt die Blicke anderer Gäste. Es ist ihr gleichgültig. Sollen sie gucken. Er nimmt ihre Hand.

»Alina hat die Beziehung vor einem Jahr beendet. Es blieb genügend Zeit, zurückzukehren, wenn sie es gewollt hätte. Nun ist es zu spät. Sie wird bei ihren Eltern übernachten und den nächsten Flug zu ihrer Freundin nach London nehmen. In jedem Fall ohne mich. Sie hat verstanden, dass ich kein Leben auf Abruf führen möchte. Ich habe mich für die Frau in dem kleinen Schwarzen entschieden.«

»Da bin ich gespannt.« Ihre Stimmung kippt. Sie könnte lachen, zieht an dem Kleid, das verrutscht ist, dreht sich und erntet seinen anerkennenden Blick. Beim Kellner bestellt er ein Helles und Lachs in Pfeffersoße. Sie schließt sich ihm erleichtert an, wenn auch ein Rest Zweifel bestehen bleibt. Alina wird ihn nicht kampflos aufgeben. Da verlässt sie sich auf ihren Instinkt.

Kapitel 4

Im Starbucks nervt ihn Janina mit seiner angeblich miesen Laune. Er hat Larissa und ihr einen Cappuccino spendiert, fühlt sich trotzdem wie das fünfte Rad am Wagen. Schon fallen sie über ihn her. Er brauche nicht so ein Gesicht zu ziehen, meint Janina, nur weil sie ihre beste Freundin in der Stadt getroffen habe. »Zufällig«, betont sie. »Oder?«

»Hab echt keinen Bock auf euren Stress«, erwidert Larissa. »Könnt ihr nicht einmal normal sein. Ich kann verschwinden, wenn ich störe.«

»Dann komm ich mit«, sagt Janina. Sie steht auf. »Soll er alleine Trübsal blasen.«

Frederik verteidigt sich: »Ihr habt ja keine Ahnung, was ich für einen anstrengenden Tag hinter mir habe: Stress mit dem Meister, mit meinen Eltern. Es läuft alles gegen mich.« Die Worte sind sinnlos, sie interessieren Janina nicht, das entnimmt er ihrem Ausdruck. Er interessiert sie nicht. Sie fragt, warum er sich nicht auf seinem Zimmer verkriecht, wenn die Welt so schlecht ist. Bei der Suche nach einer Leidensgefährtin wäre er bei ihr falsch, sie fürchte sich vor solch negativen Gedanken. »Hast du das noch nicht gecheckt?« Sie schüttelt sich.

Er rechtfertigt sich. Es gäbe gute und schlechte Tage. Während er es ausspricht, spürt er ihre Ablehnung. Warum hat er immer das Gefühl, sich verteidigen zu müssen? Das ist nicht normal.

»Ich habe dich nicht zu dem Treffen gezwungen«, sagt sie. »Warum hast du nicht angerufen, um abzusagen. Ach, eine Mail hätte gereicht. Es geht mir nicht gut, oder so. Das wäre okay. Lass uns das hier abbrechen, bevor es eskaliert. Wir treffen uns ein anderes Mal, wenn es dir besser geht. Am Wochenende, da können wir zusammen ins Kino gehen. Was hältst du davon?« Janina wendet sich an ihre Freundin: »Er ist mehr der Typ fürs Kino.« Sie lacht.

Larissa schüttelt den Kopf: »Ich liebe Filme, falls du es vergessen hast.«

Frederik versucht, Janina aufzuhalten: »Wenn Larissa dabei ist, fühle ich mich wie das fünfte Rad am Wagen.« Er bereut die Worte, bevor er sie ausgesprochen hat. Es beschleicht ihn das Gefühl, ein anderer hätte sie ihm eingeflüstert.

»Da hörst du es.« Janina sieht zu ihrer Freundin. »Glaubst du mir jetzt, dass er ein Egoist ist. Ich habe keine Lust, mir von ihm den Abend verderben zu lassen. Bevor er kam, hatten wir so einen Spaß.« Wie auf Verabredung stehen sie auf und gehen zur Tür.

Er folgt ihnen. »Ist okay, lasst uns den Cappuccino austrinken. Wenn nötig, entschuldige ich mich. Ich bin gerne mit euch zusammen.«

Die Freundinnen bleiben unschlüssig am Eingang stehen. »Du bist so ein Idiot«, sagt Janina. »Weißt du das?«

»Komm, sei nicht so ...«, versucht er es.

Marie Marler erscheint wie aus dem Nichts vor ihm.

»Hallo Frederik«, ruft sie. Ist sie ihm gefolgt? Gehört das zu ihren Aufgaben? Hat sie den Streit mitgekriegt und fürchtet einen Gewaltausbruch? Und warum duzt sie ihn plötzlich? Um sich nicht als Bewährungshelferin zu outen? Dabei erinnert er sich, dass sie ihn auch in der Sprechstunde zwischendurch duzte. Er beobachtet, wie sie sich einen Milchkaffee an der Theke bestellt. Zu seiner Überraschung setzen sich die Freundinnen zurück an den Tisch. Er folgt ihnen, trinkt einen Schluck Cappuccino. Janina sieht ihn an, als erwarte sie eine Erklärung.

»Tschüss. Bis nächsten Donnerstag«, vernimmt er die Stimme der Marler.

»Ja, bis dann«, erwidert er automatisch und sieht ihr nach, wie sie die Filiale verlässt.

»Jetzt verstehe ich«, holt ihn Janina an den Tisch zurück. »Du traust dich vor Larissa nicht, mir zu sagen, dass du eine Neue hast.«

»Unsinn. Das war eine flüchtige Bekannte … mehr nicht.« Soll er sagen, dass es sich um seine Bewährungshelferin handelte? Sie werden ihn auslachen. Er traut sich nicht.

»Eine flüchtige Bekannte?«, setzt Janina nach. »Sie sprach von einer Verabredung. Es schien ihr wichtig zu sein.«

»Was soll ich sagen?« Ihm fällt nichts ein. Er könnte sie als eine Mitarbeiterin der Buchhaltung ausgeben, doch die würde er morgen auf der Arbeit sehen, nicht erst in einer Woche. Es sei denn, sie hätte Urlaub. Es ist zu spät, Janina damit zu kommen. Sie glaubt ihm nicht. Überhaupt hat sie dieses Lachen in den Augen. Kann es sein, dass sie kein bisschen eifersüchtig wäre, wenn er eine Neue hätte? Oder ist sie so überzeugt von sich, dass sie es ausschließt.

»Hallo! Erde an Raumschiff. Kannst du mir sagen, was da gespielt wird? Damit das klar ist, ich halte dich nicht auf. Lauf ihr nach. Sie sah gut aus, interessant, ich bin beeindruckt. Was meinst du, Larissa? Gefiel sie dir?«

Die Betonung klingt nicht gleichgültig. Frederik meint zumindest, verletzten Stolz herauszuhören.

Ihre Freundin nickt zustimmend. »Sie schien ein bisschen älter.«

»Meinst du? Ja, aber höchstens ein paar Jahre«, schmunzelt Janina. »Da kann er was lernen.«

Larissa schüttelt den Kopf. Er überwindet sich. »Es war meine Bewährungshelferin, wenn ihr es genau wissen wollt.«

Janina wendet sich lachend an ihre Freundin. »Warum sagt er das nicht gleich?«

Frederik ärgert sich. Konnte er sie nicht in dem Glauben lassen, dass er bei anderen Frauen Chancen hat?

»Die hat den Stress mitgekriegt«, sagt Larissa. »Sie wollte verhindern, dass er ausrastet wie auf deiner Feier im Mai.«

»Ist ja super.« Janina schüttelt den Kopf. »Jetzt beobachtet ihn schon die Polizei.«

»Es war die Bewährungshilfe«, korrigiert er sie.

»Sag ich ja.« Janina stößt ihre Freundin an. »Mir reicht`s für heute. Ist echt zu viel. Komm, wir gehen.« Frederik sieht ein, dass der Abend nicht mehr zu retten ist. »Ich kann euch fahren«, versucht er eine Versöhnung, um nicht im Streit auseinanderzugehen. »Nein, auf keinen Fall«, sagt Janina. »Wir laufen die paar Schritte zur U-Bahn. Lass uns morgen telefonieren.« Sie verschwindet mit Larissa aus der Tür.

Frederik bleibt alleine am Tisch. Was für ein blöder Tag. Manchmal wäre es besser, im Bett zu bleiben. Er trinkt den Cappuccino aus und verlässt das Café. Er wird Janina morgen nach der Arbeit anrufen. Wenn es schon so weit wäre. Den heutigen Tag wird er aus seinem Gedächtnis streichen, das steht fest.

Kapitel 5

Marie hat den Eindruck, die Klienten wollten ihr in der Sprechstunde keine Pause gönnen. Sie geben sich vom Morgen bis zum späten Nachmittag die Klinke in die Hand. Warum musste sich Kollege Fröbel an so einem Tag wegen seiner Migräne krankmelden? Sie darf nicht ungerecht sein. Er ist immer bereit, sie zu vertreten, erst am vergangenen Donnerstag. Doch für heute reicht es ihr. Es funktioniert nicht, mit allen Klienten einen Weg aus der Beziehungskrise zu finden, aus der Sucht, der Depression, aus der Arbeitslosigkeit, den Schulden, aus neuen Ermittlungen. Sie kann nicht mehr zuhören, ohne sich die verrücktesten Dinge vorzustellen. Wie sie gemeinsam ein Liedchen anstimmen, durch das Büro tanzen oder Turnübungen machen. Das Landgericht hat ein neues Fitnessprogramm auf ihrem PC installiert, das in zeitlichen Intervallen aufpoppt und zum Mitmachen auffordert. Sie könnte es gemeinsam mit den Klienten ausprobieren, das würde die Gespräche auflockern.

Kurz vor neunzehn Uhr holt sie den letzten Besucher aus dem Wartezimmer. Mit ihm hat sie während der Bewährungszeit gerne gesprochen. Ja, es gibt Klienten, denen sie sich näher fühlt als manchem Verwandten. Er zeigt ihr seinen unbefristeten Arbeitsvertrag als Berufskraftfahrer, bedankt sich für ihre Unterstützung. Sie hatte beim Jobcenter für die Finanzierung der Umschulung gekämpft. Sie bespricht den Schlussbericht an das Gericht und ermutigt ihn, über Erfahrungen bei der Maßnahme zu sprechen. Bei seinen Schilderungen streift ihr Blick den Computer Bildschirm. Frederik ist vorgemerkt. Wieso kommt er nicht? Sie erinnert sich an den Auftritt beim Starbucks in der vergangenen Woche. Hatte er den Eindruck, sie wäre ihm gefolgt und ist beleidigt? Unsinn, so wichtig ist sie nicht. Überhaupt ist es seine Entscheidung, ob er die Termine einhält oder nicht. Er trägt die Verantwortung für sein Handeln wie jeder andere. Der Kraftfahrer sieht sie fragend an. Sie hat ihm nicht zugehört, weil Frederik in ihrem Kopf herumspukt. Mag ja sein, dass er Überstunden leistet. Soll sie ihn anrufen, um nachzufragen? Sie konzentriert sich auf ihren Besucher. »Entschuldigen Sie. Würden Sie bitte die Frage wiederholen?«

»Mich interessiert, ob die Bewährung mit der Frist in einem Monat endet oder das Gericht eine Mitteilung schickt.«

»Sie bekommen einen richterlichen Beschluss, nachdem ich den Straferlass angeregt habe und die Staatsanwaltschaft dem Gericht eröffnet hat, dass keine neuen Verfahren anhängig sind. Das kann vier bis sechs Wochen dauern.«

Das Telefon läutet. Nina von der Geschäftsstelle kündigt Frederik an. Er habe keine Zeit, müsse gleich weiter, weil er mit einem Freund zum Krafttraining verabredet sei.

»Er hat sich die Zeit zu nehmen, sonst kann er die Strafe im Knast verbüßen. Da wird er sich wundern, wie viel Zeit ihm bleibt«, regt sie sich auf.

»Wow! Sag es ihm, nicht mir.« Die Verbindung ist unterbrochen. Nina hat aufgelegt. Was ist das für ein beschissener Tag? Marie überlegt, zum Geschäftszimmer zu laufen. Sie bremst sich. Warum reagiert sie so gereizt? Sie wird sich später bei Nina entschuldigen.

Erstmal begleitet sie den Berufskraftfahrer zur Außentür und wünscht ihm für die Zukunft alles Gute. »Wenn sich Schwierigkeiten ergeben oder Sie Gesprächsbedarf haben, scheuen Sie sich nicht, vorbeizukommen. Ich freue mich, zu hören, wie es mit Ihnen weitergeht«, sagt sie.

Auf dem Rückweg begrüßt sie Frederik im Wartezimmer. Es ist etwas passiert, das spürt sie. Sie hat dafür eine Antenne, zumindest bildet sie es sich ein. Seine Haltung ist anders als in der vergangenen Woche, gedrückter, die Stimme leiser. Die Mimik ähnelt einem Pokerspieler, der sein Blatt nicht verraten will. Kaum sind sie in ihrem Büro angekommen, sieht er demonstrativ auf sein Smartphone.

»Hat man Ihnen gesagt, dass ich im Fitness-Studio verabredet bin? Nächste Woche nehme ich mir mehr Zeit. Versprochen.« Er wendet sich zur Tür.

Nein, so kommt er ihr nicht davon. »Hat sich der Streit gelegt?«, fragt sie mit lauter Stimme, um ihn aufzuhalten.

»Der bei Starbucks ist nicht mehr aktuell.«

»Sondern? Welcher Streit ist aktuell?«

Er zieht die Stirn in Falten. »In der letzten Woche ging es um ihre Freundin. Zum Abi haben sie einen gemeinsamen Urlaub auf Mallorca gebucht. Dafür arbeitet Larissa in einer Drogerie. Ihre Mutter ist alleinerziehend, hat nicht so viel Geld. Larissa will uns auseinanderbringen. Vielleicht hat sie es schon geschafft.«

»Hallo! Weil sie mit ihrer besten Freundin einen Urlaub auf Mallorca gebucht hat? Was ist dabei? Wenn euch das auseinanderbringt, kann eure Beziehung nicht viel Wert sein.« Marie sieht, wie er schluckt. Sie sollte mit ihren Äußerungen vorsichtiger sein.

»Sie verstehen das nicht. Überhaupt … was haben Sie gegen Janina? Ich hatte schon beim letzten Gespräch den Eindruck, dass Sie meine Freundin nicht mögen«, ereifert er sich.

»Nein. Ich kenne sie nicht mal. Frage mich nur, ob sie die Richtige für dich ist, wenn ihr euch ständig streitet.« Marie nimmt sich vor, nicht gegen die Beziehung zu schießen. Es ist ein Gefühl, dass Janina nicht gut für ihn ist. Sie vermag, es nicht zu erklären.

Frederik setzt sich auf den Lederstuhl vor dem Schreibtisch. »Ich gebe zu, sie ist wechselhaft, launisch … mal total verliebt, mal abweisend. Besonders, wenn ihre Freundin dabei ist. Ich glaube, sie kann sich nicht entscheiden zwischen Larissa und mir.« Er errötet.

»Muss sie sich entscheiden? Erzähl schon. Was ist passiert? Ich erfahre es früher oder später sowieso.« Das Telefon läutet. Nina kündigt einen Klienten an, der sich turnusmäßig melden wolle auf dem Weg zur Nachtschicht. Er könne nicht warten. Marie lässt sich den Namen geben und sieht in der elektronischen Akte nach. »Er kann sofort weiterfahren. Notiere ihm einen neuen Termin in vier Wochen.«

»Für dich immer«, dringt Ninas Stimme aus dem Hörer. »Ist Frederik noch bei dir?«

»Ja, sicher.« Als wenn sie es nicht wüsste. »Stell bitte keine Gespräche durch. Schreibe die Nummern auf und sage ihnen, ich rufe später zurück.« Sie wendet sich an Frederik. »Entschuldige. Nochmal die Frage, was ist passiert?« Sie hat ihn zum zweiten Mal geduzt. Es ist ihr herausgerutscht. Ob er es bemerkt hat? Sie versucht, die Antwort in seinem Gesicht zu lesen. Sein Ausdruck verdüstert sich.

»Sie haben davon gehört. Von wem? Von der Polizei?«

Marie nickt zustimmend, obwohl sie keine Ahnung hat. Sie rechnet mit dem Schlimmsten, versucht, ihren Schrecken zu verbergen.

»Vor zwei Tagen wollte Janina Schluss machen. Dabei hatte sie mir erst am Wochenende ihre Liebe gestanden. Darauf gedrängt, im Ruhrpark Ringe zu kaufen.«

Er streckt ihr die linke Hand entgegen. Sie betrachtet den schlichten Silberring an seinem Mittelfinger. »Gefällt mir. Haben Sie die Ringe ausgesucht?«

»Nein, Janina. Können wir uns nicht duzen? Es fällt mir leichter. Dieses Hin und Her verunsichert mich.«

»Hin und Her?«, wiederholt Marie, um Zeit zu gewinnen.

»Ja, vorhin hast du mich geduzt, dann wieder gesiezt.« Er errötet.

Marie nimmt einen Kugelschreiber in die Hand, spielt damit zwischen ihren Fingern. Eine Verlegenheitsgeste. Letzte Woche übertrug er die Rolle seines Vaters auf sie. Jetzt ist sie die Schwester oder eine Freundin. Ihr fallen tausend Gründe ein, nein zu sagen. Die notwendige Distanz, die Berichte an das Gericht, die geforderte Objektivität. Andererseits wird eine vertrauensvolle Zusammenarbeit erwartet. Die alte Kommunikationsregel, die Beziehung bestimmt den Inhalt. Außerdem hat sie ihn wirklich geduzt. Bevor sie es sich anders überlegt, sagt sie: »Okay, Marie.« Sie reicht ihm die Hand.

Er greift unbeholfen danach. »Frederik. Meinen Namen kennst du ja.« Er errötet leicht. »Ich hätte die Ringe nicht kaufen sollen.«

»Warum?« Marie versucht, einfühlsam zu klingen.

»Weil sie gestern wieder total abweisend war am Telefon. Ich bin hingefahren, um ihr zu sagen, dass ich ihre Launen endgültig leid sei. Sie ist nicht die einzige Frau auf der Welt.«

Wohl wahr. Trotzdem nicht überzeugend, denkt Marie. Er misstraut seinen eigenen Worten. »Hast du es ihr gesagt?« Er starrt aus dem Fenster. »Wie denn, wenn sie nicht öffnet? Am Handy? Nein. Ich bin nicht der Telefontyp. Ich brauche den direkten Kontakt. In ihrem Schlafzimmer flackerte Licht, Kerzenlicht. Sie war da … und nicht alleine. Ich habe Sturm geschellt, bis sie sich über die Sprechanlage meldete. Sie wollte mich abwimmeln. Sie sei müde und so ... wir könnten uns morgen treffen.«

Marie animiert ihn durch Blickkontakt zum Weiterreden.

»Ich bin über den Balkon geklettert.« In seinen Augen glitzert es feucht.

Marie spürt eine Gänsehaut am ganzen Körper. »Was ist passiert?«

»Sie lag mit Larissa im Bett ... eng aneinandergekuschelt. Beide nackt.« Er stockt, sieht sie an.

Marie benötigt ein paar Sekunden. »Frederik. Sie gehört dir nicht. Es ist ihre Entscheidung, mit wem sie ins Bett geht. Hast du vorhin nicht gesagt, dass sie sich nicht sicher ist? Sie ist voller Leben, möchte sich ausprobieren. Es hat nichts zu bedeuten.« Sie stellt sich Christian mit einem Freund vor. Verdrängt den Gedanken und konzentriert sich auf Frederik. Auf seiner Stirn tritt die Vene hervor, die ihr schon beim ersten Gespräch aufgefallen ist.

»Wie wäre es bei deinem Freund?«, fragt er, als hätte er ihre Gedanken erraten. »Oder bist du mit einer Freundin zusammen?«

»Kurz, ich habe einen Freund. Aber bleiben wir bei Janina. Was hast du gemacht, nachdem du sie im Bett entdeckt hattest?«

»Hm, ich komme auf Vater heraus … fürchtet zumindest meine Mutter.«

Marie greift das Stichwort auf. »Was ist mit Ihrem Vater? Entschuldige, mit deinem Vater? Muss mich erst daran gewöhnen.« Sie ärgert sich über ihre Unkonzentriertheit. Der Sprechstundentag verlangt ihr alles ab.

»Du kannst beim Sie bleiben, wenn es Probleme bereitet. Ist auch okay, wenn es hin und her geht.«

»Nein. Wir belassen es beim Du.« Sie streicht mit den Fingern durch ihre Haare. Er schafft es, sie zu verunsichern. »Wir waren bei deinem Vater.«

»Er säuft, wenn er mit Mutter Krach hat. Immer, verstehst du?«

»Und du machst es ihm nach?« Sie versucht, ihrer Stimme Nachdruck zu verleihen.

»Ich wollte es nicht … es passierte.«

»Wie oft?« Sie lehnt sich im Stuhl zurück.

»Nur das eine Mal. Ich muss es in den Griff kriegen.«

Marie spricht eine Beratungsstelle für Suchtgefahren an, fühlt sich damit wieder in der Rolle der Bewährungshelferin angekommen.

Frederik lehnt entschieden ab. Er beteuert, zukünftig bei Kaffee und Wasser zu bleiben. »Entweder hat man den Willen, auf Alkohol zu verzichten oder nicht.«

Das hatte er schon beim ersten Gespräch gesagt, zumindest so ähnlich. »Schlägt Vater deine Mutter, wenn er getrunken hat?«, fragt sie, um an die Familiengeschichte anzuknüpfen. In seinen Augen liest sie die Antwort, bevor er sie ausspricht. Sie hat keine Geduld zu warten. »Hast du Janina geschlagen?«

»Nein! Ich würde niemals eine Frau anrühren«, empört er sich. »Das habe ich Mutter geschworen.« Er hebt die rechte Hand zum Schwur. »Echt nicht.«

»Sondern? Was hast du gemacht?«

Seine Haltung verändert sich. Sein Blick weicht ihr aus. »Ich bin über die Autobahn gerast.«

»Gab es einen Unfall?« Sie rückt näher an ihn heran.

»Ja.« Er sieht aus dem Fenster.

»Verletzte? Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen«, hakt sie erschrocken nach. Es ist wie in der vergangenen Woche. Sie sieht zum Chaosbild und sofort wieder zu ihm zurück.

»Nein.« Er dreht sich zu ihr.

Sie atmet auf. »Was ist mit dem Mini?«

»Totalschaden«, sagt er leise.

In seinen dunklen, klaren Augen liegt eine Trauer, die sie berührt. »Und der andere Wagen?«, fragt sie ebenso leise.

Es dauert, bis er antwortet. »Gab es nicht. Ich bin gegen die Leitplanke geknallt … Aquaplaning.«

»Hauptsache, es wurde niemand verletzt. Was ist mit deinem Führerschein?« Verdammt, er war ihm so wichtig.

»Sie haben ihn an Ort und Stelle einkassiert. Es gibt eine Anzeige … Trunkenheit am Steuer.«

»Und jetzt?«, fragt Marie.

»Ich fahre mit dem Fahrrad. Wie früher. Weitere Strecken zur Werkstatt und so mit Bus und Bahn. Ich habe ein Monatsticket gekauft. Ist meine Bewährung gefährdet?«

Die Trauer in seinen Augen weicht einem Angstgefühl.

»Zumindest darf nichts mehr passieren«, sagt sie und spricht ihn erneut auf die Suchtberatung an. »Das ist wichtig, schon für regelmäßige Screenings. Das Straßenverkehrsamt wird eine Eignungsprüfung beim TÜV verlangen, bevor du den Führerschein zurückbekommst. Dort hast du über einen längeren Zeitraum deine Abstinenz nachzuweisen.«

»Hat meine Mutter auch gesagt. Vater darf es nicht wissen. Er hat sich genug über den Unfall aufgeregt. Sie hat mich verteidigt. Er rastete wieder aus, werde sich nie mehr an einem Auto beteiligen. Dabei hatten meine Großeltern den Mini von ihrem Ersparten gekauft.«

Da ist wieder dieses ungute Gefühl. »Hat deine Mutter nie überlegt, sich zu trennen?«

»Doch, oft sogar. Aber sie ließ sich überreden, wenn er ihr schwor, es käme nie mehr vor. Bis zum nächsten Mal. Ich bin dazwischen gegangen ... sinnlos. Er hat auf uns beide eingeschlagen.«

»Besser, du ziehst in eine Wohngemeinschaft.«

»Mir wäre eine eigene Wohnung lieber. Ein kleines Apartment würde reichen. Janina schafft es auch.«

»Wie denn?«, fragt Marie. »Ich meine, finanziell.«

»Ihre Eltern haben ihr die Wohnung zum Abitur eingerichtet. Sie erhält achthundert Euro im Monat bis zum Ende des Studiums.«

»Da siehst du es: Vergleichen hilft nicht. Deinen Vater schätze ich nicht so ein, dass er dir so viel Geld geben würde, oder?«

»Nein … niemals.«

Marie überschlägt seine Einnahmen. »Du könntest einen Antrag auf Ausbildungsbeihilfe stellen. Deine Eltern müssten ihr Einkommen offenlegen.«

»Unmöglich«, sagt er erschrocken. »Vater dreht durch, wenn ich ihm damit komme. Er meint, Lehrjahre seien keine Herrenjahre. Das eigene Zimmer sei mehr, als er bei seiner Ausbildung hatte.«

Sie spürt, wie er die Gedanken an einen Auszug verdrängt. Es ist genug für den Tag, sie bohrt nicht nach. In ihrem Kopf kreist die Frage, ob sie bei dem Du nicht zu schnell nachgegeben hat. Die Melodie von Unfaithful erklingt.

»Janina«, ruft er aufgeregt. »Ihr Klingelton.«

Marie deutet ihm an, das Gespräch anzunehmen. Es interessiert sie, wie er sich seiner Freundin gegenüber am Telefon verhält. Er errötet, dreht sich zur Seite. Im Laufe des Telefonats wird seine Stimme fester.

Kaum hat er aufgelegt, strahlt er Marie an. »Sie hat mich zum Essen eingeladen … zur Versöhnung, hat schon alles vorbereitet. Sind wir fertig? Wenn ich mich beeile, erwische ich den Bus.«

»Wolltest du nicht mit deinem Freund zum Sport?«

»Das hat sich erledigt. Ich schicke ihm eine Nachricht.« Er springt auf, ist schon an der Tür.

»Okay. Wir sehen uns nächste Woche. Ich möchte gerne deine Eltern kennenlernen.«

»Muss das sein?« Er hat die Klinke in der Hand, stoppt in der Bewegung und dreht sich zu ihr um.

»Ja, das muss sein«, erwidert sie trocken.

»Sie sind erst nach achtzehn Uhr von der Arbeit zurück.«

»Geht in Ordnung. Vereinbare einen Termin in zwei Wochen. Du kannst ihn mir in der nächsten Sprechstunde mitteilen.«

Er kommt zurück an ihren Schreibtisch, um ihr die Hand zu geben. »Okay, bis dann, Marie.«

Schon ist er aus der Tür. Sie hat ihn nicht an das Antigewalttraining erinnert. Ob er sich angemeldet hatte? Bestimmt nicht. Mit Schrecken denkt sie an den Unfall, den verlorenen Führerschein. Es passiert alles zu schnell. Gut, dass es keinen Personenschaden gab, sonst hätte er eine neue Anzeige wegen Körperverletzung erhalten. Sie hat den Eindruck, ihn anrufen zu müssen, um ihn zu warnen. Wovor? Irgendetwas ist da, was sie beunruhigt. Zumindest nimmt er die Termine bei ihr wahr, er war heute sogar gesprächiger als beim ersten Kontakt, oder? Bis zur nächsten Woche wird sie einen Plan entwickeln, wie sie mit ihm weiterkommt. Ein Blick auf die Uhr sagt ihr, dass längst Feierabend ist.

Kapitel 6

Am Sonntag ist keine Wolke am Himmel zu sehen. Ideales Wetter für ein Sonnenbad an der Ruhr. Janina packt ihre Sachen und ruft ihre beste Freundin an. Pech, deren Oma hat Geburtstag. An so einem Tag! Kann die Oma nicht feiern, wenn es regnet? Janina behält den Gedanken für sich und beendet das Telefonat. Vielleicht zu schnell. Larissa hätte sich noch anders entscheiden können.

Sie wählt die Nummer von Frederik. Bei ihm ist wieder alles kompliziert. Er will sie mit dem Rad abholen, um mit ihr gemeinsam durch den Schlosspark zur Ruhr zu fahren. Das hat sie einmal gemacht. Nie wieder. Ein Wunder, dass sie ankamen. Er fuhr endlose Umwege, um ihr alles Mögliche zu zeigen, nervte sie mit Kinofilmen und Computerspielen, die sie nicht die Bohne interessierten. Er kam nah an sie heran, nahm ihre Hand, dass sie ständig mit einem Sturz rechnete. Ihr eigentliches Interesse, in der Sonne zu liegen, zu faulenzen, zu lesen, waren ihm gleichgültig. Als sie endlich ankamen, hatte sie zu nichts mehr Lust und wäre am liebsten zurückgefahren.

Er scheint zu spüren, dass sie auflegen will. Sagt plötzlich zu, sich in den Ruhrwiesen mit ihr zu treffen. Um fünfzehn Uhr. Sie ist kaum an der Haustür, da ruft Larissa zurück. Sie will sich bei passender Gelegenheit von der Geburtstagsfeier losreißen und zur Ruhr nachkommen. Sie wolle nicht den ganzen Tag bei ihrer Oma verbringen, die immer so viel auftische, als gäbe es kein Morgen. Und bei der Langeweile könne sie sich nicht zurückhalten. Nachher sei ihr so schlecht, dass sie kotzen müsse. Janina jubelt innerlich, bis sie an Frederik denkt. Zu dritt gibt es Stress, keine Frage. Besonders nach dem Erlebnis in ihrem Schlafzimmer. Soll sie ihm unter einem Vorwand absagen oder Larissa einweihen, dass er kommt? »Ich freu mich auf dich«, sagt sie ins Handy. »Bis später, Süße.« Was zerbricht sie sich den Kopf? Nachher ist doch alles anders.

Sie macht sich auf den Weg zur U-Bahn-Station am Schauspielhaus. Unterwegs denkt sie an den bevorstehenden Urlaub. Ist schon eine tolle Idee von Larissa, die gemeinsame Woche auf Mallorca. Wenn Frederik sie liebt, wie er immer behauptet, würde er ihr die Zeit mit der besten Freundin gönnen. Warum schickt sie ihn nicht ins Nirwana? Wie oft hat sie es sich vorgenommen. Sie lacht in sich hinein. Die Stimme fasziniert sie. Die Künstlerhände reizten sie im Schulunterricht, sie musste immer hinsehen. Seine schüchterne Art bringt sie zum Lachen, selbst beim Sex. Sie braucht nur daran zu denken, was er bei der Abifeier für Augen machte, als sie sich vor ihm auszog. Sie war von den vielen Longdrinks beschwipst und wollte ihn spüren. Seine Hände spüren, ihn in sich spüren. Was war dabei? Sie hatte lange genug gewartet, dass er sie berührt. Sie hätte niemals gedacht, dass er keine Erfahrungen hat. Auch nicht, dass er deswegen durchdreht. Soll sie Frederik den Roman zeigen, den Larissa ihr geschenkt hat? Carol von Patricia Highsmith. Mit den Worten: In Liebe, Deine Larissa. Da kann er sich wieder aufregen. Er ist genauso eifersüchtig wie ihr Dad vor der Trennung. Ist sie deswegen mit ihm zusammen? Sie hat gelesen, dass die Partnerwahl von den Eltern abhänge. Sie kann sich ausrechnen, wohin das führt: zu ständigen Kontrollen, schließlich zur Trennung. Ihre Eltern trennten sich im eigenen Haus. Keiner wollte ausziehen. Dad blieb mit ihr auf der ersten Etage, Mam mit dem kleinen Bruder auf Parterre. Sie sieht die geschwungene Holztreppe vor sich, die sie voneinander trennte. Direkt nach ihrem Auszug baute Dad ihr Zimmer zu seinem Arbeitszimmer um. Es fühlte sich an wie ein Stich ins Herz.

Sie erreicht die Haltestelle am Schauspielhaus. Die U-Bahn kommt in drei Minuten. Sie steigt die Treppenstufen hinunter und nimmt beim Eintreffen die hintere Tür. Eine Frau begrüßt sie freundlich. Sie grüßt zurück, während sie überlegt, woher sie sich kennen. Na klar, die neue Nachbarin, die ihr beim Einzug die Blumen schenkte.

»Wo soll es bei dem schönen Wetter hingehen?«

»An die Ruhr, die Sonne genießen«, erwidert Janina, lächelt und geht weiter zu einem freien Sitzplatz am Fenster.

Frederik wollte bei ihr einziehen. Den Zahn hat sie ihm gezogen. Sie hasst Abhängigkeiten. Dabei macht es für sie keinen Unterschied, wer von wem. Sie möchte frei und niemandem gegenüber verpflichtet sein. Dazu gehört eine eigene Wohnung. Frederik hätte in ihrer Nachbarschaft ein Apartment anmieten können, nicht mal teuer. Sein Vater war dagegen und der folgsame Sohn gehorchte. Ihr wollte er weismachen, dass sein Einkommen nicht ausreicht. Welch ein Unsinn! Er hätte nur einen Entschluss fassen müssen. Aber die Wahrheit ist, dass er es nicht schafft, sich von seinen Eltern zu lösen, obwohl sein Vater ein autoritäres Ekel ist, der ihn in der Kindheit geschlagen hat, um ihn zu unterdrücken. Wenn sie es sich überlegt, hat sie auf die gesamte Familie keine Lust. Wie soll sie mit so einem Ekel von Vater am Geburtstagstisch oder sonst wo sitzen? Sie hasst Typen, die schon mit ihrer Anwesenheit alle Freiheit im Keim ersticken. Jetzt hat Frederik den Führerschein verloren, weil er über die Autobahn geheizt ist wie ein Irrer. Dazu in betrunkenem Zustand und kurz vor ihrer geplanten Tour nach Amsterdam. Sie wollte ihm die Orte zeigen, wo sie bei den gemeinsamen Reisen mit ihrer Mam glücklich war. So kann es nichts mit ihnen werden. Sie ist froh, dem Stress mit ihren Eltern entflohen zu sein, und lässt sich auf einen Freund ein, der bis zum Hals in Konflikten steckt. Sie lacht in sich hinein. Wenn er noch einmal ausrastet wie auf ihrer Feier, kann sie ihn im Knast besuchen. Da wird die Bewährungshelferin nichts dran ändern können, von der er so schwärmt. Nein, besser sucht er sich eine Frau, die zu ihm passt, mit Liebe zum Sport, zu Computerspielen und schlagenden Verbindungen.

Kapitel 7

Nach einem schnellen Frühstück nimmt er sein Rad und fährt zu ihr. Das Wissen, dass sie sich hinter den Fenstern aufhält, verschafft ihm ein Gefühl von Lebendigkeit. Sonst fühlt er sich wie tot, zehn Meter unter der Erde. Erst seitdem er sie kennt, hat er eine Ahnung davon, was Leben ist. Was es bedeutet, zu lachen, zu weinen, ohne sich darum zu scheren, was andere denken. Er will wissen, wo sie sich aufhält, und sucht ständig nach ihren neuen Fotos auf Instagram.

Sie kommt aus dem Haus in einem leichten Sommerkleid und ihrem bunten Rucksack. Er folgt ihr in gehörigem Abstand, um nicht entdeckt zu werden. Sie läuft zum Schauspielhaus, wird die U-Bahn nehmen in Richtung Ruhrwiesen, um bei dem Wetter die Sonne zu genießen. Erst Mittwoch hat sie sich dort mit ihrer Freundin getroffen, mit der sie sich ständig abknutscht. Mit ihr schießt sie auch die Bilder für Instagram.

Sie nimmt die Treppen zur U-Bahn, wie er vermutet hat. Er wendet, rast zur nächsten Station am Bergmannsheil. Dort wartet er mit klopfendem Herzen und steigt im hinteren Bereich zu. Ein paar Reihen vor ihm entdeckt er sie. Sie sitzt mit dem Rücken zu ihm. Was ist, wenn sie sich umdreht? Wird sie sich abwenden wie bei der letzten Begegnung? Er darf sich nicht auf sie konzentrieren. Es gibt eine telepathische Verbindung zwischen ihnen, die sie leugnet. Verflucht! Was hat er ihr für einen Grund geliefert? Er sieht zu ihr herüber. Soll sie ihn doch entdecken. Schon dreht sie den Kopf zu ihm. Wenn er sie jetzt fragt, warum sie sich umgedreht hat, wird sie behaupten, es wäre reiner Zufall gewesen, oder gar nicht antworten.

»Hallo«, ruft er rüber. Sofort ist die Verachtung in ihrem Blick. Nicht ein Kopfnicken ist er ihr mehr wert. Er versteht es nicht. Es hält ihn nicht auf seinem Platz. Er befestigt sein Rad an einer Stange, um zu ihr zu gehen, sie zu fragen, ob sie Lust auf ein Eis hat.

Sie blickt aus dem Fenster, ohne ihn zu beachten, drückt damit ihre Verachtung aus. Er sollte weggehen, doch erwartet zumindest eine Antwort. »Hast du Lust auf ein Eis?«, fragt er lauter. Es ist nichts dabei, sie in eine Eisdiele einzuladen. Er erinnert sich zu gut, wie schnell sie ein Fruchteis verschlingen konnte.

Ihr Kopf wendet sich ihm zu, ihre dunklen Augen fixieren ihn. Mit eiskalter Stimme sagt sie: »Nicht - mit - dir. Verstanden? Lass mich in Ruhe!«

Er ist unfähig, etwas zu erwidern. Andere Fahrgäste beobachten ihn. Eine Frau um die dreißig auf einem hinteren Platz funkelt ihn böse an. Er geht zu seinem Fahrrad zurück, verharrt dort mit gesenktem Kopf bis zur Haltestelle am evangelischen Krankenhaus in Linden. Bevor er die Bahn verlässt, sieht er zu ihr. Keine Regung. Kaum ist er draußen, spürt er den Trennungsschmerz. Mit dem Rad sind es nur wenige Minuten bis zur Ruhr. Er kennt ihren bevorzugten Liegeplatz.

Kapitel 8

Zwanzig nach drei. Von Frederik keine Spur, dabei weiß er genau, wie sie es hasst, wenn er zu spät kommt. Außerdem hätte er sie von der Endstelle in Dahlhausen abholen können. Warum denkt er nicht daran? Was ist mit ihm nicht in Ordnung? Janina kann sich nicht erinnern, jemals so lange auf jemanden gewartet zu haben, dabei kennt er ihre Einstellung. Den Nachmittag kann sie vergessen. Sie sollte ihre Sachen packen und gehen. Erst der Geburtstag, dann der Schwachkopf in der Bahn, schließlich Frederiks Unpünktlichkeit. Ist absolut nicht ihr Tag. Larissa hätte an der Haltestelle gewartet. Ganz sicher. Es war schön mit ihr im Bett. Sie konnten sich ihre empfindlichsten Stellen ohne Hemmungen zeigen, etwas falsch zu machen, über alles reden, alles ausprobieren. Sie denkt an den transparenten Vibrator, den Larissa plötzlich aus ihrer Tasche kramte. Wenn Frederik es nicht verpatzt hätte mit seiner Eifersucht. Erst klingelt er wie ein Irrer, dann klettert er durch das offene Fenster. Das muss sich ein normaler Mensch mal vorstellen. Sie hätte konsequent bleiben sollen. Stattdessen lädt sie ihn zum Versöhnungsessen ein. Sie könnte Larissa anrufen, ihr einen anderen Treffpunkt vorschlagen und ihm eine Nachricht über WhatsApp schicken: Wünsch dir Glück für die Zukunft, oder so ähnlich, dann seine Nummer blockieren. Sie hat keinen Bock mehr auf solche Typen.

Sie tritt mit ihrem Smartphone aus dem Gebüsch heraus und erblickt ihn auf dem Radweg. Er sucht die Wiese nach ihr ab. Sie könnte lachen, wie er quer auf dem Weg steht und die Leute behindert. Er kann froh sein, dass er so ein gutaussehender Kerl ist, da nimmt es ihm keiner übel. Sie winkt ihm zu und hasst sich im selben Moment für ihre Wechselhaftigkeit. Kaum hat sie einen Entschluss gefasst, macht sie das Gegenteil. Dabei nimmt sie sich immer vor, genau das zu sagen und zu tun, was sie will. Wenn sie es nur wüsste. Er wirft sein Rad ins Gebüsch und kommt durch den niedergetretenen Weg zu ihr. Begrüßt sie mit einem Kuss und legt sich zu ihr auf die Decke. Dabei schleppt er die halbe Wiese an. Soll sie sich aufregen? Nein, Unsinn! Sie pfeift darauf, klagt über Rückenschmerzen und legt sich auf den Bauch. »Zwanzig Minuten Massage für deine Verspätung.« Sie möchte das wohlige Gefühl genießen.

»Du liegst so versteckt. Ich habe überall nach dir gesucht.«

Zumindest hat er eine Ausrede für seine Verspätung, wenn auch wenig glaubwürdig. Sie hatte ihm die Stelle genau beschrieben. Sie schiebt ihren Rücken näher an ihn heran. Er öffnet die Träger ihres BHs. Na, er ist ja lernfähig. »Du kannst ruhig fester zupacken. Ich bin nicht aus Watte.« Warum geht er so zaghaft mit ihr um? Sie hasst das. Er hat Kraft, trainiert ständig. Er steht auf. War das alles? Hat sie zu viel gesagt? Ist er beleidigt? Sie dreht sich zu ihm, bereit, ihn anzumachen. Ihm zu sagen, was sie an ihm nervt. Damit zu schließen, dass sie Larissa liebt und er verschwinden soll.

Er läuft zu seinem Fahrrad, um es abzuschließen. Sie schüttelt den Kopf. Das kann nicht wahr sein. Er ist so ein Idiot, dass sie wieder lachen könnte. Er kommt zurück zur Decke, beugt sich zu ihr, küsst sie. Sie lässt sich zurückfallen, zieht ihn mit. Er fällt auf sie, entschuldigt sich, fragt, ob er ihr weh getan habe. Statt einer Antwort nimmt sie seine Hand und führt sie an ihre Brust. Spürt dabei, dass er nicht bei der Sache ist. »Was ist jetzt wieder? Rühr mich bloß nicht an, wenn du keinen Bock hast. Erst kommst du zu spät, dann machst du so einen Affentanz. Du kannst einem alles verderben. Was willst du überhaupt von mir?«

»Sei still! Da war etwas. Es kam aus dem Gebüsch.«

Eine Ausrede oder werden sie beobachtet? Sie streift ihren BH über. Ein Rabe fliegt davon. Hoffentlich entschuldigt er sich nicht. Nein, er streicht noch zaghafter als vorhin über ihren Rücken. Klar, er ist verunsichert, fühlt sich wieder als Versager. Sie spürt es an der Berührung. Sie darf nichts sagen, es ist die ewige Leier. Es reicht ihr. Sie hat keine Lust mehr, möchte keine neue Diskussion über seinen Vater. Sie schüttelt ihn ab wie ein lästiges Insekt und greift in ihre Tasche, um den Roman hervorzuholen, den Larissa ihr geschenkt hat. »Hast du was zu trinken dabei?«, fragt sie mit Blick auf seinen Rucksack. »Das wäre ja mal was Positives.«

»Nein, nur meine Hanteln. Ich trainiere, wenn du liest.«

Sie blickt über den Rand des Buches zur Wiese, um ihn zu beobachten. Sein muskulöser Körper gefällt ihr. Sie überlegt, zu ihm zu gehen, um ihn zu umarmen. Ihre Wankelmütigkeit wird sie ins Grab bringen. Sie bleibt auf der Decke und vertieft sich in den Roman. Nach geraumer Zeit kehrt er zu ihr zurück. »Holst du uns ein Radler?«, fragt sie. »Ich habe Geld dabei.«

»Lass uns zusammen zur Imbissbude gehen«, schlägt er vor. »Oder du fährst auf dem Gepäckträger mit. Wir könnten auch was essen.«

»Nein, ich habe keinen Hunger. Außerdem ist der Roman so spannend. Du kannst dir Zeit lassen. Dreh mit dem Rad eine Runde an der Ruhr. Auf dem Rückweg bringst du was mit. Okay?« Sie sieht ihn an. Na, zufrieden wirkt er nicht. Sie kennt diesen Ausdruck, doch hat keine Lust auf die Imbissbude. Da steht um die Uhrzeit eine Riesenschlange vor. Außerdem könnte Larissa kommen. »Bleib nicht zu lange weg, hörst du.«

Er nimmt ihr den Roman aus der Hand, blättert die ersten Seiten um.

»Sag jetzt nichts!«, warnt Janina.

»Was soll ich sagen? Immer ist dir deine Freundin wichtiger. Es reichen ein paar Worte von ihr. Ist doch wahr.«

Sie mustert ihn. »Du kannst ein Radler mehr mitbringen. Larissa wollte nachkommen. Pommes nicht, sie isst vorher bei ihrer Oma. Die hat Geburtstag, sonst wäre sie schon hier.« Sie beobachtet, wie sich die Gesichtszüge anspannen, er wutentbrannt zu seinem Rad rennt und es aufschließt. Sie springt auf, folgt ihm, hält ihn fest. »Ich weiß nicht, ob sie nachkommt oder bei ihrer Oma bleibt. Sie wusste es selbst nicht.« Ihr fällt nichts ein, was sie hinzufügen könnte, obwohl sie den Eindruck hat, dass er darauf wartet. Sie reißt sich zusammen. »Ich mag dich, sonst würde ich mich nicht mit dir treffen.« Sie weiß nicht, warum sie es sagt. Ob sie es fühlt oder nicht. Er sieht sie mit einem Blick an, als wollte er es herausfinden.

»Hättest du mich angerufen, wenn Larissa nicht zu ihrer Oma gefahren wäre?«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739430416
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Oktober)
Schlagworte
Bochum Eifersucht Schuld Spannung Beziehungstat Bewährungshilfe Ruhrgebiet

Autor

  • Peter Märkert (Autor:in)

Peter Märkert ist in Bochum aufgewachsen und wohnt auch dort. Er studierte Informatik und Sozialwesen und arbeitete als Taxifahrer, als Sozialarbeiter im Vollzug und als Bewährungshelfer. Die Erfahrungen aus dem Milieu verarbeitet er in seinen Kriminalromanen, die im Ruhrgebiet zwischen JVA, Drogen, Mord spielen und in denen er den Hintergründen von Verbrechen und Schuld nachspürt. Im Dezember 2018 erscheint in veränderter Neuauflage der Justizkrimi: »Unter die Räder gekommen«.
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Titel: JANINA TOT