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Indie.Pop.Liebe

Eine Friends-to-Lovers Romance

von Erin J. Steen (Autor:in)
310 Seiten
Reihe: Stadt.Land.Kuss, Band 1

Zusammenfassung

"Vielleicht bist du der Richtige für mich, nur mein Herz weiß das noch nicht." Das absolut Letzte, was Studentin Jana in ihrer Lebenskrise sucht, ist ein unwiderstehlicher Musiker mit einem Hang zur Selbstaufopferung. Trotzdem taucht Finn in ihrem Leben auf und ist nicht gewillt, freiwillig wieder zu verschwinden. Dass sie seine Hilfe braucht und er der erste Mensch seit Ewigkeiten ist, mit dem sie wirklich reden kann, macht ihr den notwendigen Abschied nicht leichter. Der große Durchbruch ist greifbar, als Finn am Rande eines Festivals auf jemanden trifft, der ihn seine Ziele in Frage stellen lässt. Zum ersten Mal schmilzt eine Frau nicht wie Wachs in seinen Händen, was Jana für ihn nur noch reizvoller macht. Bei diesem Teil der Stadt.Land.Kuss-Reihe handelt sich um einen abgeschlossenen Liebesroman, der ohne Vorkenntnisse gelesen werden kann.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

INDIE.POP.LIEBE

(Jana & Finn)

 

 

 

1. AM ENDE BLEIBE NUR ICH

 

Zwölf harte Wochen lagen hinter mir. Zwölf Wochen voller Schneematsch, Schinderei und Selbstaufgabe. Was sich anfühlte wie ein zu lang geratener Schulausflug in ein sibirisches Arbeitslager, sollte eigentlich das Finale meines Betriebswirtschaftsstudiums sein. Ich hatte es mir irgendwie glorreicher vorgestellt, aber am Ende war ich nur noch froh, dass es vorbei war. Meine Bachelorarbeit lag endlich auf dem Tisch meines Dozenten und ich war wieder frei.

Dieses gleichermaßen freudige wie bedeutsame Ereignis verdiente eine angemessene Würdigung. Die zwölf Wochen waren nicht nur für mich eine Belastung gewesen. Sie hatten auch Raubbau an der Beziehung zu meinem Freund Marco betrieben. Er war in den letzten Wochen ebenso zu kurz gekommen wie ich. Aber dafür hatte ich mir heute eine ganz besondere Wiedergutmachung überlegt.

Ich hatte auf meinem Heimweg von der Uni beim Friseur Halt gemacht, der mit einer Kur und minimalem Schereneinsatz wieder eine Frisur aus meiner vernachlässigten dunkelblonden Mähne machte. Zumindest am Kopf fühlte ich mich damit wieder vorzeigbar. Für den Rest hatte ich jedoch auch schon Pläne.

Vor dem dringend notwendigen Lebensmitteleinkauf hatte ich eine kleine Boutique für Unterwäsche besucht. In einer unscheinbaren braunen Tüte an meinem Arm versteckten sich seitdem zwei sündhaft teure Stofffetzen mit Spitzenbesatz, die ich heute Abend einweihen wollte. Marco würde lange arbeiten müssen wie an jedem Freitag in den vergangenen Monaten. So blieb mir Zeit, mich im Badezimmer ausgiebig auf den Abend vorzubereiten und ein leckeres Abendessen auf den Tisch zu bringen.

Ein gutes Essen und das, was ich danach plante, hatten wir uns beide redlich verdient. Auch Marco musste mal wieder den Kopf von der Arbeit frei bekommen. Vor etwas mehr als einem halben Jahr hatte er diesen anspruchsvollen, neuen Job bei einer Unternehmensberatung begonnen und gearbeitet wie ein Besessener. Überstunden, Dienstreisen und hoher Leistungsdruck zehrten an seinen Nerven, auch wenn er das nur selten zugab. Marco jammerte nicht. Er wusste, dass ich mit meinem Abschluss zu kämpfen hatte und mit den Gedanken genau da sein musste. Trotzdem machte ich mir natürlich Sorgen um ihn. Ich wollte nicht, dass der Job ihn auffraß.

Vor allem aber zeigte mir seine Situation, dass ich einen Job wollte, der mir auch Zeit zum Leben ließ. Ich wollte atmen und all die Dinge tun, die mir Freude machten. Jetzt hatte ich also meinen Bachelor, aber keinen Schimmer, was ich damit eigentlich anfangen wollte. Marco sagte jedoch immer wieder, dass sich schon irgendetwas finden würde, wenn ich meine Augen aufhielt. Er hatte in den letzten Jahren so oft recht behalten, dass ich nun genau das tun würde. Die Augen aufhalten und meine Chance ergreifen, wenn ich sie kommen sah.

Vor den Briefkästen in unserem Hausflur balancierte ich meine Einkäufe kunstvoll auf dem angezogenen Oberschenkel, während ich verzweifelt versuchte, dem übervollen Briefkasten seinen Inhalt zu entlocken. Als sich der widerspenstige Blechkasten öffnete und seinen Inhalt freigab, quoll mir ein ganzer Batzen Werbesendungen, Rechnungen und wer weiß was noch entgegen. Irgendwo in meinen Beuteln fand ich für das ganze Papier einen Platz und stopfte es unbesehen hinein.

Ich erklomm die Treppen des Altbaus zu unserer Wohnungstür im zweiten Stock und begann dabei endgültig unter der dicken Winterjacke zu schwitzen. Oben angekommen vollführte ich einen erneuten Tanz mit dem Schlüsselbund und den Einkäufen, bis schließlich die Tür zur Wohnung aufschwang. Dass die Tür nur zugezogen war, kam mir merkwürdig vor. Ich war sicher, ich hätte am Morgen abgeschlossen. Das tat ich immer. So sehr durch den Wind war ich nicht gewesen. Ich war nicht einmal in Eile gewesen. Die Arbeit hatte ich schon am Vortag ausgedruckt und musste sie nur noch bis 12 Uhr im Prüfungsamt abgeben. So hatte ich keinen Stress. Ich hatte sicher abgeschlossen, aber das bedeutete, jemand anders musste hier gewesen sein.

Vielleicht war Marco irgendwann im Laufe des Tages vorbeigekommen, um sich ein frisches Hemd anzuziehen oder irgendwas in der Art. Für seinen Feierabend war es eindeutig zu früh. Er arbeitete freitags immer lange, weil irgendwer aus der Chefetage seiner Firma es für eine gute Idee hielt, die Mitarbeiter auf diese Weise zu quälen. So eine Stelle würde ich niemals annehmen. Beim ersten Anzeichen derartiger Praktiken würde ich meine Sachen packen und gehen. Dass ein Studium in Betriebswirtschaftslehre die richtige Entscheidung für mich gewesen war, bezweifelte ich nicht zum ersten Mal. Diejenigen meiner früheren Studienfreunde, die bereits im Beruf waren, hatten sich erheblich verändert. Sie brüsteten sich damit, wie viel sie arbeiteten und wie bedeutend sie für den Erfolg ihrer Firmen waren. Ich saß jedes Mal ungläubig daneben und wunderte mich darüber, wie verblendet sie waren. Die meisten dieser Firmen verfolgten nur den Zweck möglichst viel Geld zu verdienen. Niemand leistete irgendeinen echten Dienst an der Gesellschaft. Ein solcher Job konnte mich nicht zufrieden stellen, ganz egal, wie viel man mir dafür zahlte.

Der Anblick der Küche entlockte mir ein gequältes Stöhnen. Wir hatten beide in den letzten Tagen nicht viel in die Hausarbeit investiert und so waren eine Menge dreckiges Geschirr, eine volle Spülmaschine und ein leerer Kühlschrank die Folge. Ich schob eine Ecke der Arbeitsfläche frei und stellte die Einkäufe darauf ab. Wir waren keine kompletten Messis. Deshalb würde es reichen, die Spülmaschine neu zu beladen und alle Flächen einmal gründlich abzuwischen, bevor ich mit dem Kochen beginnen konnte. Aber erstmal würde ich mir eine heiße Dusche gönnen, um in Stimmung zu kommen. Ich hängte die wattierte Jacke an den Haken neben der Haustür und folgte dem Flur in Richtung Bad.

Bereits auf dem Weg dorthin kam mir erneut die unverschlossene Eingangstür in den Sinn. Normalerweise hielten wir unsere Schlafzimmertür immer mit einem kleinen Keil geöffnet, weil so mehr Licht in den fensterlosen Flur drang, aber jetzt war sie geschlossen. Als ich mich näherte, hörte ich Geräusche. Stimmen. Meine Finger legten sich auf den Knauf, aber ich wagte nicht, daran zu drehen, weil sich mir auch so schon der Magen zusammenzog. Ausweichen war jedoch keine Option, die zu mir passte. Also öffnete ich sie mit einem Ruck. Genauso wie man ein zu fest klebendes Pflaster abriss.

Meine Augen sahen, was mein Hirn nicht begreifen wollte. Eine spindeldürre Blondine saß rittlings auf meinem Freund und warf den Kopf lustvoll in den Nacken, während sich ihr Körper auf und ab bewegte. In diesem Moment setzte irgendetwas in mir aus.

»Sofort raus hier, beide!«, brüllte ich dem Betrüger und seiner Schlampe entgegen. Erst da bemerkten sie, dass sie nicht mehr allein waren. Marco starrte mich mit einer Mischung aus Erregung, Scham und blankem Entsetzen im Gesicht an. Seine Wangen waren gerötet, sein Mund stand offen und doch drang kein Geräusch mehr heraus.

Die Blondine reagierte zuerst und schwang sich vom Körper meines Freundes. Exfreundes, sollte ich wohl sagen, denn hier endete diese Beziehung für mich völlig unerwartet. Meine Pläne für den Rest des Abends waren hinfällig, aber an Essen und Zweisamkeit war ich in diesem Moment sowieso nicht mehr interessiert. Höchstens vielleicht an einer Grillparty mit Betrügerschwein am Spieß.

»Beweg dich, ich will dich nicht mehr sehen«, schrie ich Marco entgegen, der immer noch keine Anstalten machte, seinen nackten Körper aus unserem Bett zu bewegen.

»Jana, es ist nicht...«, stammelte er hilflos.

»Untersteh dich!«, drohte ich, ohne den Satz zu beenden. Die nackte Tussi warf sich in Windeseile in ihre Klamotten, während Marco endlich den Anstand besaß, aus unserem Bett aufzustehen. Er griff nach einigen Kleidungsstücken auf dem Boden und ich begann, ihn seiner Gespielin hinterher aus dem Zimmer zu schieben. Er leistete kaum Widerstand.

»Aber, Schatz, ich...«, brachte er kraftlos hervor, als ahnte er, dass alles zwecklos war. Ich war nicht in der Verfassung seinen Ausreden zuzuhören. Noch weniger war ich willens, das zu tun. Erst an der Tür begann er, sich auch körperlich gegen mich einzusetzen, denn er schien zu begreifen, dass ich ihn allen Ernstes nackt vor die Haustür schob. Dennoch war es fast zu leicht ihn hinauszutreiben.

Ich konnte es nicht fassen. Dieses Schwein hatte mich tatsächlich betrogen. Er tat es sogar in unserem gemeinsamen Schlafzimmer mit ihr. Ich wollte wissen, wie lange das schon ging und was er sich dabei dachte. Aber im gleichen Moment wollte ich all das auch überhaupt nicht mehr erklärt bekommen. Nicht jetzt, nicht hier. Gefangen in meinem inneren Monolog schüttelte ich immer wieder den Kopf. Es war unglaublich.

»Jana, lass das. Hör mir doch zu«, flehte er. Er griff nach dem Türrahmen, um wenigstens die Fingerspitzen in der Wohnung zu behalten.

»Spar dir das, ich will nichts hören«, erklärte ich nun schon deutlich ruhiger, weil die Erkenntnis langsam mein Bewusstsein erreichte. Marco hatte mit anderen Frauen geschlafen, während ich alles gab, um für ihn wieder attraktiv und spannend zu sein. »Mich interessieren keine Ausreden, Beteuerungen oder deine Bedürfnisse. Verschwinde und lass mich allein. Und wenn du deine Finger behalten willst, nimm sie da weg.«

Mit diesen Worten warf ich die Tür hinter ihm ins Schloss. Das Ausbleiben eines Schmerzensschreis bewies, dass Marco meinen Ratschlag beherzigt hatte. Ich sank am Türblatt auf den Boden. Dieser Tag stellte alles auf den Kopf. Ich hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Draußen wurde leise gemurmelt, es folgte ein leiser Fluch. Dann klackerten Absätze zügig die Treppe hinab.

Endlich waren sie weg, dachte ich erleichtert. Der Alptraum war vorbei. Ein Ende mit Schrecken... Kopfschüttelnd erinnerte ich mich an die Worte meiner Großmutter, die immer der Meinung war, dass Erkenntnis besser war als ein Leben mit einer Lüge. Wahrscheinlich hatte sie damit nicht Unrecht, aber es war alles andere als angenehm. Ich fühlte mich, als wäre ich kopfüber in ein Eisbecken gesprungen. Mein Körper begriff nicht, was geschehen war. Mein Verstand hatte sowieso gerade einen Aussetzer. Ein Poltern in meinem Rücken brachte die hässliche Realität zurück.

»Jana, bitte mach auf.«

Er erdreistete sich wirklich, wieder Eintritt in die Wohnung zu fordern? Das konnte er vergessen. In den nächsten Stunden kam er nicht mehr in diese Wohnung, dafür würde ich sorgen.

»Jana, bitte, ich habe nicht mal eine Hose.«

Trotz der ausweglosen Situation musste ich lachen. Eine sadistische Ader in mir fand an der Sache immerhin noch etwas Komisches.

»Das geschieht dir recht!«

Es war mir egal, ob er auf der Suche nach einer Unterkunft in Unterhose und T-Shirt durch die eisigen Straßen Münchens irrte. Sollte er sich doch eine Erkältung einfangen. Er würde es überstehen. Und ich auch. Irgendwie.

 

***

 

Das hatte gesessen. Auch eine Stunde nach Marcos widerwilligem Abgang hatte ich mich noch nicht davon erholt, welcher Abgrund sich da vor mir aufgetan hatte. Dennoch zwang ich mich, wenigstens meinen Posten auf dem Fußboden vor der Wohnungstür aufzugeben und irgendetwas halbwegs Produktives zu tun, damit ich nicht vollkommen den Verstand verlor. Vielleicht die Post sortieren und sehen, ob ich irgendwelche wichtigen Briefe für den Betrüger vernichten konnte, um ihm Schaden zuzufügen. Aber ich bezweifelte einerseits, dass ich dazu in der Lage war, und andererseits, dass es irgendwas in der Post gab, was für ihn ausreichend Bedeutung gehabt hätte. Vermutlich hätte er sich in solch einem Fall bereits in den vergangenen Tagen mal bemüht, den Briefkasten zu leeren. Dennoch gab mir diese Aufgabe das Gefühl, irgendwas im Griff zu haben.

Werbung, Telefonrechnung, Werbung, Kreditangebote, Karte der Wasserwerke, Werbung, Postkarte von meiner Tante Sabine, Werbung und noch eine Rechnung. All das sprach mich nicht wirklich an, aber ich schmiss die vollkommen unwichtigen Dinge in den Müll und wandte mich der Postkarte zu. Sie war wie jedes Jahr liebevoll von der jüngeren Schwester meiner Mutter in ihrer etwas eigenwilligen Handschrift verfasst. Und wie in jedem Jahr enthielt sie die vermutlich nicht ganz ernstgemeinte Aufforderung, sie doch endlich mal wieder zu besuchen.

Sabine vermietete einige Ferienhäuser in einem winzigen Dorf im Herzen Schleswig-Holsteins. Inzwischen hatte sie wohl alle Häuser dort aufgekauft und lebte dort allein mit ihren wechselnden Feriengästen. Ich stellte mir das ganze ziemlich einsam vor, aber für sie schien dieses Arrangement seit Jahren zu funktionieren. Alle Jahre wieder lud sie mich für den kommenden Sommer ein, sie zu besuchen. Ich mochte meine Tante wirklich gern, aber der Ort, gehörte nicht gerade zu meinen bevorzugten Ferienzielen, seit ich die Pubertät erreicht hatte. Inzwischen war ich 23 und verbrachte meinen Urlaub meist in Italien, Spanien oder Südfrankreich, was von meinem Wohnort meist sogar besser zu erreichen war, als dieses winzige Örtchen im kühlen Norden. Also danke, aber nein danke, Sabine.

Ich hatte eine ausgeprägte Vorliebe für Sonne, Strand und Parties, wenn ich mich mal für eine Woche vom Schreibtisch losriss. Da ging es mir wohl wie den meisten jungen Menschen. Es musste nicht unbedingt Mallorca sein. Es gab auch Orte mit mehr Stil und cooleren Parties. Davon hatte Sabines Feriensiedlung nur leider nichts zu bieten. Als Kind fand ich es traumhaft bei ihr. Es gab einen See vor der Haustür und unendliche Abenteuer in den lichten Waldstücken zu erleben, die das Örtchen umrahmten. Doch das alles reichte meinem 23-jährigen Ich nicht mehr.

Die Karte fand mit Hilfe einer Stecknadel ihren Platz an der Wand, wo auch all die anderen Karten von Freunden und Familienmitgliedern landeten. Während ich so darauf starrte, ging mir auf, dass mein Verhalten vollkommener Quatsch war.

Ich musste mich in dieser Wohnung weder um den Haushalt kümmern, noch meine Postkarten an unsere Wand hängen, denn dieses Wir war Geschichte. Marcos Verhalten war respektlos und verletzend gewesen und ich wollte auf keinen Fall mit jemandem zusammenbleiben, der meine Gefühle mit Füßen trat. Eine Wiederbelebung unserer Beziehung war absolut indiskutabel. Da dies seine Wohnung war, würde ich es sein, die auszog. Das war auch klar. Und zwar lieber heute als morgen.

Aber wo sollte ich hin? Zu meinen Eltern? An und für sich wären die beiden meine erste Wahl gewesen. Doch sie hatten sich vor wenigen Wochen in den vorzeitigen Ruhestand verabschiedet und machten nun eine Reise um die Welt. Etwas, von dem sie ihr ganzes Leben lang geträumt hatten. Nachdem mein Vater im vergangenen Jahr einen leichten Herzinfarkt erlitten hatte, hatte er einen harten Kurswechsel vorgenommen. Er stellte einen Geschäftsführer für seine Firma ein und beendete seine aktive Laufbahn im Management des Betriebs, um sich den schönen Dingen des Lebens zu widmen. Eine Entscheidung, für die ich ihn aufrichtig bewunderte.

Allerdings gab es seitdem auch mein Elternhaus nicht mehr, denn das hatten die beiden ebenfalls verkauft, um sich nicht zu belasten. Wo auch immer es ihnen auf ihrer Reise gefiel, wollten sie bleiben, bis sie der Wind in eine neue Richtung trieb. Ich hatte keine Ahnung, ob sie jemals in die Region zurückkehrten, in der ich aufgewachsen war und normalerweise wäre es mir egal gewesen, aber im Augenblick konnte ich einen sicheren Hafen wirklich gebrauchen.

Natürlich konnte ich meine Eltern zu jeder Zeit anrufen, aber was erwartete ich davon? Sie würden sich Sorgen machen, wenn ich ihnen erzählte, dass es mir nicht gut ging, und dass ich Kummer hatte, weil mein mich vermeintlich liebender Freund ein solcher Idiot war. Meine Mutter würde meinem Vater in den Ohren liegen, dass ich noch nicht so weit war, dass sie sich auf ihre Reise machen konnten, dass sie zurückkehren wollte. Ich würde ihnen die Reise ihres Lebens versauen und wer wusste schon, ob sie es jemals wieder wagen würden, dieses Abenteuer anzutreten. Nein, ich wollte nicht, dass sie sich meinetwegen sorgten. Ich würde schon irgendwie klar kommen. Auch ohne Mamas Rockzipfel und ihre Kekse. Ich grübelte weiter nach einer Lösung meines akuten Problems. Wo sollte ich für die nächsten Tage unterkommen?

Meine Studienfreunde hatten sich in den vergangenen Monaten in alle Winde verstreut. Ich hing wie in so vielem im Leben mit meinem Abschluss hinterher und war die Letzte aus unserer einstigen Clique, die es hinter sich brachte.

Unser gemeinsamer Freundeskreis beschränkte sich in letzter Zeit im Wesentlichen auf ein paar Kollegen von Marco und meine Fachbücher. Mit beiden wollte ich im Augenblick nichts zu tun haben und niemand von ihnen würde mir vorübergehend Obdach gewähren. Am Ende blieb nur ich.

Ein Hotel oder eine Pension konnte ich mir momentan auch nicht leisten, weil ich blöde Kuh meine Rücklagen vor einigen Wochen ausgerechnet Marco geliehen hatte, weil er für den Job eine neue Garderobe brauchte. Wer hätte damals auch ahnen können, dass alles so enden würde?

Das Einzige, wovon ich jetzt wirklich genug hatte, war Zeit. Zeit, mich nach einer Wohnung umzusehen. Zeit, mir einen Job zu suchen. Zeit, zu überlegen, was ich eigentlich vom Leben wollte. Aber Zeit bot einem weder ein Dach über dem Kopf noch eine Schulter zum Anlehnen. Mein Blick fiel erneut auf die neue Karte an der Pinnwand. War vielleicht doch Tante Sabine der Schlüssel zu meiner Zukunft? Wenigstens für ein paar Tage oder Wochen konnte ich sicher außerhalb der Saison bei ihr unterkommen. Und den Kopf bekam ich dort gewiss auch frei.

2. FÜR REUE IST SPÄTER NOCH ZEIT

Nach einem erfrischend unkomplizierten Telefonat mit Sabine, bei dem ich mir alle Mühe gab, unbeschwert zu klingen, fand ich mich am nächsten Morgen im ICE nach Hamburg wieder. Der Automatenausdruck des Fahrplans in meinem Rucksack besagte, dass ich lediglich in Lüneburg einmal umsteigen müsste und dann am Nachmittag meinen Zielbahnhof Plön erreichte. Dort wollte mich meine Tante abholen.

Neben meinem Rucksack und einem riesigen Koffer, der fast meine komplette Garderobe und einige wichtige persönliche Dinge enthielt, die ich nicht bei Marco zurücklassen wollte, hatte ich sehr viele Zweifel im Gepäck. War es richtig, ohne ein klärendes Gespräch aus München zu verschwinden? Ich hatte keine Ahnung.

Ich wusste nur, dass ich das im Moment nicht ertragen hätte. Marco zu treffen, ihm in die Augen zu sehen und mir seine Ausreden anzuhören, hätte mich zerbrochen. Wir waren seit drei Jahren ein Paar. Davon die meiste Zeit ausgesprochen glücklich. Nur im letzten halben Jahr war irgendwie der Wurm drin gewesen. Sein neuer Job und mein Abschluss hatten uns viel abgefordert. Die Arbeitszeiten und die Anforderungen bei der Firma, die Marco einstellte, waren heftig. Ich haderte damit, dass ich nicht wusste, wie es für mich nach dem Bachelor weitergehen sollte - eine Frage, die ich immer noch nicht geklärt hatte. Der Stoff an der Uni war nicht unbedingt schwer zu begreifen, aber mir fehlte die Motivation, mich richtig dahinter zu klemmen. Eigentlich hätte uns die schwere Zeit enger zusammenschweißen sollen. Sagte man nicht, dass sowas ein Paar stärkte? Na ja, bei uns war es offensichtlich nicht so gewesen. Wir lebten getrennte Leben in der gleichen Wohnung. Nein, wir hetzten getrennte Wege entlang. Leben konnte man diesen Zustand nicht nennen.

Inzwischen ärgerte ich mich, dass ich nach zwei Semestern Kommunikationswissenschaft zu BWL gewechselt hatte. Mit einem Abschluss in Kommunikationswissenschaft hätte ich nun wenigstens ein Zielbild vor Augen. Bei Betriebswirtschaft konnte ich alles und nichts machen. Wenigstens wusste ich nun schon einmal, was ich nicht wollte. Denn definitiv wollte ich nicht als Sklave in einer Firma arbeiten, die meine Verfügbarkeit Tag und Nacht einforderte und mich zwang in uniformen Kostümchen herumzulaufen. So wie es Marco erging, der nach einigen Wochen sogar Gefallen daran gefunden hatte - oder vielleicht die Blondine kennengelernt hatte, wollte ich nicht enden.

Im Grunde hatte ich auch mit München abgeschlossen. Nur noch Marco hatte mich in der Stadt gehalten. Alle meine Freunde waren fortgezogen – einige ins Ausland, andere zu den Firmen, die ihnen gute Jobangebote machten. Wir hatten uns voneinander entfremdet. Aus Freunden wurden Bekannte und am Ende sprachen sie alle mehr mit Marco als mit mir, weil sie mit ihm mehr gemeinsam hatten. In der bayrischen Metropole hielt mich nichts mehr. Je weiter ich von dort fortkam, desto besser.

Die Sorgen und Zweifel blieben jedoch ganz nah bei mir, egal wie weit sich der Zug von München entfernte. Unsere Liebe war gescheitert und ich war allein. Marco war in den vergangenen drei Jahren immer mein Rückhalt gewesen. Er war der Mann, der mich in der Idee bestärkte, den Studiengang zu wechseln. Er war es, der mir half Anschluss im neuen Umfeld zu finden. Und schließlich war auch er es gewesen, der die Entscheidung traf, die unsere Beziehung beendete. Ich war nur diejenige, die es irgendwann herausfand. Wer wusste schon, wie lange das schon so ging?

Ich hätte mir noch jahrelang vormachen können, diese Beziehung sei perfekt genug. Nicht im absoluten Sinn, natürlich nicht. Nichts konnte jemals absolut perfekt sein, aber es war gut genug für mich. Er behandelte mich mit Respekt und … Na ja, irgendwie war es das in letzter Zeit dann auch gewesen. Zwischen uns gab es nicht mehr diesen Zauber des Neubeginns. Es fehlte die Spannung, weil wir beide so sehr mit anderen Dingen beschäftigt waren und uns nicht mehr so sehr auf die Zweisamkeit konzentrierten. Jedenfalls hatte ich das als Ursache für die Flaute der letzten Wochen angenommen. Aber nun musste ich mir eingestehen, dass es vielleicht auch einen blonderen Grund dafür geben mochte. Offenbar lebte er seine Bedürfnisse anderweitig aus und ich blieb auf der Strecke. Natürlich wusste ich das nicht mit Sicherheit. Es mochte genauso gut das erste Mal gewesen sein, aber statistisch gesehen war das nicht sehr wahrscheinlich.

Und wieder kreisten meine Gedanken nur um ihn. Dabei war das vollkommen zwecklos. Es verringerte weder den Schmerz noch half es mir beim Aufsammeln der Scherben. Ich streute damit nur immer wieder Salz in die offene Wunde.

Zu meiner unbändigen Freude setzte sich in Berlin ein weiterer Fahrgast an meinen Tisch, den ich bislang mit einem dauertelefonierenden Consulter geteilt hatte. Ein Typ, wie Marco einer geworden war. Nur die Arbeit im Kopf. Ständig wichtig und sendebereit. Natürlich nervte er mich, aber ich war eine ebenso miese Gesellschaft. Schließlich hätte ich auch keine Lust gehabt, mich mit ihm zu unterhalten oder eine Partie Halma zu spielen. Sollte er doch telefonieren und sich für den Nabel der Welt halten. Aber in Berlin stieg er aus und ich sollte ihn noch schmerzlich vermissen, denn sein Ersatzmann hatte statt eines Laptops einen durchgematschten Döner im Gepäck.

Der Geruch erinnerte mich daran, dass ich seit über 24 Stunden nichts gegessen hatte und ich daran auch so schnell nichts ändern wollte. Sein Schmatzen und die Saucenflecken auf dem Tisch hätten mich nach wenigen Minuten beinahe vertrieben. Sehnlich wünschte ich mir den Businessmann zurück. Er hatte gut gerochen und sein ständiges Gequatsche hatte ich mit meinen kreisenden Gedanken locker übertönt.

Eine andere Mitfahrerin intervenierte gerade noch rechtzeitig, indem sie den hungrigen Mitreisenden daran erinnerte, dass er nicht allein auf der Welt war. Das waren zwar nicht genau ihre Worte, aber zumindest der grobe Inhalt ihrer kurzen Ansprache. Daraufhin war ich wieder allein an meinem Platz. Von dem Dönermann blieben nur drei Flecken auf dem Tisch und eine schmutzige Serviette.

Ich versuchte, etwas zu lesen, aber ich gab es schnell wieder auf. Die Worte vor meinen Augen verschwammen und ich dachte wieder und wieder die gleichen Gedanken. Vom Text auf den Seiten fand nichts Eingang in meinen Kopf. Ich hätte nicht sagen können, wie die Hauptfigur hieß oder was ihr geschah. Es blieb einfach nichts hängen.

Als mit Lüneburg endlich meine Station kam, war ich dankbar dafür, ein paar Minuten frische Luft schnappen zu können, bevor ich in den Zug nach Plön steigen musste. Meine Augen wanderten über Bahnsteige, Schienen und fremde Gebäude, die für mich keinerlei Bedeutung hatten. Der Himmel war grau und diesig. Die Luft fühlte sich feucht auf meiner Haut an, aber alles war besser, als weiterhin in dem Zug eingesperrt zu sein. Hatte ich mich den ganzen Vormittag danach gesehnt, noch schneller davonzulaufen, konnte ich es nun kaum erwarten, endlich irgendwo anzukommen. Ganz gleich, wo - doch bloß nicht wieder an meinem Ausgangspunkt.

Gegen fünf Uhr am Nachmittag traf ich in Plön ein. Ich konnte kaum noch sitzen. Mein Hintern tat weh, mein Rücken knackte verdächtig, wann immer ich mich bewegte. Ein Spaziergang hätte mein Leid gelindert, doch wie erwartet regnete es.

»Ich freue mich ja so, dass du endlich mal wieder hier bist. Wie lange bleibst du?«, ereiferte sich meine Tante, während sie mich an sich drückte wie eine Fünfjährige. Aber ich konnte es ihr nicht übel nehmen und wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst war, brauchte ich eine Umarmung dringender als alles andere. Anstatt mich also zu sträuben, fügte ich mich in mein Schicksal und erlaubte mir, das Gefühl der Nähe zu genießen. Den dunkelroten Wollmantel mit den dicken schwarzen Knöpfen, den sie trug, erkannte ich noch von früher. Unglaublich, dass sich dieses Stück so lange in ihrem Kleiderschrank hielt.

»Das weiß ich noch gar nicht genau«, erklärte ich. Doch meine Stimme drang nur gedämpft durch die Stoffschichten, die sich zwischen uns auftürmten. Sabine löste ihren Klammergriff um mich und sah mich eindringlich an.

»Wie geht’s dir? Du siehst irgendwie käsig aus.« Charmant wie eh und je, aber sie hatte absolut recht. Ich sah aus wie ein ausgespuckter Kaugummi. Es mangelte mir an Farbe und Esprit. Mein frisch geschnittenes Haar hatte ich zu einem funktionalen Knoten auf den Kopf gedreht. Das Kämmen hatte ich mir vor der Abfahrt gespart. Die verheulten Stunden der Nacht zeichneten sich ebenfalls als dunkle Ringe unter meinen Augen ab. Sogar das Augenbrauenzupfen hatte ich vernachlässigt. Meine Haut war gerötet und die Lippen rissig, weil ich in der Nacht und auf der Fahrt immer wieder darauf herumgekaut hatte. Alles in allem war ich eine ausgesprochen blasse Version meiner selbst.

»Ach, ich muss mich einfach mal neu sortieren«, erwiderte ich vage. Ich wollte nicht mit der Tür ins Haus fallen: Obdachlos, orientierungslos und betrogen. Nein, wenn ich ihr das erzählte, hatte sie in fünf Minuten meine Mama am Telefon und sie brach ihre Reise ab.

»Ist irgendwas passiert? Ich meine, ich freue mich ja, dass du hier bist, aber in den letzten Jahren hatte ich nicht den Eindruck, dass es dich besonders zu mir zieht.«

Die jüngere Schwester meiner Mutter hatte vor rund 20 Jahren der Liebe wegen den Weg nach Schleswig-Holstein angetreten und war auch nach dem Ende dieser Beziehung nicht zurückgekehrt. Warum sie trotzdem blieb, verstand in der Familie niemand, aber Sabine hatte wohl schon immer ihren eigenen Kopf, wenn man meiner Mutter glauben durfte.

»Ach, Sabine, nimm das bitte nicht persönlich.« Vorwürfe konnte ich nicht gebrauchen, aber ich verstand schon, dass es sie wunderte, dass ich so plötzlich auf der Matte stand. Der Regen sprühte als feine Gischt unablässig auf uns nieder, während wir auf dem zugigen Bahnsteig standen. Ich wischte mir einige Tropfen von den Augenbrauen und schüttelte mich. »Ich war einfach eher im Süden unterwegs und da liegt deine Feriensiedlung wirklich nicht gerade auf dem Weg.«

»Stimmt schon, ich nehme es dir auch nicht krumm. Ganz im Gegenteil, aber davon erzähle ich dir später. Willst du mir nicht erstmal erzählen, was mit dir los ist?«

Sie griff nach meinem riesigen Koffer und ich bemerkte, dass der Zug hinter mir längst abgefahren war. Dort wo eben noch die blauen Wagons standen, bot sich nun ein wunderschöner Ausblick auf einen See. Er war riesig und lag mitten in der Kleinstadt. Auch Regen und der wolkenverhangene Himmel konnten dieses beeindruckende Bild kaum schmälern.

Ich suchte nach einer hübschen Verpackung für die Wahrheit, die mir auf der Zunge lag, doch das Panorama nahm mich völlig ein. Schließlich platzte unkatalysiert aus mir heraus, was ich eigentlich beschönigen wollte. »Mein Freund hat mich betrogen und ich musste einfach weg.«

»Das verstehe ich gut«, erklärte meine Tante gelassener als erwartet und wandte sich nickend zum Gehen. »Da hilft es sehr, mal Abstand zu nehmen und alles sacken zu lassen.«

Sabine zog meinen Koffer den Bahnsteig entlang und trat schließlich auf die Schienen. Entgeistert starrte ich sie an. Sie meinte doch wohl nicht, dass ich ihrem Vorbild folgen und mich vor den nächsten Zug werfen sollte. Andererseits war weit und breit kein Zug zu sehen. »Kommst du mit oder willst du hier Wurzeln schlagen?«

»Sicher, dass ich auf die Schienen treten darf? Ist das nicht verboten, oder so?« Gab es nicht irgendein Gesetz, dass man Bahnanlagen nicht betreten durfte. Es musste doch auch einen anderen Weg geben. Ich sah mich um.

»Ganz sicher, jetzt komm schon. Ich wollte noch mit dir Essen gehen, ehe du unter eine heiße Dusche musst.« Es regnete stetig, aber nicht besonders stark. Eigentlich ließ es sich mit den hauchzarten Tropfen ganz gut aushalten. Ich sah zum Himmel hinauf und musste schmunzeln. Es war eigentlich ganz bezeichnend, dass ich im Regen stand.

Seufzend setzte ich mich in Bewegung und überquerte die Schienen, so wie meine Tante es mir vormachte und tatsächlich schien das der offizielle Weg zum landseitigen Ausgang zu sein. Auf der anderen Seite des Bahnhofs führte ein Spazierweg am Wasser entlang. Der Anblick erinnerte mich ein wenig an Zürich, wo ebenfalls ein riesiger See mitten in der Stadt lag. Nur dass Plön keine so beeindruckende Kulisse zur Stadtseite zu bieten hatte. Parkplätze, eine Imbissbude und Gewerbeimmobilien fanden sich auf der anderen Seite der Bahnanlagen.

Sabine brachte mein Gepäck zu einem alten Transporter und schleppte mich dann weiter in Richtung des Sees. Auf einer Art schwimmendem Holzdeck befand sich ein verglastes Restaurant mit riesiger Terrasse, auf der bei diesem Wetter natürlich niemand saß. Eingeklappte Sonnenschirme und an den Tisch geklappte Stühle, die mit Ketten festgemacht waren, ergaben ein trauriges Bild. Nur das beleuchtete Gebäude im Zentrum des Decks erweckte überhaupt den Eindruck, dass der Laden geöffnet hatte. Im Sommer war es hier wahrscheinlich schwer, einen Platz zu ergattern, doch abseits der Saison musste das Restaurant wohl um jeden Gast kämpfen. Tourismus ist ein launisches Geschäft, dachte ich kopfschüttelnd.

»Die Burger sind gut«, erklärte sie mir auf dem Weg zu einem freien Tisch am Fenster. Getrennt durch einen etwa zwei Meter breiten Steg und eine hüfthohe Brüstung erstreckte sich vor der Glaswand der See. In weiter Ferne konnte ich in einem etwas dunkleren Grauton eine Landmasse erkennen. So hatte ich das alles gar nicht mehr in Erinnerung.

»Ich habe eigentlich keinen Hunger«, gestand ich etwas beschämt. Da gab sich jemand Mühe, mich zu unterhalten, und ich war ein wirklich undankbarer Gast.

»Du musst doch aber etwas essen, Schätzchen«, erklärte Sabine besorgt, dabei war sie als Hippie im Schafspelz sonst so gar keine mütterliche Figur. Sie sah nicht danach aus, aber im Geiste hatte sie immer sehr frei und flexibel auf mich gewirkt. Optisch hatte sie sich der Region und ihrem Alter angepasst, doch das änderte nichts daran, dass sich in ihr ein freier Geist entfaltete. »Aber ich verstehe schon. Jeder von uns geht ein bisschen anders mit Kummer und Stress um. Wenn du nichts essen möchtest, ist das okay für mich. Ich hoffe, ich darf trotzdem gnadenlos zuschlagen?«

»Natürlich darfst du. Vielleicht finde ich ja auch eine Kleinigkeit.« Verdammt, hatte sie mich eben manipuliert oder vermutete ich das nur, weil ich zu viel Zeit mit Marco verbrachte, dessen liebstes Hobby es war, mir die Gedanken im Kopf zu verquirlen? Er war ein Meister darin, mich dazu zu bringen, etwas anderes zu tun als geplant. Wie genau er das machte, hatte ich immer noch nicht ergründet. Meistens hatte es mich auch nicht gestört, aber inzwischen fragte ich mich, wie sehr mich diese Manipulationen verändert hatten. War ich eigentlich noch ich selbst? Welche Wünsche und Träume verbarg ich tief in mir, weil sie nicht in sein Weltbild gepasst hatten?

All diesen Fragen musste ich dringend auf den Grund gehen, aber nicht mehr an diesem Abend. Mit diesem Vorsatz lehnte ich mich zurück und genoss den Ausblick in die Ferne. Überall nur Wasser und Bäume, die das Ufer säumten.

Ich bestellte mir aus Solidarität ein paar frittierte Kartoffelspalten mit Knoblauch-Dip und Sabine fragte mich behutsam nach meiner Situation aus. Dank ihrer verständnisvollen unaufgeregten Reaktion hatte ich nun weniger Hemmungen, ihr die Wahrheit zu sagen, die mich nach Schleswig-Holstein getrieben hatte. Wahrscheinlich würde sie nicht gleich meine Eltern anrufen. Außerdem war ich erwachsen. Ich konnte damit zurechtkommen. Auch ohne Mama und Papa.

»Du bist mir auf jeden Fall herzlich willkommen und du kannst bleiben, so lange du willst«, erklärte sie mir schließlich und ich glaubte ihr jedes Wort.

***

 

Als ich am nächsten Morgen aus dem Sprossenfenster meines Schlafzimmers sah, ließ ich den Blick in die Ferne schweifen. Unten lag der See. Wie ich jetzt erkannte, war es nicht der gleiche See, wie der, an dem wir am Vorabend gegessen hatten. Das erklärte auch, warum in meiner Erinnerung alles deutlich kleiner gewesen war. Die Sonne ließ das Wasser verlockend glitzern und ein schmaler Holzsteg am Ende des Gartens ermöglichte einen gefahrlosen Sprung in das glasklare Gewässer.

Natürlich war es Mitte März noch viel zu kalt zum Anbaden. Vor allem für eine Mittelmeernixe wie mich. Aber viel zu lange hatte ich nicht mehr auf meinen Bauch gehört und einfach etwas Spontanes und vielleicht vollkommen Bescheuertes getan. Für Reue war später noch Zeit. Mich überkam das Bedürfnis, irgendeiner Laune zu folgen und mich von ihr leiten zu lassen. Ohne Plan einfach tun, was mir in den Sinn kam. Ich konnte es kaum erwarten, dass der Sommer kam, obwohl ich keine Ahnung hatte, wo ich dann sein würde.

Sabine hatte mir am Abend klar gemacht, dass ich bei ihr bleiben konnte, so lange ich wollte. Allerdings spürte ich, dass sie ihre eigenen Dämonen umtrieben. Nachdem ich ihr eröffnet hatte, was ich erlebt hatte, ging sie bezüglich ihres Themas nicht mehr in die Tiefe. Aber sie deutete an, dass sie selbst mit dem Gedanken an einen Tapetenwechsel spielte. Wie das mit ihrem Angebot zu bleiben zusammenpasste, konnte ich nur raten, doch selbst das überforderte mich. Ich würde es einfach auf mich zukommen lassen. Irgendwas würde schon passieren.

Es war bereits nach neun, als ich endlich das Zimmer verließ. Das Ausschlafen hatte ich dringend nötig gehabt. Nachdem ich mich am frühen Abend hingelegt hatte, war ich in einen tiefen traumlosen Schlaf gefallen und erst nach acht wieder aufgewacht. Die feuchtkalte Luft, die durch das gekippte Fenster hineinströmte, schien meine Gedanken zu reinigen. Ja, ich fühlte mich schon viel besser, obwohl sich nichts an meiner Lage geändert hatte. Wahrscheinlich war das eine vorübergehende Besserung, aber ich nahm sie dankbar an.

Auf meiner Etage lag außer meinem Gästeschlafzimmer ein kleines Gästebad, das in Gelb- und Fliedertönen gehalten war. Es war nicht groß und keine komplette Wohneinheit, aber ich hatte meine Privatsphäre und mehr brauchte ich nicht. Weder würde ich Besucher mitbringen noch wollte ich mich besonders isolieren. Eine schmale Treppe führte hinab ins Erdgeschoss des Reetdachhauses. Dort lag Sabines Reich mit einem gemütlichen Wohnzimmer, in dem eine Couch, eine Wohnwand aus den Neunzigern mit dem wahrscheinlich letzten Röhrenfernseher der Welt ihren ganz eigenen Retrocharme versprühten. Eine niedliche Küche, ein moderneres weißes Bad und ein weiteres Schlafzimmer, in das ich noch keinen Blick geworfen hatte, bildeten den Abschluss der Wohnräume. Außerdem grenzte ihr Büro an die Wohneinheit. Dieses hatte einen eigenen Zugang von außen, damit Gäste und Interessenten hineintreten konnten, ohne durch die Privaträume zu laufen.

In der Küche fand ich an diesem Morgen eine volle Kanne Kaffee und ein paar Brötchen in einer Papiertüte. Sabine selbst war nirgends zu sehen. Ich durchsuchte die Schränke nach einer Tasse, ergänzte meinen Kaffee um einen Schluck Milch und eine Prise Zucker - dann war ich startklar. Ich schlüpfte in Jacke und Stiefel und machte mich mit meinem Kaffee in der Hand zu einem Spaziergang über das Grundstück auf, um meine Erinnerungen an frühere Sommer wieder aufzufrischen.

Als ich die kalte Luft auf dem Gesicht spürte und Sauerstoff meine Lungen flutete, fragte ich mich, wie ich es je in der Großstadt hatte aushalten können. In München gab es das nicht: unverbrauchte Luft, absolute Ruhe und diesen himmlischen Frieden. Auf unserem kleinen Balkon war es ohne Zweifel nett gewesen, mal ein Gläschen Wein zu trinken, aber das hier war anders.

Meine Beine trugen mich kreuz und quer über das Gelände und meine Gedanken begannen zu wandern. Die Welt in meinem Kopf dehnte sich ins Unendliche und kehrte gleichzeitig zu dem Punkt vor meinen Füßen zurück. Auch wenn ich nicht wusste, was genau es war, tat es mir wahnsinnig gut. Ich spürte eine neue Freiheit. Sie kribbelte in meinen Fingerspitzen. Ich konnte alles tun, was ich wollte. Alle Möglichkeiten standen mir offen. Nur zurück führte kein Weg. Dass ich mit Marco meinen Lebensmittelpunkt verloren hatte, tat noch immer sehr weh, aber ich wollte mich auf keinen Fall an jemanden verschwenden, der mich nicht verdiente. Und so hatte mein Unterbewusstsein schon einen Schlussstrich gezogen, ehe ich mich in die Diskussion überhaupt einmischte.

Der Ortswechsel war die einzig richtige Entscheidung gewesen, aber irgendwann würde ich zurückkehren müssen - mindestens um meine restlichen Sachen zu holen. Und davor graute mir. Ich wollte ihn nicht mehr sehen - nicht mehr an ihn erinnert werden und an all die mit ihm verschwendete Zeit.

Vor dem Haus lag noch immer die einsame Straße, die durch den kleinen Ort führte. Ort war fast schon zu viel gesagt. Die Siedlung bestand schließlich nur aus ein paar Häusern, die Sabine damals noch mit ihrem Exfreund Robert gemeinsam nach und nach aufgekauft hatte, um darin Feriendomizile einzurichten. Die einzige Laterne des Ortes lauerte darauf, die einsame Bushaltestelle zu beleuchten, an der ich noch nie einen Bus hatte halten sehen. Aber es hing ein Plan unter dem Haltestellenschild, auf dem vehement behauptet wurde, es gäbe eine Buslinie. Natürlich verkehrte sie nicht halbstündlich oder stündlich. Es gab nur wenige Fahrten pro Tag und das auch nur an Schultagen, aber Schüler gab es hier keine.

Ich pilgerte hinüber zu der großen Scheune, die am Rand eines Spazierwegs stand, an den ich mich noch gut erinnerte. Von hier aus war ich in meiner Kindheit oft ins Unterholz gestürmt und hatte darin nach Herzenslust herumgetollt. Auf der anderen Seite des Weges war eine große Weidefläche eingezäunt.

Der Blick in die Weite war wie ein Jungbrunnen für meine vom vielen Lesen geschundenen Augen. Statt dem Weg weiter zu folgen, kehrte ich zurück zu Sabines Haus, weil mein Kaffee leer war. Doch ich wollte mich bewegen. Vielleicht noch einen Becher trinken und dann einen großen Spaziergang machen, überlegte ich.

Aus dem Büro hörte ich Gemurmel und hielt mich dezent im Hintergrund. Ich wollte nicht in ein Gespräch platzen, das nicht für meine Ohren bestimmt war. Aber aus meinem Plan wurde nichts, denn ich verstand die durchdringende Männerstimme sehr viel besser als erhofft.

»Das kann ich wirklich nicht akzeptieren«, erklärte er nachdrücklich. »Wir sind in den letzten Jahren immer gern zu Ihnen gekommen, aber wenn das so weitergeht, müssen wir uns in Zukunft etwas anderes suchen. Sie können doch nicht erwarten, dass wir zugige Wohnungen bei diesen Außentemperaturen einfach hinnehmen. Entweder Sie rüsten für den nächsten Winter auf oder wir werden nicht zurückkommen.«

Sabine antwortete etwas, das ich nicht klar verstehen konnte. Vermutlich gab es an seiner Beanstandung nichts wegzudiskutieren. Die Häuser waren alt, eine Renovierung kostete viel Geld - ganz besonders, falls mehr als eins der Häuser eine Frischzellenkur nötig hatte. Meine Mutter hatte ihrer Schwester mehr als einmal mit Geld ausgeholfen, deshalb glaubte ich nicht, dass Sabine selbst große Reserven besaß. Wie ich gestern bereits in Plön gesehen hatte, war der Tourismus hier ein Saisongeschäft. In einem guten Sommer kam sicherlich ausreichend Geld in die Kasse, aber reichte es auch, um alles gut in Stand zu halten und für schlechte Sommer vorzusorgen? Sabine war mehr der Typ Mensch, der in den Tag hinein lebte. Eine bewundernswerte Einstellung, aber eben schwierig für langfristiges Investitionsmanagement. Solche Finanzanlagen mussten gepflegt werden, damit sie ihren Wert behielten.

Die Tür des Büros wurde kräftig zugezogen. Es klang nicht wie ein emotionaler Ausbruch, sondern eher wie eine reine Notwendigkeit. Als hätte auch diese Tür schon bessere Tage hinter sich. Arme Sabine, dachte ich seufzend, während ich nach der Kaffeekanne griff.

»Guten Morgen, du bist aber früh auf«, flötete Sabine mit einer Fröhlichkeit in der Stimme, die nach diesem Gespräch nur aufgesetzt sein konnte.

»Findest du? Für meine Verhältnisse habe ich ganz schön lange geschlafen.«

Sie sah an mir hinab. Die Stiefel, die offene Winterjacke, die Strickmütze - all das sprach Bände.

»Warst du etwa auch schon draußen?«, fragte sie dennoch.

»Ja, ich bin mit meinem ersten Kaffee kurz rüber zum Waldweg gegangen. Es ist wirklich traumhaft hier. So ruhig und friedlich.«

Ich spürte die Ruhe noch immer in meinem Inneren und war unglaublich dankbar, dass ihre Karte genau im richtigen Augenblick in meinem Briefkasten gelandet war.

»Das stimmt.« Sabine trat neben mich und füllte auch ihre Kaffeetasse noch einmal.

»Was war denn das eben?«, kam es über meine Lippen, ehe ich die Worte aufhalten konnte.

»Das? Ach, die Häuser kommen langsam in die Jahre. An seinem Fenster pfeift der Wind hinein, wenn die Wetterlage ungünstig ist. Ich weiß davon, aber ich bin noch nicht dazu gekommen, etwas dagegen zu tun.« Dass es ihr hier an Zeit mangelte, konnte ich kaum glauben. Viel eher vermutete ich das Problem im finanziellen Bereich, aber das würde ich ihr nicht auf die Nase binden, solange ich keine Lösung dafür hatte.

»Falls du eine helfende Hand brauchst oder sogar zwei, stehe ich parat. Ich habe sonst nichts zu tun und würde mich freuen, wenn ich etwas Sinnvolles beisteuern kann.«

Mir war nicht nach Lesen und ich konnte nicht tagelang durch die Gegend spazieren, ohne irgendeinem Ziel zu folgen. Irgendwie bezweifelte ich, dass ich bei Sabine einen modernen Internetanschluss finden würde, der es mir ermöglichte, all die verpassten Netflix-Serien auf einmal aufzuholen. Mein Handy zeigte hier zumindest kein Netz an.

»Das ist lieb, wir können uns das Problem ja mal aus der Nähe anschauen, wenn die Gäste ausgezogen sind.«

Ich nickte eifrig, um mein Angebot noch einmal zu unterstreichen.

»Kann ich sonst irgendwas für dich tun? Gibt es Besorgungen zu erledigen oder irgendwas?«

»Vielleicht später, Liebes. Aber im Augenblick haben wir alles, was wir brauchen. Genieß erstmal ein bisschen deine neue Freiheit.« Sabine strich mir sanft über den dick eingepackten Arm.

»Wollen wir vielleicht zusammen frühstücken? Ich habe Brötchen mitgebracht«, erklärte Sabine. Ich schüttelte den Kopf.

»Nein, ich bin überhaupt noch nicht hungrig. Ich möchte lieber eine Runde spazierengehen, bevor es wieder anfängt zu regnen.«

»Verstehe. Soll ich dir eine Karte mitgeben oder kommst du allein zurecht?«

»Ich glaube, das kriege ich gerade noch hin. Zur Not sendest du heute Abend Rauchzeichen.«

Ich kicherte vor mich hin. Ein Leben ohne mobiles Internet erforderte vermutlich solche Maßnahmen. Mein Smartphone war mir da draußen keine all zu große Hilfe, aber irgendwo würde ich schon zwischendurch mal ein bisschen Netz finden, um mich mit meiner Navigationsapp zu orientieren.

»Mach dir keine Sorgen.«

»In Ordnung, ich muss mir immer wieder sagen, wie groß du schon bist. In meiner Erinnerung steckst du immer noch mitten in der Pubertät, aber das hast du ja schon lange hinter dir. Du bist jetzt eine erwachsene Frau. Das heißt wohl, dass ich langsam alt werde. Ob ich das will oder nicht. Aber die Zeit schreitet für uns alle gleichermaßen voran.«

»Ach, so darfst du das aber nicht sehen«, erwiderte ich, weil ich nicht wollte, dass sie sich alt fühlte. Außerdem mochte ich es selbst kaum glauben. Sie war nicht mal doppelt so alt wie ich. Wenn sie damit schon als alt galt, würde ich das auch bald sein. »Natürlich wirst du auch älter, aber deshalb bist du doch noch lange nicht alt. Ich wünschte, ich wäre in deinem Alter noch so jung wie du.«

»Es ist lieb, dass du das sagst, aber ich trage mich schon einige Wochen mit dem Gedanken, in meinem Leben noch einmal entscheidende Weichen neu zu stellen. Aber vielleicht bin ich inzwischen zu alt, um mich noch einmal richtig verlieben oder ein richtiges Abenteuer erleben.«

»Auf keinen Fall. Woran denkst du? Panama?« Irgendwie fiel mir bei Abenteuern immer Mittel- und Südamerika ein. Für mich waren die Länder dort der Inbegriff von aufregendem Leben und großer Veränderung. Gleichermaßen unentdeckt wie gefährlich. Jemand, der dorthin zog, - selbst wenn es nur auf Zeit geschah - war für mich wie Alexander von Humboldt ein Abenteurer mit einem leicht lädierten Sinn für die persönliche Sicherheit. Ob ich es jemals wagen würde, selbst dorthin zu gehen? Keine Ahnung. Im Augenblick war für mich schon die Aufgabe meines Traums von einem Leben mit Marco in München aufregend genug.

»Sowas Ähnliches. Ich erzähle dir später beim Essen davon. Lass dich jetzt nicht von mir aufhalten. Es soll heute Nachmittag tatsächlich wieder regnen, also sieh zu, dass du rechtzeitig zurückkommst.«

So lange wollte ich mich nicht draußen herumtreiben, aber da ich ohne großen Plan loslief, würde ich ihre Mahnung im Hinterkopf behalten.

 

***

Mir war warm. Wirklich warm. Ich hatte inzwischen meine Jacke geöffnet und ließ den Wind hineinfahren, um mich etwas abzukühlen. Die viele Bewegung - ich war sicher schon über ein dutzend Kilometer herumgelaufen - brachte mich ins Schwitzen und meinen Stoffwechsel in den Saunamodus. Eine Flasche Wasser im Rucksack wäre eine clevere Idee gewesen, aber beim Aufbruch hatte ich daran keinen Gedanken verschwendet. Als nun der kleine Ort am See wieder in Sicht kam, übermannte mich ein sonderbares Gefühl. Heimat, aber das war verrückt. Ich kannte diesen Ort kaum, war nur wenige Male dort gewesen. Wieso fühlte sich das nach Heimat an? Vielleicht weil ich keine andere mehr hatte?

Ich war einmal um den See hinter dem Haus gelaufen. Mein Zimmer lag wenige Meter von der Nordspitze des Sees entfernt. Ich war durch das schmale Waldstück an der Ostseite gelaufen und war dann an der alten Ziegelei entlang dem Weg um den See gefolgt. Wo er nicht direkt am Wasser entlang führte, nahm ich Umwege in Kauf. Ich war durch zwei Dörfer gelaufen, die deutlich größer waren, als das unsere. Dort hatte ich sogar ein bisschen Internetempfang gehabt, um eine Karte meines Standorts aufzurufen. Nun lief ich auf der Straße, die sich durch die kleine Ansiedlung bohrte. Links und rechts von mir erhoben sich mächtige Bäume, durch die das Sonnenlicht auf das am Boden liegende Laub des letzten Herbstes fiel.

Inzwischen war ich fest überzeugt, dass ich in den nächsten Wochen kräftig mit anpacken wollte, um den Ferienhäusern zu neuem Glanz zu verhelfen. Wenn ich für die notwendigen finanziellen Mittel irgendwo einen Aushilfsjob annehmen musste, würde ich das tun. Eine Aufgabe brauchte ich so oder so. Der Gedanke an Urlaub war für ein paar Tage sicherlich reizvoll, aber über Wochen oder gar Monate hinweg käme ich damit nicht zurecht. Ziellos umherzutreiben lag mir einfach nicht.

Ich war weder ein Blatt im Wind noch ein Stein, der in die Tiefe sank. Viel eher wollte ich ein Segelboot sein. Ich würde meine Segel neu am Wind ausrichten, wenn sich die Windrichtung änderte. Jetzt musste ich nur noch herausfinden, welchen Kurs ich fahren wollte. Mein Unterbewusstsein wusste sicher längst die Antwort, aber auf den vergangenen zehn, fünfzehn Kilometern hatte es mir seinen Plan für mein neues Leben noch nicht verraten. Vielleicht morgen. Oder irgendwann mitten in der Nacht. Oder nächste Woche. Hauptsache, es wartete damit nicht ewig.

»Tante Bine?«, rief ich euphorisch ins Haus. »Ich habe ungefähr eine Million Ideen. Wo steckst du?«

Unterwegs hatte ich mir überlegt, wir könnten den Garten zum See hin eventuell als Eventlocation nutzen. Lesungen anbieten oder ihn für Hochzeiten zur Verfügung stellen. Irgendwie sowas. Wir könnten auch ein Gartencafé einrichten oder eine Art Kiosk für vorbeifahrende Ausflugsgruppen aufbauen. Flexible Möglichkeiten, in der guten Saison etwas Geld dazu zu verdienen. Das war sicher alle Mal besser, als wenn ich im Supermarkt zum Mindestlohn Regale bepackte.

Ich hörte schon wieder Gemurmel und folgte ihm ins Büro. Hier schien doch mehr los zu sein, als es von außen den Anschein hatte, wenn meine Tante schon wieder mit jemandem sprach. Vielleicht gab es doch mehr Gäste oder zumindest verbindliche Anfragen in der Nebensaison. Ich wollte nicht schon wieder der Lauscher hinter der Wand sein, also klopfte ich einfach an und wappnete mich, freundlich Hallo zu sagen, doch da war niemand.

»Ich lasse es mir durch den Kopf gehen«, versprach Sabine ihrem Gesprächspartner am Telefon. Mir warf sie ein Lächeln zu, das mich beruhigte und zugleich verunsicherte, ohne dass ich genau sagen konnte, warum. »Meine Nichte ist gerade wieder reingekommen, ich muss jetzt wirklich Schluss machen.«

Sie legte den Hörer beiseite und seufzte. Ich lehnte mich mit dem Rücken an den Türrahmen und legte den Kopf schief.

»Was willst du dir durch den Kopf gehen lassen?«, fragte ich sie genauso distanzlos, wie sie mich am Vortag beim Abendessen über die Sache mit Marco ausgequetscht hatte. Wenn sie erwartete, dass ich offen zu ihr war, konnte ich sicherlich das Gleiche von ihr erwarten.

»Ein Angebot, das auszuschlagen mir wirklich schwerfällt«, gab sie zerknirscht zu.

»Steckt ein Mann dahinter?«, mutmaßte ich grinsend, doch Sabine schüttelte den Kopf.

»Nein, eine alte Schulfreundin. Sie hat ein Ressort an der Algarve geerbt und weil sie weiß, dass ich mit Tourismus zu tun habe, möchte sie, dass ich es mir mit ihr mal ansehe und vielleicht sogar ihre Partnerin werde. Aber ich bin mir unsicher. Was soll ich denn in der Zwischenzeit mit dem hier machen?« Mit einer Armbewegung deutete sie auf Wände und Fenster, aber mir war klar, was sie meinte. Sie konnte nicht einfach mal ein paar Wochen wegfahren und die ganze Anlage sich selbst überlassen. So eine Aufgabe ganz allein zu meistern schränkt einen Menschen stark ein. Mehr als mir bislang bewusst war.

»Wer hält dich hier?«, fragte ich sie. Es war die gleiche Frage, die ich mir über München gestellt hatte, bevor ich den Entschluss fasste, dass ich es hinter mir lassen würde.

»Niemand. Es gibt niemanden, mit dem ich hier gern Zeit verbringe. Das ist auch mein größtes Problem. Mit den Jahren wird es hier ziemlich einsam.«

»Dann wirst du dich von ein paar aufeinandergestapelten Steinen doch wohl nicht aufhalten lassen, oder?«

Ich war der festen Überzeugung, man sollte sich niemals an materielle Güter binden. Alles war vergänglich und wir hatten nur eine begrenzte Zeit, unser Leben so zu leben, wie es uns gefiel. Deshalb würde ich mich niemals an Dinge binden. Natürlich hatte ich Lieblingskleidung und ein paar andere Sachen, die ich gern mit mir nahm, aber Gebäude oder Fahrzeuge dienten ausschließlich ihren Funktionen und durften nach Gebrauch wieder ihrer Wege gehen. Menschen waren das, was wirklich zählte, und selbst die verließen einen bisweilen unerwartet.

»So wie du es formulierst, klingt es ziemlich blöd von mir, aber das hier war jahrelang meine ganze Welt.«

»Das verstehe ich, aber du sagst doch selbst, dass dir hier etwas fehlt«, gab ich zurück. Ich wollte sie auf keinen Fall zu etwas überreden, was ihr schaden könnte, aber ich sah einfach keine Argumente, warum sie bleiben sollte.

»Vielleicht sind meine Bedenken nicht rational, das gebe ich gerne zu. Aber was mache ich, wenn es mit Andrea nicht klappt? Wir haben schon viele Jahre nur noch sporadischen Kontakt. Vielleicht gehen wir uns nach zwei Wochen furchtbar auf die Nerven.«

»Und wenn ich erstmal für dich die Stellung halte?«, sprudelte es aus mir heraus, weil ich sie unbedingt ermutigen wollte, diesen Schritt ins Neue zu gehen.

»Das würdest du für mich tun?« Sabine schaute mich vollkommen entgeistert an.

»Eigentlich wollte ich mit dir eine Weile hier bleiben, aber ich kann natürlich auch etwas Sinnvolles tun und stattdessen für dich einspringen, während du dich in Portugal orientierst. Wenn es dir dort gefällt, schauen wir, wie es hier weitergeht. Sicherlich kannst du die Häuser dann auch verkaufen. So wie Mama und Papa es gemacht haben. Wer sagt denn, dass man ein Haus braucht, um glücklich zu sein? Vielleicht tut es auch ein Zelt oder ein Leben auf Reisen? Wenn es dir mit deiner Freundin nicht gefällt, kannst du jederzeit zurückkehren und deinen Platz wieder einnehmen.«

»Das klingt eigentlich nach dem perfekten Plan.« Ihre Worte sagten etwas anderes als ihr Gesicht. Zerknirscht sah sie mich an. Ihre Augen waren genauso braun wie meine. Vielleicht lag in ihnen mehr Weisheit, aber ich konnte den Zweifel darin sehen und in ihnen lesen wie in meinen eigenen. Da kam noch ein fettes Aber auf mich zu. »Das kann ich nicht annehmen. Ich will dich nicht auf unbestimmte Zeit hier festketten.«

»Ich bin doch hier nicht festgekettet«, widersprach ich matt. Vielleicht hatte ich sie mit meinem Vorschlag überfahren. Und vielleicht wollte sie gar nicht, dass ausgerechnet ich ihre Geschäfte in ihrer Abwesenheit weiterführte. Das hatte ich bei meinem Vorschlag nicht bedacht. Vielleicht traute sie mir den Job nicht zu. Ich war schließlich gerade mal 23 Jahre alt und als Unternehmerin vollkommen grün hinter den Ohren. Ganz sicher war ich ohne Erfahrung und finanzielle Mittel nicht unbedingt ihre Wunschkandidatin.

»Wenn wir das wirklich machen wollen, brauchen wir einen anständigen Vertrag und eine Laufzeit«, erklärte sie zaghaft.

»Okay, dann sagen wir, unser Arrangement läuft über den Sommer. Bis Oktober solltest du doch wissen, ob es dir dort gefällt und ob du mit Andrea zurechtkommst, oder ob du zurückkommen möchtest, oder?«

Was den Vertrag betraf, war ich fast sicher, dass mich gleich eine fette Kröte erwartete, die ich ihr zuliebe schlucken würde. Ich wollte, dass sie ihr Abenteuer bekam. Sie hatte es verdient, noch einmal komplett neu durchzustarten und vielleicht winkte ihr unter der Sonne Südeuropas auch noch einmal die ersehnte Liebe. Da ich die im Augenblick nicht gebrauchen konnte, fand ich mich an diesem einsamen Flecken Erde in den nächsten Monaten sicher auch allein zurecht. Irgendwie würde ich mir die Langeweile schon vertreiben.

»Ein paar Kredite für die Häuser laufen noch, aber mit 50% des Umsatzes der Wohnungsmieten kann ich die bedienen und mich ein wenig über Wasser halten. Den Rest kannst du einsetzen, wie du möchtest. Du wirst ja sicher auch ein wenig Geld zum Leben brauchen und den Wagen lasse ich dir über den Sommer auch hier. Benutz ihn, wann immer du möchtest.«

Sie atmete noch einmal schwer und sah mich ernst an.

»Die Lage ist nicht besonders rosig, wie du heute morgen schon mitbekommen hast. Ich verlange dir wirklich viel ab und weiß wirklich nicht, ob ich das mit meinem Gewissen vereinbaren kann. Die Auslastung der Wohnungen ist nicht besonders hoch. Weite Sprünge kannst du dir mit diesen 50% nicht leisten. Ein paar Buchungen sind bereits angezahlt und einige Gäste kommen jedes Jahr recht spontan über die langen Wochenenden. In den Ferien sind bislang rund die Hälfte der Wohnungen belegt. Es geht sicherlich noch mehr. Wenn du es schaffst, die zusätzlichen Zimmer zu belegen, darfst du davon gern das ganze Geld behalten.«

»Sabine, das ist viel zu viel. Ich werde jeden Cent, den ich nicht zum Leben brauche, sofort reinvestieren. Dein Business-Baby soll es bei mir gut haben und meine persönlichen Ansprüche sind deutlich bodenständiger, als du glaubst«, erklärte ich unter beschwichtigenden Gesten.

Meine Eltern waren finanziell gut gepolstert, was nicht zuletzt dem unternehmerischen Geschick meines Vaters zu verdanken war. Aber ich war weder mit goldenen Löffeln noch mit überzogenen Wünschen groß geworden. Im Studium hatte ich es gut gehabt, denn meine Eltern wollten nicht, dass meine Leistungen darunter litten, dass ich arbeiten gehen musste. So hatte ich anders als viele meiner Kommilitonen keinen Studentenjob annehmen müssen. Aber ich wusste, dass es ein absoluter Luxus war, und hätte niemals von mir aus darauf bestanden. Es war mir peinlich, dass Sabine glaubte, sie müsse mich mit Geld locken, damit ich etwas für sie tat.

»Gut, dann sind wir uns also einig?«

»Ja, ich denke schon.«

Ich hatte eine Aufgabe. So schnell konnten Wünsche Wirklichkeit werden. Ob es das Richtige für mich war, würden die nächsten Wochen und Monate zeigen, aber ich war fest entschlossen, mein Bestes zu geben - für Sabine.

Wenn sie sich entschied, die Anlage im Herbst zu verkaufen, sollte sie für Kaufinteressenten so gut wie möglich dastehen. Und falls sie zurückkehrte, sollte sie mit zugigen Fenstern und unglücklichen Gästen keine Sorgen mehr haben.

3. KEINE ZWEITEN CHANCEN

»Und dann haben wir hier noch das Holzlager. Du bist bestimmt schon mal daran vorbeigelaufen, aber es ist wirklich wichtig, dass wir hier in den kalten Monaten immer genug trockenes Brennholz haben.«

Sabine hatte mir bei einer ausführlichen Führung über das Grundstück schon so vieles erklärt, dass mir der Kopf schwirrte. Jede Information für sich war einfach zu verstehen und leicht zu behalten, aber in der Summe richtete es ein wildes Chaos in meinem Kopf an. Zum Glück würde sie noch nicht heute oder morgen abreisen. Ein paar Tage hatte ich also noch, um ihr alle Fragen zu stellen, die mir in den Sinn kamen. Die Euphorie, mit der sie erzählte, war jedoch ansteckend. Hatte ich anfangs noch das Gefühl, dass ich all das für sie tat, glaubte ich inzwischen, es könnte mir sogar Freude machen, mich in dieses Geschäft hineinzustürzen.

»Hast du deinen Eltern eigentlich schon erzählt, worauf du dich eingelassen hast?«

»Nein, aber wahrscheinlich sollte ich ihnen davon erzählen, bevor sie die Münchener Polizei nach mir suchen lassen.« Sie würden gewiss nicht übereilt die Polizei rufen, weil ich mal ein paar Tage aus München verschwand, aber natürlich sollte ich ihnen erzählen, was in meinem Leben los war und welche Pläne ich schmiedete. Die Ablenkung tat mir wirklich gut und manchmal dachte ich stundenweise überhaupt nicht mehr an Marco. Aber die drei Jahre mit ihm konnte ich nicht einfach wegwischen, deshalb kamen die Gedanken doch irgendwann zurück. Es machte mich traurig, dass ich ihm zum Ende hin so wenig bedeutet hatte, und ich fühlte mich einsam.

Nach unserer großen Runde durch die Gebäude und Anlagen griff ich mir mein Mobiltelefon. Ich wusste inzwischen, dass ich im Haus keinen Empfang haben würde, aber drüben bei der Scheune gab es immerhin Netz zum Telefonieren. Eingepackt in Jacke und Stiefel huschte ich über die kaum befahrene Straße auf den Waldweg. Das Display und die Anzahl der Striche fest im Auge lief ich auf dem Platz vor der Scheune umher, bis ich meinte, den optimalen Ort gefunden zu haben, und drückte schließlich den Anrufbutton. Es klingelte dreimal, ehe meine Mutter abnahm.

»Guten Morgen, Kleines«, flötete sie fröhlich in den Hörer. Ich warf mit meinem inneren Auge einen Blick auf die Weltzeituhr und nahm an, dass sie sich entweder gerade irgendwo deutlich westlich von mir befand oder sich im Osten in der Zeit vertan hatte.

»Hey Ma, wie geht‘s euch?«, begann ich ganz unverfänglich.

»Super, uns geht es wirklich super. Diese Reise war die beste Entscheidung unseres Lebens. Also mal abgesehen davon, dich zu bekommen. Aber es tut uns so wahnsinnig gut, von dem ganzen Druck wegzukommen, der in den letzten Jahren auf unseren Schultern lag.« Ich hörte ihrer Stimme die Ernsthaftigkeit an. Sie hatte sich nach dem Herzinfarkt meines Vaters ständig mit Sorgen geplagt, obwohl die Entscheidung kürzerzutreten schnell getroffen war.

»Das glaube ich euch. Ich habe mir an euch ein Beispiel genommen«, deutete ich vorsichtig an.

»Du willst doch nicht etwa sagen, dass du dein Studium geschmissen hast, oder?«

»Nein, Ma. Ich habe meine Bachelorarbeit wie geplant letzte Woche abgegeben. Aber ich werde das nächste halbe Jahr bei Sabine in Norddeutschland verbringen.«

»Ach, das ist aber schön. Das kann ich gut nachvollziehen«, erklärte sie euphorisch. Im Augenblick war sie sehr empfänglich für alles, was einen Schritt weg vom Stress bedeutete. Meditation, Yoga, Autogenes Training, Reisen – das alles traf bei ihr auf fruchtbaren Boden seit Papas Krankenhauseinweisung. »Habt ihr euch eine Auszeit genommen? Marco war ja auch wirklich nicht mehr er selbst, seit er diesen neuen Job hatte. Vielleicht tut es ihm ganz gut, wenn er sich etwas anderes sucht.«

Das ging jetzt nicht ganz in die Richtung, die mir vorschwebte. Aber was sollte es? Irgendwann musste die Geschichte ja raus.

»Ähm, Ma, Marco ist nicht mit mir hier. Wir haben uns getrennt. Er...« Ich wollte gerade zu einer Schilderung seines Vergehens ansetzen und berichten, wie sehr er mich damit verletzt hatte, aber dazu kam ich nicht.

»Was? Warum das denn? Hast du...«, unterbrach sie mich, doch dann ging ihr der verbale Treibstoff aus. Dabei hätte ich nur zu gerne gewusst, welchen Fehler ich in ihrer Vorstellung unserer Trennung wohl gemacht haben könnte. Nein. Ich wollte nicht streiten. Nach nichts stand mir weniger der Sinn.

»Ich habe gar nichts, Ma«, gab ich leise zurück. »Er hat mich betrogen. Es ist vorbei.«

Meine Mutter schwieg am anderen Ende so lange, dass ich mich mit einem Blick auf das Display vergewisserte, ob die Leitung noch stand. »Ma?«

»Es tut mir leid, Schatz. Ich wollte dir nicht unterstellen, du hättest irgendwas falsch gemacht.« Sie hörte sich seltsam bedrückt an. Das hatte ich nicht gewollt.

»Ist schon gut. Ich komme besser damit zurecht, als ich erwartet hätte. Der Abstand tut mir gut. Außerdem bekomme ich bald etwas zu tun, denn Sabine wird eine Weile nicht hier sein und ich kümmere mich an ihrer Stelle um die Ferienhäuser und alles drumherum. Ich glaube also, dass ich es überleben werde.«

Ausgerechnet während ich diese Worte aussprach, spürte ich, wie sehr er mir fehlte. Mein Freund, der immer für mich da war. Dieser warme Mensch, an den ich mich am Wochenende morgens noch einmal ankuschelte, wenn wir ausschlafen konnten. Er roch würzig und holzig, weil das seine bevorzugte Richtung bei Duschgel und Shampoo war. Ich mochte seinen Geruch, weil es eben seiner war. Hier war ich nun allein. Beim Einschlafen. Beim Aufwachen. Und in jeder Zeit dazwischen. Vielleicht idealisierte ich das Ganze im Nachhinein auch, aber es hatte diese Momente gegeben. Wir waren wirklich einmal ein glückliches Paar gewesen. Nicht in letzter Zeit, das konnte ich zugeben, aber früher.

»Das kommt unerwartet, aber wenn du das tun möchtest, wünsche ich dir dabei viel Freude und Erfolg.« Meine Mutter klang verwundert. Das wäre ich sicher auch gewesen, hätte man mir vor einer Woche erzählt, wozu ich mich gestern entschieden hatte. Ferienhäuser in Norddeutschland und ich passten in etwa so gut zusammen wie Sandalen und Regenmantel. »Ich hoffe, dir fällt dort nicht die Decke auf den Kopf. Vielleicht schaust du mal, ob es in Kiel nicht ein spannendes Studienangebot gibt. Dabei lernst du bestimmt nette Leute kennen und kommst ein bisschen raus.«

»Das ist gar keine schlechte Idee, danke. Ich schaue mal, was es so gibt. Die Aufgabe hier wird auf jeden Fall kein Vollzeitjob«, erwiderte ich. Vielleicht war es gut für mich, mich in das Kieler Studentenleben zu stürzen.

»Wegen der Gebühren mailst du mir einfach die Rechnung, okay?« So einfach, wie sie es mir machte, konnte ich kaum anders als mich gleich am nächsten Morgen in den Zug nach Kiel zu setzen, um mich umzusehen.

»Danke, Ma, ich hab dich lieb.« Dankbar, dass es kein großes Drama und keine Tränen gegeben hatte, seufzte ich. Meine Eltern hatten Marco gemocht. Er war Papa in vieler Hinsicht ähnlich. Sicher fand es meiner Mutter nicht toll, dass wir uns getrennt hatten, aber dass ich seinen Betrug nicht einfach hinnahm, sondern meine Konsequenzen zog, würde sie verstehen. Sie war selbst auch niemand, der endlos einsteckte. Sie hatte mir beigebracht, für mich selbst einzustehen, und genau das tat ich.

»Wir dich auch, Schatz.«

 

***

 

Mein Mobiltelefon war vollkommen überfordert mit dem Zugriff auf LTE, als mein Zug in den Kieler Hauptbahnhof einfuhr. Oder vielleicht war ich es, denn ich wusste nicht, welche App ich zuerst öffnen sollte. Facebook, Messenger, WhatsApp, Instagram oder doch den Browser, um herauszufinden, mit welchem Bus ich zur Uni kam?

Die roten Kreise mit den Zahlen zeigten mir immerhin an, dass ich auf diversen Kanälen Nachrichten hatte. Ob diese von Marco waren oder von jemand anderem, würde ich später prüfen. Ich hatte noch immer Angst davor, festzustellen, dass es ihn nicht scherte, wo ich war und wie es mir ging. Und gleichermaßen hatte ich Angst davor, dass er mir schreiben könnte, ich sollte zurückkommen, weil er ohne mich nicht leben könne. Beide Ereignisse bargen die Chance, mich wieder vollkommen aus der Bahn zu werfen und falls das passierte, wollte ich lieber in meinem Zimmer oder allein im Wald sein, als auf einem Hauptbahnhof oder in einer Unimensa.

Kiel verfügte über einen dieser Sackbahnhöfe, die im Gegensatz zu jenen Bahnhöfen, an denen die Züge einfach hindurchfuhren, über das Potenzial verfügten, charmant zu sein. Von Charme sah ich zwar an diesem Montagmorgen wenig, aber ich mochte diese Art von Bahnhof einfach lieber. Alle Fahrgäste strömten über einen zentralen Platz, an dem sich auch ein Coffeeshop befand. Meine erste Anlaufstelle. Wenn ich schon die Zivilisation ertragen musste, sollte sie wenigstens genug Kaffee mitbringen. Leider sahen das zahlreiche Pendler ebenso wie ich.

In der Schlange vor der Theke, die sich durch die offenstehende Eingangstür hinausschlängelte, prüfte ich zunächst, was Google mir über den Weg zur Uni zu sagen hatte. Unkompliziert, befand ich und wandte mich wieder der Auswahl an Kaffeespezialitäten zu. Nachdem ich endlich meine Bestellung und mein Geld losgeworden war, durchsuchte ich das Verzeichnis der angebotenen Studiengänge. Nur dafür hätte ich selbstverständlich nicht hierher fahren müssen, aber falls ich mich gleich anmelden wollte, konnte ich das besser persönlich tun, als ellenlange Emails zu schreiben. Vielleicht waren die Anmeldefristen sogar schon abgelaufen und ich musste persönlich kommen, wenn ich noch irgendwas erreichen wollte. Außerdem wollte ich gern mal raus aus meinem neuen Nest, Menschen sehen und ganz normale Dinge tun.

Mit meinen White Chocolate Moccachino machte ich mich voller Tatendrang auf zur Uni. Ich konnte heute entscheidende Weichen für mein neues Leben stellen. Das gab mir ein gutes Gefühl. So lange ich es vermeiden konnte, in den Konflikt meines unsteten Herzens gerissen zu werden, vermochte dies ein guter Tag zu werden.

Der Bus fuhr sehr regelmäßig und ich war wenige Minuten später auf dem Vorplatz des Unihochhauses gelandet. Nur wenige Studenten trieben sich auf dem Vorplatz herum, aber es war schließlich auch vorlesungsfreie Zeit und entsprechend wenig besucht war die Uni. Alles sah verdächtig nach den 60er Jahren aus. Überall waren Gebäude aus Backstein zu sehen, bis auf das Audimax, das einer Ausschreibung unter Architekten entsprungen sein mochte – allerdings auch in den 60ern. Aber was zählte, war sowieso, was drinnen vor sich ging. Also studierte ich aufs Neue den Angebotsplan.

Ein Master-Studiengang der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät sprach mich sofort an, allerdings hatte ich keine Ahnung, was ich später damit anfangen sollte. Es ging um Umwelt und Ressourcen und vermutlich darum, wie man sie optimal nutzt. Bislang hatte ich meine Entscheidungen kühl und kalkuliert getroffen, wenn es um meine Ausbildung ging. Das hatte ich nicht zuletzt Marco und seinem Einfluss auf mich zu verdanken. Dabei hatte ich immer im Auge, was ich mit dem Abschluss, der Spezialisierung oder auch nur dem Lesen eines Buches am Ende anfangen wollte. Nun war ich mit dieser Philosophie allerdings aufgeschmissen. Ich hatte schließlich keine Ahnung, wo ich überhaupt hin wollte. Wie sollte ich da beurteilen, ob mich dieser Studiengang dem Ziel näher brachte?

Der Ansatz meiner Mutter gefiel mir hingegen ganz gut. Das Studium nur dazu zu nutzen, um Menschen kennenzulernen und mir etwas Abwechslung zu verschaffen – ja das konnte funktionieren. Also konnte ich mich einfach einem Thema widmen, über das ich gern mehr erfahren wollte. Ganz ohne Druck. Ich hatte bereits einen Abschluss, mit dem ich mich auf die meisten relevanten Jobs bewerben konnte. Wenn ich mich also dazu entschied, das Studium wieder abzubrechen, nachdem ich mein neues Ziel identifiziert hatte, war das überhaupt nicht schlimm.

Jetzt musste ich mich also nur noch einschreiben. Ich konnte sogar das Studienfach im nächsten Semester wieder wechseln, also wozu die ganze Aufregung? Laut der Aufschrift auf der Tafel vor dem Gebäude, befand sich das Studierendensekretariat in dem scheußlichen Sechzigerjahre-Hochhaus, vor dem ich stand. Damit war schon mal klar, dass ich mich hier nicht um einen Job bewerben würde. Ein Arbeitsplatz musste schließlich auch irgendwie attraktiv sein. Also das Gegenteil von diesem Bau.

Ein paar verlorene Studenten oder Menschen, die es werden wollten, sprachen mit Menschen hinter Glasscheiben. Ich reihte mich ein und wartete, bis ich an die Reihe kam. Schließlich stand ich einer jungen Frau gegenüber, die mich nach meinen Wünschen fragte. Weder mein bislang noch ausstehendes Abschlusszeugnis aus München noch die späte Anmeldung wurden zu einem Problem. Ein kurzer Check ihrerseits reichte, um zu bestätigen, dass ich tatsächlich in München eingeschrieben war und dass meine Unterlagen dort vorlagen. Die beglaubigten Kopien konnte ich zu gegebener Zeit nachreichen.

So bekam ich schließlich einen Überweisungsträger in die Hand gedrückt.

»Wenn Sie bis zum 31.03. überwiesen haben, sind Sie dabei. Herzlich willkommen an der Christian Albrechts Universität zu Kiel.«

Ich grinste dämlich und entfernte mich. Das war ja leicht. Irgendwie hatte ich erwartet, dass ich Steine beiseite rollen müsste oder zumindest ein bisschen betteln, aber nichts dergleichen war notwendig gewesen. Die Überweisung würde meine Mutter fristgerecht erledigen, egal, wo sie sich gerade herumtrieb. Online-Banking machte es möglich.

Willkommen neues Leben! Das Einzige, worum ich mich zu gegebener Zeit noch kümmern musste, war die Wohnung. Zwar musste ich keinen Haushalt auflösen, aber zumindest meine Sachen holen und Marco den Schlüssel zurückgeben, wäre notwendig. Allerdings hoffte ich, dass ich diesem finalen Schritt noch eine Weile aus dem Weg gehen konnte, bis ich mich wieder stark genug fühlte.

Durch meinen Erfolg beflügelt fasste ich neuen Mut. Ich wagte es sogar, auf meinem Telefon endlich die Apps zu öffnen und meine Nachrichten zu überfliegen. Im Messenger gab es Neuigkeiten in der Gruppe meiner ehemaligen Studienfreunde. Irgendwer hatte eine neue Stelle und alle anderen wünschten Glück. Ich scrollte weiter. Sonst gab es wohl nichts Weltbewegendes. Ich hatte schließlich auch nur zwei Tage offline verbracht – was sollte schon passieren?

Bei Facebook gab es die üblichen Meldungen, die selten etwas mit mir und meinen Interessen zu tun hatten. Die Masochistin in mir klickte auf meinen Beziehungsstatus. Dort stand immer noch unverändert ‚Jana Fellner in einer Beziehung mit Marco Winter‘. Also hatte er daran wohl noch nichts geändert oder merkte man das vielleicht gar nicht, wenn es einseitig aufgelöst wird?

Ich klickte auf seinen Namen. Auch da stand, dass wir zusammen waren. Hatte er sich vielleicht auch eine Auszeit genommen? Oder war ihm vielleicht sogar etwas zugestoßen, weil ich ihn ohne Klamotten vor die Tür gejagt hatte? Hatte er vielleicht nicht einmal gemerkt, dass ich weg war? Sogar auf WhatsApp, was sonst sein bevorzugter Kommunikationskanal war, hatte er sich nicht gemeldet. Oder war er etwa gleich bei der dürren Blondine eingezogen, um nicht wieder auf mich, die Furie, zu treffen?

All das würde ich nur erfahren, wenn ich ihn fragte, aber über diesen Schatten würde ich nicht springen. Er hatte Mist gebaut und er hatte gefälligst auch den Kontakt zu suchen, wenn ich ihm wichtig genug war. Wenn nicht, sagte das eigentlich auch schon alles. Vielleicht tat ich ihm Unrecht und er saß zerknirscht auf unserem Sofa und trauerte über seinen dummen, einmaligen Fehler. Wie dem auch sei, ich würde es kaum erfahren, so lange ich in Kiel an der Uni rumhing und mich weigerte, Kontakt aufzunehmen. Ich sollte diese ganze Grübelei sein lassen und es abhaken. Eine Rückkehr zu ihm war sowieso indiskutabel.

‚Wer seine erste Chance verschenkt, dem gewähre keine zweite.‘ Diese Lehre hatte ich mir schon früh hinter die Ohren geschrieben, damit ich niemals bei einem Mann blieb, der nicht gut für mich war. Während meine Schulfreundinnen die immer gleichen Fehler mit den immer gleichen Kerlen wiederholten, hatte ich Abstand von jedem gehalten, der mir einmal wehgetan hatte. Keine zweiten Chancen – eine ganz einfache Regel. Und die galt für Marco genau wie für jeden anderen Mann.

Ich ließ mich weiter über den Campus treiben. Vorbei an dem Hochhaus und über eine der zentralen Verkehrsadern, die über das Unigelände führten, schlenderte ich durch einen gemauerten Durchgang und erkundete die roten Backsteinbauten, die dahinter lagen. Egal wie blöd ich die norddeutsche Vorliebe für Backstein normalerweise fand, hier gefiel es mir. Aus dem Komplex ineinander verschachtelter Gebäude spürte ich eine Aura von Bildung aufsteigen. Im Zentrum der kleinen Anlage stand ein höheres Gebäude. Davor prangte das Schild mit dem Hinweis, dass sich hier die Büros meiner neuen Professoren befanden. Ich zog an der Tür und sie schwang auf. Zu meiner Rechten befand sich ein Fahrstuhl, der vermutlich ebenso aus grauer Vorzeit stammte, wie die Gebäude selbst. Links von mir führten Treppen hinauf. Keinerlei Windschutz schirmte das Treppenhaus ab, sodass es darin zugig und kühl war.

Geradeaus führte ein Gang mit einer Windschutztür. Diese sah verhältnismäßig neu aus, sodass ich annehmen musste, dass sie erst nachträglich eingebaut wurde. Hatte man hier früher wirklich im Winter arbeiten können? Wie viel Heizwärme mochte durch dieses offene Treppenhaus ungenutzt verpufft sein? Vielleicht war ich mit Umwelt- und Ressourcenökonomik doch ganz gut dran. Das Thema schien mich zumindest zu beschäftigen. Hoffentlich war auch der Unterrichtsstoff spannend.

An einer Wand hinter der Tür entdeckte ich eine Pinnwand mit zahlreichen Hinweisen für Studierende. Prüfungsordnung, Veranstaltungen, verschobene Sprechstunden und ein kleiner Hinweis auf die Fachschaft der Fakultät, deren Büro sich im gleichen Gebäude befand, aber wohl nur von der anderen Seite zu erreichen war.

Weil ich ausreichend Zeit hatte und es mir sonst an Plänen mangelte, folgte ich dem Wegweiser. Vielleicht konnte ich dort irgendwas erfahren, was mich weiterbrachte. Vielleicht gab es Vorkurse oder andere Veranstaltungen, an denen ich teilnehmen konnte, um schon ein bisschen Uniluft zu schnuppern.

Tatsächlich stand die Tür des Fachschaftsbüros bei meiner Ankunft weit offen und es summte darin wie in einem Bienenstock. Ich lugte hinein und zögerte. Der Raum war voller Menschen, doch ich gehörte nicht dazu. Ich war ja noch nicht einmal offiziell eingeschrieben. Doch zumindest von einem der Menschen im Raum wurde ich sofort entdeckt.

»Komm rein, wir beißen nicht«, erklärte ein hochgewachsener Kerl mit einem dunklen Lockenkopf. »Können wir etwas für dich tun?«

»Ähm, ich bin Jana, ich habe mich gerade für das nächste Semester hier eingeschrieben und wollte mich mal umschauen«, gab ich stammelnd zurück und fuhr mir unsicher durch die Strähnen, die sich unter meiner Mütze nach vorne gemogelt hatten. Irgendwie war ich nicht darauf vorbereitet gewesen, mit echten Menschen zu sprechen. Ich hatte eine Tafel mit Veranstaltungshinweisen erwartet. Was ich bekam, war das absolute Gegenteil.

»Das klingt doch gut. Ich bin Gregor. Studierst du Wirtschaft?« Seine blauen Augen waren aufmerksam und sanft. Sein ganzes Auftreten vermittelte mir Ruhe, wie ein still daliegender See. Ich nickte stumm.

»Dann komm doch nächste Woche zu unserer Einführungswoche. Bist du aus Kiel?«

Ich entkam ihm nicht. Er wollte mit mir reden. Warum war ich plötzlich so zurückhaltend? War ich nicht eigentlich genau deshalb nach Kiel gefahren? Um Menschen kennenzulernen. Ich gab mir einen Ruck. So schwer war das doch nicht.

»Nein ich habe meinen Bachelor in München gemacht und bin ganz neu hier.« Na, geht doch. Ich konnte noch immer sprechen wie ein ganz normaler Mensch.

»Ah, super. Masterstudenten kennen ja immerhin schon mal die wichtigsten Begriffe aus dem Studienleben. Das ist toll.« Gregor stockte in seinem Redefluss, als müsste er sich erstmal sortieren. Natürlich, ich hatte ihn schließlich auch bei etwas anderem unterbrochen. Waren die Leute hier vielleicht alle damit beschäftigt, diese Veranstaltung vorzubereiten, von der er erzählte? »Ja, also unsere Einführungswoche lege ich dir dringend ans Herz. Bei uns wirst du die Uni, die Stadt und das Kieler Nachtleben ein bisschen besser kennenlernen.«

Er grinste verlegen und brachte mich damit zum Schmunzeln. Ich spürte, wie sich ein Knoten in meinem Inneren langsam löste wie ein Krampf.

»Gut, wann soll ich wo sein?«

Er reichte mir einen gelben Handzettel mit dem Starttermin der Veranstaltung und erklärte, er freue sich darauf, mich wiederzusehen. Irgendwie war ich noch immer überfordert von seiner Offenheit und Freundlichkeit. Hieß es nicht eigentlich, die Norddeutschen seien eher kühl und abweisend?

Ob das alles nur Fassade war, weil er im Dienst der Fachschaft stand? Oder war er tatsächlich ein netter Kerl? Da er weder mein Typ war noch ich in irgendeiner Weise auf der Suche nach einem neuen Partner, schob ich ihn geistig in meine Schublade für potenzielle neue Bekannte. Vielleicht sah man sich ja wirklich noch mal und fand Gemeinsamkeiten. Falls nicht, war ich zumindest sicher, dass ich ein paar andere Menschen über die Veranstaltung kennenlernen würde.

***

Erschlagen von einem anstrengenden Tag mit vollem Programm lümmelte ich einige Abende später in der Loungeecke einer kleinen Kneipe und starrte das Etikett meines Biers an. Eigentlich sollte ich mich langsam auf den Heimweg machen, aber ich konnte mich nur schwer aufraffen. Es war zwar noch nicht sonderlich spät, aber ich hatte noch den Weg zum Bahnhof, die Fahrt mit dem Zug und die Radtour nach Hause vor mir. Insgesamt brauchte ich sicher noch zwei Stunden. Allein bei dem Gedanken musste ich schon wieder gähnen.

So richtig hatte diese Eröffnungswoche der Fachschaft mir noch nicht weitergeholfen. Ich hatte ein paar oberflächliche Kontakte zu jüngeren Mitstudenten geknüpft, die im Wesentlichen aus unbeholfenem Grinsen und Smalltalk bestanden. Nichts, aus dem sich etwas aufbauen ließ, dass einer Freundschaft auch nur nahe kam, aber vielleicht war das in dieser Woche auch ein wenig zu viel verlangt. In meinem bisherigen Leben waren Freundschaften immer einfach so passiert. Es war nichts, wonach ich hatte suchen müssen. Hier war ich nun plötzlich ganz allein und bis auf meine Tante ohne jeglichen sozialen Kontakt. Das war mir fremd. Ich hatte immer irgendwen gehabt, mit dem ich zu jeder Zeit hätte quatschen können. Na ja, zuletzt eigentlich auch nicht mehr. Höchstens mit Marco, wenn er dann mal von der Arbeit kam. Sonst hatten sich meine Kontakte eher auf das Personal der Unibibliothek und der Mensa beschränkt. Vielleicht war ich einfach aus der Übung.

»Hey, alles klar bei dir?«, sprach mich eine Blondine mit Pixiecut an, die mir schon zuvor aufgefallen war.

»Hey, ja, natürlich. Ich bin nur ein bisschen müde. Und bei dir?«, fragte ich um ein lockeres Gespräch bemüht. Erwartungen reduzieren und unverkrampft plaudern – genau das hatte ich vor. Ich nahm wie ferngesteuert einen Schluck auf meiner Flasche und bitteres, lauwarmes Bier rann mir die Kehle hinab. Eigentlich hatte ich Bier nie gemocht, aber auf solchen Veranstaltungen schien man kaum darum herumzukommen. Die Fachschaft hatte organisiert, dass uns zwei Kisten zur Verfügung gestellt wurden. Für alkoholfreie Getränke und Alternativen hätten wir bezahlen müssen, was natürlich keiner tat. Die junge Blondine ließ sich neben mir auf den Sitz fallen und seufzte vernehmlich. Sie hielt sich ebenfalls an einer der kostenlosen Braunglasflaschen fest.

»Ja, ich auch ein bisschen. Bist du auch neu in der Stadt?«, hakte sie interessiert nach. Ich nickte und warf ihr ein aufmunterndes Lächeln zu. Wir hatten unsere ersten Gemeinsamkeiten gefunden. Außerdem wirkte sie nicht wie viele der anderen Teilnehmer der Veranstaltung. Sie war vermutlich in meinem Alter und hatte ebenfalls schon ein wenig mehr Erfahrung mit dem Studentenleben. Oder zumindest mit dem Wohnen außerhalb des Elternhauses. Viele der Gespräche, die ich um mich herum an diesem Tag mitbekommen hatte, drehten sich um ganz elementare Fragen der Haushaltsorganisation, die man nach ein paar Wochen einfach drauf hatte. Kein Thema, über das ich mich hätte unterhalten wollen.

»Ja, ich bin Jana, habe meinen Bachelor in München gemacht und aus ein paar privaten Gründen bin ich nun am anderen Ende des Landes gelandet.«

»Freut mich, dich kennenzulernen.« Sie lächelte erleichtert. »Ich bin Irina. Endlich mal jemand, der nicht vollkommen grün hinter den Ohren ist. Das habe ich gleich erkannt.«

Ich grinste verschwörerisch.
»Ich nehme an, dann hast du auch schon ein bisschen was hinter dir?«, mutmaßte ich vorsichtig. Ich wollte sie nicht ausfragen, nur ein wenig plaudern. Es ging mich nichts an, warum es sie nach Kiel verschlagen hatte. Über meine eigenen Beweggründe wollte ich schließlich auch nicht reden.

»Ja, meinen Bachelor habe ich in Oldenburg gemacht, jetzt sind mein Partner und ich hierher gezogen und ich orientiere mich neu.«

So wie sie Partner sagte, wusste ich nicht, ob sie ihren Freund meinte oder einen Geschäftspartner. Wenn man wegen des Anderen umzog, war es aber vermutlich eher ihr Freund. Aber auch das ging mich nichts an. Sollte sie darüber reden wollen, würde sie es von allein tun.

»Was meinst du mit Neuorientierung?«, fragte ich stattdessen.

»Ach, ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt einen Master machen will. Erstmal habe ich mich nur so eingeschrieben. In den letzten Jahren habe ich meine Leidenschaft zum Beruf gemacht und veranstalte Events. Das ging in Oldenburg irgendwann ganz leicht, aber hier muss ich neu schauen, was möglich ist und wo sich eine Location für welches Projekt eignet und so viel mehr. Es ist fast, als würde ich noch einmal von vorn anfangen. Und deshalb ist es vielleicht ganz klug, wenn ich mich ein wenig unter Studenten herumtreibe.«

»Events? Welcher Art?« Ich setzte mich ein wenig aufrechter hin. Das Thema machte mich neugierig. Hatte ich nicht kürzlich erst an Lesungen im Garten gedacht? Wahrscheinlich spielte Irina in einer anderen Liga, aber möglicherweise konnte ich trotzdem etwas von ihr lernen.

»Alles mögliche. Konzerte, Festivals, Outdoor-Kino.« In ihren Augen leuchtete Begeisterung auf. Darum beneidete ich sie gleich ein wenig. Ich gönnte es ihr, dass sie etwas hatte, das ihr Freude machte, aber ich wünschte mir auch sowas.

»Wow, sehr cool. Ich wollte bei mir auf dem Gelände im Sommer auch mal etwas anbieten, allerdings dachte ich eher an eine Gartenlesung oder so«, erklärte ich schmunzelnd. Irina lächelte ebenfalls.

»Das ist nicht ganz meine Größenordnung, aber wenn du eine Idee für ein Festivalgelände hast, kannst du mich gerne anrufen.« Sie holte eine Visitenkarte aus der Tasche und schob sie über den kleinen Couchtisch zwischen den Sesseln zu mir rüber.

Ich grübelte, ob das ihre Art war, Kontakt aufzunehmen, weil sie mich nett fand oder ob sie so dringend nach einer Location suchte, dass sie nach jedem Strohhalm griff. Achselzuckend steckte ich die Karte ein, obwohl ich sicher war, dass ich ihr bei ihrer Suche keine große Hilfe sein würde. Schließlich kannte ich hier niemanden und Kontakte in ihre Branche hatte ich erst recht nicht.

»Klar, ich melde mich, falls mir etwas über den Weg läuft.« Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass unser Gespräch beendet war, aber ich wollte nicht allein zurückbleiben. Also ergriff ich die Initiative und verabschiedete mich. Wenn ich mich beeilte, erreichte ich den Zug noch und musste keine Stunde am Bahnhof warten. »Ich muss langsam echt los, denn ich wohne ziemlich weit draußen und bin noch eine halbe Ewigkeit unterwegs. Sehen wir uns morgen?«

Irina nickte wohlwollend. Ich leerte den Rest meiner Flasche mit einem Schluck, zog meine Jacke an und warf meinen Rucksack über die Schulter.

 

Meine Fahrradlampe spendete nur wenig Licht, als ich im Dunkeln die lange Allee entlang radelte. Das Gespräch mit Irina war mir unterwegs immer wieder in den Sinn gekommen. Im Augenblick war es nur eine fixe Idee, aber wenn ihre Ansprüche nicht zu hoch waren, könnte es klappen. Nein, kaum vorstellbar. Aber es wäre schon sehr cool. Ein Festival oder ein Konzert auf unserem Gelände wäre eine tolle Möglichkeit, etwas mehr Geld einzunehmen und gleichzeitig konnte ich erste Erfahrungen im Veranstaltungsmanagement sammeln. Ich bezweifelte, dass die Einnahmen für die kompletten Renovierungskosten reichen könnten. Vielleicht war es nur eine kleine Anschubfinanzierung, aber immerhin...

Zumindest wollte ich Sabine vor ihrer Abreise darauf ansprechen. Wenn sie dafür nicht offen war, konnte ich die Idee sowieso vergessen. Ich würde sowas nie gegen ihren ausdrücklichen Willen umsetzen. Falls ich aus meiner Lesungsidee mehr machen wollte als ein Hirngespinst oder falls sich daraus noch etwas ganz anderes entwickelte, musste ich wissen, wie sie dazu stand. Ich bog um die letzte Kurve und das Wohnhaus kam in Sicht. Es brannte noch Licht, also war Sabine wahrscheinlich noch wach. Am besten fragte ich sie sofort, ehe ich anfing, mir die Sache in bunten Farben auszumalen.

Das Rad kam leise quietschend zum Stehen, als wüsste es, dass wir leise sein mussten, um die Gäste nicht zu stören. Es war deutlich nach elf an einem Wochentag. Seit ich von der Hauptstraße zwischen Plön und Neumünster abgebogen war, war mir auf meiner halbstündigen Radtour niemand mehr begegnet.

»Ich bin zurück«, flötete ich in gedämpfter Lautstärke, um sie nicht zu erschrecken, aber gleichzeitig anzutesten, ob sie noch gesprächsbereit war.

»Hallo Liebes, wie war es?«, fragte sie aufgeschlossen.

Ich warf einen Blick ins Wohnzimmer, wo Sabine von ihrem Roman aufsah. Der Fernseher warf flackernde Bilder durch den Raum, doch der Ton war abgeschaltet, um sie nicht beim Lesen zu stören.

»Ganz nett eigentlich. Wir haben eine Stadtralley gemacht und anschließend sind wir noch etwas trinken gegangen.« Es sah gemütlich aus, wie sie unter der warmen Sofadecke eingekuschelt da saß. Auf dem Couchtisch stand eine große Tasse Tee. Das könnte mir auch mal wieder gefallen, aber erstmal war ich mit dem Programm der Uni unterwegs. Vielleicht fand ich am kommenden Wochenende Gelegenheit, mich etwas einzukuscheln.

Im Augenblick tat es mir ganz gut, Menschen um mich zu haben, die mich von meinem ganz persönlichen Drama ablenkten. Marco hatte sich noch immer nicht gemeldet, obwohl ich nun schon eine Woche verschwunden war. Ich hatte weder auf Instagram noch auf Facebook irgendwas von mir hören lassen. War einfach ohne ein Wort aus München verschwunden und es interessierte ihn nicht einmal, ob ich noch lebte und es mir gut ging. Das hinterließ bei mir nach drei gemeinsamen Jahren einen wirklich faden Nachgeschmack. Wie konnte ich ihm so wenig bedeuten?

»Schön, hast du schon ein paar neue Freunde gefunden?«, erkundigte sich meine Tante weiter, als käme ich gerade vom Spielplatz. Aber wenigstens vermittelte sie mir nicht den Eindruck, ich hätte sie beim Lesen gestört. Vielleicht hatte sie sogar extra auf mich gewartet und wusste einfach nicht mehr so recht, wie es war, wenn man mit 23 an eine neue Uni kam. Meine Mutter hätte die Frage vielleicht ebenso unbeholfen gestellt. Aber Freunde fand man eben irgendwann nicht mehr an einem Abend.

»Nicht wirklich. Das ist da ziemlich unverbindlich und die meisten sind noch recht jung, aber heute Abend habe ich eine kennengelernt, die etwa in meinem Alter ist und ganz nett zu sein scheint.«

»Das freut mich. Du brauchst wirklich mehr Anschluss, wenn du hier bleiben willst.« Sie sagte das, als hätte ich an meiner Absicht irgendwelche Zweifel erkennen lassen. »Ich war hier wirklich einsam in den letzten Jahren. Das wird mir erst jetzt so richtig klar.«

Ich nickte. Ihre Einsamkeit hatte ich gespürt und ich verstand auch, warum es so war. Selbst Gespräche am Gartenzaun gab es nicht, wenn man keine Nachbarn hatte. Der Supermarkt war mehrere Dörfer weit weg. Mit wem hätte sie sich anfreunden sollen? Vielleicht hätte sie im Internet Anschluss gefunden, aber das waren schließlich oft auch keine echten Freundschaften, sondern eher Bekanntschaften mit gleichen Interessen. Besser als nichts, aber kein Ersatz für eine echte Freundin.

»Und wie war dein Tag?«, fragte ich, um das Thema nicht weiter zu strapazieren. Es machte mich traurig, zu wissen, dass es Sabine hier schlecht ging, und ich hoffte natürlich, dass es für mich anders ausgehen würde.

»Ach, ich habe den Tag mit Packen verbracht und bin jetzt einigermaßen startklar. Mir ist immer noch nicht ganz wohl dabei, dich mit all der Verantwortung hier allein zu lassen. Aber ich muss wohl loslassen lernen.«

»Hast du Angst, ich würde das nicht schaffen?« Ich setzte mich auf die Armlehne des Sessels und wappnete mich für ihre Antwort.

»Nein, ganz und gar nicht. Es ist nur, dass ich ein schlechtes Gewissen habe, weil die Häuser wirklich in keinem besonders guten Zustand sind und ich dir so viel Arbeit damit hinterlasse.«

Sie wirkte aufrichtig zerknirscht. Aber die Information war für mich nicht neu. Ich hatte mich selbst davon überzeugt, als wir unsere Rundgänge über die Anlage unternommen hatten. Ich legte ein mildes Lächeln auf und versuchte, sie zu beruhigen, wie bei all den Malen zuvor.

»Ich habe wirklich keine Angst vor ein bisschen Arbeit«, erklärte ich wahrheitsgemäß und nutzte die grandiose Überleitungsmöglichkeit zu meinem Thema. »Wie stehst du übrigens zu unkonventionelleren Methoden, etwas Geld in die Renovierungskasse zu bringen? Könnte ich Veranstaltungen hier anbieten? Lesungen, Konzerte oder irgendwie sowas?«

»Natürlich, so lange es nicht die Häuser oder die Natur beschädigt, kannst du hier tun und lassen, was du möchtest«, gab Sabine sofort zurück. »Wenn ich nochmal in deinem Alter wäre, würde ich sowas auch probieren.«

»Jetzt hör aber mal mit deinem Alter auf, das lässt dich wirken wie siebzig, dabei bist du noch weit von fünfzig entfernt«, schimpfte ich mit ihr. »Du kannst noch immer alles ausprobieren und Neues starten. Deshalb gehst du doch jetzt nach Portugal, oder?«

»Ach, du hast ja recht. Es ist nur dieses einsame Leben hier draußen, dass mich so auslaugt. Ich fühle mich tatsächlich, als säße ich seit fünfzig Jahren hier fest.« Sie hob den Blick zur Zimmerdecke. »Und damit wäre ich jetzt tatsächlich etwa siebzig. Oh Gott, wie furchtbar. Meinst du ich werde wieder jünger, wenn ich ein bisschen in der Sonne lebe?«

»Natürlich. Hör nur endlich auf, dich selbst einzuschränken.« Ich schüttelte nachsichtig den Kopf. Wer von uns war denn hier die Erwachsene? Ach, stimmt ja, beide. »Du genießt die Sonne am Atlantik und ich begnüge mich dieses Jahr mit der Ostsee.« Das klang wirklich nicht nach rosigen Aussichten für meinen Sommer, aber ich stellte es mir immer noch großartig vor, nach der Uni in den See zu springen und das schöne Leben zu genießen. Vielleicht mit ein paar neuen Freunden am Lagerfeuer zu sitzen und zu feiern. Bislang fehlten eben nur die Freunde, aber das bekam ich schon noch in den Griff. Inzwischen hatte ich sogar herausgefunden, wie man dem Router, der den Bürocomputer mit dem Internet verband, auch ein WLAN Signal entlocken konnte, und ich hatte sogar im Haus nun Zugriff auf die große weite Welt. Es ließ sich also durchaus hier aushalten. »Okay, dann habe ich also deine Zustimmung zu Konzerten und Lesungen, ja?«

»Ja, mach nur. Ich werde jetzt ins Bett gehen.« Sabine nickte und erhob sich gähnend vom Sofa.

»Hast du etwa auf mich gewartet?«, fragte ich vorsichtig, während sie die Sofadecke zusammenfaltete und auf die Armlehne drapierte.

»Ja, natürlich. Das macht man doch so, wenn ein Familienmitglied länger ausgeht, oder?« Sie grinste mich an und zuckte die Achseln. Damit würde ich also leben müssen. Aber es rührte mich eher, als dass es mich irgendwie störte.

»Du bist süß, Sabine.«

Kaum hatte sie sich in ihr Schlafzimmer zurückgezogen, vibrierte es in meiner Tasche. Ich dachte an Irina und einige andere neue Bekanntschaften, aber ich hatte niemandem meine Nummer gegeben. Vielleicht war es der Messenger von Facebook, weil mich jemand dort gesucht und gefunden hatte. Neugierig zog ich das Telefon heraus und drückte auf die grüne App mit dem roten Symbol.

 

HEY, WIE GEHT ES DIR? KÖNNEN WIR UNS TREFFEN UND NOCHMAL ÜBER ALLES REDEN?

 

Ich erstarrte, als ich Marcos Text las. War es nicht genau das, was ich mir in den letzten Tagen gewünscht hatte und wovor ich mich gleichzeitig fürchtete? Er suchte Kontakt und ich war ihm nicht vollkommen gleichgültig. Aber was sollte ich jetzt tun? Was wollte ich jetzt tun? Spontan zu antworten, wäre sicherlich das Falscheste, was ich tun konnte, denn ich war hin und hergerissen zwischen dem Impuls ihm in die Arme zu fallen und ihm ins Gesicht zu schlagen. Stattdessen schrieb ich Irina, deren Karte noch immer in meiner Jackentasche steckte.

 

VIELLEICHT HABE ICH DOCH EINE LOCATION FÜR DICH. FALLS DU LÄNDLICHEM AMBIENTE NICHT ABGENEIGT BIST, MELDE DICH. JANA

 

***

Schon am nächsten Nachmittag ließ es sich Irina nicht nehmen, mich nach dem Programm der Fachschaft nach Hause zu fahren. Sie wollte unbedingt sehen, was ich ihr zu bieten hatte. Offenbar war sie nicht der Typ Mensch, der viel Zeit mit Abwarten vergeudete. Die Energie, mit der sie die Sache anging, war ansteckend und kurierte mich von meinen trüben Gedanken und der Müdigkeit.

Ich hatte in der Nacht zuvor kaum geschlafen, weil ich Marcos Nachricht nicht aus dem Kopf bekommen hatte. Wollte er eine Versöhnung? Was sollten seine Worte sonst bedeuten. Er war normalerweise nicht der Typ, der Konflikte unbedingt ausdiskutieren musste, bis alle glücklich waren. Dafür war er zu rational. Sowas klappte doch sowieso nur in Filmen. Mein spontaner Impuls, ihm in die Arme zu fallen, war schnell wieder vertrieben. Mein Kopf war sich sicher: Es ging nicht mehr. Ich konnte ihm keine zweite Chance geben. Der Vertrauensbruch war zu gewaltig, um durch eine Entschuldigung und etwas aufrichtige Reue gekittet zu werden. Diesem Mann konnte ich nie wieder mein Herz schenken. Aber ich konnte nicht leugnen, dass ich emotional ziemlich verwirrt war. Ich hoffte, das würde sich bald legen, denn ich fühlte mich immer wieder hundeelend und zweifelte an mir selbst. Warum hatte er das getan? War irgendetwas falsch mit mir?

»Und du meinst, deine Scheune ist groß genug für ein kleines Festival?«, lenkte Irina mich gerade rechtzeitig von meinen Gedanken ab.

»Ich weiß es nicht. Vielleicht reicht es, vielleicht nicht. Ich kann das nicht so recht einschätzen, aber ich habe auch noch ein Feld daneben anzubieten, auf dem sowas vielleicht im Freien möglich wäre.«

»Klar, draußen wäre super, wenn wir eine Chance haben, die richtige Infrastruktur einzurichten. Aber das werden wir dann gleich sehen.«

»Hinter dem Sportplatz musst du nach links abbiegen«, wies ich Irina an, ehe sie in ihrem Eifer die Abfahrt verpasste und wir irgendwo landeten, wo ich mich selbst nicht auskannte. Sie verlangsamte den Wagen und bog in Richtung der gewundenen Allee ab. Schon mitten im Wald kam Irina aus dem Staunen nicht mehr heraus. Das Licht fiel durch die Bäume, die in den letzten Tagen begonnen hatten, neues Laub auszubilden und damit einen hellgrünen Schimmer über die Oase legten.

»Wow, das ist ja richtig idyllisch hier«, schwärmte sie und mich befiel ein unerklärliches Gefühl von Stolz. Ich bedeutete ihr schließlich, vor dem Haus anzuhalten, in dem ich mich eingerichtet hatte. »Oh, das ist so süß. Ich glaube, wir nennen es Rock am See oder Rock im Nest. Oder...« Das klang, als wäre Irina bereits komplett überzeugt. Ich hingegen hatte nur die leere Scheune und das Feld vor Augen.

»Dort drüben steht die Scheune, die ich meine. Das Feld grenzt direkt an«, mit dem Finger zeigte ich in die entgegengesetzte Richtung, weil Irinas Blick noch immer an dem glasklaren See hing. Auf der Seeseite war das Festival nicht möglich. Der Garten hinter dem Haus war zwar groß, aber längst nicht groß genug für eine Bühne und eine feiernde Meute.

Ich führte sie hinüber zu den Anlagen, die ich mir für das Festival vorgestellt hatte und erkannte dieses euphorische Glitzern in Irinas Augen, das ich schon am Abend zuvor gesehen hatte, als sie mir von ihrem Job erzählte.

»Klasse, wirklich klasse. Aber ich muss dir gleich sagen, dass ich dir nicht so viel zahlen kann wie für eine Halle. Hier muss ich viel mehr in Infrastruktur investieren. Wir brauchen Strom, müssen allerhand aufbauen und absperren, aber grundsätzlich wäre es möglich.« Sie schien im Kopf bereits wild zu rechnen. »Was dir aber echt was bringen würde, wäre eine Campingfläche. Dann könnten die Gäste hier übernachten, würden mehr trinken und du könntest natürlich alle Übernachtungseinnahmen behalten. Was meinst du?«

Ich nickte langsam. Für einen Moment war ich überfordert von ihren rasenden Gedanken und dem waghalsigen Tempo, in dem das Projekt Gestalt annahm.

»Soll das sowas werden wie ein kleines Wacken?«

»Nicht ganz so. Ich denke bei der Musik ein bisschen mehr in Richtung Mainstream. Klar, auch Rock und Indie, aber nicht ausschließlich. Ich werde keine riesigen Headliner an Land ziehen, weil die meist sehr teuer sind und ich noch nicht weiß, mit wie vielen Gästen wir hier rechnen können. Falls wir es mehrere Jahre hintereinander machen, könnten wir vielleicht etwas wachsen, aber erstmal peile ich so etwa tausend Gäste an. Vielleicht zweitausend. Wir werden dann beim Vorverkauf sehen, wie groß wir aufbauen müssen. Nichts ist mieser fürs Geschäft, wenn die Gäste glauben, es hätte kaum Nachfrage gegeben.«

Sie schlenderte aufs Feld hinaus und schaute gen Himmel, der sich heute von seiner schönsten Seite zeigte. Kein einziges Wölkchen war dort oben zu sehen. Hoffentlich hatten wir dieses Glück auch am Veranstaltungswochenende.

»Deshalb stellen wir die Begrenzungen eben so auf, dass es etwa zu dem Andrang passt. Ob tausend oder zweitausend Leute kommen, macht optisch dann keinen so großen Unterschied. Allerdings macht es sich natürlich erheblich bei den Einnahmen bemerkbar. Mit ein paar Bands bin ich schon in Kontakt, wir müssten uns nur auf ein passendes Datum einigen.«

Und schon war das Event auf meinem Hof beschlossene Sache. Vollkommen perplex begann ich zu grinsen. Manchmal war das Leben herrlich einfach und Gelegenheiten taten sich an Orten auf, an denen man überhaupt nicht mit ihnen rechnete.

Ich nahm Irina mit in das kleine Büro, in dem auch der Terminkalender mit den Buchungen der Zimmer lag. Für diese Veranstaltung war es sicher besser, ein Wochenende zu wählen, an dem sich noch keine Gäste angekündigt hatten, damit niemand eine böse Überraschung erlebte. Schnell fand ich drei passende Wochenenden, die ich ihr zur Auswahl gab. Sie versprach, sich in den nächsten Tagen zu melden und mir mitzuteilen, ob einer der Termine passte. Der Erste war bereits in wenigen Wochen. Ich hoffte sehr, dass wir diesen Termin erreichten, aber ich wusste nicht, wie viel Vorlauf Irinas Planungen brauchten. War das überhaupt machbar?

Dennoch hätte ich das Renovierungsgeld lieber schon im Mai als erst im August auf dem Konto. Bevor ich das Geld nicht hatte, konnte ich schließlich auch keins ausgeben. Und mit renovierten Häusern konnte ich auch im Laufe des Sommers mehr Geld verdienen. Es war eine ganz einfache Rechnung.

»Okay, ich melde mich dann«, wiederholte Irina bereits wieder in der Tür und im Begriff zurück in ihr Auto zu stürzen. Sie war in allem unheimlich schnell, aber mir brannte noch etwas auf der Seele, was die ganze Planung zum Scheitern bringen konnte.

»Warte mal«, rief ich ihr hinterher, um sie aufzuhalten. Sie drehte sich noch einmal zu mir um. »Muss ich mich um irgendwas kümmern? Anträge stellen oder Schanklizenzen besorgen oder irgendwie sowas?«

Ich hatte mich in der vergangenen Nacht online ein wenig informiert, weil ich ja dank Marco sowieso nicht schlafen konnte, und ich ahnte inzwischen, dass diese ganze Bürokratie mich auffressen würde. Im Bewältigen von Antragsformularen war ich nie besonders gut gewesen. Ich hatte mich davor gedrückt, wann immer es möglich war. Sollte ich dieses Prozedere hierfür durchmachen müssen, würde ich gewiss die Segel streichen. So viel konnte mir Irina gar nicht zahlen, dass ich das auf mich nahm. Andererseits musste ich es für weitere Veranstaltungen wahrscheinlich ohnehin lernen.

»Nein, nein, keine Sorge. Darum kümmere ich mich. Ich habe das schon so oft gemacht und werde das sicher auch hier irgendwie gedreht bekommen. Es sind doch letztlich immer die gleichen Formulare, die man auszufüllen hat. Außerdem werde ich offiziell als Veranstalter auftreten und nicht du. Wir machen auch einen ganz normalen Mietvertrag für die Anlage, damit bist du aus der Sache draußen.« Irina legte sich einen Finger an die Nase und schaute nachdenklich ins Nichts. »Aber ich glaube, es wäre hilfreich, wenn du am Veranstaltungstag sowie beim Auf- und Abbau ansprechbar wärst. Vermutlich laufen viele orientierungslose Menschen herum, denen du jeweils ihren Weg zeigen könntest, wenn ich gerade mit etwas anderem beschäftigt bin.«

Erleichtert stieß ich die angestaute Luft aus.

»Geht klar, ich nehme mir nichts anderes vor.«

4. DU MUSST EINFACH MEHR TANZEN

Auch in meiner ersten Woche an der Uni fühlte ich mich noch nirgends zugehörig. Ich hatte niemanden, mit dem ich wirklich reden konnte. Irina war zwar cool, aber sehr unverbindlich und so hatte ich keinen echten Bezug zu ihr. Um einfach mal zwanglos einen Kaffee trinken zu gehen, schien sie mir nicht der Typ zu sein. Ihre Energie floss in geordneten Bahnen direkt auf ihr Ziel zu. Ich wollte einfach nur jemanden zum Quatschen. Seit Sabines Abreise war es auch im Haus furchtbar still geworden. Es war still im Garten. Und es war still in mir.

Mein letzter menschlicher Kontakt hatte darin bestanden, dass ich Marco mit einiger Verzögerung geantwortet hatte, ich bräuchte Zeit, um mich zu sortieren. Das stimmte nur bedingt, denn ich wusste, dass wir keine gemeinsame Zukunft hatten, aber ich fühlte mich noch nicht in der Lage, es ihm geradeheraus zu sagen. Umso mehr freute ich mich, als ich am Mittwoch ganz zufällig in der Mensa Irina traf. Ich musste mich nicht bemühen, sie künstlich irgendwo abzupassen. Sie stand einfach vor mir und strahlte mich an.
»Genial, dass ich dich treffe. Das grenzt an Telepathie, ich sage es dir!« Vor lauter Aufregung übersah sie beinahe, dass sie an der Kasse als Nächste dran war. Ich stand direkt hinter ihr in der Schlange und hoffte schon, wir könnten zusammen essen. Sie kramte nach der Karte, mit deren Guthaben an der Uni bezahlt wurde. Was sie so euphorisch machte, musste warten, bis wir die Abfertigung hinter uns hatten.

»Ich freue mich auch, dich zu sehen« erklärte ich aufrichtig.

»Wo wollen wir sitzen?«, fragte sie wie selbstverständlich. Ich deutete mechanisch auf einige freie Plätze in der Menge und sie marschierte voran. »Ich hätte dir sowieso nachher eine Nachricht geschrieben, aber jetzt kann ich es dir ja persönlich sagen. Das erste Maiwochenende ist gebucht!«

»Was? Wirklich?«, juchzte ich. Das war der absolute Hammer. Der frühestmögliche Termin wurde wahr und ich erhielt rechtzeitig zum Sommer das Geld für die Renovierung. Ich hoffte, das würde reichen, um die größten Kosten zu decken.

Falls es nicht so viele Campinggäste gab wie erhofft, konnte ich das Thema mit den Fenstern nicht so großzügig angehen, aber ich konnte immerhin einen Anfang machen.

»Ja. Ich war aber auch ein bisschen überrascht, dass alles so reibungslos abgelaufen ist. Die meisten Bands, mit denen ich in Kontakt stand, konnten an dem Tag. Und die Veranstaltungstechnik zu buchen, war auch kein Problem. Wir werden wohl schon mit den ersten Sachen am Freitag kommen, die meisten LKW kommen am Samstagvormittag und am Sonntagmittag sind wir wieder weg. Effizienz ist Trumpf, weißt du?«

»Klasse, dann mache ich den Mietvertrag heute Abend fertig und schicke ihn dir per Mail.«

Inzwischen war ich viel zu aufgeregt, um meinen Salat auch nur anzurühren, aber Irina aß mit viel Appetit. Ich kam mir ein bisschen wie ein verliebter Teenager vor, als ich in meinem Grünzeug herumstocherte und mir ausmalte, wie es werden mochte. Wahnsinn, ein Festival auf meinem Hof.

Wenn das schon so leicht möglich war, was konnte ich noch alles bewegen? Vielleicht bekam ich die Renovierung ganz easy gestemmt und Sabine wäre alle Sorgen mit einem Schlag los. Ich wollte ihr so gern beweisen, dass ich das für sie tun konnte.

»Hast du gleich noch Unterricht?«, fragte Irina mit vollem Mund.

»Ja, gleich noch einen Block Ökonometrie.« Mit meinem Stundenplan war ich noch nicht ganz zufrieden. Ob ich alle meine Kurse in diesem Semester richtig ausgewählt hatte, war unmöglich zu sagen. Ich hatte mal wieder alle Grundlagenveranstaltungen in dieses Semester geklatscht, damit ich mich im Winter den exklusiveren Themen widmen konnte.

»Was ist denn das?« Irina sah aus, als hätte ich ihr den Namen einer elbischen Klinge genannt. Oh, verdammt, ich hatte eindeutig zu viele Fantasyfilme mit Marco gesehen, wenn mir schon solche Vergleiche in den Sinn kamen. Ich brauchte eine ordentliche Gehirnwäsche. Vielleicht war ein Festival vor der Haustür genau das Richtige für mich. Ein paar Drinks, laute Musik und viele nette Menschen - jedenfalls hoffte ich, dass es so ablief.

»Irgendwie etwas in Richtung angewandter Statistik oder so ähnlich. Frag mich nicht, es ist meine erste Stunde.« Statistik hatte ich im Bachelorstudium in München ebenfalls gehabt, aber ich hatte das vage Gefühl, dass dieser Masterstudiengang mein mathematisches Wissen noch erheblich vertiefen würde.

»Ähmm, also mein Fall wäre das nicht unbedingt«, gab Irina zu. »Aber ich bin ja im Moment sowieso nur zur Orientierung hier. Falls dabei ein Master in Betriebswirtschaft herumkommt, nehme ich den mit, aber falls nicht, ist das auch in Ordnung.«

»Das verstehe ich gut«, erwiderte ich. Irina hatte in Windeseile ihr Essen verschlungen und sprang vom Tisch auf. »Ich muss jedenfalls los. Das ganze Marketing will jetzt sofort organisiert werden, damit wir in ein paar Wochen auch volles Haus haben. Kann ich dir die Tage ein paar Flyer mitgeben?«

»Klar, mach das. Ich bringe die schon unter die Leute.« Ich hob die Hand zu einem Abschiedsgruß, während sie sich ihr Tablett schnappte und in der Menge verschwand.

Ein paar Kommilitonen anzusprechen war eine gute Übung und vielleicht lernte ich dabei ja sogar jemanden kennen, mit dem ich entspannter essen konnte als mit Irina. Vollkommen erschöpft von dem kurzen Gespräch ließ ich mich in meinem Stuhl nach hinten sinken. Um mich herum tobte der übliche Mittagsverkehr einer Großkantine. Menschen rückten Stühle und plauderten. Besteck glitt über Porzellan und gelegentlich fiel irgendwo etwas zu Boden. Mit etwas Fantasie konnte ich mir vorstellen, ich säße allein am Ufer eines reißenden Flusses. Doch dann setzte sich eine Gruppe Studenten neben mich und begann über marxistische Theorien zu diskutieren. Sogleich fand ich mich wieder mitten in der Mensa vor meinem Salat wieder. Seufzend machte ich mich endlich ans Essen.

 

Am Freitagnachmittag hatte ich einen Stapel Flyer in meinem Briefkasten. Der unterschriebene Mietvertrag lag bei und ich startete in mein erstes Wochenende allein auf dem Hof. Inzwischen konnte ich zwar Netflix auf meinem Laptop schauen, aber ich hatte nicht vor, damit ganze Tage zu verbringen. Ich musste an die frische Luft und irgendetwas Sinnvolles tun, statt mich meiner Einsamkeit hinzugeben.

Also zog ich am Samstag in aller Frühe mit Gartengeräten bewaffnet an die Straße und begann mich um die Vorgärten zu kümmern. Das Unkraut wucherte bereits von außen hinein. Dem sollte ich besser Einhalt gebieten, ehe es sich die kompletten Gärten unter die Nägel riss. Hin und wieder kamen einige Radfahrer vorbei. Manchmal hielt sogar ein Auto an der Straße oder parkte bei der Scheune, woraufhin Spaziergänger mit und ohne Hunden dem Weg zum See folgten. Jedes Mal nahm ich mir Zeit und grüßte freundlich. Insbesondere bei den Einheimischen hoffte ich, so einen guten Eindruck zu hinterlassen. Vielleicht war unter ihnen ja jemand, dem ich noch einmal begegnete.

Die Gartenarbeit war eine ganz schöne Mammutaufgabe, wie ich ein paar Stunden später feststellen musste. Verschwitzt und erschöpft kam ich zu einem sehr späten Frühstück zurück ins Haus und erstarrte, als ich mein Spiegelbild im Flur sah. Wo kamen denn die Flecken in meinem Gesicht her?

Ich würde zwar später weitermachen, aber es sprach ja nichts dagegen, wenn ich zum Essen sauber war. So machte ich als nächstes im Bad halt und kümmerte mich um die Erde in meinem Gesicht, den Haaren und unter den Nägeln.

Die Sonne schien und die Temperaturen waren mild. Es war ein wirklich schöner Tag, um ihn im Garten zu verbringen, wenn da nicht die lästige Arbeit wäre. Das Unkraut hatte widerspenstige Ausläufer gebildet. Ich gab mein Bestes, ihnen den Gar auszumachen, aber ich bezweifelte jetzt schon, dass meine Bemühungen einen besonders hohen Wirkungsgrad zeigen würden.

Vielleicht würde ich mich heute Nachmittag mit den Rosen anlegen und ihnen einen ordentlichen Rückschnitt verpassen. Meine Mutter hatte in unserem Garten immer großen Wert darauf gelegt, dass wüchsige Pflanzen ordentlich geschnitten wurden, damit sie sich nicht verselbstständigten. Sabine hatte das bislang entweder anders gesehen oder den Vorsatz einfach nicht in die Praxis umgesetzt.

Für mein Frühstück hatte ich einen der Gartentische vor die Eingangstür geschleppt. So konnte ich nicht nur die Straße beobachten und gleichzeitig frühstücken, sondern hatte außerdem Internetzugriff. Ein echter Luxus in diesem Teil der Welt und ich wusste ihn zu schätzen. Während ich mein Käsebrot aß, fragte ich das Internet nach Tipps zum Schneiden alter Rosen. Die Pflanzen um mich herum besaßen teilweise schon viel altes Holz und ich war mir nicht sicher, wie tief ich hineinschneiden durfte, ohne die Pflanze umzubringen.

Plötzlich vibrierte das Telefon in meiner Hand, noch ehe es anzeigte, was es von mir wollte. Kurz darauf wurde der Bildschirm dunkel und zeigte einen Anruf von einer fremden Nummer an. Sie war so lang, dass es sich um einen ausländischen Anschluss handeln musste.

»Hallo?«, fragte ich vorsichtig. Irgendwie war es mir nie geheuer, meinen Namen oder auch nur ‚Ja‘ zu sagen, wenn ich nicht wusste, wer am anderen Ende war.

»Jana, bist du es?« Die Stimme klang verdächtig nach Sabine und ich verlor sogleich meine Zurückhaltung.

»Ja, ich bin’s. Wie geht es dir? Ist alles in Ordnung?« Ich versuchte, mir meine aufsteigende Verzweiflung wegen der Einsamkeit nicht anmerken zu lassen. Diese Last hätte meine Tante nicht tragen können. Irgendwie würde ich selbst damit klar kommen. Es würden sich schon Freunde finden. Ich musste der Sache nur mehr Zeit geben, mich vielleicht etwas mehr irgendwo einbringen. Vielleicht stattete ich der Fachschaft noch mal einen Besuch ab, wenn sich die Arbeit ein wenig gelegt hatte und ich angekommen war. Dort fanden sich bestimmt nette Menschen.

»Oh, es ist traumhaft hier. Ich bin seit zwei Tagen hier und habe mir heute ein neues Telefon gekauft, damit ich dich mal anrufen kann. Das Ressort ist ziemlich spartanisch eingerichtet und hat nur einen Geschäftsanschluss, den ich nicht für private Gespräche nutzen wollte. Aber das Wetter ist ein Traum. Kannst du das Meer hören? Es ist so wunderschön.« Ich hörte das Meer nicht, aber ihre Stimme klang so freudig, dass mein Herz einen Hüpfer machte. Es freute mich wahnsinnig für sie, dass sie sich wohl fühlte. Sie hatte es verdient, dass die Sonne wieder in ihr Herz schien. Seit dem Ende ihrer Beziehung mit ihrem Exfreund Robert war sie nicht mehr wirklich aus sich herausgegangen und hatte sich das gegönnt, was für mich das Leben ausmachte. Freiheit, Reisen, glücklich sein.

»Sabine, das ist wundervoll. Ich werde dich bestimmt mal dort besuchen kommen, wenn ich hier die Renovierung hinter mir habe. Ein bisschen Sonne könnte mir sicher auch nicht schaden.«

»Mach das unbedingt. Du bist herzlich eingeladen. Im Augenblick haben wir auch noch genug Zimmer frei, um dich und ein paar Freunde unterzubringen. Wie läuft es denn bei dir? Kommst du zurecht?«

»Ja, alles läuft bestens. Ich hatte dir doch letzte Woche von der Idee mit dem Konzert erzählt, erinnerst du dich?«

»Natürlich, ich bin doch nicht senil«, Sabine lachte ausgelassen. Sie hörte sich bereits um Jahre jünger an als bei unserem letzten Gespräch.

»Das klappt. Wir haben tatsächlich in wenigen Wochen hier ein Konzert mit mehreren Bands und ich biete den Gästen zusätzlich Camping auf dem Feld an. Damit werde ich hoffentlich einen ordentlichen Beitrag in die Renovierungskasse spülen und dann kann es losgehen. Im Augenblick kämpfe ich mich durch den Garten.«

»Hui, da hast du dir ja ganz schön Arbeit aufgehalst. Ich wünsche dir ganz viel Erfolg und melde mich bald wieder. Ich muss Schluss machen, sonst ist mein Guthaben gleich leer. Tschüss.«

Sie hatte aufgelegt, ehe ich sie fragen konnte, ob sie mit der Arbeit den Garten meinte oder das Festival. Aber ich würde beides schon irgendwie stemmen. Wer kaufte eigentlich heutzutage noch Prepaidkarten? Sabine war schon ein bisschen seltsam. Aber definitiv liebenswert.

 

***

Stressig und elektrisierend zugleich. Das beschrieb diesen Morgen wahrscheinlich am besten. Schon seit den frühen Morgenstunden herrschte auf der kleinen Straße vor den Häusern ein so reges Treiben, wie es der Ort vermutlich noch nie gesehen hatte.

Ich hatte einen Plan bekommen, wo am Ende welche Einrichtung stehen sollte. Die Toilettenhäuschen waren am Vortag als erste eingetroffen und hatten ihren Platz am Rande des Geländes eingenommen. Sie befanden sich in mehreren farbigen Wagen und sahen insgesamt viel einladender aus, als ich erwartet hatte. Eigentlich hatte ich zunächst sogar die Befürchtung, ich müsste alle Festivalgäste auf die Toiletten der Gästewohnungen lassen. Das wäre ein heilloses Durcheinander gewesen. Vermutlich wäre bei steigendem Alkoholpegel der Gäste auch einiges zu Bruch gegangen. So war ich mit dieser Lösung also mehr als zufrieden.

Ein Areal war mit tragbaren Zäunen für die Campinggäste begrenzt, sodass die Gäste alle durch einen Eingang auf das Gelände kamen. Die Bühne wurde gerade von einigen Profis aufgebaut, die mit einer Reihe dunkler LKWs mit einheitlichen Logos gekommen waren. Für die gastronomischen Einrichtungen waren Plätze mit Sprühfarbe markiert. So konnten die Besitzer der Foodtrucks, die Irina für das Event begeistert hatte, selbstständig aufbauen. An einem kleinen Stand abseits der Bühne konnten die Bands oder ihre Teams außerdem T-Shirts, CDs und sonstiges Merchandise verkaufen.

Es war Wahnsinn, all das an nur einem Vormittag aufbauen zu wollen und ich hoffte, Irina wusste wirklich, was sie sich da vorgenommen hatte. Doch jedes Mal, wenn ich von meinen eigenen Tätigkeiten wieder aufsah, war der Aufbau weiter vorangeschritten. Es war, als wäre ich auf einer Ebene, auf der die Zeit langsamer verging als für alle anderen Menschen in meiner Umgebung. Aber wenn ich genau hinsah, bewegten sich alle in dem gleichen Tempo. Sie waren nur unglaublich effizient dabei.

»Entschuldigung, wo kann ich meinen Wagen abstellen?«, fragte sie ein schwarz gekleideter Mann Mitte dreißig, der gerade aus einem alten Armee-Transporter mit bunter Außengestaltung sprang. Hotdogs zierten die Seite des Wagens und so warf ich auf der Suche nach einem Hotdogstand einen Blick auf den Plan in meiner Hosentasche. Ich wurde schnell fündig und deutete auf den markierten Platz auf dem Papier. Er beugte sich zu mir und mir stieg sein Aftershave beißend in die Nase. So hatte Marco auch immer gerochen, dieses kräftige Aroma war mir viel zu vertraut.

»Also dort drüben ungefähr?«, vergewisserte er sich und deutete mit dem Finger in die entsprechende Richtung. Zur Bestätigung nickte ich knapp. Als er sich daraufhin entfernte, unterdrückte ich ein erleichtertes Seufzen und nahm einen tiefen Atemzug klarer, parfümfreier Luft.

Ich straffte die Schultern und setzte meinen Weg auf dem ausgefahrenen Feldweg in Richtung Zeltplatz fort. Vorbei an der Scheune, die am Eingang des Festgeländes ruhte, und weiter mit dem Wald zu meiner Linken, der direkt hinter dem kleinen Garten der Ferienhäuser begann. Unterwegs brachte ich an den Zaunelementen entlang des brach liegenden Feldes die Beschilderung an und begann, an einer improvisierten Schranke den Einlass für den Platz einzurichten. Über die Mittagsstunden und zumindest für den Beginn des Festivals würde dieser Platz mein Refugium sein. Obwohl ich nicht weit von der Bühne entfernt war und die Luft die Geräusche sehr gut hätte tragen können, hatte die Ausrichtung der Soundanlage dafür gesorgt, dass ich die Musik nicht sonderlich laut wahrnahm. Im Augenblick lief der erste Soundcheck, bei dem alle Anschlüsse für die Instrumente geprüft wurden. Einige Musiker waren scheinbar auch schon eingetroffen.

Später würde ich noch einmal eine Runde drehen und mich nach wilden Campern umsehen müssen, aber das hatte noch viel Zeit. Was jetzt noch immer nach und nach eintraf, waren die Foodtrucks und die Wagen voller Getränke und Kühleinrichtungen, wie ich aus der Entfernung gut erkennen konnte. In einiger Entfernung am Beginn des Feldweges konnte ich Irina sehen. Sie wies den Fahrern den Weg zu ihrem Ziel und kam schließlich auf mich zu.

»Hey, wie läuft’s?«, fragte sie vollkommen professionell. »Gibt es irgendwelche Probleme oder hast du alles im Griff?«

»Nein, alles in Ordnung«, bestätigte ich nickend. »Die Beschilderungen sind angebracht und die Haustüren abgeschlossen. Aber es ist echt aufregend, Teil des Ganzen zu sein.«

Irina grinste und verschnaufte einen Moment bei mir. Ich konnte sehen, wie ihre straffen Schultern einige Zentimeter tiefer sanken und ihre gesamte Körperspannung ein wenig nachließ.

»Das stimmt. Das ist es jedes Mal. Erstaunlich wie schnell alles geht, wenn man sich ein paar Profis an die Seite holt. Sieh nur wie schnell die Bühne mit der ganzen Technik stand. Die Jungs werde ich sicher öfter bestellen. Es sollte jetzt nicht mehr lange dauern, bis wirklich alles da ist.«

Sie warf einen Blick auf die Uhr an ihrem Handgelenk und ich tat es ihr automatisch gleich. 12:26 Uhr und ich hatte noch immer keine Pause gemacht. Ob ich dazu wohl noch eine Gelegenheit bekam?

»Wir sind recht gut in der Zeit. Der Einlass startet ab 14 Uhr und das Bühnenprogramm eine Stunde später. Die Stände werden auch ab 14 Uhr besetzt sein. Wahrscheinlich sind bis 16 oder spätestens 17 Uhr alle Gäste da, die über Nacht bleiben wollen. Wer noch später kommt, wird wahrscheinlich nur für ein paar Acts anreisen. Ab 20 Uhr spielt unser Headliner FLUCHTPUNKT.«

»Von denen habe ich noch nie gehört«, gab ich zu. Allerdings hatte ich mich mit der lokalen Musikszene auch noch nicht auseinandergesetzt. Überregionale Bands hatte Irina für dieses kleine Event sicher nicht bekommen. Das Budget war schließlich begrenzt.

»FLUCHTPUNKT sind die einzige Band heute Abend, denen ich eine echte Gage zahlen musste. Die Anderen kommen komplett gratis«, erklärte sie mit einem Schmunzeln. Das hatte sie geschickt gemacht. Ich hätte nicht erwartet, dass Musiker ohne Gage auftraten, aber vielleicht tat es ihrer Bekanntheit gut oder sie konnten vielleicht mit ihren Fanartikeln etwas Geld verdienen. »Ich habe sie auch noch nicht live gesehen, aber sie sind hier in der Szene sehr bekannt. Sie sind eine der besten jungen Bands des Bundeslandes. Ich glaube, die machen sogar dieses Jahr für Schleswig-Holstein beim New Talent Award von BuzzRadio mit.«

Wenigstens den Namen des Radiosenders hatte ich schon mal gehört. Ich glaubte, mich zu erinnern, dass sogar ein Werbeplakat am Kieler Hauptbahnhof hing.

»Den Sender hören hier Viele, oder?« Ich zumindest gehörte nicht dazu. Auf meinem Handy hatte ich ein paar Playlists von Künstlern, die ich mochte, und das reichte mir. Jemand rief Irinas Namen. Abgelenkt nickte sie, ließ die Spannung in ihren Körper zurückkehren und sah sich um.

»Ich muss da mal rüber. Bis später.«

 

Kurz nachdem Irina verschwunden war, taperten die ersten Gäste mit Rucksäcken und Zelten den Weg hinauf.

»Hallo, ist das hier der Eingang zum Zeltplatz?«, fragte eine blasse junge Frau mit glattem blonden Haar ohne besonderes Ziel. Offensichtlicher hätte es kaum sein können, schließlich hing am Zaun hinter mir ein riesiges Schild mit der Aufschrift ‚Zeltplatz Eingang‘. Ich versuchte dennoch, mir meine Irritation über die Frage nicht anmerken zu lassen.

»Ja, hier seid ihr richtig«, erklärte ich stattdessen gelassen, wohl ahnend, dass mir an diesem Tag noch viele und weitaus dümmere Fragen begegnen mochten. Ich sammelte das Geld von den drei ersten Zeltplatzgästen ein und band jedem von ihnen eins der extra für das Camping angefertigten Armbänder um. Sie waren so gemacht, dass man sie nicht zerstörungsfrei vom Handgelenk bekam, um sie mit jemandem, der draußen wartete auszutauschen.

Anschließend zeigte ich der kleinen Gruppe den Platz, an dem sie ihr Zelt aufbauen sollten. Noch konnte ich mich für diese Aufgabe vom Eingang wegbewegen, weil nichts weiter los war. Aber wie ich das später unter Kontrolle behalten wollte, hatte ich mir noch nicht überlegt. Wahrscheinlich kamen längst nicht so viele Gäste, dass das zum Problem werden konnte, aber meine Erfahrung mit solchen Events war eben denkbar begrenzt.

Im Augenblick konnte ich mir eine Wiederholung der Veranstaltung sehr gut vorstellen. Die ersten Scheine und Münzen flossen in meine Kasse. Das Ganze ließ sich gut an. Wenn es noch eine Weile so weiter ging, hatte sich das Event wirklich gelohnt. Ich hatte zwar ein arbeitsreiches Wochenende vor mir, aber das verschreckte mich nicht. Selbst ohne das Festival hätte ich an diesem Wochenende gearbeitet. Es gab noch immer viel in den Gärten zu tun und im Grunde hätte ich auch schon mit den Renovierungsarbeiten beginnen können. Mit etwas Fensterkitt, ein paar Eimern Farbe hätte sich schon einiges bewegen lassen, aber bislang fehlte mir dafür die Zeit.

Der Besucherverkehr an meinem Tisch nahm stetig zu. Bald hatte ich alle Hände voll damit zu tun, alles im Auge zu behalten, und konnte mich nicht mehr um jeden einzeln kümmern. Einige Gäste waren sehr nett und wir plauderten darüber, wie schön es hier war. Manche merkten an, was für eine tolle Idee dieses Festival sei und dass so etwas bislang in der Gegend gefehlt hätte.

Eine Gruppe erzählte im Gegensatz dazu von einem jährlichen Event einige Kilometer weiter, zu dem sie ebenfalls jedes Jahr fuhren. Ich versprach, mir das auch einmal anzusehen. Vielleicht waren die Veranstalter ja nett und man konnte sich ein wenig austauschen.

Irgendwann kehrten sich die Pilgerströme um und es verließen mehr Gäste den Platz, als neue dazukamen. Noch immer flossen reichlich Euro in meine Kasse. Bald darauf drangen zunächst Stimmen und dann Musik von der Bühne. Das Festival hatte nun offiziell begonnen. Gänsehaut überzog meine Arme. Das war sicher nicht mein Verdienst, aber ich hatte einen Anteil daran und es fühlte sich toll an, dazu beigetragen zu haben.

Hatte ich anfangs noch grob mitgerechnet, wie viel Geld ich bereits eingenommen hatte, so hatte ich nun völlig den Überblick darüber verloren. Für ein paar Fenster sollte es jedenfalls schon reichen, wenn ich die Kosten dafür nicht völlig falsch einschätzte. Etwas mehr würde noch mit der Miete reinkommen und den Rest der Kosten würde ich mit den laufenden Einnahmen schon irgendwie stemmen können. Vielleicht veranstaltete ich noch ein paar weitere kleine Events, um einerseits mehr Geld zur Verfügung zu haben und andererseits mehr Leben auf das Grundstück zu holen. Ich fühlte mich viel lebendiger, seit um mich herum so viel Gewusel war. Das hier war genau das Richtige für mich in diesem Moment.

 

***

 

Es war einige Zeit vergangen, seit die letzten Gäste eingetroffen waren. Nur noch gelegentlich pendelten Besucher zwischen Veranstaltungsgelände und Zeltplatz hin- und her und zeigten mir ihre Armbänder vor. Ich klappte meine Kasse zu und verließ mit ihr unter dem Arm meinen mittlerweile vertrauten Platz am Eingang des Zeltplatzes.

Ich war mir nicht sicher, ob es schon der richtige Moment dafür war und wie viel Einnahmen mir durch verspätete Camper entgehen mochten, aber ich hatte den Eindruck, meinen Schnitt gemacht zu haben. Jede weitere Stunde vor dem Eingang würde mich mehr Zeit kosten aber kaum noch Einnahmen bringen.

Also konnte ich nun auch den Abend etwas lockerer angehen lassen. Außerdem konnte ich später zurückkehren und meinen Platz wieder einnehmen, wenn ich das für nötig hielt. Doch erstmal brachte ich meine Einnahmen in Sicherheit und gönnte mir eine heiße Dusche.

Die Tür zwischen dem Büro und der Wohnung hatte ich inzwischen aus Gewohnheit verschlossen. Irgendwie kam es mir komisch vor, wenn in dem Raum, den die Gäste zu fast jeder Tageszeit frei betreten konnten, eine Tür direkt zu meinen Privaträumen offen stand. Doch an diesem Tag war die Bürotür wie alle anderen verschlossen. Ich hatte extra einen Rundgang am Morgen gemacht, um mich dessen zu vergewissern, denn ich wollte nicht, dass sich bei dem unübersichtlichen Besucherandrang vielleicht jemand in meinen Häusern einnistete. Allein bei dem Gedanken wurde mir ganz mulmig zumute.

Um nicht zu viel zu verpassen, beeilte ich mich mit meinen Erledigungen und zog die Dusche nicht länger als unbedingt zur Entspannung nötig. Anschließend schlüpfte ich in eine weit geschnittene dunkelgrüne Hose und ein edles weißes Satin-Shirt, das ich sehr liebte. Weil ich irgendwie in der Stimmung für Lippenstift war, trug ich einen leichten Hauch Rot auf. Draußen wurde es langsam frisch. So schnappte ich mir außerdem eine kuschlige graue Strickjacke aus meinem früheren Luxusleben in München. Sie war ein Geschenk von Marco gewesen, aber sie leistete mir sicher noch gute Dienste, obwohl sie mich gelegentlich auf unangenehme Weise an ihn erinnerte. Aber heute nicht. Heute war sie einfach eine warme Jacke für einen kühlen Abend.

Bevor ich endgültig zum Festivalgelände hinüber schlenderte und mich in die Menge mischte, machte ich einen Abstecher an den See und folgte einem spontanen Bedürfnis, einen Moment ganz für mich zu sein. Wann immer ich aufs Wasser schaute, wurde alles in mir friedlich. Hinten in meinem Garten trieben sich die Gäste der Veranstaltung zum Glück nicht herum und ich hatte diese kleine Oase ganz für mich alleine. Zumindest dachte ich das. Dass ich mich irrte, bemerkte ich erst, kurz bevor ich den alten Holzsteg betrat.

Nur von dem spärlichen Licht beleuchtet, das aus den Wohnzimmerfenstern hinausdrang, erkannte ich eine Silhouette am Ufer. Ein junger Mann stand an eine Birke gelehnt einige Meter von mir entfernt und blickte hinaus aufs Wasser. Ich erkannte weder ein vor ihm kniendes Mädchen noch einen Joint in seiner Hand. Viel mehr konnte ich im Dunkeln zunächst nicht sehen. So nahm ich an, ihn trieben ähnliche Bedürfnisse wie mich hierher. Es wunderte mich nicht, dass sich jemand in den Garten verirrt hatte, weil ich kein ‚Betreten verboten‘ Schild aufgestellt hatte. Ich hatte nächtliche Besucher jedoch erst zu späterer Stunde erwartet, wenn sich der eine oder andere angetrunkene Gast eine ruhige Ecke suchte oder frisch verliebte Pärchen sich ein wenig zurückziehen wollten. Beides wünschte ich mir nicht unbedingt, aber es war doch abseits solcher Veranstaltungen kaum zu vermeiden.

Es war erst kurz nach halb acht und der Fremde machte auf mich keinen betrunkenen Eindruck. Er schaute lediglich unbeirrt auf die stille Oberfläche des Sees und ich sah, wie sich sein Brustkorb bewegte, während er tiefe Atemzüge nahm. Ihn noch länger in meinem Garten zu beobachten, ohne dass er von meiner Anwesenheit Notiz nahm, kam mir jedoch vollkommen falsch vor.

»Hey«, grüßte ich ihn leise und unverbindlich. Ich wollte ihm kein Gespräch aufzwingen. Er sollte lediglich wissen, dass er nicht allein war. Sofort schnellte sein Gesicht zu mir herum. Ich hob die Hand zu einem zaghaften Gruß und verzog die Lippen zu einem Lächeln.

»Selber hey«, gab er zurück. Seine Stimme klang frech, fast flirtend, obwohl er doch keine Ahnung hatte, wer ihn da von der Seite anquatschte. Er schob die Hände tief in die Taschen seiner marineblauen Stoffhose und sah zu mir auf. Ich näherte mich nun über den abschüssigen Rasen ebenfalls weiter dem Ufer, bis ich auf etwa gleicher Höhe mit ihm stand.

Angesichts seines scheußlichen T-Shirts wunderte ich mich, dass er mir nicht schon aus 100 Metern Entfernung aufgefallen war. Es war orange und diese Farbe sah einfach an niemandem wirklich gut aus. »Warum bist du nicht oben bei der Bühne?«

Moment mal, das war doch mein Text. Diese Frage von ihm zu hören, statt sie ihm zu stellen, fühlte sich merkwürdig an. Ich war hier die Hausherrin, auch wenn ich mich selbst manchmal noch fremd fühlte. Aber er stellte die Frage auf eine so lockere Art, dass ich ihn nicht berichtigen wollte.

»Ach, ich wollte ein bisschen die Ruhe genießen«, erklärte ich schließlich vage und schob ebenfalls meine Hände in die Taschen meiner Strickjacke.

»Dafür ist ein Musikfestival nicht unbedingt der richtige Ort.«

Seine anfänglich noch nachdenkliche Miene wurde inzwischen von einem Grinsen erhellt, das ihn unheimlich sympathisch machte. Seine Haare waren kurz und verwuschelt, sodass er ein wenig aussah, als wäre er gerade aus dem Bett gefallen, aber der Blick aus seinen dunklen Augen war wach. Dieses Grinsen war definitiv süß und das wusste er genau. Vermutlich stand vor mir einer dieser Typen, die genau wussten, welche Wirkung sie auf Frauen hatten. Nur war ich im Augenblick für diese Art von Charme immun. Wenn mich Marco von irgendwas geheilt hatte, dann davon mich Hals über Kopf in den nächsten Typen zu verlieben.

»Sagt wer?« Irgendwas in mir öffnete sich ihm dennoch und ich ließ mich bereitwillig auf einen sportlichen Schlagabtausch mit ihm ein. »Dein T-Shirt verrät mir, dass deiner Einschätzung nicht immer zu trauen ist. Vielleicht ist es gerade am Rand eines solchen Festivals ruhig, weil es drinnen so laut ist.«

Er grinste weiter und schien durch meinen Angriff auf sein T-Shirt nicht im mindesten eingeschüchtert. Langsam schlenderte er ein paar Schritte auf mich zu und musterte mich wohlwollend. Sein intensiver Blick glitt an mir hinauf und verharrte schließlich auf Höhe meiner Augen.

»Ein interessanter Ansatz, aber was treibt dich wirklich hierher?«, hakte er nach und hielt meinen Blick fest, bis ich mein Gesicht abwandte. Das war zu viel. Mit dieser Intensität konnte ich nicht umgehen. Die dunkle Oberfläche des Sees kräuselte sich am Ufer, wo das Wasser auf Hindernisse traf.

»Ich wohne zur Zeit hier«, gab ich zu. Sonst erzählte ich Fremden nicht unbedingt, dass ich auf einem einsamen Hof am Ende der Welt lebte – einfach, weil ich keinen Besuch von sonderbaren Menschen wünschte. Warum ich es gerade ihm erzählte, konnte ich nicht in Worte fassen. Es fühlte sich einfach in diesem Moment richtig an.

»Oh, machst du hier Urlaub?«, fragte er mit einer Spur Enttäuschung in seiner melodischen Stimme. Inzwischen stand er nahe vor mir und sein Gesicht beschien ein gedimmter Lichtschimmer. Er war einige Zentimeter größer als ich, hatte eine schlanke Statur und ein ausgesprochen attraktives Gesicht.

»Sowas ähnliches«, deutete ich an. Als er mich weiterhin aufmerksam ansah, führte ich es näher aus. »Ich brauchte mal eine Auszeit von meinem Leben und bin irgendwie hier gelandet. Wie lange ich bleibe, weiß ich noch nicht.«

Er nickte nachdenklich und schien wieder ein wenig in die Welt zu versinken, in der er sich bei meiner Ankunft befunden hatte. Aus irgendeinem Grund war dieses Gespräch am Rande des Irrsinns mehr als bloßes Geplänkel. Es schien an uns beiden nicht spurlos vorbeizugehen. Jedenfalls bildete ich mir das ein. Er machte eine einladende Geste in Richtung des Festivalgeländes. »Da oben wartet vorzügliche Ablenkung auf dich und vermutlich rund eintausend Menschen, die dich auf andere Gedanken bringen könnten.«

Ich schmunzelte. Möglicherweise wollte er mich damit loswerden, aber ich wollte noch nicht, dass dieses Gespräch endete. Ich wollte wissen, wer er war und was er in meinem Garten zu suchen hatte. Vielleicht konnte ich ihm helfen, es zu finden. Irgendetwas war da zwischen uns. Eine Art von unausgesprochenem Verständnis für den jeweils anderen. Bereits in diesem wenige Sätze umfassenden Smalltalk mit ihm hatte ich mehr seelische Nahrung gefunden als in sämtlichen Gesprächen der letzten Wochen.

»Sicher, aber ich kenne dort niemanden und bislang bin ich nur bis hierher gekommen. Und warum bist du nicht oben?«, richtete ich die Frage nun an ihn.

Er zog eine Hand aus seiner Hosentasche und rieb sich damit den Nacken. »Meine Band hat gleich ihren Auftritt und ich wollte vorher noch ein bisschen abschalten.«

Oha, ein Musiker, das erklärte natürlich, warum er sich hier wie zuhause fühlte. Ich war also der ungebetene Eindringling in seiner persönlichen VIP Lounge.

»Oh, dann störe ich dich sicher«, bot ich nun doch von mir aus meinen Rückzug an. Zwar war es immer noch mein Garten und nicht die Artist Lounge, aber wenn er wirklich Ruhe brauchte, um sich zu sammeln, wollte ich ihm nicht im Wege stehen. Mit Musikern konnte ich sowieso nichts anfangen. Vermutlich war er einfach nur ein sehr charismatischer Typ, der sich selbst gern im Rampenlicht sah und deshalb so unbefangen mit mir plauderte. Es war sein Geschäft, sich interessant zu machen. Job erledigt.

»Nein, absolut nicht«, wehrte er energisch ab und trat einen weiteren Schritt auf mich zu. Uns trennte nur noch die Länge eines Unterarms. Bei jedem anderen wäre ich längst zurückgewichen, doch aus irgendeinem Grund tat ich es auch jetzt noch nicht. Rockstar hin oder her. »Du bist eine sehr willkommene Abwechslung von meinen Gedanken. Ich bin übrigens Finn und mit wem habe ich die Ehre?«

Seine Worte strichen über meine Seele wie ein Seidenschal. Ich hatte keinerlei körperliches Interesse an ihm, aber die Unterhaltung tat mir wahnsinnig gut. Sie hatte trotz ihres oberflächlichen Klangs etwas in mir berührt. »Ich heiße Jana.«

»Okay, Jana«, er sprach meinen Namen aus, als hätte ich ihm damit ein Geschenk gemacht. »Es war mir eine Freude, dich kennenzulernen. Aber ich muss jetzt nach oben zu meinen Jungs, bevor die einen Suchtrupp nach mir ausschicken. Gibst du mir deine Nummer, damit wir unser Gespräch später fortsetzen können?«

Plötzlich landeten wir bei der alten Frage, mit der so viele platte Gespräche am Abend endeten und nach der nie wieder etwas Gutes folgte. Desillusioniert zog ich mich ein Stück von ihm zurück. Ich hatte das ‚Nein‘ schon auf den Lippen, als ich es mir anders überlegte. Es war schließlich ein magischer Abend.

»Warum eigentlich nicht?«

 

***

Ich sah ihm hinterher, als er den leichten Anstieg hinauf in Richtung des Veranstaltungsgeländes lief, und gab mich der leisen Hoffnung hin, ich könnte in ihm einen echten Freund finden. Idiotisch, wenn man es recht bedachte, aber so war Hoffnung nun einmal und in diesem Moment sehnte ich mich eben nach wahrer Freundschaft.

Der See lag noch immer träge glitzernd da und hielt meinen Blick auf. In der Ferne lag eine kleine unbewohnte Insel, die man selbst bei trübem Wetter noch sehen konnte. Im Augenblick sah ich jedoch kaum die Uferlinie, weil sie durch den steilen Abfall des Geländes beschattet wurde.

Die Geräuschkulisse hinter mir holte mich zurück in die Wirklichkeit. Ich war hier, um ein bisschen Spaß zu haben, und irgendwie reizte es mich auch, zu sehen, was Finn auf der Bühne so trieb. Als ich mir sicher war, dass er einen angemessenen Vorsprung gewonnen hatte, folgte ich ihm zum Festival vor meiner Haustür. Es hatte noch immer etwas Irrationales. Der ganze Tag war von diesem Gefühl durchzogen und schließlich war es in diesem Gespräch mit Finn in meinem Garten gegipfelt.

An der Einlasskontrolle zeigte ich das Bändchen vor, das mich als Teil des Organisationsteams auswies, und schob mich durch die Menge, um besser sehen zu können. Es war wirklich erstaunlich, wie viele Menschen sich hier versammelt hatten, um an dieser Festivalpremiere teilzunehmen. Hoffentlich würde Irina das Ergebnis auch als Erfolg, damit es ein nächstes Mal geben konnte. Ich war inzwischen auf den Geschmack gekommen und hätte gerne häufiger mit Events wie diesem zu tun. Besonders wenn dabei auch noch eine ordentliche Menge Bares in meinen Taschen landete.

Auf der Bühne stand im Augenblick eine Rockband mit einer dunkelhaarigen Sängerin. Unter den weiteren Musikern konnte ich Finn nicht entdecken. Entweder hatten die Bands noch nicht gewechselt oder er hatte sich nur aus der Affäre ziehen wollen, weil er nicht länger mit mir abhängen wollte. Ich spürte einen Anflug von Enttäuschung. Dann verabschiedet sich die Sängerin nach dem Schlussakkord unter kräftigem Applaus vom Publikum. Sie winkte in die Menge, ließ ihren Musiker den Vortritt beim Abgang und folgte ihnen dann hinter die Bühne. Ein Mann in einem Fan-Shirt erschien auf der Bühne und trat ans Mikrofon. War das nicht der Typ, der heute Morgen Irina einen Kuss auf die Lippen gehaucht hatte, als sie angekommen war? Jetzt stand er geduldig da, während der Jubel langsam abebbte.

»Nun ist es uns eine große Freude, euch den Headliner des heutigen Abends zu präsentieren«, intonierte er mit kratziger Stimme. »Begrüßt mit uns die Kieler Indie-Pop-Band FLUCHTPUNKT.«

Meine Gedanken wurden sogleich von frenetischem Gekreische einer Gruppe junger Frauen um mich herum betäubt. War ich versehentlich mitten im Fanclub der Band gelandet? Ich sah mich genauer um. Die Mädchen sahen eigentlich alle ganz normal aus. Auf dem T-Shirt von einer von ihnen erkannte ich den Bandnamen unter einem geometrischen Logo. Okay, vermutlich hatte ich es wirklich mit ein paar Fans zu tun. Allerdings fand ich das ziemlich abgefahren.

Wir hatten tatsächlich Bands auf unserem Festival, die echte Fans mitbrachten. Ich schüttelte entgeistert den Kopf. Das war cool. Wieder begannen sie in hohen Tönen zu schreien. Meine Ohren fühlten sich bereits unangenehm taub an, aber da musste ich nun wohl durch. Noch ehe ich meinen Blick auf die Bühne gerichtet hatte, drang seine Stimme über die Lautsprecher an meine geschundenen Ohren. Weich wie Seide und warm wie frisches Brot umschmeichelte sie mich.

Dort oben stand er. Finn. Er hatte nicht gelogen. Es war keine Ausrede gewesen. Besser noch. Er hatte sogar meine Nummer haben wollen. Stolz schmunzelte ich hinüber zu den kreischenden Mädchen. Sicher hätten sie in den vergangenen Minuten gern mit mir getauscht.

Aber vielleicht war das auch nur die Art und Weise, wie er sich seine Fans aufbaute. Vielleicht hatte er sich zu einem anderen Zeitpunkt auch ihre Telefonnummern erfragt und ich war nur eine von vielen. Warum sollte es auch anders sein? Hatte ich nicht von Anfang an den Eindruck gehabt, er wäre ein Frauenheld?

Ach, was sollte es? Er würde sich entweder melden oder nicht und dann würden wir sehen, wie es weiterging. Obwohl es mir schmeichelte, dass er offenbar recht begehrt war, änderte das nichts daran, dass ich absolut nicht auf der Suche nach einer Beziehung war. Die Letzte hatte ich schließlich kaum hinter mir gelassen. Allerdings musste ich mir das immer wieder selbst ins Ohr flüstern, während ich ihn auf der Bühne beobachtet. Er schien dort oben wirklich in seinem Element zu sein. Seine Präsenz und sein Charisma überstrahlten alles. Dass seine Stimme beim Sprechen gut klang, wusste ich schon, aber er konnte damit auch gut singen. Ich nickte anerkennend.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752102758
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juli)
Schlagworte
Festival Freundschaft Musiker Romance Rockstar Schleswig-Holstein

Autor

  • Erin J. Steen (Autor:in)

Erin J. Steen wurde im Herbst 1983 in Niedersachsen geboren. Dort lebt und arbeitet sie auch heute wieder, nachdem sie einige Jahre in verschiedenen Orten im In- und Ausland verbracht hat. Sie liebt große Städte, möchte aber nicht mehr längere Zeit in einer Großstadt leben. Das Haus teilt sie mit einem Mann, einer Tochter und zwei tierischen Gefährten.