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Kai Flammersfeld und das Erwachen der Geysira

von Hagen Röhrig (Autor:in)
190 Seiten
Reihe: Kai Flammersfeld, Band 2

Zusammenfassung

„Aber du musst das nicht tun, Sandra. Wir können auch umkehren.“ „Ich weiß. Aber ich möchte es.“ Sie löste ihre Hand aus der seinen und lächelte ihn an. Sie wusste, dass er sich nun fragte, warum sie diese Angst auf sich nahm. Damals, an jenem Abend, als die Großmutter das Teufelsmahl für Hexen und Vampire veranstaltet hatte und sie erfahren hatten, dass Kais Verwandlung in einen Vampir nicht mehr aufzuhalten war, hatte sie sich geschworen, Kai niemals allein zu lassen und für ihn da zu sein, so gut sie es konnte. Sie atmete tief durch und setzte , ohne ein weiteres Wort zu sagen, einen Fuß vor den anderen – den Stimmen entgegen ... Bei den von Greifendorfs herrscht helle Aufregung. Die große Konferenz der IVK, der Interessenvereinigung der Vampire von Kleinfriedhöfen, steht an. Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren, da entdecken Kai, Sandra und ihre neuen vampirischen Freunde etwas Rätselhaftes. Tief im Wald dringen Geräusche aus der Erde und Licht scheint durch Felsspalten aus dem Boden. Der Vampirhasser Rufus Wankelmann und der Vampirjäger Wieland von Wünschelsgrund haben sich zusammengetan und erschaffen in Höhlen fürchterliche Wesen, deren Aufgabe es ist, gegen die Vampire zu kämpfen. Den Vampirjägern gelingt es, Kai und seine Freunde in eine Falle zu locken. Ob die Vampire es schaffen, sie aus den Fängen der Vampirfeinde zu befreien? Kai erfährt im Laufe dieses Abenteuers einige dunkle Wahrheiten über seine Familie. Dinge, die er sich niemals im Leben hätte träumen lassen ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Für Bernd

Vergiss niemals deine Träume ...

Widmung

... Danke!

1

Ab in die Gruft! – 9. Tag nach dem Biss

Kai schlug die Augen auf und atmete tief durch. Für einen kurzen Moment musste er überlegen, wo er war. Dann fiel es ihm ein. Natürlich. Er war im Wohnzimmer seiner Großmutter. Er klappte den unteren Teil des Sargdeckels hoch und setzte sich auf.

Wie in den letzten beiden Tagen, seit sie aus der Walpurgismühle entkommen waren, so hatte er auch heute einen merkwürdigen Traum gehabt. Einzelheiten fielen ihm nicht mehr ein, wohl aber verschiedene Bilder und Gefühle, die er dabei gehabt hatte. Er erinnerte sich lebhaft an Augen, die nichts ausstrahlten als tiefe Leere. Und Stoff. Dunklen Stoff, winterkalt, der im Wind wehte. Komisch, was man manchmal so träumt, dachte er.

Wie spät es wohl sein mochte? Er gähnte, streckte sich und stieg aus dem Sarg. Seine Füße tasteten nach den Schuhen und schlüpften hinein. Sind Sandra und ich heute nicht mit Gutta, Gangolf und Gerrith am Pavillon verabredet?, fragte er sich. Sein Blick fiel auf seine Armbanduhr, deren Zeiger sich auf 23 Uhr zubewegten und er erschrak. Er hatte viel zu lange geschlafen! Soweit er sich erinnerte, wollten sie sich doch mit den anderen gegen Mitternacht treffen.

Er ging zur Terrassentür und zog die schweren Vorhänge beiseite, die ihn während des Tages vor den gleißenden Sonnenstrahlen geschützt hatten. Das blasse Mondlicht strich über sein Gesicht und erhellte das Wohnzimmer. Und wie immer, wenn er den Mond ansah, fielen ihm die Worte seiner Großmutter ein: „Kai ... dies ist von nun an deine Sonne. Die Nacht wird dein Tag.“

Eine Zeit lang stand er einfach nur da und betrachtete den Mond und die funkelnden Sterne. Eine kleine Wolke, die aussah wie eine Fledermaus, zog eilig am Mond vorbei und verdeckte ihn für einen Augenblick. Kai schaute zu, wie die Fledermauswolke über den Himmel sauste und irgendwann im Dunkel der Nacht verschwand.

Tränen traten in seine Augen. Es war noch gar nicht so lange her, da war er der ganz normale Kai gewesen, der ganz normale, fast zwölfjährige, blonde Kai mit den bernsteinfarbenen Augen; hatte mit Sandra, seiner allerbesten Freundin, begonnen im Garten seiner Oma ein Baumhaus zu bauen; hatte vor den Osterferien in der Schultheatergruppe „Die faulen Ratten“ mitgespielt.

Und dann, ja, dann war es geschehen. An Felix’ Geburtstag, als sie im Wald Räuber und Gendarm gespielt hatten. Wieder und wieder fragte er sich, warum er damals, als er vor den Gendarmen geflüchtet war, ausgerechnet den Weg eingeschlagen hatte, der ihn zum Waldfriedhof führte. Zu den unheimlichen Gräbern. Zu den ... Vampiren. Er erinnerte sich daran, wie die Vampire ihn auf der Wiese, kurz vor Felix’ Haus, umringt hatten, und der fürchterlich faulige Geruch, der aus ihrem Rachen drang, stieg ihm wieder in die Nase. Angeekelt wandte Kai sich von der Terrassentür ab, als ihm auf einmal ein anderer Duft in die Nase strömte. Er war echt. Und angenehm. Ein unwiderstehlicher Geruch nach Leben, der ihm Appetit machte.

Kai nahm einige tiefe Atemzüge und ging zielstrebig dorthin, wo er die Quelle dieses verführerischen Duftes vermutete: zum Esszimmertisch. Und tatsächlich. Auf dem Tisch stand ein mit einer dunklen Flüssigkeit gefülltes Glas. Daneben lag ein Zettel. Kai nahm den Zettel und erkannte sofort die Handschrift seiner Großmutter.


Guten „Morgen“, du Langschläfer!

Habe mir erlaubt, ein kleines „Frühstück“ für dich vorzubereiten. Ein schön dick aufgebrühter Bluttee. Lass es dir schmecken, mein Junge! Oma


Kai schmunzelte, als er die Nachricht auf den Tisch zurücklegte. Dann nahm er das Glas und hielt es sich an die Nase. Bei dem Blutgeruch knurrte ihm laut der Magen. Er setzte das Glas an die Lippen und leerte es in einem Zug. Was für ein herrliches Gefühl das war, als der Bluttee seine Kehle hinunterfloss und die warme Flüssigkeit seinen Magen füllte! In diesem Moment klopfte es an der Tür und Sandra steckte den Kopf in das Wohnzimmer.

„Na, endlich wach? Hast verdammt lange geschlafen heute.“ Sie lächelte ihn an. „Du hast aber nicht vergessen, dass wir gleich mit Gutta, Gangolf und Gerrith am Pavillon verabredet sind, oder?“

„Nein, nein.“ Kai knipste das Licht an und stellte das leere Glas auf den Esstisch zurück. „Bin quasi schon fertig.“ Er ging zu seinem Sarg, zog seinen neuen schwarzen Umhang aus einer Seitentasche des Innenfutters und warf ihn schwungvoll über die Schultern. „Kann losgehen!“, sagte er und grinste Sandra breit an. Als er ihren überraschten Blick bemerkte, ließ er sofort die Lippen wieder über die Zähne zurückgleiten. „Sind sie wieder länger geworden?“, fragte er leise.

Sandra nickte. „Ein wenig. Aber wirklich nur ein wenig. Ich gewöhne mich schon dran, keine Sorge.“

Kai seufzte. Erst vorgestern waren seine Eckzähne wieder gewachsen, Sandra hatte es gleich bemerkt. Seine Verwandlung in einen Vampir schritt unaufhaltsam voran. Und er wusste, dass es nicht allein bei der äußeren Umwandlung bleiben würde. Früher oder später würde der äußeren eine innere Veränderung folgen und sein Wesen sich deutlich umformen. Und davor hatte er mittlerweile am meisten Angst, denn niemand konnte voraussehen, wie viel der neue Kai, der Vampir, noch mit dem Menschen Kai Flammersfeld gemein haben würde.

Sandra ging auf Kai zu und legte die Hand tröstend auf seine Schulter. „Ich weiß ja, dass du mich nie beißen würdest“, sagte sie.

„Hallo, ihr zwei!“ Kais Oma kam aus der Küche und ging durch den Essbereich ins Wohnzimmer. „Hat dir wohl geschmeckt, mein Frühstück, was?“ Sie nickte zufrieden, als sie das leere Glas auf dem Tisch entdeckte. „So langsam krieg ich den Dreh raus, wie man einen guten Bluttee zubereitet.“ Sie gab Kai einen Kuss auf die Wange. „Gut geschlafen?“ Und ohne eine Antwort abzuwarten fügte sie hinzu: „Müsst ihr nicht los? Es ist bald Mitternacht!“

„Kommst du mit?“ Kai öffnete die Terrassentür.

„Nein, danke. Ich hab was anderes vor.“ Oma Flammersfeld holte ein Buch aus der Tasche ihres schwarzen Kleides. „Tibetisch für Fortgeschrittene“ stand darauf geschrieben. „Ich muss bis morgen noch einen Haufen Vokabeln lernen“, seufzte sie und verdrehte dabei die Augen. „Aber grüßt mir die anderen, ja?“

„Machen wir!“ Sandra und Kai traten hinaus auf den Weg, der sich durch den Garten schlängelte und zum Pavillon führte. Hinter ihnen schloss die Großmutter die Terrassentür und sie hörten noch, wie sie anfing, tibetische Vokabeln aufzusagen.


„Ist die Luft da vorn besser, oder was?“ Sandra eilte völlig außer Atem hinter Kai her. „Nun renn doch nicht so!“

„Entschuldige ...“ Kai blieb stehen und wartete auf seine Freundin. Gemeinsam gingen sie an den Rosenstöcken und den Rhododendren vorbei, überquerten die kleine Wiese mit den Mohnblumen und dem Lavendel und kamen schließlich zu den Holunderbüschen, die ganz nah am See wuchsen. An der alten Eiche vor dem Pavillon blieben sie stehen.

„Die sind ja noch gar nicht da.“ Sandra schaute sich um.

„Doch, sind sie.“ Seit dem Abend, als sie in Wankelmanns Haus im Mondscheinpfad Nummer 13 eingestiegen waren, hatte Kai eine, wie er fand, ganz wunderbare vampirische Eigenschaft. An genau diesem Abend nämlich war es gewesen, als sich seine Augen zu denen eines Vampirs verändert hatten und er in der Dunkelheit alles gestochen scharf und farbig sehen konnte. Und deshalb war es für ihn ein Leichtes, Guttas zierlichen Körper in den Ästen der Eiche auszumachen.

„Schau“, sagte er und deutete auf eine dunkle Stelle in der Baumkrone, wo Sandra allerdings rein gar nichts erkennen konnte.

„Ich seh da niemanden“, erwiderte sie und rief dann kurzerhand: „Hey, Gutta, Gangolf, Gerrith! Seid ihr da?“

Kai hielt sich die Ohren zu. Wie alle Sinne, so war auch sein Gehör mittlerweile sehr fein und empfindlich geworden.

„Boah, was schreit die denn so?“, schnarrte es dumpf vom Dach des Pavillons. „Da platzt einem ja das Trommelfell.“

„Nun mach dir mal nicht ins Hemd, Bruderherz“, kam es aus dem Eichenlaub zurück und kurz darauf schwebte Gutta vor Kai und Sandra auf den Boden. „Ihr dürft Gangolf heute nicht so ernst nehmen, er hat mal wieder eine seiner Gefühlsschwankungen“, grinste sie und zwinkerte ihnen zu.

„Gefühlsschwankungen, pah! Das is’ was für Weicheier, aber nicht für einen richtigen Vampir.“ Gangolf stieß sich vom Dach des Pavillons ab und flatterte zu den anderen.

„Na, Kumpel, alles klar?“ Er schlug Kai so kräftig auf den Rücken, dass dieser einige Schritte vorwärtstaumelte.

„Wo ist denn Gerrith?“ Kai hustete die Worte mehr, als dass er sie sagen konnte.

„Ja, wo ist er eigentlich?“ Gutta schaute sich verwundert nach allen Seiten um. „Eben war er doch noch da ...“

Hinter dem Gartenpavillon raschelte es. „Hallo!“, hauchte eine Stimme. „Schön, euch zu sehen.“ Gerrith kam hinter dem Pavillon hervor und schlich zu ihnen an die Eiche.

Er hielt ein Gänseblümchen in der Hand, das ihm Gangolf aber sogleich entriss und kopfschüttelnd auf den Boden warf. Die enttäuschten Blicke seines Bruders ignorierte er dabei geflissentlich.

„Ist es nicht einfach eine herrliche Nacht?“, rief Gangolf und aus der Tasche seines Umhangs kam, wie zur Bestätigung, ein leises „Quak!“ von Gundel, seiner Vampir-Gelbbauchunke. „Macht richtig Lust auf eine ausgedehnte Jagd, nicht wahr?“ Er warf den Kopf nach hinten und aus seinem Rachen drang ein dunkles, grausames Fauchen. Sandra drückte sich an Kai und klammerte sich an seinen Arm.

„Nun lass das doch mal, Gangolf. Es sind Menschen unter uns.“ Gutta verdrehte die Augen und flüsterte Sandra ins Ohr: „Jetzt macht er wieder einen auf Macker. Aber keine Angst, das geht vorbei.“

Gangolfs Gesicht verfärbte sich tiefrot. „Oh, Entschuldigung, Sandra. Ich wollte dich nicht erschrecken.“

Sandra lächelte und löste den Griff um Kais Arm.

„Na schön, also keine Jagd heute Nacht.“ In Gangolfs Stimme schwang deutlich ein Ton des Bedauerns.

„Ich wüsste auch gar nicht, wie ich das anstellen soll“, rutsche es Kai heraus und er bereute im nächsten Augenblick, dies gesagt zu haben, denn bitterböse Blicke von Gutta und Gangolf straften ihn dafür.

„Willst du damit etwa sagen, dass du noch gar nicht jagen warst? Nicht ein einziges Mal?“, fragte Gangolf, wohlwissend, wie die Antwort ausfallen würde.

Kai schluckte und schwieg.

„Also wirklich! Kai!“ Gutta schüttelte den Kopf. „Du hast die ‚Alltagstipps ...‘ noch immer nicht durchgelesen, stimmt’s?“ Sie seufzte. „Da steht nämlich in Kapitel 2, Unterpunkt 2.3.9 ‚Die Zeit nach dem alles entscheidenden Biss’, dass man mit der ersten Jagd bloß nicht zu lange warten soll. Das ist wie mit dem Fliegen, Kai. Man muss es üben, üben, üben!“

Kai antwortete nicht. Er wusste, dass er eine endlose Diskussion auslösen würde, wenn er den beiden erzählte, dass er bisher nicht die geringste Lust verspürt hatte, auf „Jagd“ zu gehen. Immer, wenn er Hunger hatte, brühte er sich einen dicken Bluttee auf oder aß eine große Blutwurst. Bisher hatte er das als völlig ausreichend empfunden. Aber natürlich war ihm klar, dass dies eines Nachts nicht mehr so sein würde. Und hoffentlich, so dachte er, hoffentlich ist diese Nacht noch weit, weit entfernt. Vielleicht würde er dann zunächst den Kühen auf der Weide einen Besuch abstatten und bestimmt könnte ihn das einige Zeit zufriedenstellen. Doch früher oder später, auch das war ihm bewusst, würde es ihn nach Menschenblut dürsten. Nach frischem, warmem Menschenblut, in dem noch der Puls des Lebens schlug. Für all dies benötigte er keinen Ratgeber „Praktische Alltagstipps für Vampire – die 100 besten Rezepte“.

Gangolfs Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Irgendwie bin ich mit der Gesamtsituation unseres Neulings hier gar nicht zufrieden“, verkündete er, wobei er „Neuling“ besonders stark betonte.

„Ich wette, dein Sarg steht immer noch im Wohnzimmer deiner Oma, stimmt’s?“

„Natürlich.“

„Eben nicht natürlich“, raunzte Gangolf ihn an. „Auch das steht in deinen ‚Alltagstipps ...’. Jeder anständige Vampir hat gefälligst auf einem Friedhof zu wohnen, mag dieser auch so klein sein wie unserer. Zumindest in der Nähe eines Friedhofes muss er seinen Sarg aufstellen. Und was machst du? Du lebst in einem Wohnzimmer in einem Menschenhaus. Auf Dauer geht das einfach nicht, finde ich.“

Kai schnappte empört nach Luft. Eigentlich hatte er gehofft, dass dies ein schöner Abend werden würde, aber nun sah es eher danach aus, dass er sich eine Standpauke nach der anderen anhören durfte. Und das gefiel ihm gar nicht. Trotzig baute er sich vor Gangolf auf. „Ich mag aber nicht auf einen Friedhof ziehen. Da ist es mir zu ... tot!“, sagte er mit fester Stimme.

„Papperlapapp! Was soll das denn? Zu tot! Zu tot gibt es gar nicht“, antwortete Gangolf schnippisch und machte eine abwehrende Handbewegung. „Das sagst du ja nur, weil du gar nicht weißt, wie es ist, auf einem Friedhof zu wohnen. Nimm unsere Gruft zum Beispiel. Die ist urgemütlich!“

„Urgemütlich?“ Kai lachte spöttisch. „Das soll ja wohl ´n Witz sein. Wie kann eine Gruft urgemütlich sein? Da ist es kalt und feucht und es riecht modrig und faulig. Nach Tod eben. Wer will da schon gern leben?“

„Wir!“, protestierte Gutta. „Wir wohnen sogar sehr gern da. Aber das kannst du noch nicht verstehen, dafür bist du wohl noch nicht Vampir genug.“

Zum Glück, dachte Kai, aber er wagte nicht, es laut zu sagen.

„Ich habe eine Idee!“ Gangolf fuhr sich durch sein struppiges schwarzes Haar. „Wir werden dir heute zeigen, wie schön es ist, in einer Gruft zu wohnen.“

Gutta machte einen Schritt auf ihren Bruder zu. „Wie ... du willst doch nicht etwa ...“

„Oh doch, genau das will ich!“

„Du möchtest den beiden wirklich unsere Gruft zeigen?“

„Yepp!“

„Gute Idee!“

„Äh ... Leute ...“ Gerrith zupfte aufgeregt an Gangolfs Umhang.

„Ihr wisst aber schon, dass das strengstens verboten ist, oder?“

„Natürlich.“ Gangolf nickte.

„Und dass es fürchterliche Strafen regnen wird, wenn wir mit Menschen in unserer Gruft erwischt werden.“

„Auch klar.“ Gangolf wuschelte seinem Bruder durchs Haar. „Oh Gerrith, du bist wirklich der größte Angsthase auf der Welt. Aber ich verspreche dir: Niemand wird merken, dass wir da waren.“

Gerrith schaute seinen Bruder besorgt an. „Wie kannst du das versprechen? Was, wenn irgendjemand mitbekommt, dass wir die beiden mit in die Gruft nehmen?“

„Kai ist Vampir!“, polterte Gangolf.

„Noch nicht ganz! Und außerdem ... was ist mit ihr?“ Gerrith zeigte auf Sandra. „Sie ist nicht mal ansatzweise ein Vampir.“

„Nun pass mal auf, Brüderchen.“ Gangolf legte einen Arm um Gerriths Schultern. „Erstens sind unsere Eltern heute ausgeflogen und folglich also nicht zu Hause. Und zweitens passen wir schon auf, dass sie nichts Menschliches zurücklassen.“

„Und ihr Geruch?“

„Moosspray!“ Gutta zückte ein Fläschchen aus der Tasche ihres Umhanges. „Überdeckt garantiert alle Gerüche.“

Gerrith senkte verzagt den Kopf. „Man wird uns erwischen. Bestimmt! Und die Strafe wird fürchterlich sein. Fürchterlich!“

Gangolf stupste ihm mit dem Ellenbogen in die Seite. „Bleib locker, Gerrith. Es wird alles gut gehen.“ Dann wandte er sich an Kai und Sandra. „Also, was ist? Wollt ihr mal sehen, wie schön es sich in einer anständigen Gruft wohnen lässt?“

Die beiden wechselten unschlüssige Blicke.

„Also, na ja. Lass es mich so sagen: Dir wird in der Gruft wohl nicht so viel passieren, wenn plötzlich doch ein Vampir auftaucht. Aber mir wahrscheinlich schon“, meinte Sandra und Kai spürte deutlich, wie unwohl ihr bei dem Gedanken war, in eine Vampirgruft hinabzusteigen.

„Sollen wir es lassen?“, fragte er.

Sandra drehte eine Locke ihres langen, roten Haares um den Zeigefinger und spielte daran herum. Das tat sie immer, wenn sie nachdachte. Am liebsten hätte sie auf Kais Frage mit „Ja“ geantwortet. Gutta, Gangolf und Gerrith kannte und mochte sie. Sie waren freundlich und eigentlich hatte sie auch keine Angst mehr vor ihnen, außer vielleicht, wenn sie etwas machten, womit sie nicht rechnete. So wie Gangolf eben, als er auf einmal den Kopf in den Nacken geworfen und gefaucht hatte. Aber sonst? Nein, sie hatte wirklich nicht das Gefühl, dass sie sich ernsthaft in ihrer Gegenwart fürchten musste. Sie gewöhnte sich langsam sogar an Gangolfs manchmal etwas ruppige Art. Ohnehin war sie sich ziemlich sicher, dass sich hinter seiner rauen Schale ein gutes Herz verbarg, wenn man das über einen Untoten überhaupt so sagen konnte. Aber durfte sie sich bei den Vampireltern da auch so sicher sein? Als sie bei Kais Großmutter zu Besuch gewesen waren und nach den Transsylvanischen Schicksalskeksen gefragt hatten, ja, da waren sie schon höflich gewesen. Nur, würden sie es auch noch sein, wenn sie Sandra plötzlich in ihrer Gruft vorfänden?

Andererseits wusste sie, was gerade geschah. Gutta, Gangolf und Gerrith versuchten Kai deutlich zu machen, dass es an der Zeit war, einen weiteren Schritt zu tun. Einen weiteren Schritt in Richtung seines neuen Lebens als Vampir. Und ob es ihm nun gefiel oder nicht, er musste sich mit den Dingen auseinandersetzen, die zu einem Vampirleben dazugehören. Nur so konnte er sich für oder gegen diese Dinge entscheiden. Deshalb gab es für Kai eigentlich keine Wahl. Er musste sich den Lebensraum der Vampire, ihre Gruft, einfach ansehen. Und sie würde ihn dabei nicht allein lassen, daran gab es für sie nichts zu rütteln.

„Wir gehen“, sagte Sandra schließlich mit fester Stimme. „Aber sollte es brenzlig werden, helft ihr mir alle, klar?“

„Großes Vampirehrenwort!“ Gangolf legte feierlich die Hand auf die Brust.

Kai lächelte sie an. „Ich werde dich sicher nicht im Stich lassen, sollte in der Gruft ...“

„Ich weiß“, sagte sie leise, breitete die Arme aus und rief: „So, auf geht’s! Ab in die Gruft!“

Wortlos schnappte Kai seine Freundin und hob vom Boden ab. Gutta, Gangolf und Gerrith taten es ihnen gleich.

Während des ganzen Fluges konnten sie Gerriths leises Seufzen hören. „Es wird alles in einer Katastrophe enden. Bestimmt wird es in einer Katastrophe enden. Ich weiß es ganz genau“, murmelte er in einem fort.

Kai jedoch schwieg und drückte Sandra ganz fest an sich. Er war unheimlich stolz auf seine Freundin. So unheimlich stolz.

2

Das seltsame Pfortenwasser

Sie flogen hoch über den Baumwipfeln. Der warme Wind spielte mit ihren Umhängen und als Sandra einmal den Kopf drehte und zurückschaute, konnte sie sich ein Grinsen nicht verkneifen. Der arme Gerrith, der als Letzter flog, hatte alle Mühe, seinen Umhang, der ihm eigentlich viel zu groß war, unter Kontrolle zu halten. Der Wind zupfte und zog so heftig an ihm und wirbelte den Stoff dermaßen durcheinander, dass man meinen konnte, der kleine Kerl würde von seinem Umhang verschlungen.

Nach einer Weile sahen sie unter sich die fahlen Lichter eines einsamen Hauses. Kai erkannte es sofort, es war das Haus Nummer 13 im Mondscheinpfad, das Haus von Rufus Wankelmann. Der Vampirhasser hatte Gutta und den Großvater der Vampirgeschwister vor Kurzem entführt. Kai sah zu Gutta, die gerade neben ihm flog und als sich ihre Blicke trafen, deutete sie auf Wankelmanns Haus und drehte den Daumen nach unten. Kai nickte.

Sie flogen noch ein Stück geradeaus, dann machten sie eine Links- und schließlich noch eine Rechtskurve. Der Wald unter ihnen bedeckte eine sanfte Hügellandschaft, auf die der Mond sein silbriges Licht warf. Gerade überflogen sie einen See, der schimmerte, als seien die Sterne in ihn hineingefallen. Kai liebte diese Ruhe beim Fliegen. Die Welt lag still und friedlich da und das Einzige, was zu hören war, war das Geräusch des Windes.

Auf einmal schoss Gangolf an Kai vorbei und leitete den Sinkflug ein. Als Kai genauer schaute, konnte er unter sich zwischen den Bäumen schon die ersten Gräber erkennen. Und dann sah er ihn ganz – den alten Waldfriedhof.

Sie setzten bei einer Gruppe von Laubbäumen auf dem Boden auf.

„Hier ist doch nicht eure Gruft, oder?“, fragte Kai.

„Gut erkannt“, sagte Gangolf kopfschüttelnd.

„Ich sag ja nichts mehr dazu.“ Gutta verdrehte die Augen. „Aber, hättest du ein wenig mehr in deinen ‚Alltagstipps ...‘ geblättert, dann wüsstest du Bescheid.“ Ihre Augen tasteten den Friedhof ab. „Das machen wir immer so. Nie direkt bei der Gruft landen! Reine Vorsichtsmaßnahme, wisst ihr.“ Sie deutete auf eine Ecke des Friedhofs, in der viele besonders alte Gräber standen. „Da müssen wir hin! Aber wartet einen Augenblick. Gangolf, Gerrith und ich schauen erst, ob die Luft rein ist.“ Die Vampirgeschwister stapften los und verteilten sich über den Friedhof.

Der alte Waldfriedhof ... Kai ließ seinen Blick über die Gräberlandschaft schweifen. In der Mitte konnte er die großen Steinkreuze erkennen. Gerrith lief gerade zwischen ihnen hindurch. Manche schimmerten matt im blassen Mondlicht, andere waren von Efeu überwuchert. Ein Stück von den Kreuzen entfernt standen die riesigen Säulen, auf denen die trauernden Engelsfiguren saßen und über die Toten wachten.

Nicht weit von diesen Engelsfiguren hatte er damals gestanden, es war noch gar nicht so lange her. Neben dem rostigen Eisenzaun, der den Friedhof umgab. Bei diesem Anblick überkam Kai eine große Traurigkeit. Zehn Tage. Vor zehn Tagen war es geschehen. Das knirschende Geräusch der Grabplatte ... Kchrrrrr! ..., als knöcherne Finger sie beiseite schoben. Die Fledermaus, die ihm ein Haarbüschel ausgerissen hatte. Die finsteren Gestalten, die bei der Gruft standen. Seine Flucht durch den Wald und schließlich der erdrückend faulige, modrige Geruch der Vampire, den sie an jenem Abend verströmten, als sie ihn auf der Wiese umringt hatten. All diese Bilder schossen ihm nun wieder durch den Kopf und machten ihn traurig und wütend. Wütend auf die Vampire. Wütend auf Gangolf und Gerrith, die ihn für eine Mutprobe benutzt hatten, weil Gerrith endlich lernen sollte was es heißt, ein „richtiger“, ein „mutiger“ Vampir zu sein. Jeden hätten sie dafür nehmen können. Jeden! Warum nur hatte ausgerechnet er ihnen über den Weg laufen müssen? Ein hässliches Gefühl durchzog seinen Magen.

Sandra reichte ihm ein Taschentuch. Erst jetzt bemerkte er, dass ihm Tränen die Wangen hinunterliefen.

„Geht schon. Danke.“ Kai nahm das Taschentuch, wischte sich die Tränen ab und steckte es dann ein.

„Alles klar, wir können.“ Gutta spähte hinter einem Baumstamm hervor und winkte Kai und Sandra zu sich. Sie schlichen durch das hohe Gras, stiegen über die halb verfallenen Grabsteine, passierten die Steinkreuze und die Säulen mit den Engelsfiguren und standen schließlich vor einer großen Gruft. Der Gruft der Vampire!

„Wahnsinn!“ Sandra machte große Augen. So eine Grabstätte hatte sie noch nie gesehen. Ein Teil ragte wie ein Turm vor ihr in den Nachthimmel. An jeder der vier Ecken hing ein drachenartiger Wasserspeier, der sein Maul weit aufriss, als wollte er jeden, der ihm zu nahe kam, mit einem Furcht einflößenden Fauchen vertreiben. Die Augen der steinernen Drachen starrten kalt und grausam auf die kleine Gruppe, die im Begriff war, ihr Reich zu betreten.

Vor dem Turm mit den Wasserspeiern ragte ein Grab aus dem Gras hervor, das mit einer schweren Marmorplatte verschlossen war. Daneben kniete ein Marmorengel auf einem Sockel. Er stützte sich mit einem Schwert ab und schaute traurigen Blickes auf die ihm zu Füßen liegende Grabplatte.

„Beeindruckend, nicht wahr?“ Gangolf stellte sich neben Sandra, die gerade das Gesicht des Engels genauer betrachtete.

„Allerdings.“ Sie berührte die Wange des Engels mit dem Zeigefinger. „Er sieht so traurig aus. So unheimlich traurig.“

„Einer unserer Vorfahren hat ihn aufstellen lassen. Siehst du, da steht noch sein Name.“ Gangolf zeigte auf einen Schriftzug am Sockel der Figur. Dort war in geschwungener Schrift zu lesen:

Gestiftet durch ihro Herrschaftlichkeit Geckbert von Greifendorf. A.D. 1622.

„Geckbert hatte einen Bruder, Gieselmann, der ihn zum Vampir gemacht hatte. Doch Geckbert konnte sich einfach nicht damit abfinden, ein Vampir zu sein, was ich ja ziemlich komisch finde. Aber bitte ... Jedenfalls hat er dann als Zeichen seines Grams über sein Schicksal diesen Engel hier aufstellen lassen, damit er den Eingang zur Gruft bewachte und ihn stets an seine Traurigkeit erinnerte.“

Gruft

„Das ist ja eine schaurige Geschichte“, sagte Sandra. „Und wie geht es diesem Geckbert heute?“

„Es gibt ihn nicht mehr.“

Sandra traute sich nicht, weitere Fragen über Geckbert zu stellen.

Gangolf fasste dem Engel an die Nase und drehte sie um. Die Grabplatte neben ihnen hob sich dumpf knirschend und Gutta schob sie – Kchrrrrr! – ein Stück beiseite, sodass eine Treppe sichtbar wurde, die hinunter ins Erdreich führte.

„So, ihr zwei.“ Gutta zückte das Fläschchen mit dem Moosspray aus ihrer Umhangtasche. „Hiermit werdet ihr jetzt erst mal schön eingesprüht.“

Und schon verschwand Sandra von oben bis unten in einem dichten, weißen Nebel. Dann richtete Gutta das Fläschchen auf Kai. „Nur der Vorsicht halber“, erklärte sie und hüllte auch ihn in eine Wolke aus Moosspray.

„Und das verdeckt auch wirklich unseren menschlichen Geruch?“, fragte Kai besorgt, als Gutta die Flasche wieder einsteckte. Wobei ihm weniger um sich selbst als um Sandra bange war.

„Aber ja doch, keine Sorge. Kein Vampir würde euch jetzt noch riechen. Und nun ... Heftet euch mir an die Fersen!“ Gutta lachte und stieg die Stufen in das Grab hinab. Schon war sie unter der Erde verschwunden. Gangolf und Gerrith folgten ihr.

„Noch können wir umkehren.“ Kai legte eine Hand auf Sandras Arm, als er bemerkte, dass sie zögerte.

„Nein, nein. Jetzt, wo wir hier sind, gehen wir da auch rein. Aber ... wenn da noch andere Vampire sind, hilfst du mir, okay?“

„Haben wir dir ja versprochen.“

„Aber nur bei dir bin ich mir sicher, dass du es auch wirklich tun wirst.“ Sie setzte behutsam einen Fuß auf die erste Stufe und ging dann langsam, sehr langsam, die Marmorstufen hinunter. Kai blieb dicht hinter ihr. Kaum waren sie von der Gruft verschluckt worden, da hörten sie über sich das grollende Geräusch der Grabplatte, die den Einstieg wieder verschloss.

Sandra blieb stehen. Ihr schoss der Gedanke durch den Kopf, dass sie nun in dieser Gruft gefangen war. Und dieser Gedanke wollte ihr ganz und gar nicht gefallen. Sie spürte, wie es ihr die Kehle zuschnürte. „Ruhig. Ganz ruhig“, sagte sie leise zu sich selbst, atmete ein paar Mal tief durch und ging dann mutig weiter. Sie wollte auf gar keinen Fall, dass einer der anderen bemerkte, dass sie kein gutes Gefühl dabei hatte, im Zuhause von Vampiren herumzulaufen.

Stufe um Stufe ging es weiter in den Bauch der Erde hinab. Gutta, Gangolf und Gerrith waren nicht mehr zu sehen, doch ihre Schritte hallten von weiter unten durch den Treppenaufgang. Sandra glaubte schon, dass die Stufen nie mehr aufhören würden, da stand sie plötzlich in einem großen Raum, über den sich ein mächtiges Gewölbe spannte. Die Vampirgeschwister lehnten an hoch aufragenden Säulen und warteten bereits auf sie.

„Drei Millionen Jahre später ... Mann, das hat aber gedauert!“, raunzte Gangolf und zündete eine Fackel an.

„Sind ja auch eine Menge Stufen“, sagte Sandra. „Die würde ich nicht jeden Abend laufen wollen.“

„Machen wir auch nicht“, erwiderte Gutta und zwinkerte ihr zu. „Es gibt noch andere Eingänge, durch die man fliegen kann. Aber die sind streng geheim!“

„So, fertig.“ Gangolf hatte mittlerweile ein paar weitere Fackeln angesteckt. „Jetzt kannst du hier unten ein bisschen besser sehen.“ Er lächelte Sandra an.

„Oh, wie fürsorglich, Bruderherz“, flötete seine Schwester und Kai hätte schwören können, dass sich Gangolfs Gesichtsfarbe eindeutig in Richtung Rot veränderte und er sich deswegen rasch wegdrehte.

„Jetzt zeigen wir euch erst mal unser Zimmer.“ Gerrith ging zwischen zwei Säulen hindurch und drückte gegen eine schwere Holztür, die sich laut knarrend öffnete. „Hier drin stehen unsere Särge“, sagte er und als alle den Raum betreten hatten, ließ er die Tür donnernd ins Schloss fallen. „Die sind natürlich nicht so toll wie dein Sarg, Kai. So etwas würden unsere Eltern nie erlauben!“

„Ja, weil sie so altmodisch sind.“ Gangolf machte eine abfällige Handbewegung. „Sie sorgen sich immer nur um den guten Ruf der Familie.“

Kai und Sandra schauten sich in dem Raum um. Auch hier spannte sich über ihnen ein großes, gotisches Deckengewölbe, von dem lange Fäden einer dürren Rankenpflanze wie dünnes Haar herunterhingen. Es war feucht und stickig und roch nach faulem Holz und Pilzen. In unregelmäßigen Abständen rollten feine Wassertropfen aus den Strängen der Pflanzen und platschten auf den Fußboden. An einer Wand standen drei Särge ordentlich nebeneinander. Auf jedem dieser Särge war ein Schild angebracht, auf dem in schnörkeliger Schrift ein Name stand. Allerdings waren die Schilder bereits so sehr verwittert, dass sie kaum noch zu lesen waren.

Sandra konnte auf dem des größten Sarges gerade noch ein „...olf “ erkennen, doch auch so war es unschwer auszumachen, dass dieser Sarg Gangolf gehören musste. Schließlich war er der größte der drei Vampirgeschwister. An der gegenüberliegenden Wand standen drei schlichte Holzschränke, auf denen jeweils ein riesiges „G“ aus Eisen angebracht war. Ansonsten gab es keine Möbel. Aus den Wänden ragten nur noch die Halterungen der Fackeln, die mit ihrem Schein die Gruft erhellten.

„Ihr habt es hier ...“, Sandra suchte krampfhaft nach dem richtigen Wort, „äh ... gemütlich.“ Sie war nicht wirklich überzeugt von dem, was sie da sagte, denn eigentlich fand sie das Zimmer der Geschwister unheimlich ungemütlich. Aber etwas Besseres wollte ihr einfach nicht einfallen. „Oder, Kai, was meinst du?“ Sie stieß ihm mit dem Ellenbogen in die Seite.

„Ja, ja, sehr gemütlich“, pflichtete dieser ihr schnell bei.

„Nicht wahr! Und schaut mal ...“ Gutta blickte zu Gangolf. „Darf ich es ihnen zeigen?“, fragte sie und als keine Erwiderung kam, ging sie zu seinem Sarg, öffnete ihn und holte etwas aus einer Seitentasche des Innenfutters.

„Das müsst ihr euch ansehen!“ Sie hielt Kai und Sandra eine kleine Holzkiste vors Gesicht.

Nein, das war keine einfache Holzkiste.

Es war ein Sarg! Ein richtiger, echter Sarg. Nur war er viel, viel kleiner als die Särge, die an der Wand standen.

„Hat unser Bruder selbst gemacht!“, rief Gerrith.

„Und wer passt da rein?“, fragte Kai.

„Schau doch mal genauer hin.“ Gutta hielt ihm den Minisarg ein wenig näher vor die Augen und zeigte auf eine winzige Metallplatte, in die grob einige Buchstaben eingestanzt waren. Kai versuchte, sie zu entziffern.

„G... Gu... Gundel“, las er. „Gundel? Gangolf hat seiner Vampir-Gelbbauchunke einen eigenen Sarg gezimmert?” Er blickte Gangolf an und hatte alle Mühe, einen Lachanfall zu unterdrücken. Einen Sarg für eine Gelbbauchunke. So etwas gab es sicher nicht ein zweites Mal! Er stellte sich vor, wie es sich das Tier in seinem Sarg für den Tag bequem machte, den dicken Körper auf den weichen Innenstoff drückte und alle Viere genüsslich von sich streckte. Dann konnte er einfach nicht mehr an sich halten und begann lauthals zu lachen.

„Haste ´n Problem damit, dass ich für mein Haustier sorge?“ Gangolf baute sich breitbeinig vor ihm auf.

Sandra stellte sich zwischen die beiden. „Also, ich finde den Sarg für Gundel wirklich niedlich.“ Sie nahm Gutta den kleinen Sarg aus der Hand. „Hast du toll hingekriegt. Da schläft Gundel bestimmt gern drin, oder?“ Sie legte Gangolf eine Hand auf die Schulter und ging ein paar Meter mit ihm durch den Raum, weg von Kai.

„Echt? Gefällt er dir?“, fragte Gangolf geschmeichelt. „Ich habe mir auch total viel Mühe gegeben. Gundel weiß das zu schätzen, wirklich. Sie schläft jeden Tag darin. Guck mal rein. Das Innenfutter ist gelb. Extra für sie.“

Gutta tippte Kai an. „Du darfst den Armen nicht so ärgern“, flüsterte sie und vergewisserte sich mit einem Blick über die Schulter, dass ihr Bruder noch immer mit Sandra ins Gespräch vertieft war. „Wo er doch so ungern Gefühle zeigt.“ Sie zwinkerte ihm schmunzelnd zu.

„Ja, ja. Ich weiß. Er ist ein ganzer Kerl.“ Kai musste wieder lachen. „Aber es war einfach zu verlockend.“

Mittlerweile hatte Gangolf in die Tasche seines Umhanges gegriffen und Gundel herausgeholt, die auch sogleich in ihren Sarg kroch und sich gemütlich darin rekelte.

„Sie ist wohl müde, was?“ Sandra sah zu, wie sich die Unke platt auf das Innenfutter drückte.

„Es ist Zeit für ihren Mitternachtsschlaf“, sagte Gangolf und stellte Gundels Sarg auf das Kopfkissen seines eigenen. Dann drehte er sich wieder zu den anderen um.

„Wollt ihr jetzt mal sehen, wo unsere Eltern ihre Särge stehen haben?“, rief Gangolf, nahm Sandra am Handgelenk und eilte mit ihr ein paar Stufen hinab durch einen Torbogen in einen anderen Raum. Die anderen folgten ihnen.

„Seht ihr, so hausen unsere alten Herrschaften. Auch nicht schlecht, was?“ Mit ausladender Geste präsentierte er das Zimmer der Eltern. Ihre Särge standen, ebenfalls nebeneinander aufgestellt, an einer Wand. Es gab zwei klobige Eichenschränke, ähnlich denen im Raum der Vampirgeschwister, die ebenfalls je mit einem großen, gusseisernen „G“ verziert waren, und eine schwere Holztruhe. Ihnen gegenüber, in einer Ecke an der anderen Seite des Raumes, stand ein Schränkchen vor dem Wandgestein. Daneben lehnte ein großer Sarg aufrecht an einer Mauer.

„Wer schläft denn da drin?“, fragte Sandra und beäugte den Sarg skeptisch. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es sehr gemütlich war, in einer aufrechten Position zu schlafen.

Gangolf lachte. „Die Blutlikörvorräte unserer Eltern“, sagte er. „Sie haben das gute Stück neulich ein wenig umgestellt. Vorher stand er auf dem Boden, wie die anderen Särge auch. Aber aufrecht stehend macht er doch viel mehr her, findest du nicht?“ Er blickte Sandra erwartungsvoll an, die jedoch nicht so recht wusste, was sie darauf antworten sollte. Mit dieser Art Dekoration konnte sie nicht besonders viel anfangen.

Das Schränkchen neben dem aufrecht stehenden Sarg dagegen gefiel ihr sehr gut. Bewundernd trat sie näher. Die Türen waren mit wunderschönen Einlegearbeiten verziert.

„Da drin bewahrt unser Vater ein paar Sachen auf. Seine Duftwässerchen, zum Beispiel“, erklärte Gangolf, wobei er das Wort „Duftwässerchen“ mit ein wenig Verachtung in der Stimme betonte. Denn mit Duftwässern hatte er rein gar nichts am Hut. Er war nämlich der Meinung, dass es eine unglaublich unvampirische Sache sei, sich mit Parfüms einzusprühen.

„Es ist bestimmt sehr alt, nicht wahr?“ Sandra ging ganz nah an den kleinen Schrank heran und fuhr mit dem Zeigefinger vorsichtig über die dunklen Muster der Einlegearbeiten.

„Oh ja, uralt. Es stand schon in der Burg unserer Vorfahren”, erzählte Gutta.

„Wunderschön.“ Sandra folgte mit ihren Augen der feinen Maserung des Holzes. Das Schränkchen war nicht ganz an das Mauerwerk herangeschoben und als sie es von der Seite betrachtete, fiel ihr plötzlich etwas auf. Seltsam, dachte sie und trat einen Schritt zurück. Nein, nun war es verschwunden. Sie stellte sich noch einmal an die Stelle, an der sie eben gestanden hatte ... und da war es wieder. Hinter dem Schrank. Ein blaues Licht. Ganz schwach, so als käme es aus dem Gestein der Wand.

„Und was ist das?“, fragte sie und zeigte hinter das Schränkchen.

„Das nennt man Wand“, frotzelte Kai.

„So, und die leuchtet normalerweise blau, oder was?“

„Blau? Wieso blau? Hast du heimlich vom Blutlikör gekostet?“

„Jetzt guckt doch mal, hier. Hinter dem Schrank. Da leuchtet es doch blau, oder nicht?“

Gangolf kam zu Sandra herüber und betrachtete den dünnen Spalt zwischen Schrank und Wand. „Hoppla, das ist ja komisch“, staunte er und machte seiner Schwester Platz. „Hast du das schon mal gesehen?“

„Ist mir völlig neu“, erwiderte Gutta, nachdem auch sie hinter den Schrank geblickt hatte. „Gerrith, schau du mal!“

„Ach nee, lasst mal. Wenn ihr das nicht kennt, kenn ich das auch nicht.“

Doch Gangolf packte seinen Bruder am Ärmel und zog ihn zu dem Schränkchen. „Du Hasenfuß! Da wird dich schon kein Raubtier anfallen. Los, guck!“

Gerrith blinzelte in den Zwischenraum. „Oh, sieht aber schön aus“, flötete er.

„Schön? Um Schönheit geht es hier gerade nicht, mein Freund.“ Gangolf zog ihn zurück und schaute selbst noch einmal auf das bläuliche Schimmern. „Kennst du dieses Licht, oder kennst du es nicht?“

„Nein.“

„Dann hilft nur eins.“ Gangolf ließ die anderen zurücktreten, krallte seine langen Finger um die Holzkanten und schob den Schrank mit einem lauten Quietschen von der Wand weg. Dann starrte er mit großen Augen auf das Mauerwerk. „Teufel auch ...“ Er schnappte nach Luft. „So etwas habe ich noch nie gesehen!“

Ein fein geschliffenes Kristallfläschchen stand dort in einer Nische in der Wand. Es wirkte zart und zerbrechlich, so als würde es bei der erstbesten Berührung zu Bruch gehen. Ein spitz zulaufender Verschluss saß oben auf dem Flaschenhals und schützte die Flüssigkeit, mit der das Fläschchen gefüllt war. Die Flüssigkeit war durchsichtig und leuchtete in einem hellen und kräftigen Blau. Ein sanfter Kranz aus blauen Strahlen waberte mal stärker und mal schwächer werdend um die Flasche herum und formte dabei ihre Umrisse nach.

„Also, das ist auf keinen Fall eines der Duftwässer unseres Vaters“, sagte Gutta und beobachtete fasziniert das Flackern des Lichts. „So viel steht schon mal fest.“

Gerrith trat näher an die Nische heran. Das blaue Leuchten zog ihn magisch an. Dieses Meer aus Strahlen ... Dieses wunderschöne Blau ... Er wollte es so gern anfassen. Nur mal kurz berühren. Er streckte langsam die Hand aus und nahm das Fläschchen ganz vorsichtig aus der Nische heraus.

„Schaut nur, wie schön es ist“, flüsterte er ergriffen.

„Um Teufels Willen! Pass bloß auf, dass du es nicht fallen lässt!“, rief Gutta. „Wer weiß, was da drinnen ist. Vielleicht ist es giftig!?“

„Dann wäre es doch nicht bei uns in der Gruft“, sagte Gerrith.

„Da hat er recht“, stimmte sein Bruder zu.

Gerrith drehte die kleine Flasche in seiner Hand und entdeckte ein Etikett. „Oh, seht mal, da steht ja was!“, sagte er und zeigte auf den Zettel. Mit schwarzer Tinte war ein einziges Wort darauf geschrieben:

Pfortenwasser

„Pfortenwasser? Noch nie gehört“, wunderte er sich.

„Bestimmt haben wir das mal in Vampirkunde in der Schule gehabt“, meinte Gangolf, „aber da pass ich nie auf. Das interessiert mich nicht so.“

„Quatsch, Vampirkunde. So ein komisches Wort hättest selbst du dir gemerkt“, sagte Gutta. „Das da ist was ganz Geheimes, das sag ich euch!“

„Und deswegen steht es einfach so in einer Wandnische?“

„Na klar! Genau deshalb! Überleg doch mal. Würdest du so etwas hinter einem einfachen Schrank vermuten? Das ist doch das beste Versteck. Aber was es auch ist, stellen wir es lieber wieder zurück.“

Doch Gerrith hatte die Flasche bereits geöffnet. Aus dem Flaschenverschluss in seiner Hand ragte ein kleines, durchsichtiges Stäbchen, das auch aus Kristall war und wie eine Pipette aussah. An diesem Stäbchen leuchtete ebenfalls etwas von dem Pfortenwasser und ganz langsam bildete sich an seiner Spitze ein Tropfen. Zunächst war dieser Tropfen kaum zu erkennen, doch dann wurde er größer und war schließlich so sehr angewachsen, dass er deutlich zu sehen war.

„Mensch, Gerrith, pass auf!“, rief Gutta noch. „Der Tropfen da, der fällt gleich ...“

Doch es war zu spät. Sie hatte den Satz noch nicht ausgesprochen, da löste sich der Tropfen von dem Kristallstäbchen – und blieb in der Luft stehen!

Kai zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Siehst du, was ich sehe?“, fragte er und stupste Sandra an, die mit offenem Mund dastand. Sie nickte stumm. „Leute, das geht hier doch nicht mit rechten Dingen zu“, flüsterte er und beobachtete, wie der Tropfen vor Gerriths Gesicht herumtänzelte. Wie eine Kerzenflamme zuckte der Tropfen in alle Richtungen und leuchtete dabei hell auf. „Wieso fällt der nicht runter?“

Dann plötzlich fuhren alle erschrocken zurück. Um den Tropfen herum bildete sich ein gleißend heller, blauer Schein und der Tropfen begann, sich in die Länge zu ziehen. Während das eine Ende in der Luft stehen blieb, zog sich das andere in Richtung Wand. Als der Tropfen eine bestimmte Länge erreicht hatte, schnellte das andere Ende nach und er raste als kleine Lichtkugel an die Steinwand neben den Särgen, wo er mit einem leisen Platschen aufschlug.

Schlagartig war das blaue Licht verschwunden.

Doch dort, wo der Tropfen gegen den Stein geklatscht war, geschah etwas Seltsames. Durch die Steinritzen hindurch begann es bläulich zu glühen, ganz so, als ob hinter dem Mauerwerk ein Feuer entbrannt wäre. Erst leuchtete es ganz schwach, doch dann wurde das Glühen stärker und stärker und schließlich schossen schmale Flammen aus der Wand. Dunkelblaue, kräftige Flammen, die einen Stein nach dem anderen erfassten und aufzufressen schienen. Wie eine Schlange kroch das Feuerband über die Wand und hatte nach einer Weile eine bogenartige Spur hinterlassen. Die Form einer ... Tür!

Kai, Sandra und die Vampirgeschwister rückten näher zusammen. Kai hörte noch, wie Gangolf ein leises „Irre!“ von sich gab, als ein dumpfes Grollen die Gruft durchzog. Staub und kleine Bartflechtenfäden rieselten von der Decke auf sie herab. Innerhalb des Lichtrahmens löste sich eine steinerne Pforte aus der Wand und schob sich donnernd über den Boden. Haarscharf schrammte sie an den Särgen der Eltern vorbei und kam mit einem ohrenbetäubenden Schlag kurz vor der Holztruhe zum Stehen.

Pfortenwasser

Eine unheimliche Stille machte sich breit. Letzte feine Bartflechtenfäden segelten durch die Luft und rieselten auf Kai und seine Freunde herab. Keiner wagte zu sprechen. Mit weit aufgerissenen Augen standen sie da und starrten auf die Öffnung, die sich vor ihnen aufgetan hatte. Dann setzte Gerrith langsam wie in Zeitlupe den Verschluss wieder auf das Fläschchen und brachte es schweigend in die Nische zurück.

„Donnerwetter“, staunte Gangolf und trat einen Schritt vor. „Schaut doch nur, wie steil es da runtergeht!“ Er pirschte sich vorsichtig an den Türrahmen heran und blickte neugierig in den Gang. Ein kühler Windhauch kam aus der Tiefe und wehte Staub aus seinem Haar.

„Was siehst du?“, flüsterte Gerrith.

„Eine Treppe. Und in den Wänden sind überall Nischen, in denen noch mehr von diesen komischen Flaschen mit der blauen Flüssigkeit stehen. Gibt ein ziemlich tolles Licht!“ Er schlich die ersten paar Stufen hinab.

„Halt, wo willst du denn hin?“ Sandra preschte vor und wollte ihn festhalten.

„Na, ich will wissen, was da ist“, sagte er und als er ihren fassungslosen Gesichtsausdruck sah, fügte er hinzu: „Du nicht?“

„Das ist, glaube ich, keine gute Idee!“ Gerrith fuhr sich durch das Haar. „Ich meine ... Wenn unsere Eltern noch nie etwas von diesem Gang erzählt haben, dann wird das schon seinen Grund haben.“

„Mann, Bruderherz“, Gangolf verdrehte die Augen und holte tief Luft. „Jetzt pienz dich hier nicht ins Koma! Da unten wartet vielleicht etwas Aufregendes auf uns! Etwas Verbotenes!“

„Eben! Das schreit doch geradezu nach Ärger.“

„Nein, nach Abenteuer schreit das, verstehst du, Gerrith, nach Abenteuer!“ Gangolf schaute Zustimmung heischend in die Runde. „Was meint ihr wohl, warum unsere Eltern nie etwas hiervon erzählt haben, hm?“ Er zeigte die Treppe hinunter. „Ich sage euch, da ist etwas Interessantes. Und das werden wir heute entdecken. Also, was ist, gehen wir jetzt, oder nicht?“

Gutta sah Sandra an. „Traust du dir das zu?”

Sie nickte stumm, aber Kai fühlte, dass sie Angst hatte.

„Dann auf, lasst uns nachsehen, wohin uns diese Treppe führt!“ Gangolf stieg die ersten Stufen hinab und war bald nicht mehr zu sehen. Gutta und Gerrith folgten ihm.

„Geh du nur voraus, ich bleibe dicht hinter dir, okay?“, sagte Kai, als die anderen in dem Gang verschwunden waren. Sandra lächelte ihn zaghaft an und ging los. Kai schaute noch einmal zurück und folgte ihr dann.


Die ausgetretenen Stufen wanden sich schier endlos in die Tiefe. Ab und zu endeten sie in Gängen, die Kai, Sandra und die Vampirgeschwister achtsam entlang schlichen und die immer wieder zu neuen Treppen führten. In unregelmäßigen Abständen strahlten Pfortenwasserflaschen aus Wandnischen. Ihr blaues Licht war Sandra unheimlich. Alles schien so blass und unwirklich und sie hatte fast das Gefühl, nicht Gutta, Gangolf und Gerrith, sondern drei fahle Geister mit langen Umhängen schwebten vor ihr die Stufen hinab.

Auf einmal hielt Gangolf abrupt inne. Sie waren gerade eine Wendeltreppe heruntergekommen und standen nun in einem weiträumigen Gang. Links von ihnen versperrte eine Mauer aus grob behauenen Steinen den Weg, sodass sie nur rechts weiterlaufen konnten.

„Was?“ Gutta bemerkte Gangolfs besorgten Gesichtsausdruck.

„Hört ihr das?“, fragte er leise.

Sie lauschten.

„Da sind doch Stimmen, oder?“ Gerrith spähte ängstlich in den vor ihnen liegenden Gang.

„Richtig.“ Sein Bruder nickte. „Und zwar mindestens fünf oder sechs!“

„Das hörst du?“, fragte Sandra überrascht. Sie selbst konnte nicht eine einzige Stimme vernehmen.

„Du bist eben kein Vampir“, sagte Gangolf nicht ohne Stolz. Er zeigte auf sein Ohr und schmunzelte. „Das funktioniert übermenschlich gut!“

„Ihr wisst aber, was das bedeutet.“ Gerrith hob warnend den Zeigefinger. „Das heißt, da ist jemand!“

Gangolf lachte und schlug ihm anerkennend auf den Rücken. „Richtig, sehr gut beobachtet!“

Gerrith seufzte. „Also drehen wir um und gehen zurück, sonst erwischt man uns noch und ...“ Als er die genervten Blicke seiner Geschwister bemerkte, zeigte er schnell auf Sandra und sagte: „Was denn? Ich mein doch nur. Wegen ihr!“ Doch er wusste, dass ihm keiner glaubte.

Sandra dachte nach. So Unrecht hatte Gerrith nicht. Wie viele Stimmen da auch immer waren, sie gehörten mit Sicherheit Vampiren. Bei dem Gedanken zitterten ihr die Knie. Selbst wenn dort, wo die Stimmen herkamen, Herr und Frau von Greifendorf waren ... wer mochten die anderen Vampire sein? Und wie würden diese Vampire reagieren, wenn sie plötzlich einen Menschen vor sich hatten? Sie nahm Kais Hand und hielt sie ganz fest.

„Komm, dann gehen wir wieder, ja?“, sagte Kai und wandte sich zum Gehen.

Sandra blieb stehen. „Warte!“, sagte sie. „Es ist schon in Ordnung.“

„Aber du musst das nicht tun, Sandra. Wir können auch umkehren.“

„Ich weiß. Aber ich möchte es.“ Sie löste ihre Hand aus der seinen und lächelte ihn an. Sie wusste, dass er sich nun fragte, warum sie diese Angst auf sich nahm. Und Angst, ja, die hatte sie wirklich. Aber sie hatte sich etwas geschworen. Damals, an jenem Abend, als Kais Großmutter das Teufelsmahl für Hexen und Vampire veranstaltet hatte und sie erfahren hatten, dass Kais Verwandlung in einen Vampir nicht mehr aufzuhalten war. In dieser Nacht war Kai ohnmächtig geworden und hatte geraume Zeit erschöpft auf der Couch geschlafen. Sie wusste nicht mehr, wie lange sie ihm gegenüber gesessen und ihn angeschaut hatte. Doch sie erinnerte sich noch genau an die starken Gefühle, die sie in jenem Moment durchströmt hatten und sie hatte sich geschworen, Kai niemals allein zu lassen und für ihn da zu sein, so gut sie es konnte. So wie er es getan hatte, als sie diese schwere Krankheit gehabt und niemand gewusst hatte, ob sie je wieder gesund werden würde. Und deswegen würde sie jetzt diesen Gang weiterlaufen, ihre Angst verdrängen und mit Kai ein weiteres Stück der Vampirwelt entgegengehen. Sie atmete tief durch und setzte, ohne ein weiteres Wort zu sagen, einen Fuß vor den anderen – den Stimmen entgegen.

Kai und die Vampirgeschwister wechselten fragende Blicke und folgten Sandra. Der Gang machte bald einen Knick und war dann zu Ende. Sie standen vor einem Torbogen und blickten auf eine mit einem schweren Steingeländer umfasste Empore eines hell erleuchteten Raumes. Laute Stimmen drangen dumpf zu ihnen herauf, aber sie waren so verzerrt, dass sie nicht verständlich waren.

Gutta legte den Zeigefinger auf den Mund, schlich in gebückter Haltung auf die Empore und versteckte sich hinter einer der dicken Säulen des Geländers. Die anderen kamen vorsichtig hinter ihr her. Gespannt lugten sie in den unter ihnen liegenden Saal. Es war ein großer Raum, dessen Boden mit weißen und schwarzen Marmorplatten ausgelegt war. Die schwarzen Platten zeichneten die Umrisse vieler kleiner Fledermäuse nach. Der edle Marmor wollte so gar nicht zu dem rauen Stein des Gewölbes passen. Ein gewaltiger Kronleuchter hing an einer schweren Eisenkette von der Decke herab und erhellte mit den tänzelnden Flammen seiner unzähligen Kerzen den Saal. Aus den Wänden ragten überall Fackeln, die kräftig loderten.

Gutta machte sich noch kleiner und huschte von einer Geländersäule an die nächste, bis sie am hinteren Ende der Empore angelangt war. Sie gab den anderen mit einer Kopfbewegung zu verstehen, ihr zu folgen. Als schließlich auch Gerrith als Letzter herangeschlichen war und neben seiner Schwester hockte, betrachteten sie zwischen den Geländersäulen hindurch den Saal, der sich in seiner ganzen Größe unter ihnen ausbreitete. Weiter vorn, fast am anderen Ende des Saales, hörte das Muster mit den schwarzen Fledermäusen auf und machte ein paar Stufen Platz, die sich über die gesamte Breite des Raumes erstreckten. Auf diesen Stufen standen die Vampireltern. Doch sie waren nicht allein.

Ausguck

Ihnen gegenüber stand eine finstere Gestalt. Sie war von Kopf bis Fuß in eine schwarze Kutte gekleidet. Der Stoff strich über den Boden und es sah aus, als schwebte die Gestalt über dem Marmor. Aus den weit ausladenden Ärmeln schauten lediglich die Fingerspitzen hervor und die Kapuze saß so tief, dass sie den Kopf gänzlich verhüllte. Einmal, als sie sich kurz zu den Freunden auf der Empore umdrehte, durchzog Kai ein Schauder. Denn dort, wo er ein Gesicht erwartet hatte, schien er in ein tiefes, schwarzes Loch zu blicken.

Neben den Vampireltern standen noch drei weitere Vampire und redeten aufgeregt durcheinander. Ihre langen, schwarzen Umhänge bewegten sich dabei kräftig hin und her und ihre Stimmen hallten donnernd zu Kai und seinen Freunden herauf.

„Untragbare Situation. Untragbar!“, rief der eine Vampir, ein hochgewachsener Mann, der, sehr zu Kais Erstaunen, nicht schwarze, sondern blonde Haare hatte, so wie er selbst. „Das ist ja eine Gefährdung für alle Teilnehmer!“ Kai musste schmunzeln, denn der Vampir sprach mit einem lustigen Akzent.

„Absolut richtig, mein Lieber! Wir sollten die Versammlung verschieben“, stimmte ein anderer Vampir zu, der nicht nur mit dem gleichen Akzent wie der erste sprach, sondern ihm mit seiner hochgewachsenen Statur und den blonden Haaren auch ziemlich ähnlich sah.

„Aber meine Herren, ich bitte euch. Das ist keinesfalls möglich!“ Gottfried von Greifendorf, Guttas, Gangolfs und Gerriths Vater, wandte sich aufgeregt an die blonden Vampire. „Bedenkt die Auswirkungen!“

„Gottfried, beruhige dich doch!“ Gesine von Greifendorf, die Mutter der Vampirgeschwister, tätschelte den Arm ihres Mannes. „Hier wird gar nichts abgesagt oder verschoben“, bestimmte sie und fuchtelte dabei wild mit den Armen. „Die internationale Konferenz der Interessenvereinigung der Vampire von Kleinfriedhöfen kann und wird nicht verlegt werden. Basta. Aus. Schluss. Dies ist unser letztes Wort!“ Sie zupfte die Ärmel ihres Kleides zurecht. „Wissen Sie überhaupt, wie viele Abgesandte bereits angereist sind? Und es gibt eine Menge wichtiger Themen zu besprechen, Entscheidungen zu treffen. Nein, die Konferenz muss stattfinden!“

Die finstere Gestalt hob den Zeigefinger. Der Ärmelstoff der Kutte reichte ihr dabei fast bis an die Hüfte. „Wenn ich bemerken dürfte ... Ich stimme grundsätzlich zu, dass Vorsicht geboten ist. Aber bitte doch keine Panik. Noch weiß niemand genau, was er vorhat.“

Oben auf der Empore zuckte Kai zusammen. Die Stimme des Kuttenmannes kam ihm sonderbar vertraut vor, obgleich sie leiser als die der Vampire war und er wegen des Halls Schwierigkeiten hatte, sie zu verstehen. Er kniff die Augen zusammen und versuchte sich zu konzentrieren. Woher kannte er diese Stimme nur?

Unten trat nun ein dünner, schwarzhaariger Vampir vor. „Und solange wir das nicht wissen, sollte alles wie geplant weiterlaufen. Unsere norwegischen Freunde hier neigen offensichtlich zu übertriebener Vorsicht.“ Er warf den zwei blonden Vampiren erzürnte Blicke zu.

„Ich wundere mich nur“, entgegnete einer der Blonden, „ich wundere mich nur, warum unser belgischer Abgesandter jedwede Bedenken stets so einfach beiseiteschiebt. Auffällig finde ich das.“

„Aber, aber! Nicht streiten.“ Gottfried hob beschwichtigend die Hand. „Wir Vampire müssen jetzt zusammenhalten! Schlimm genug, dass er wieder aktiv geworden ist.“

Kai rutschte vorsichtig näher an Gutta heran. „Wovon reden die da?“, flüsterte er.

Gutta zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.“

„Und dieser Kerl da in der Kutte, wer ist das?“

„Weiß nicht, den kenn ich nicht.“

„Ich würde zu gern wissen, wie sein Gesicht aussieht.“ Im nächsten Augenblick verließ Kai seinen Platz und kroch in Richtung des anderen seitlichen Teils der Empore.

Gutta versuchte noch, nach ihm zu greifen und ihn festzuhalten. „Nicht, bleib hier!“, zischte sie, doch es war zu spät.

Kai schlich bereits um den Eckpfeiler des Geländers. Er blickte sich noch einmal kurz zu ihr um, fuhr mit der Hand um sein Gesicht und zeigte auf die Gestalt in der Kutte. Gutta schüttelte den Kopf, doch Kai beachtete sie nicht.

„Der bringt uns noch alle in Schwierigkeiten“, schimpfte sie leise. „Los, hinterher!“

Sie robbten über den Steinboden, bogen um den Eckpfeiler und krabbelten zu der Stelle, wo Kai gebannt durch das Geländer auf den Kuttenmann schaute.

„Mist, ich kann immer noch nichts erkennen“, flüsterte er.

„Deine Neugier macht dich leichtsinnig“, fauchte Gutta ihn an. „Schau mal, wie weit wir jetzt vom Gang entfernt sind, der hinauf zur Gruft führt!“ Sie zeigte zum Torbogen auf der gegenüberliegenden Seite der Galerie.

Plötzlich huschte ein Schatten über sie hinweg. Etwas Schwarzes drehte einen Kreis über ihnen, flatterte auf das Geländer und stieß sogleich ein durchdringendes Krächzen aus.

„Ja, ist es denn die Möglichkeit!“ Die Stimme überschlug sich. „Die jungen Herrschaften. Das ist aber eine Freude!“

Kai, Sandra und die Geschwister blickten erschrocken auf. Vor ihnen hockte Kurt auf der Balustrade und schlug freudig erregt mit den Flügeln.

Sandra hielt sofort den Zeigefinger vor den Mund. Doch Kurt verstand nicht.

„Habe heute die ersten Ausbesserungsarbeiten an meinem neuen Nest beendet. Toll ist es geworden, wirklich toll. Warum kommt ihr nicht mal vorbei und schaut es euch an? Na, jedenfalls dachte ich mir da: Flieg doch mal wieder aus. Zur Feier des Tages, sozusagen. Und da schwebe ich so in meiner grazilen Art am Friedhof vorbei und denke ‚Ach, komm, geh doch mal wieder die Greifendorfs besuchen‘, zwänge mich durch das Nasenloch des Engels in die Gruft, fliege durch so eine seltsame, blau schimmernde Tür hindurch ... Ist die eigentlich neu? Die is’ mir ja noch nie aufgefallen! Und dann komm ich also hierher und treffe euch. Ist das nicht schön?“ Er hüpfte von einem Bein auf das andere. „Sagt mal, was kauert ihr denn da so ungemütlich auf dem Boden rum?“

„Was ist da los?“ Gottfried von Greifendorfs Stimme donnerte durch das Gewölbe.

„Ups!“ Kurt zuckte zusammen und presste seine Federn so dicht an den Körper, dass er fast wie ein kleiner, schwarzer Strich aussah. „Da ist ja noch jemand.“

„Na toll!“ Gutta verdrehte die Augen.

„Ich hab’s ja gewusst!“ Neben ihr ließ Gerrith den Kopf sinken. „Die Katastrophe“, flüsterte er, „da ist sie!“

Kai versuchte Kurt mit wilden Gesten klarzumachen, dass sie sich hier versteckten.

„Kurt, wer ist da?“, rief der Vampirvater und suchte mit seinen Blicken die Empore ab.

Ganz langsam drehte der Rabe sich um.

„Aaaaach“, schauspielerte er mit zittriger Stimme, „der Herr von Greifendorf! Hallo, lange nicht gesehen!“

„Ich frage dich jetzt zum letzten Mal, Vogel. Wer ist dort oben bei dir?“

Gesine von Greifendorf fasste ihrem Mann an die Schulter. „Warte, mein Lieber. Lass mich mal versuchen.“ Sie baute sich breit auf, stützte die Hände in die Hüften und keifte: „Hör gut zu, Kurt, denn ich sage es nur ein einziges Mal. Entweder du verrätst uns freiwillig, wer sich da oben versteckt, oder ich komme hoch und schaue selber nach. Aber dann werde ich dir jede Feder einzeln ausreißen, das verspreche ich dir.“ Sie machte eine kurze Pause und lächelte den Raben mit künstlicher Freundlichkeit an. „War das deutlich genug?“

Kurt duckte sich. Er blickte rasch hinter sich und zischte: „Es tut mir leid, Freunde.“ Dann streckte er seinen Schnabel hoch in die Luft und rief den Vampiren beleidigt zu: „Ich weiche der rohen Gewalt!“

Doch bevor er mehr sagen konnte, richtete Gerrith sich plötzlich auf.

„Gerrith!“ Wie eine Nadel stach die Stimme seiner Mutter in sein Trommelfell. „Was machst du denn hier? Wie kommst du ...? Gangolf! Gutta!“

Die Vampirin schüttelte vehement den Kopf. „Ihr alle drei?“

Gangolf bedeutete Kai und Sandra mit einer schnellen Handbewegung, sich nicht zu zeigen.

„Nun ... äh ...“ Gerrith war den Tränen nah. „Wir ... Also, da war so ´ne Flasche, auf der stand ‚Pfortenwasser’ drauf. Und dann ...“

„Wie ... Pfortenwasser?“, unterbrach seine Mutter und drehte sich zu ihrem Mann. „Gottfried, hast du schon wieder das Pfortenwasser einfach so rumstehen lassen?“ Das „schon wieder“ sagte sie mit besonders viel Nachdruck.

„Natürlich nicht, mein Herzblatt.“ Der Vater winkte entschuldigend ab. „Ich habe es wieder hinter den Schrank gestellt, wo es hingehört.“

„Wie konntet ihr es dann finden?“

Gerrith seufzte. „Es hat so schön geleuchtet und ...“

„Geleuchtet? Wieso geleuchtet? Es leuchtet nur, wenn man die richtige Beschwörungsformel spricht und die kennt ihr noch gar nicht.“ Sie kniff die Augen zusammen und fuhr langsam fort: „Oder wenn Menschen in der Nähe sind.“ Sie streckte den Arm aus. „Ha! Wohin guckt dieser Vogel da?“ Kurt erschrak so sehr, dass er wie ein Stein von der Brüstung fiel und erst im letzten Augenblick, kurz bevor er auf dem Boden aufschlug, seine Flügel ausbreitete und auf den Kronleuchter flatterte.

„Ich, gnädige Frau?“, fragte er scheinheilig wie ein Schüler, den der Lehrer beim Abschreiben ertappt hat. Und hätte er kein schwarzes Federkleid gehabt, so wäre er sicher puterrot geworden.

„Ja, du!“

„Ich habe mich nur so umgesehen.“ Kurts Stimme zitterte leicht und er hoffte, dass die Vampirin es nicht bemerken würde. Er hatte doch nur ganz, ganz kurz zu Kai und Sandra geschaut ...

Die Vampirmutter sah ihn scharf an. „Nur so umgesehen ... Papperlapapp! Meinst du wirklich, ich sei auf den Kopf gefallen?“ Sie riss den Mund auf und stieß ein wütendes Fauchen aus. Mit blutunterlaufenen Augen blickte sie zu ihren Kindern. „Ich kann durchaus eins und eins zusammenzählen.“ Ihre Stimme war scharf wie ein Rasiermesser. „Wenn es das ist, was ich vermute, dann tut sich für euch gleich die Hölle auf!“

Gerrith krallte seine Finger fest um das Geländer. Er zitterte so sehr, dass er fürchtete umzufallen. Neben ihm kauerte Kai und überlegte krampfhaft, wie er seiner Freundin helfen konnte. Um sich selbst machte er sich keine Sorgen, aber dort unten standen vier unbekannte Vampire und hier oben hockte Sandra. Ein Mensch. Ein Leckerbissen. Er drehte den Kopf und schaute sie an. Sie hatte die Augen geschlossen. Kleine Schweißperlen standen ihr auf der Stirn. Er nahm ihre Hand und sie öffnete die Augen, doch ihr Blick schien ins Leere zu gehen.

Die Vampirmutter schüttelte den Kopf. „Ihr enttäuscht mich bitterlich! Gebt es doch zu. Oder muss ich mir wirklich erst die Mühe machen und selbst nachsehen? Ihr habt Menschen mit hierhergebracht!“

Als ihre Worte verhallt waren, legte sich eine unheimliche Stille über den Saal. Die anderen Vampire sahen sie ungläubig an.

„Gesine, weißt du, was du da sagst?“, flüsterte Gottfried nach einer Weile. Er blickte kurz zum Kapuzenmann, der fast unmerklich zusammenzuckte. Dann fuhr der Vampir mitleidsvoll fort: „Wenn das stimmt, haben wir hier gleich ein Drama!“

„Allerdings! Und schuld daran sind mal wieder unsere Kinder!“, keifte die Mutter und blickte zu Gutta, Gangolf und Gerrith, die mit gesenkten Köpfen wie die Orgelpfeifen nebeneinanderstanden.

Kai stupste Sandra an. „Hey“, zischte er. „Hey, Sandra!” Ein Ruck ging durch ihren Körper und sie drehte sich zu ihm. „Ich habe dir versprochen, dass ich dir helfe, wenn es brenzlig wird. Und das mache ich auch.“ Er schaute ihr tief in die Augen. „Vertraust du mir?“

Sie nickte stumm.

„Gut.“

Er strich durch ihr rotes Haar und lächelte sie an. Doch es war kein Lächeln, das von einem unbeschwerten Herzen kam, denn es tat ihm weh, die Angst in ihrem Gesicht sehen zu müssen. Die Angst, die sie nur seinetwegen aushielt. Er nahm ihre Hand. Und dann erhoben sie sich.

„Na, also. Dachte ich’s mir doch“, sagte die Vampirmutter.

In diesem Augenblick drehte sich auch die Gestalt in der Kutte herum und schaute hinauf zur Empore. Die große, weite Kapuze rutschte ihr dabei in den Nacken und Kai blickte in das Gesicht seines Vaters.

3

Die Schatten der dunklen Gefahr

Eine eiskalte Stille legte sich über den Raum. Eine schmerzende, betäubende Stille. Kai stand vor seinem Vater und blickte wieder und wieder in dessen Gesicht, als ob er sich stets aufs Neue vergewissern musste, dass es auch wirklich sein eigener Vater war, der da vor ihm stand. Sandra hatte seine Hand genommen und drückte sie ganz fest. Doch er spürte es nicht. Er spürte überhaupt nichts. Nur dieses beklemmende, erdrückende Gefühl, das durch seinen Körper kroch. Schwer legte es sich auf seine Brust. Schnürte ihm die Luft zum Atmen ab. Er öffnete den Mund um etwas zu sagen. Seine Lippen formten Wörter, doch kein Laut kam über sie. Sein ganzer Körper war wie gelähmt.

Sandra und die Vampire standen regungslos da und schauten auf Kai und seinen Vater. Schließlich war er es, der die Stille durchbrach.

„Mein Junge“, flüsterte er sanft. Seine Stimme zitterte und Tränen füllten seine Augen. Er ging einen zaghaften Schritt auf Kai zu. Dann fielen sie sich in die Arme. Kai hielt seinen Vater ganz fest. Er hörte ein leises Schluchzen und spürte, dass auch über dessen Wangen Tränen liefen. Lautlos tropften sie auf den Marmorboden. Tausend Gedanken schwirrten durch seinen Kopf. Sie machten ihn ganz benommen und schwerelos und er glaubte, gar nicht hier zu sein, in diesem Saal so weit unter der Erde. Während er an der Schulter seines Vaters weinte, spürte er, wie eine tonnenschwere Last von ihm abfiel. Es tat so gut, dass sein Vater da war; so gut, dass er sich einfach nur fallenlassen konnte. Und so schmiegte er sich in die Arme seines Vaters. Ganz fest. Ganz, ganz fest ...

Es erschien ihm wie eine kleine Ewigkeit, bis seine Tränen versiegten und er wieder klar denken konnte und Sandra und die anderen im Raum wieder wahrnahm. Langsam löste er sich aus der Umarmung seines Vaters und sie schauten einander in ihre verweinten Augen.

„Es waren also die Greifendorfkinder.“ Kais Vater blickte zu Gutta, Gangolf und Gerrith.

„Du weißt es? Du weißt, dass ich gebissen worden bin?“ Kai schluckte.

„Ja.“

„A... Aber ...“

„Ich wusste es, aber bis heute Abend nicht, von wem. Erst vorhin haben mir die Greifendorfs erzählt, dass es ihre Kinder waren.“

Die Vampirgeschwister schauten zu ihren Eltern, die keine Miene verzogen.

Kai wurde schwindelig. So viele Fragen sausten in seinem Kopf herum. „Ich verstehe das alles nicht. Warum ...“

Sein Vater hielt kurz den Zeigefinger an den Mund. „Warte“, sagte er liebevoll. „Ich erzähle es dir von Anfang an. Einverstanden?“

Kai nickte.

„Alles begann vor vielen Jahren, als ich noch Student an der Universität war. Damals machte ich in meinen Ferien öfter ausgedehnte Reisen, wie du weißt, und eine dieser Reisen führte mich auch durch mein geliebtes Skandinavien. Dann, eines Abends, ich hatte gerade irgendwo im hohen Norden Norwegens mein Zelt aufgeschlagen und freute mich auf einen Fisch, der vor mir in der Pfanne über meinem Lagerfeuer brutzelte, hörte ich von irgendwoher ein Jammern und Stöhnen. Zuerst dachte ich, dass da ein Tier sei, aber dann erkannte ich, dass es eine menschliche Stimme war. Ich ging los, um nachzusehen, woher diese Stimme kam. Vielleicht brauchte jemand meine Hilfe? So stieg ich einen Hügel hinauf, immer der Stimme entgegen. Als ich oben angekommen war, lag vor mir ein kleiner Friedhof, den ich zuvor noch gar nicht bemerkt hatte. Zwischen dessen Gräbern lief eine dunkle Gestalt herum, stöhnte und hielt sich den Kopf dabei. Ich fragte die Gestalt, ob sie Hilfe benötige und als ich keine Antwort bekam, ging ich zu ihr.

Erst da erkannte ich, dass es sich um einen Mann handelte. Er war in einem sehr schlechten Zustand, blutete an der Stirn und sah sehr zerzaust aus. Dann erkannte ich, dass neben ihm im Gras noch ein Mann lag. Auch er blutete am Kopf und röchelte schwer. Auf meine Frage, was um alles in der Welt denn nur geschehen sei, bekam ich keine Antwort und so half ich dem am Boden liegenden Mann auf die Beine und führte die zwei zu mir ans Lagerfeuer, wo übrigens mein Fisch schon längst verkohlt war ... Aber, na ja. Nach einer Weile hatten sich die beiden wieder erholt und wir führten eine nette Unterhaltung. Sie verrieten mir, dass sie Vampire seien und wegen einer Unachtsamkeit beim Fliegen zusammengeprallt und auf den Friedhof abgestürzt waren. Zum Glück waren sie nicht sehr hoch geflogen. Was da alles hätte passieren können ...“

„Wie bitte?“ Kai zog eine Augenbraue hoch.

„Ja, ja, ich weiß, es klingt seltsam. Aber so war es. Und komischerweise hatte ich auch nicht eine Sekunde lang Angst vor ihnen. Als sie mir sagten, dass sie Vampire seien, habe ich ihnen natürlich zunächst kein Wort geglaubt, aber sie überzeugten mich dann doch recht eindrucksvoll.“

„Und wie, wenn ich fragen darf?“ Kai ignorierte das Kichern, das von den blonden Vampiren kam.

„Sie zeigten mir etwas von ihrer Kunst.“

„Kunst?“

„Ja. Sie sind nämlich Mitglieder der NNVFA, weißt du.“

„Bitte?“

Gangolf klatschte verzückt in die Hände. „Das ist doch nicht wahr! Sie kennen Mitglieder der NNVFA? Sie?“

„Entschuldige bitte, warum denn nicht?“ Kais Vater drehte sich kurz zu Gangolf und schaute dann wieder seinen Sohn an. „Die NNVFA sind die Nord-Norwegischen Vampir-Flugakrobaten, Kai. Und das sind seit langer Zeit die besten Flugakrobaten, die man im ganzen Vampirreich finden kann.“ Er zwinkerte den blonden Vampiren zu, was Kai einigermaßen irritierte.

„Vampir-Flugakrobaten?“ Kai schüttelte ungläubig den Kopf. Wäre es nicht sein Vater gewesen, der da vor ihm stand und solch seltsame Dinge erzählte, hätte er es nie geglaubt.

„Aber ja!“, sagte sein Vater. „Und sehr nette dazu! Sie stehen übrigens neben dir.“ Er zeigte auf die beiden blonden Vampire, die Kai fröhlich anlächelten. „Darf ich vorstellen? Per Polar und Pelle vom Pönnefjord. Amtierende Weltmeister im ungezwungenen Freilandstil der Standardakrobatik!“ Per Polar und Pelle vom Pönnefjord streckten Kai mit einem freundlichen „Hei!“ die Hand entgegen. Kai reichte ihnen die seine, die sie ordentlich schüttelten.

„Schön, dich kennenzulernen“, sagte Per und drückte Kais Hand so kräftig, dass der dachte, sie würde jeden Moment brechen.

„Das finde ich auch.“ Pelle strahlte Kai mit einem breiten Grinsen an.

Kai knetete seine schmerzende Hand und nickte den beiden Vampiren zu. Norwegische Vampire, dachte er, hm, na ja. Erklärt wohl ihren lustigen Akzent ... Er war überrascht von ihrer überschwänglichen Freundlichkeit. Und von sich selbst. Denn bisher hatte er Vampire nur mit Gutta, Gangolf, Gerrith und ihrer Familie in Verbindung gebracht. Aber natürlich gab es auch woanders auf der Welt solche wie sie ... und ihn.

„Wollten sie dich denn gar nicht beißen?“, fragte er seinen Vater.

„I wo!“ Der Vater schob seine Lippen ganz nah an Kais Ohr heran und flüsterte: „Norwegische Vampire gelten als außerordentlich menschenfreundlich, weißt du!“ Er strich Kai durchs Haar. „Soll ich weitererzählen?“

„Ja, bitte.“

„Die Jahre verstrichen, ich hatte deine Mutter geheiratet, du warst auf die Welt gekommen und alles ging seinen gewohnten Gang. Da passierte es. Eines Abends, ich saß gerade in meinem Arbeitszimmer und korrigierte Klassenarbeiten, da flog etwas durch das offene Fenster. Es war schwarz und flatterte im Zickzack vor meinem Gesicht herum. Zuerst konnte ich gar nicht erkennen, was da vor mir herumflog, aber dann erkannte ich es doch: Es war eine Fledermaus! Sie ließ etwas vor mir auf den Tisch fallen, kreiste noch einmal um meine Lampe und verschwand dann wieder in der Nacht. Das war mit Sicherheit das seltsamste Zusammentreffen, das ich je mit einer Fledermaus gehabt hatte. Ich sah, dass sie mir einen Brief vor die Nase auf den Tisch gelegt hatte. Er kam von der Interessenvereinigung der Vampire von Kleinfriedhöfen, der IVK also. Man bat um ein Treffen. Man hatte, so war darin zu lesen, von Per Polar und Pelle vom Pönnefjord gehört, dass ich ein recht netter Mensch sei, der keinerlei Vorurteile gegenüber Vampiren hege und dass man dringlichst mit mir sprechen müsse. Gott, Kai, du kannst dir nicht vorstellen, was für Herzklopfen ich damals hatte! Ich weiß noch genau, wie ich dasaß und Ewigkeiten auf diesen Brief in meiner Hand starrte ...

Ich wusste nicht recht, was ich tun sollte. Konnte ich es euch erzählen? Zu dir und deiner Mutter sagen: ‚Hey, es gibt Vampire. Ach, und übrigens, ich kenne ein paar davon und muss mal eben los und sie treffen ...‘? Wie würdet ihr reagieren? Ich wusste zu dem Zeitpunkt ja auch nicht, was die Vampire von mir wollten. Vielleicht war es etwas, das für meine Familie gefährlich werden konnte? Oder sollte ich besser gar nicht auf den Brief reagieren? Aber dann hätte ich Per, Pelle und all die anderen, die mich um Hilfe gebeten hatten, sehr enttäuscht.“

„Also bist du hingegangen.“

„Ich bin gegangen, richtig, Kai. Und ich beschloss, meiner Familie nichts zu sagen und erst einmal abzuwarten, was die IVK von mir wollte. Auf dem Weg zum Treffpunkt, hier auf dem alten Waldfriedhof, schlotterten mir die Knie wie noch nie in meinem Leben. Aber als ich dann Per und Pelle sah, die mich freundlich begrüßten, war meine Angst wie weggeblasen. Die Vampire waren alle ausgesprochen zuvorkommend zu mir. So ganz anders als man es aus den Filmen und all diesem Quatsch kennt. An diesem Abend lernte ich auch die Greifendorfs kennen.“

„Und was wollten sie nun von dir?“

„Sie brauchten Augen bei Tage.“

„Augen bei Tage?“

„Einen Spion. Sie meinen, die Vampire brauchten tagsüber einen Spion in der Menschenwelt, richtig?“, sagte Sandra.

„Genau. Ich sollte berichten, wenn ich tagsüber etwas Verdächtiges bemerkte. Denn es wurden in dieser Gegend verstärkt Aktivitäten von Vampirjägern beobachtet. Ich stimmte zu, denn es schien mir weder für mich noch für meine Familie gefährlich zu sein.“ Kais Vater lächelte verlegen. „Ja, so war es. So lernte ich die Vampire kennen.“

Kai fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Er wusste nicht, ob er Verständnis oder Wut empfinden sollte. Ihm wurde heiß und seine Schläfen pochten. Mit zitternder Stimme sagte er: „Du hast die ganze Zeit Kontakt zu Vampiren gehabt. Du hast die Male an meinem Hals gesehen, nachdem ich gebissen wurde. Du hättest wissen müssen, was sie bedeuten! Was mit mir geschieht.“ Er stockte und fuhr dann mit leiser Stimme fort: „Die ganze Zeit hast du gewusst, was mit mir passiert, ... Die ganze Zeit! ... Und du hast es mir nicht gesagt. Du hast mir nicht geholfen!“

Es wurde still. Quälend lange still. Kais Vater nahm nicht für eine Sekunde den Blick von seinem Sohn.

„Ich habe fürchterlich mit mir gerungen, Kai, das musst du mir glauben“, sagte er schließlich. „Ich habe sofort bemerkt, was mit dir passiert war, mein Junge. Sofort! Erinnerst du dich noch, als ich an dem Morgen vom Frühstückstisch aufstand, um dir eine Wundsalbe zu holen?“

Kai nickte.

„Ich stand damals im Bad vor dem Spiegel, hielt die Salbentube fest in meiner Hand umklammert, so fest, dass ich sie beinahe zerdrückt hätte, und kämpfte mit den Tränen. Es war der schrecklichste Augenblick, an den ich mich erinnern kann. Glaube mir ... in mir tobte ein fürchterlicher Kampf. Sollte ich meiner Familie enthüllen, dass ich in der Menschenwelt für die Vampire spioniere? Würde das etwas ändern? Es war grausam. Ich schickte sofort eine Brieffledermaus los und bat um ein Treffen mit den Greifendorfs, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht wussten, dass es ihre Kinder waren, die dich gebissen hatten, Kai. Sie versuchten alles, um mir in dieser tragischen Situation zu helfen und erzählten mir von einer bestimmten Zeremonie, die Klarheit bringen könnte, ob deine Verwandlung noch aufzuhalten sei oder nicht. Da aber eine bestimmte Zutat nicht mehr zu bekommen ist, so sagten sie, sei diese Zeremonie leider heutzutage nicht mehr durchführbar.“

Kai dachte sofort an das Teufelsmahl für Hexen und Vampire und an die Transsylvanischen Schicksalskekse.

„Ich habe deiner Oma davon erzählt. Schließlich ist sie ja Vampirexpertin. Sie meinte, ich solle mir keine Sorgen machen. Sie werde das in die Hand nehmen. Also fuhr ich wie geplant mit deiner Mutter an die See. Es brach mir fast das Herz, als ich erfuhr, dass Oma die Zeremonie zwar durchführen konnte, aber dabei herauskam, dass deine Verwandlung nicht mehr aufzuhalten war..“

„Und Mama ... weiß sie etwas davon?“, fragte Kai. Tränen verschleierten seinen Blick.

„Nein. Ich glaube, das könnte sie nicht ertragen. Wir haben natürlich über deine Veränderungen gesprochen. Und ich habe ihr erzählt, dass du eben in die Pubertät kommst und es da doch völlig normal ist, dass sich junge Leute komisch benehmen.“ Er schmunzelte kurz. „Seither liest sie lauter Ratgeber über die Pubertät.“

Kai stellte sich vor, wie seine Mutter tonnenweise Bücher über die Pubertät aus der Bibliothek anschleppte. Irgendwie war es eine lustige Vorstellung und hätte sie nicht einen so ernsten Hintergrund, so hätte er sicherlich darüber gelacht.

So jedoch fühlte Kai sich elend, wenn er an seine Mutter dachte. Hatte nicht auch sie das Recht, die Wahrheit zu erfahren? Und was, wenn sie die Wahrheit erfahren würde und mitbekäme, dass um sie herum alle seit langem Bescheid wussten? Er durfte sich gar nicht ausmalen, was dann passieren würde.

Erneut legte sich eine scheußliche, bleischwere Stille über den Raum.

„Darf ich etwas fragen?“ Sandra konnte dieses bedrückende Schweigen nicht mehr ertragen.

„Aber natürlich“, sagte Kais Vater.

„Was genau ist denn der Grund für das Treffen heute?“

Kais Vater blickte um Erlaubnis bittend zu den Greifendorfs.

Die Vampirmutter verdrehte die Augen. „Eigentlich“, begann sie, „ist dies heute ein geheimes Treffen. Und die haben an und für sich die Angewohnheit, geheim zu sein. Verstehst du, mein Kind?“ Sie blickte etwas hilflos in die Runde. „Aber irgendwie ist hier heute nichts so, wie es sein sollte.“

„Da haben Sie wohl recht“, nickte Kais Vater und fuhr dann zu Sandra gewandt fort: „Wieland von Wünschelsgrund, der gefürchtetste Vampirjäger aller Zeiten, ist mehrfach in dieser Gegend gesichtet worden. Das ist für sich genommen schon schlimm genug, aber er ist nicht allein. Er hat sich, so wird berichtet, mit jemandem zusammengetan.“

„So? Mit wem?“, fragte Sandra.

„Oh, ich glaube, den kennt ihr schon. Rufus Wankelmann. Was die beiden vorhaben, wissen wir noch nicht. Aber sie haben einige Komplizen, soviel ist sicher. Allerdings ist bisher nicht klar, wer genau diese Komplizen sind.“

„Eine fatale Situation ist das, wirklich fatal!“, stöhnte derVampirvater.

„Gottfried, reg dich nicht auf. Wir schaffen das schon. Die Konferenz der IVK wird wie geplant stattfinden“, beruhigte ihn seine Frau.

„Wie sieht dieser Wieland eigentlich aus?“, fragte Kai. „Gibt es Bilder von ihm?“

„Bilder? Ist mir nicht bekannt“, entgegnete sein Vater. „Wir wissen aber, dass er mittelgroß ist und stets einen langen, braunen Mantel trägt, dessen Kragen aufgestellt ist. Außerdem hat er einen größeren Schlapphut mit weiter Krempe. Sein Gesicht hat noch nie jemand gesehen. Manche berichten aber, dass seine Augen von einem besonderen Rot sein sollen, so als ob ein Feuer in ihnen glühen würde.“

Sandra nickte zustimmend. „Genau so ist es auch.“

Schlagartig waren alle Blicke auf sie gerichtet und ein Raunen ging durch den Raum.

„W... Was soll das heißen, mein Kind? Du ... du hattest Kontakt zu ihm? Ist es das, was du da gerade sagen möchtest?“, fragte Per aufgeregt.

„Nun ja, ‚Kontakt‘ ist etwas übertrieben“, antwortete sie, „aber ich habe ihn gesehen, ja.“

Per wurde sichtlich nervös.

„Die Beschreibung“, fuhr Sandra fort, „passt genau auf den Mann, der mich bei Schreinermeister Siebenschein durchs Fenster angestarrt hat, als wir Kais Sarg ausgesucht haben. Du weißt doch noch, Kai, dass ich wegen der Spinne Ludwig nicht über die Türschwelle treten wollte?“ Sie schaute Kai fragend an, der ihr zunickte.

Die Vampirmutter rang bedeutungsschwer die Hände, als sie das Wort „Sarg“ hörte. Nur zu gut erinnerte sie sich an den Schock, den sie bekommen hatte, als sie sehen musste, was für einen Sarg sich Kai bei Schreinermeister Siebenschein ausgesucht hatte. Rot war er! Rotmetallic! Ein Skandal!

„Und außerdem war sein Bild auf der Visitenkarte, die Wankelmann deiner Oma in der Mühle unter die Nase gehalten hat, Kai. Konnte ich genau erkennen!“ Sandra strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Kais Vater packte Sandra fest am Arm und drehte sie zu sich um. „Aber Sandra“, sagte er, „das hättest du uns sofort erzählen sollen!“ Seine Stimme klang ernst und besorgt. „Wie viel hat er gesehen? Wie lange hat er dich beobachtet? Hat er Kai gesehen?“

„I... Ich weiß nicht genau ... Warum?“

„Ach herrje, du hast recht, mein Freund!“ Per Polar legte die Hand gegen die Stirn und begann, aufgeregt hin und her zu laufen.

„Wenn von Wünschelsgrund Kai gesehen hat, wird er gleich gefühlt haben, was mit ihm geschieht. Er hat ein sehr feines Gespür für Neu-Vampire.“ Er blieb kurz stehen und schaute Kai an. „Ich bin fest davon überzeugt, dass er versucht hat herauszufinden, was da bei Siebenschein vor sich gegangen ist. Und wenn ihm das gelungen ist ...“

„Wovon wir ausgehen können ...“, unterbrach ihn Gottfried von

Greifendorf.

„Wenn er also weiß, wer bei Siebenschein einen Sarg gekauft hat und warum ... dann ... dann ...“ Per stockte.

„Grundgütiger! Dann führt ihn das natürlich direkt zu ... Kai!“

Die Stimme der Vampirmutter überschlug sich. „Mit Sicherheit wird er beobachtet haben, wohin der Sarg geliefert wurde!“

„Junge, du bist in allergrößter Gefahr!“ Kais Vater machte ein sorgenvolles Gesicht. „Und Oma womöglich auch.“

„Das glaube ich nicht“, sagte der Vampirvater und zuckte zusammen, als plötzlich alle Augen auf ihn gerichtet waren.

„Wie kommst du darauf, Gottfried?“, fragte Pelle.

„Ich glaube“, hob der Vampirvater an, „dass Wieland von Wünschelsgrund nicht an der Großmutter des Jungen interessiert ist. Wenn überhaupt, will er doch den Jungen selbst. Ohnehin weiß keiner von uns, ob er wirklich etwas bemerkt hat, als er bei diesem Schreinermeister durchs Fenster gesehen hat.“

„Auch wieder richtig“, pflichtete ihm seine Frau bei.

„Wie immer es auch sein mag, mir ist nicht wohl bei der ganzen Sache. Kai, wir sollten für dich eine neue Bleibe suchen, einen Platz, wo du sicher bist.“ Eine tiefe Sorgenfalte grub sich in das Gesicht von Kais Vater.

„Sehr richtig!“, schloss sich Pelle an. „Hat jemand eine Idee?“

Gerrith hob zaghaft eine Hand. „Ich ... ähm ... Ich glaube, ich wüsste da was“, sagte er leise. „Tief im Wald, noch hinter Opa Gismos Burg, gibt es doch diese uralte Kirche.“

„Du meinst die Giselotta-Kirche?“, fragte seine Mutter.

„Genau die, ja. Niemand kommt dort noch hin. Ich glaube, die Menschen wissen nicht einmal mehr, dass es diese Kirche überhaupt gibt.“

Kai überlegte scharf, aber er konnte sich nicht erinnern, je von dieser Kirche gehört zu haben.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752114188
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Oktober)
Schlagworte
Horror Grusel Spannung Vampir Humor Geschenk für Kinder ab 8 Kinderbuch Jugendbuch Kindersachbuch Sachbilderbuch

Autor

  • Hagen Röhrig (Autor:in)

Hagen Röhrig wurd in Pinneberg, Schleswig-Holstein geboren. Er wuchs in Gorxheimertal auf und lebt heute in Weinheim an der Bergstraße. An der Universität Heidelberg hat er Anglistik und Geographie studiert. In seiner Magisterarbeit ist er der Frage nachgegangen, wie der Vampiraberglaube wissenschaftlich erklärt werden kann und sich in der Literatur wiederfindet.
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Titel: Kai Flammersfeld und das Erwachen der Geysira