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Kai Flammersfeld und die Trügerische Trautelbeere

von Hagen Röhrig (Autor:in)
187 Seiten
Reihe: Kai Flammersfeld, Band 3

Zusammenfassung

Kai begibt sich auf die Suche nach der Trügerischen Trautelbeere. Der Beere, die es ihm ermöglichen soll, Tagvampir zu werden. Doch wo findet er diese Beere? Kai und seine Freunde brechen zu Renatus Röchel auf, einem alten, weisen Vampir, der Antworten auf alle Fragen hat. Doch diesmal ist alles anders. Denn Renatus birgt ein dunkles Geheimnis … Mit dem Besuch bei Renatus Röchel beginnt Kais neues Abenteuer, das ihn und seine Freunde in die Stadt der Werwölfe führt, wo sie gefährliche Begegnungen haben, aber auch neue Freunde finden, die ihnen helfen. Doch die Suche nach der Trügerischen Trautelbeere ist nicht Kais einziges Problem. Hinter seinem Rücken haben Wieland von Wünschelsgrund und Rufus Wankelmann einen teuflischen Plan ausgeheckt. Einen Plan, der lebensgefährlich für Kai ist – und in dem seine beste Freundin Sandra eine Rolle spielt ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Für Heike, Peter und Katrin

... Danke!

1

Das Erwachen – 14. Tag nach dem Biss

Ihre Hand entglitt ihm. „Sandra!“, rief er. Seine Finger griffen ins Leere. „Kai, hilf mir!“ Ganz langsam schwebte sie davon. Sandra streckte ihm die Arme entgegen und blickte ihn mit angsterfüllten Augen an. Kai trat einen Schritt vor, doch eine unsichtbare Kraft hielt ihn fest. Es war, als kralle sich etwas an seinem Umhang fest, als fasse es ihn an Armen und Beinen und zerre ihn zurück. Es war dieselbe Kraft, die Sandra unaufhaltsam von ihm wegzog. Der Nebel wurde dichter. Dicke Schwaden schoben sich zwischen ihn und seine Freundin. „Kai, hilf mir! Jetzt hilf mir doch! Es zieht mich da rein! Es zieht mich in dieses Loch!“ Sandra schrie.

„Ich komme!“ Kai stemmte sich mit aller Macht gegen die Kraft, die ihn von Sandra wegzog. Sein Umhang spannte sich und riss mit einem lauten Ratsch entzwei.

„Wo bist du?“, rief er und setzte mühevoll einen Fuß vor den anderen. Jeder Schritt fühlte sich an, als habe er Blei an den Fußsohlen.

„Hier bin ich“, antwortete Sandra. „Hier drüben!“

Kais Hände zerteilten den Nebel. Dann erkannte er Sandras schemenhafte Umrisse. Als sie ihn auch sah, zeigte sie hinter sich und rief: „Beeil dich! Da ist es, siehst du? Da ist es!“

Und Kai konnte es sehen, das große, schwarze Loch, das hinter seiner Freundin klaffte. Nebelfetzen umkreisten es und verschwanden im unendlich tiefen Schwarz.

Plötzlich wurde Sandra fortgerissen. Ihr Kopf fiel nach vorn und schleuderte dann zurück in den Nacken.

„Kai!“, schrie sie noch und riss die Augen weit auf ... – dann schreckte er hoch.

„Sandra!“ Er fuhr sich über das Gesicht und atmete tief durch. Schon wieder so ein blöder Albtraum, dachte er und strubbelte sich durchs Haar. Dies war nun schon bestimmt der vierte, den er in letzter Zeit gehabt hatte und immer kam Sandra darin vor. Stets geschah etwas Schreckliches mit ihr.

Er setzte sich auf und gähnte. Nach einer Weile kletterte er aus dem Sarg, schlüpfte in seine Schuhe und schlurfte ans Fenster. Mit einem kräftigen Ruck zog er die schweren Vorhänge beiseite. Ein klarer Sternenhimmel begrüßte ihn. Kai schaute zur Milchstraße hinauf und dann zu der schmalen Sichel des abnehmenden Mondes, die ihm weiter hinten am Horizont entgegenleuchtete.

„Heute wird eine gute Nacht“, murmelte er und versuchte damit, die letzten Erinnerungen an den Albtraum zu vertreiben.

Wie viel doch seit jenem verhängnisvollen Tag geschehen war! Seit jenem Tag, als er mit Freunden ‚Räuber und Gendarm‘ gespielt hatte, schoss es ihm durch den Kopf. Wieder und wieder hatte er sich gefragt, warum er damals ausgerechnet den Weg über den Waldfriedhof einschlagen musste und er dachte daran, wie ihn die Vampire auf der Wiese bei Felixʼ Haus umringt hatten.

Und nun? Kai spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. Nun waren sie seine Freunde und er zum Teil selbst einer von ihnen. Sie versuchten ihn zu beschützen und so hatten sie ihm auf der Flucht vor den Vampirjägern in der alten Giselotta-Kirche ein Versteck eingerichtet. Doch dieses Versteck hatten die Vampirhasser gefunden. Er musste an den Kampf in der Kirche denken, der daraufhin zwischen den Vampiren und den Vampirjägern stattgefunden hatte. Glücklicherweise war er gut für die Vampire ausgegangen. Doch Rufus Wankelmann und Wieland von Wünschelsgrund waren noch nicht besiegt!

Kai drehte sich um und nahm seinen Umhang, der über der Stuhllehne hing. Dabei entdeckte er die Kanne mit dem frisch aufgebrühten Bluttee, die ihm seine Oma immer auf den Tisch stellte. Er schmunzelte, schenkte etwas Tee in das Glas, das neben der Kanne stand, nahm einen großen Schluck und schaute sich in seinem neuen Zimmer um. Gestern hatte er mit seinen Freunden seinen Sarg und ein paar andere Sachen aus der Giselotta-Kirche geholt und er war hierher in das Sommerhaus seiner Großmutter gekommen, weil sein Vater der Meinung war, dass dies notwendig sei. Schließlich wussten die Vampirjäger Rufus Wankelmann und Wieland von Wünschelsgrund nun, wo seine Oma, bei der Kai die Osterferien verbrachte, wohnte und nach den Erlebnissen mit den Knochenkriegern und dem, was in der Giselotta-Kirche geschehen war, hatte sein Vater einen Umzug beschlossen.

„Oder“, hatte er Kai gefragt, „hast du Lust darauf, dass eines Abends Wieland mit einem weihwassergetränkten Holzpflock vor deinem Sarg steht?“

Natürlich hatte er darauf keine Lust, und so hatten sie in aller Eile den Sarg aus der Giselotta-Kirche geschafft und waren zu diesem Haus gefahren, das Kai schon immer sehr gemocht hatte. Es lag auf einem lichten Hügel im Wald und war ganz aus Holz gebaut. Über eine Veranda ging es in den Garten, der in zwei Hälften aufgeteilt war. Die eine war ordentlich angelegt: Es gab Büsche, die in die verschiedensten Formen geschnitten waren, Rosenstöcke und dazwischen immer wieder kleine Statuen. Die andere war wild und alles konnte scheinbar wachsen, wie es wollte. Aber eben nur scheinbar, denn auch hier hatte seine Oma viel Arbeit hineingesteckt, hatte Lavendel und andere duftende Gewächse gepflanzt und ein paar mittelalterlich aussehende Statuen aufgestellt. Diese Seite des Gartens war seine Lieblingshälfte, weil man hier so unheimlich gut Verstecken spielen konnte.

Kai leerte das Glas und schenkte Tee nach. Etwas war heute anders. Der Tee schmeckte ihm zwar nach wie vor, doch er stillte seinen Hunger nicht mehr. Kai stockte. Sollte nun bald der Moment kommen, den er so fürchtete? Der Moment, wo ihm der Bluttee nicht mehr ausreichen würde und er beginnen müsste, auf – Jagd zu gehen? Dieser Gedanke ließ ihn frösteln. Doch dann erinnerte er sich, dass er im „Startset für Neu-Vampire“ noch die Trockennahrung hatte und er beruhigte sich wieder. Ob er sie morgen Abend mal probieren sollte? Als er sie das erste Mal gesehen hatte, fand er sie sehr seltsam und wollte auch gar nicht so genau wissen, woraus sie gemacht war. Doch sie war allemal besser, als auf die Jagd zu gehen.

Er warf den Umhang über die Schultern, ging zum Wandspiegel hinüber und schaute hinein. Seine Pupillen waren noch katzenartig. So veränderten sie sich immer, wenn er Nahrung zu sich nahm. Er sah zu, wie sie langsam wieder ihre normale Form annahmen. Dann zog er die Lippen ein wenig hoch und betrachtete seine Eckzähne. Sie waren schon wieder etwas länger geworden. Er hob die Hand und fuhr mit der Zeigefingerkuppe über die Zähne. Ja, und spitzer waren sie auch. Er ließ die Lippen wieder über die Zähne zurückgleiten und sah sein Gesicht im Spiegel an. Es war so farblos geworden. So – bleich. Nur seine bernsteinfarbenen Augen waren noch wie früher. Endlose Minuten stand Kai da und betrachtete sich im Spiegel. Dann, plötzlich, erschrak er.

Was war das da an seinem Hals?

Er beugte sich vor und schaute genauer hin. Am Hals, dort, wo die Hauptschlagader verläuft, bewegte sich etwas.

Kai schluckte.

Er sah, wie sich die Haut mit einer pulsierenden Bewegung anhob und wieder senkte. Die dicke Ader trat deutlich aus der bleichen Haut hervor und Kai konnte beobachten, wie das Blut darin floss.

Er zuckte zurück.

Auch über seine Wangen spannte sich nun ein Netz aus Adern, die sich in rhythmischen Stößen auf und ab bewegten. Er fuhr mit dem Zeigefinger über die Hauptschlagader, doch er spürte nichts als glatte Haut. Wie konnte das sein?

Er sah kurz auf seine Hand und blickte dann wieder in den Spiegel. Die Adern waren verschwunden. Sein Gesicht war wieder so glatt und eben wie zuvor. Kai starrte ungläubig auf sein Spiegelbild. Hitze stieg in ihm auf und kleine Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Doch sie waren nicht durchsichtig.

Kai stammelte ein leises „Oh nein!“ Überall auf seinem Gesicht traten feine Blutstropfen aus den Poren. Auf der Stirn. An den Wangen. Über den Lippen und an den Augen. Er rieb die Hände über das Gesicht und versuchte, das Blut wegzuwischen, wie lästiges Ungeziefer, dessen er sich entledigen wollte.

„Weg, weg!“, rief er und rieb noch fester über die Haut.

Als er wieder in den Spiegel blickte, war das Blut verschwunden. Sein Gesicht und seine Hände waren alabasterweiß, so, als wäre dort nie etwas anders gewesen.

Eilig griff er nach der Bürste, die vor ihm auf dem Nachttisch lag, und fuhr sich damit hastig durch das Haar. Dann ließ er die Bürste auf den Tisch zurückfallen, wandte sich vom Spiegel ab und stürzte aus dem Dachzimmer. Er nahm die ersten Stufen hinunter mit großen Schritten. Auf einem Treppenabsatz blieb er stehen.

Was hatte er da eben im Spiegel gesehen? War es bloß Einbildung gewesen? Hatte seine Fantasie ihm einen Streich gespielt? Oder ... Er nahm ein paar tiefe Atemzüge. Bestimmt kam das alles von dem Albtraum, den er gehabt hatte, versuchte er sich zu beruhigen. Er blieb noch einen Moment stehen und ging dann betont langsam die restlichen Stufen hinunter. Von unten hörte er bekannte Stimmen. Erst konnte er Sandra reden hören, dann seine Oma.

Er ging zur Wohnzimmertür, hinter der nun sein Vater das Wort ergriffen hatte.

„Wir sollten Ruhe bewahren“, sagte er gerade, als Kai die Hand auf den Türgriff legte. Kai hielt abrupt inne.

2

Das Schulproblem

„Ruhe? Ich bin die Ruhe in Person! Außerdem bin ich lange genug ruhig gewesen. Aber nun ist Schluss!“ Die Stimme von Kais Mutter schnitt wie ein Messer durch die Luft. „Ich habe von diesem Vampirkram die Nase voll!“

Kai beugte sich vor und sah durchs Schlüsselloch. Seine Mutter, die keinerlei Ahnung hatte, dass sie sich mit echten Vampiren in einem Raum befand, marschierte auf und ab und gestikulierte dabei wild mit den Armen.

„Ich hätte schon bei dem Umzug in die Kirche ein Machtwort sprechen sollen. Aber wisst ihr, was das Schlimmste ist?“ Sie blieb stehen, musterte kopfschüttelnd Gutta, Gangolf und Gerrith von Greifendorf, die auf der Couch saßen, und drehte sich dann zu Kais Großmutter um. „Dieser Sarg! Das schlägt dem Fass den Boden aus!“

„Angelika, ich bitte dich!“ Kais Vater hob beschwichtigend die Arme.

„Nein, ich bitte dich!“ Sie stellte sich dicht vor ihren Mann. „Und nun kommst du und faselst irgendwas von verreisen. Und dann auch noch in diesem Aufzug!“ Sie wies mit ausholender Armbewegung auf die Vampirfamilie von Greifendorf.

„Wieso, was hat sie denn?“ Gutta, Gangolf und Gerriths Mutter, Gesine von Greifendorf, blickte hilfesuchend in die Runde und sah an sich hinunter. „Stimmt etwas mit meiner Kleidung nicht? Das ist einer meiner feinsten Umhänge.“

Ihr Mann, Gottfried von Greifendorf, legte die Hand auf ihre Schulter. „Lass nur, Schatz. Es ist alles in Ordnung.“

„Es ist eben nicht alles in Ordnung, lieber Herr von Greifendorf!“ Kais Mutter schnellte zu ihm herum. „Diese Vampirsache geht jetzt eindeutig zu weit. Will mich hier denn niemand verstehen? Rede ich Altkymbrisch, oder was ist das Problem?“

Sie holte tief Luft und ging zu Kurt, der auf dem Kaminsims hockte. „Na, mein Kleiner? Wenigstens einer, der hier normal geblieben ist, was?“, flötete sie und tätschelte den Raben, der den Kopf bei jeder Berührung immer tiefer zwischen die Flügel zog.

„Entschuldigen Sie, aber davon bekomme ich Kopfschmerzen“, krächzte Kurt und hüpfte einen Schritt zur Seite.

„Oh!“ Kais Mutter zuckte zurück. „T... tut mir leid.“ Sie drehte sich zu ihrem Mann und zischte: „D... der spricht ja!“

„Ja, natürlich“, begann Kais Vater. „Das ist Kurt, der ...“

„Natürlich?“, unterbrach sieh ihn barsch. „Natürlich nennst du das?“ Sie blickte irritiert auf den Raben. „Wie dem auch sei.“ Energischen Schrittes ging sie auf die Wohnzimmertür zu.

Kai schreckte hoch, huschte über den Flur und verschwand in der Dunkelheit des gegenüberliegenden Raumes.

Gerade noch rechtzeitig, denn schon wurde die Wohnzimmertür aufgerissen und seine Mutter betrat den Flur. „Vielleicht ist es den anwesenden Damen und Herren ja entgangen, aber morgen fängt die Schule wieder an“, sagte sie und wandte sich Herrn und Frau von Greifendorf zu. „Sie möchten doch sicher auch, dass ihre Kinder frisch und ausgeruht in den ersten Schultag starten, oder nicht?“

„Nun, wir ...“

„Na, also.“ Ein mühsames Lächeln huschte über ihre Lippen. „Was Kai betrifft ... Es geht zwar wieder einmal gegen meine pädagogischen Prinzipien, aber er darf heute Nacht noch hier bleiben. Allerdings nur, wenn du mir versprichst, dass die Nacht nicht zu lang wird. Wenn du weißt, was ich meine.“ Sie hielt kurz inne, streckte den Zeigefinger in die Luft und sah ihren Mann mit scharfem Blick an. „Und du fährst ihn morgen bitte in die Schule. Und wenn die aus ist, kommt er sofort nach Hause! Haben wir uns verstanden?“ Sie sah zu Sandra und sagte kopfschüttelnd: „Wie kommt es eigentlich, dass du hier noch rumturnst? Wartet deine Tante Ursel nicht bei euch zu Hause auf dich? Ts, ich weiß ja auch nicht ...“

Sie ging zur Garderobe und nahm ihre Jacke vom Haken. „Hier“, sagte sie und zeigte auf einen Schulranzen, der neben der Garderobe an der Wand lehnte. „Ich habe alles eingepackt, was er morgen braucht. Gute Nacht allerseits!“ Mit diesen Worten riss sie die Haustür auf, trat ins Freie und warf die Tür mit einem lauten Knall hinter sich zu.

Kai erstarrte. Seine Mutter hatte recht! Er hatte völlig vergessen, dass heute der letzte Tag der Osterferien war! In den vergangenen zwei Wochen war so viel geschehen, dass ihm jeder Tag wie eine Ewigkeit vorgekommen war. Nicht eine Sekunde hatte er daran gedacht, dass irgendwann die Schule wieder beginnen würde. Was nun? Es lief ihm eiskalt über den Rücken. Wie sollte er tagsüber in die Schule gehen? Vielleicht konnte er von Gutta, Gangolf und Gerrith noch ein paar Tageslichtpillen bekommen, die ihn vor den Sonnenstrahlen schützten. Aber ... Er ließ die Zunge über die langen Eckzähne gleiten. Nein, das mit den Tageslichtpillen ging nicht. Er sah schon viel zu sehr wie ein Vampir aus. Und dann seine Mutter! Sie hielt diesen ‚Vampirkram‘, wie sie es nannte, immer noch für eine kindische Spielerei.

Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.

Was mache ich denn jetzt?, überlegte er, ging über den Flur und betrat das Wohnzimmer.

Die Vampirmutter schenkte gerade frischen Bluttee in eine Tasse. „Was hatte sie denn nur an meinem Umhang auszusetzen? Ich glaube, sie hatte heute einen schlechten Tag“, murmelte Gesine von Greifendorf und stellte die Kanne wieder auf den Tisch.

„Hallo!“ Kai winkte in die Runde.

„Ah! Unser Spätaufsteher!“ Seine Oma strich ihm über die Wange. „Deine Mutter war gerade hier. Und sie war ganz schön verärgert.“

„Aber echt!“ Sandra spielte mit einer Locke ihres roten Haares und warf Kai einen vielsagenden Blick zu. „Wisst ihr was? Wir haben ein Problem.“

„So?“, fragte der Vampiropa Gismo, der am Kaminsims neben Kurt lehnte.

Sandra trat einen Schritt vor. „Kai wird morgen wohl kaum in die Schule gehen können. Und übermorgen auch nicht. Und überübermorgen ist es nicht anders. Versteht ihr? Die erste Zeit könnten wir noch sagen, dass er krank ist. Aber was dann? Soll einer von uns zur Rektorin gehen und sagen: ‚Entschuldigen Sie bitte, aber Kai ist leider ein Vampir geworden?‘“

Kai blickte seine Freundin dankbar an und für einen kurzen Augenblick durchströmte ihn ein warmes Gefühl. Sie hatte seine Sorgen genau auf den Punkt gebracht.

„Da hast du recht.“ Kais Vater rieb sich nachdenklich das Kinn. „Und außerdem besteht Mama darauf, dass du ab morgen wieder zu Hause schläfst“, wandte er sich an Kai. „Und zwar ohne deinen Sarg.“

Opa Gismo stieß sich vom Kaminsims ab und stellte sich neben Sandra.

„Wie klassisch!“, stellte er fest.

„Klassisch?“ Kais Oma zog eine Augenbraue hoch.

„Ja, Verehrteste.“ Opa Gismo schmunzelte. „Es ist schon vielen Neu-Vampiren so ergangen wie Kai. Mit dem einen Bein stehen sie noch in der Menschenwelt und mit dem anderen bereits im Sarg, wenn Sie wissen, was ich meine.“ Er kicherte. „Schon immer hatten wir Vampire aus den unterschiedlichsten Gründen ein Interesse daran, dass uns die Menschen in Ruhe lassen. Nicht nur, aber vor allem in der Zeit des Übergangs in unser neues Leben.“

„Ich ahne etwas!“, stöhnte Gerrith und lehnte den Kopf an Guttas Schulter.

„Ganz recht, mein Lieber. Ich glaube, Kai ist bereit für den Spaltspiegel.“

Die Vampirmutter schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Aber Vater! Was sagst du da? Ist es dafür nicht noch ein wenig zu früh?“

„Ich denke nicht, wenn ich mir die Situation des Jungen so ansehe.“

„Hm, meinst du wirklich?“ Gesine von Greifendorf blickte zu Kai.

„Wofür, bitte, ist er bereit?“, fragte Oma Flammersfeld.

„Für den Spaltspiegel“, antwortete der Vampirvater.

„Noch nie gehört!“

„Oh doch, das hast du. Du erinnerst dich nur nicht daran.“

Der Vampir grinste die Großmutter an. „Allerdings hast du ihn nie benutzt, dazu bestand bei dir nämlich kein Grund.“

„Ach ja? Könntest du dann vielleicht mein Gedächtnis ein wenig auffrischen?“, verlangte Kais Oma.

Der Vampirvater ging durch den Raum und stellte sich vor den großen Spiegel, der über dem Kamin hing.

„Und? Seht ihr etwas?“, fragte er.

„Du hast kein Spiegelbild“, sagte die Großmutter.

„So ist es.“

„Dass Vampire kein Spiegelbild haben, ist doch das Natürlichste auf der Welt“, meinte Kais Oma und verdrehte die Augen. „Weiß doch jedes Kind.“

„Ach ja? Meinst du?“ Der Vampir blinzelte seiner Frau auffordernd zu, die daraufhin an seine Seite trat. In dem Spiegel war nun ihr Ebenbild zu sehen. „Und was ist das?“

„Das ist merkwürdig!“

„Mitnichten, Geysira.“ Der Vampirvater lächelte.

Kai zuckte zusammen, als er diesen Namen hörte. Er musste sich erst langsam daran gewöhnen, dass seine Großmutter eine Tagvampirin und die verschollen geglaubte Tante der von Greifendorfs war. Bis vorgestern noch war sie einfach nur seine Oma gewesen. Ganz einfach nur seine Oma.

„Die Menschen glauben, dass Vampire kein Spiegelbild haben“, setzte der Vampirvater fort und riss Kai damit aus seinen Gedanken. „Das stimmt auch für die Allermeisten von uns. Allerdings sind wir nicht ohne Spiegelbild, weil wir Vampire sind, sondern weil wir uns schützen wollen.“

„Wovor denn schützen?“, fragte Kai.

„Wir lösen unser Spiegelbild von uns und schicken es in die Menschenwelt zurück. Es lernt für uns. Es isst für uns. Es freut sich und es weint für uns.“ Er machte eine kleine Pause und sagte dann: „Versteht ihr, unser Spiegelbild lebt unter den Menschen weiter und daher kommt niemand auf die Idee, dass wir in Wirklichkeit Vampire sind. So können wir in aller Ruhe unser Vampirleben einrichten und viele ungestörte Jahre verbringen.“

„Wenn nicht jemand wie Wieland von Wünschelsgrund plötzlich auf dem Friedhof auftaucht“, rief Gangolf.

„Ja, oder Rufus Wankelmann!“, ergänzte seine Schwester Gutta.

„Natürlich, dann nützt auch das beste Spiegel-Ich nichts“, stimmte ihr Vater zu und schlenderte mit seiner Frau wieder zu den anderen rüber. „Es gibt natürlich Vampire, die sich der Zeremonie vor dem Spaltspiegel nicht unterziehen wollen – oder müssen. So wie du, liebe Geysira. Du warst damals die Letzte von uns, die gebissen wurde und brauchtest daher kein Spiegelbild, dass in der Menschenwelt für dich weiterlebt.“

Die Oma kniff die Augen zusammen und fragte mit ruhiger, aber bestimmter Stimme: „Und wo ist der Haken an der Sache, Gottfried?“

„Wie meinst du das?“

„Du sagst, es gibt Vampire, die sich der Zeremonie nicht unterziehen wollen.“

Der Vampir räusperte sich. „Nun ja, es gibt da schon ein paar Eigentümlichkeiten.“

„Eigentümlichkeiten. Soso. Und die wären?“

„Wenn sich das Spiegelbild von einem Neu-Vampir löst, so nimmt es manche seiner menschlichen Wesenszüge verstärkt mit sich. Der Vampir wird dann gefühlskälter. Kai hat noch recht viel Menschliches in sich. Sein Spiegelbild würde einiges davon mitnehmen, und Kais Umwandlung in einen Vampir würde sich wohl beschleunigen.“

„Das klingt ja nicht gerade erstrebenswert“, stellte die Oma kühl fest.

„Mag sein. Aber du darfst nicht vergessen, Geysira, dass wir Vampire ohnehin einiger Gefühlsregungen verlustig gehen. Es geschieht also nur, was sowieso geschehen muss.“

„Darf ich vielleicht die positiven Seiten einmal hervorheben?“ Opa Gismo ging zu Kai und legte den Arm um seine Schulter. „Sehen wir es doch einmal so: Wenn Kai vor den Spaltspiegel tritt, so kann sein Spiegelbild für ihn in die Schule gehen. Frau Flammersfeld ist beruhigt, dass ihr Sohn wieder zu Hause ist und in einem Bett schläft. Und dann ist da ja noch die Sache mit der Trügerischen Trautelbeere! Dafür hätten wir dann ausreichend Zeit!“

Kai blickte ihn an.

Opa Gismo zog den Arm zurück. „Bevor deine Mutter vorhin unsere kleine Runde mit ihrem Besuch beehrte, hatten wir uns gerade über die Suche nach der Trügerischen Trautelbeere unterhalten.“

Kai nickte stumm. Die Trügerische Trautelbeere. Wieland von Wünschelsgrund hatte vorgestern auf dem Dachboden der Giselotta-Kirche von dieser Beere gesprochen und damit alles verändert. Bis vorgestern hatte Kai gedacht, dass es für ihn keinen anderen Weg gab, als Vampir werden zu müssen.

Doch nun hatte er die Wahl.

Sollte er seine Umwandlung in einen Nachtvampir vollenden und in das Leben eintauchen, mit dem er sich ganz langsam anzufreunden begann? Oder sollte er sich auf die Suche nach der Trügerischen Trautelbeere machen? Auf die Suche nach der Beere, deren goldgelber Saft ihn zu dem machen würde, was auch seine Oma war: zu einem Tagvampir, der ein normales Leben unter den Menschen führen konnte.

Gestern Abend hatten sie alle hier im Wohnzimmer gesessen und Kai hatte sich entschlossen, nach der Beere zu suchen und ihren Saft zu trinken. Auch wenn dies bedeutete, dass er die Welt der Vampire verlassen, dass er alles Vampirische verlieren würde. Keine übermenschlich guten Augen und Ohren mehr. Aber eben auch keine Angst mehr, eines Tages auf die Jagd gehen und Blut trinken zu müssen.

Kai holte tief Luft und fragte: „Wenn ... wenn mein Spiegelbild mein Menschenleben lebt, ... Ich meine, ... bekomme ich es auch wieder zurück?“

„Du meinst dein Spiegel-Ich?“, fragte Opa Gismo.

Kai nickte.

„Ja, wann immer du es möchtest. Dein Spiegel-Ich drängt es stets zu dir zurück. Vergiss nicht, Kai: Du bist immer noch du. Dein Spiegel-Ich ist lediglich dein Abbild. Wenn auch eines mit einem gewissen, wie soll ich sagen, Eigenleben. Aber es wird sich jederzeit mit dir vereinigen und all sein Wissen, alles, was es in der Zeit, in der es von dir abgespalten war, erlebt hat, geht auf dich über.“

„Verstehe.“ Kai sah zu Sandra, die ihm aufmunternd zublinzelte.

„Ich mach’s“, sagte er schließlich mit fester Stimme.

„Eine weise Entscheidung!“, freute sich Opa Gismo.

„Ganz recht!“ Der Vampirvater stellte sich in die Mitte des Raumes. „Aber zunächst müssen wir einen Spaltspiegel besorgen. Wir von Greifendorfs gehören nämlich leider zu den Vampirfamilien, die keinen eigenen besitzen.“

„Wieso hat nicht jede Vampirfamilie ihren eigenen Spaltspiegel?“, fragte Sandra neugierig.

„Tja!“ Der Vampir verdrehte die Augen. „Schön wär’s. Aber es gibt nicht allzu viele dieser Spiegel. Sie sind alt. Sehr alt! Älter als die meisten Vampire! Und soweit mir bekannt ist, gibt es niemanden mehr, der weiß, wie man sie herstellt.“

Er schloss den Kragenknopf seines Umhangs und trat durch die Terrassentür ins Freie. Seine Familie folgte ihm. „Sobald wir einen Spiegel aufgetrieben haben, melden wir uns.“

Die Vampire winkten Kai, Sandra und der Großmutter zu, erhoben sich in die Luft und schwebten davon. Sandra sah den Freunden nach, bis die Dunkelheit sie verschluckt hatte.

3

Der Spaltspiegel

„Ein wahres Kunstwerk!“ Oma Flammersfeld ging um den Engel herum, der vor der Gruft der von Greifendorfs kniete und sich auf ein Schwert stützte.

„Ja, nicht wahr?“ Opa Gismo lächelte sie an. „Den hat einer unserer Vorfahren hier aufstellen lassen.“

„Er guckt allerdings etwas traurig.“ Die Großmutter ging ganz nah an den Engel heran und schaute ihm ins Gesicht.

„Nun, diese Statue hat auch eine eher dramatische Geschichte. Darf ich sie dir auf unserem Flug erzählen? Man wartet bereits auf uns.“ Gismo zeigte nach oben, wo die anderen schon mit wehenden Umhängen schwebten. Kurt blickte neugierig von Kais Schulter auf sie herab.

„Oh, ja. Natürlich.“

Der Vampir trat hinter Kais Oma und fasste sie unter den Achseln. Sie hoben vom Boden ab und flatterten hinauf zu Gangolf, der Sandra fest in den Armen hielt.

„Sind alle da?“, rief Gottfried von Greifendorf. „Dann los! Mir nach!“ Er drückte Kais Vater fester an sich und schoss davon.

Sie stiegen in den Nachthimmel empor. Höher und höher, immer der schmalen Sichel des abnehmenden Mondes entgegen. Nach einer Weile flatterten sie auf eine Wolke zu, welche die Form eines Totenkopfs hatte.

Mit mulmigem Gefühl sah Sandra, dass der Vampirvater direkt darauf zusteuerte und schließlich in ihr verschwand.

„Ist irgendwas?“, fragte Gangolf. „Du zitterst ja.“ „N... nein, nein. Alles klar.“ Die Totenkopfwolke schwebte groß vor ihnen. Sandra mochte sie nicht. Sie war ihr unheimlich. Wenn sie ehrlich war, hatte sie sogar etwas Angst vor dieser Wolke, auf die Gangolf nun eilig zuflog.

„Ähm ... Gangolf, könnten wir vielleicht außen herum ...?“, rief Sandra noch, da tauchte Gangolf bereits in die Wolke ein und kühler, feuchter Wind strich über ihr Gesicht. Sie schloss die Augen und öffnete sie erst wieder, als sie durch die geschlossenen Lider das helle Mondlicht wahrnahm. Sie blickte zurück.

Von dieser Seite sieht die Wolke noch gruseliger aus, dachte sie.

Unter der Nasenhöhle hatte die Totenkopfwolke eine dunkle Stelle, die an einen weit geöffneten Mund erinnerte, der ihnen wütend entgegenfauchte. Opa Gismo und die Großmutter flogen gerade aus ihm heraus, wirbelten den Wolkendunst durcheinander und zogen einige Schleier hinter sich her. Es sah nun so aus, als streckte die Totenkopfwolke ihnen die Zunge heraus.

Sandra wandte schnell den Blick ab und sah auf das Meer von Bäumen, das sich unter ihr ausbreitete. Nach einer Weile entdeckte sie eine Burg, die aus dem Wald herausragte und die sie sofort wiedererkannte. Es war die Burg, auf der vor zwei Tagen der Kampf zwischen den Knochenkriegern und den Vampiren stattgefunden hatte. Sofort fielen ihr Diadema und Lamentira ein, die beiden Vampirdamen, die sie immer so freundlich angelächelt hatten und die sie aus irgendeinem Grund mochte. Wie es den beiden wohl ging?

Gangolf flog eine Rechtskurve und die Burg verschwand aus ihrem Blickfeld. Unter ihnen lag nun ein weites, grasbewachsenes Tal. Ein Fluss mäanderte träge durch die Landschaft und Sandra sah tausende kleiner, glitzernder Punkte auf dem Wasser. Es waren die Sterne, die sich darin spiegelten.

Einige Minuten folgten sie dem Fluss und verließen dann das Tal. Buschwerk machte wieder dichtstehenden Bäumen Platz und schließlich konnte Sandra eine weitere Burg erkennen, die vor ihnen auf einem Hügel auftauchte. Gangolf setzte zum Sinkflug an und bald darauf landeten sie auf dem großen Burgturm, an dessen einer Seite ein weiterer kleiner Turm thronte.

„Mann, das war aber ein weiter Flug“, sagte Kai und strich seinen Umhang glatt.

„Stimmt.“ Gottfried von Greifendorf nickte. „Aber was soll man machen? Diese Burg wurde uns nun einmal zugewiesen.“

„Zugewiesen?“

„Ja. Du weißt doch, nicht jede Vampirfamilie hat ihren eigenen Spaltspiegel. Wir leider auch nicht. Also müssen wir die Spaltzeremonie bei anderen Vampiren anmelden. Wir hatten großes Glück, dass gerade ein Spiegel in der Nähe frei war!“

„Wo ist denn dieser Spiegel?“, fragte Sandra und blickte sich um.

„Aber Kind!“ Die Vampirmutter schmunzelte. „Meinst du, der steht hier einfach so auf dem Turm herum?“

„Ich könnte wetten, der steht unten im Verlies“, vermutete Gangolf.

Gutta schüttelte den Kopf. „Nee, glaub ich nicht. Die Spaltzeremonie soll in einem angenehmen Rahmen stattfinden.“

„Ja, eben! Das Verlies ist doch ein total angenehmer Rahmen.“

„Aber nicht für einen Neu-Vampir, Bruderherz!“ Gutta verdrehte die Augen.

„Ich könnte losfliegen und nachsehen“, krächzte Kurt von Kais Schulter.

„Nicht nötig“, sagte eine Stimme da.

Gerrith schrie auf und schnellte herum. Ein großer, hagerer Vampir stand neben ihm.

„Keine Panik, junger Freund“, beruhigte er mit tiefer Stimme. „Das bin nur ich.“

Gottfried von Greifendorf ging auf den Vampir zu und streckte ihm die Hand entgegen. „Antonio! Schön dich zu sehen!“, rief er und klopfte ihm auf die Schulter.

„Hm ...“, brummelte der Vampir und verzog keine Miene. „Ihr seid pünktlich. Das lobe ich mir.“

Kai hatte ein merkwürdiges Gefühl in der Magengegend. Dieser seltsame, schlecht gelaunt wirkende Kerl sollte die Zeremonie durchführen? Sehr beruhigend fand er das nicht. Und er konnte sich nicht vorstellen, dass Antonio eine entspannte Atmosphäre schaffen konnte.

Er schob sich dicht an Guttas Ohr und flüsterte: „Hör mal, dieser Antonio ist aber nicht gerade nett, was?“

Gutta legte sofort den Zeigefinger auf die Lippen und zischte „Pssst!“, als Antonio mit einer blitzschnellen Bewegung den Arm ausstreckte und auf Kai zeigte.

„Wir sind auch nicht zum Spaß hier“, schnarrte er und Kai spürte augenblicklich, wie ihm heiß wurde. Er war sich sicher, dass er gerade dunkelrot anlief.

„Entschuldigung ...“

„Hm ...“ Antonio ließ den Arm langsam wieder sinken. „Es geht um diesen vorlauten Burschen hier, nicht wahr?“ Er deutete mit einer leichten Kopfbewegung auf Kai.

„Ganz recht, Antonio“, bestätigte die Vampirmutter aufgeregt. „Das ist Kai. Kai Flammersfeld. Und wir sind ja so froh, dass du den Spiegel für uns noch freihalten konntest.“

„Ja, ja.“ Antonio winkte ab. „Es eilt immer. Irgendwie eilt es immer.“ Antonio stutzte und sah zu Gangolf hinüber.

„Was ist denn da hinter dir?“, fragte er.

Gangolf machte einen Schritt zur Seite und musste grinsen. „Das ist unser Gerrith. Er ist ein wenig schüchtern, wissen Sie.“ Er packte seinen Bruder an den Schultern und zog ihn neben sich.

„So? Ist er das?“ Antonio ging langsam auf Gerrith zu, blieb kurz vor ihm stehen und beugte sich zu ihm hinab. „Buh!“

Gerrith sprang mit einem lauten Aufschrei in die Luft.

„Aber, Herr Antonio! So lassen Sie ihn doch. Er kann doch nichts dafür, dass er so schüchtern ist!“, protestierte Kais Oma.

Der Vampir räusperte sich. „Ich weiß. Entschuldige, mein kleiner Freund. Aber es war einfach zu verlockend.“ Zum ersten Mal huschte ein kleines Lächeln über sein Gesicht. Doch sofort wurde er wieder ernst. „Ihr seid ja eine interessante Truppe“, grinste er und ging zur Großmutter. „Sie sind ...“ Er nahm einige Atemzüge und musterte sie scharf. „Ja, was sind Sie eigentlich? Ich bemerke, Sie sind nicht wirklich menschlich. Aber ...“ Er holte noch einmal tief Luft. „Aber ein Vampir sind Sie auch nicht.“ Dann weiteten sich seine Augen. „Ach neeein!“ Er lachte. „So etwas habe ich ja lange nicht mehr vor mir gehabt! Eine Tagvampirin!“

Gutta zupfte am Umhang ihrer Mutter. „Woran merkt er das?“

„Weil ich eben ein besonderer Vampir bin, meine Kleine. Und außerdem viel, viel älter als ihr alle zusammen. Vielleicht kannst du das später auch einmal.“ Antonio wandte sich Kais Vater zu. „Hier haben wir aber mit Sicherheit einen richtigen Menschen, oder?“

„Richtig!“

„Aha! Faszinierende Mischung hier, wirklich.“ Antonio betrachtete einen nach dem anderen eindringlich. „Und du bist Sandra, die Freundin von unserem Neu-Vampir, stimmt’s?“ Er nickte ihr lächelnd zu.

„Sie kennen meinen Namen?“

„Haben mir die von Greifendorfs erzählt. Ich muss doch schließlich wissen, mit wem ich es zu tun habe, nicht wahr?“ Er sah ihr tief in die Augen. „Interessante Aura hast du. Seeehr interessant ...“

„Bitte?“

„Deine Ausstrahlung, kleines Fräulein. Du hast eine besondere Ausstrahlung. Ganz besonders. Ich sehe das. Es ist die Energie, die dich umgibt. Und deine ist wirklich außergewöhnlich.“

Sandra sah zur Großmutter und flüsterte: „Langsam macht er mir Angst.“

„Nun gut.“ Antonio bedeutete Kai, ihm zu folgen. „Dann sollten wir beginnen.“

Kai schluckte. Auf dem Flug zu dieser Burg hatte er sich keine Gedanken darüber gemacht, was ihn bei der Zeremonie wohl erwarten würde. Nun aber, da Antonio vor ihm stand und ihn mit einer auffordernden Geste zu sich winkte, wurde ihm doch seltsam zumute.

„Was ist, worauf wartest du?“

„Ich ... Muss ich jetzt allein ...? Ich meine, kann nicht Sandra oder mein Vater ...?“

„Dich begleiten? Um Teufels willen, Junge! Wo denkst du hin! Nein, das musst du allein machen. Komm!“

Antonio ging mit großen Schritten voraus. Beim Treppenaufgang an der gegenüberliegenden Seite blieb er stehen.

„Nun komm! Ich hab nicht ewig Zeit“, rief er und verschwand in dem Aufgang.

Kai spürte die Hand seines Vaters auf der Schulter. „Geh nur, mein Junge. Wir werden hier sein, wenn du wiederkommst.“ Er gab ihm einen Kuss auf die Wange.

„Ich gehe mit dir bis zur Treppe.“ Sandra lief zu Kai hinüber und gemeinsam gingen sie zum Treppenaufgang. Kurz bevor sie ihn erreicht hatten, blieb Kai stehen und drehte sich zu seinem Vater, den Vampiren und seiner Oma um. Sie alle sahen zu ihm herüber und winkten ihm zu.

„So, weiter darf ich ja nicht“, sagte Sandra leise.

Kai nahm ihre Hand. Ihre Finger waren warm, die Haut so weich.

Sandra zog ihn sanft an sich und nahm ihn in die Arme. „Alles Gute“, sagte sie und drückte ihn, so fest sie konnte.

„Ich hab jetzt schon ein bisschen Angst“, flüsterte er.

„Wir warten hier!“ Sie streckte den Arm aus. „Kurt, kommst du?“

„Bin schon da!“ Der Rabe hüpfte auf ihren Arm und kraxelte zur Schulter. „Toi, toi, toi!“, krächzte er, neigte den Kopf leicht zur Seite und blinzelte seinem Freund zu.

Kai lächelte ihn und Sandra an. Dann drehte er sich um und stieg die ausgetretenen Stufen empor.


„Ah, da bist du ja!“ Antonio zog an den Enden eines Netzes, das von der Decke über einen Teil des Zimmers gespannt war, zu dem die Treppe Kai geführt hatte, und bis auf den Boden reichte. „Komm ruhig schon her, es ist alles vorbereitet.“

Kai betrat den achteckigen Raum, der als großer Erker an dem Turm klebte. Zwischen den Fenstern steckten lodernde Fackeln in Halterungen und von der Decke hing ein großer Kronleuchter, der über und über mit brennenden Kerzen bestückt war. Rechts von Kai knisterte ein Feuer in einem Kamin, vor dem ein klobiger Holztisch und schwere Stühle standen. Er ging an dem Tisch vorbei und trat zu Antonio, der nun an einem Fenstersims lehnte.

„Dort“, sagte er und deutete auf einen großen Spiegel in einem schweren, reich verzierten Goldrahmen, der unter dem Netz auf dem Boden stand. „Das ist der Spaltspiegel.“

Kai sah zu dem Spiegel hinüber. „Irgendwie ... sieht der völlig normal aus“, wunderte er sich.

„Was hattest du denn erwartet? Das Tor zu einer anderen Welt?“ Antonio grinste. „Lass dich aber nicht täuschen. Es ist durchaus ein ganz besonderer Spiegel. Ich erkläre dir, wie er funktioniert.“

Er hob das Netz ein wenig an und winkte Kai darunter. Er selbst blieb jedoch auf der anderen Seite des Netzes.

„Im Grunde ist es sehr einfach“, begann er. „Wenn du bereit bist, deinem Spiegel-Ich zu begegnen, so trete vor den Spiegel. Erschrick aber nicht, denn du wirst zunächst kein Ebenbild von dir sehen können. Du wirst nichts sehen. Gar nichts. Nur ein paar Nebelschwaden. Aber nach einer Weile wird dein Spiegelbild auftauchen.“

„Und dann?“, fragte Kai.

„Und dann?“ Antonio lachte. „Ich sagte ja: Es ist sehr einfach. Sobald dein Spiegelbild in voller Größe vor dir erscheint, ist die Spaltung vollendet. Du wirst es an einem Kribbeln in deinem Körper merken. Danach wirst du schon sehen, was dein Spiegel-Ich macht.“

Kai schluckte. Was meinte Antonio damit, er würde schon sehen, was das Spiegel-Ich macht?

„Normalerweise“, fuhr Antonio fort, „sagt es freundlich ‚Guten Abend‘, steigt aus dem Rahmen und geht seiner Wege.“

„Also ... also tut die Spaltung nicht weh?“, fragte Kai.

„Wieso sollte sie? Teufel auch, nein. Oder glaubst du, sonst würden sich Vampire freiwillig dieser Zeremonie unterziehen? Wir sind auch nicht gerade wild auf Schmerzen. Allerdings gibt es da etwas, worauf du achten musst.“ Antonio nahm ein Stück des Netzes zwischen Daumen und Zeigefinger und spielte daran herum. „Daher dieses Netz.“

„Und das wäre?“

„Es darf nichts und niemand während der Spaltzeremonie zwischen dich und den Spiegel geraten, hörst du? Nichts! Und erst recht nichts Fliegendes! Keine Motte, keine Mücke, nicht die kleinste Fliege. Gar nichts! Ich habe mir allergrößte Mühe gegeben, dass unter dem Netz alles rein ist, aber letztlich liegt es in deiner Verantwortung. Bevor du also vor den Spiegel trittst und die Spaltzeremonie beginnt, kontrolliere alles noch einmal ganz genau.“

Kai schluckte. Sofort sah er sich um und tastete mit den Blicken jeden Winkel unter dem Netz ab.

„W... was würde denn geschehen, wenn ...?“

„Das willst du nicht wirklich wissen“, sagte Antonio. „Ich drücke es mal so aus: Dein Spiegel-Ich würde in der Menschenwelt durch recht ausgeprägte Verhaltensweisen auffallen. Außerdem würde es ein zu starkes Eigenleben entwickeln und sich unter Umständen einer Wiedervereinigung mit dir entziehen wollen.“ Er verzog die Lippen zu einem Grinsen. „Das ist in den letzten Jahrhunderten glücklicherweise nur selten passiert.

Kai sah sich besorgt um. Vielleicht gab es derart kleine fliegende Tiere, dass selbst er sie mit seinen Vampiraugen nicht entdecken konnte?

„So, dann lass ich dich jetzt mal allein.“ Antonio wandte sich zum Gehen.

„Wieso das denn?“

„Soll ich Händchen halten? Nein, nein. Seinem Spiegel-Ich zu begegnen ist etwas ganz Besonderes. Da sollte niemand anderes dabei sein.“

„Aber ich dachte, Sie führen die Zeremonie durch!“

„Ich habe sie vorbereitet. Und ich habe sie dir erklärt. Den Rest musst du selber machen, da kann dir keiner helfen.“

Mit diesen Worten schwang Antonio den Umhang herum und verließ schwebenden Schrittes den Raum.

Kai blieb regungslos stehen und sah auf den Spiegel. Die Fackeln zischten und ab und zu zog ein leichter Windhauch durch den Raum, der die Flammen zum Tanzen brachte. Die Schatten an den Wänden bewegten sich im gleichen Rhythmus.

Kai trat einen Schritt näher an den Spiegel heran. Wie unauffällig der Spiegel aussah. Ihm fielen Antonios Warnungen wieder ein und er schaute noch einmal, ob er irgendetwas entdeckte, was die Fähigkeit zu fliegen besaß.

„Nichts“, flüsterte er. „Alles sauber!“ Er fixierte das Spiegelglas. Hatte Antonio nicht gesagt, dass zunächst Nebel zu sehen sein würde? Er hatte sich etwas seitlich vor den Spiegel gestellt und von hier aus sah das Glas wie das eines gewöhnlichen Spiegels aus.

Irgendetwas hielt ihn noch davon ab, direkt vor den Spiegel zu treten.

„Du Angsthase“, sagte Kai leise zu sich selbst. Er holte tief Luft, wartete eine Sekunde und trat dann mit einem beherzten Schritt vor den Spiegel.

Es war, wie Antonio gesagt hatte. Feine Nebelschwaden zogen über das Spiegelglas, das nun nicht mehr wie das eines gewöhnlichen Spiegels aussah, sondern einen gräulichen Farbton hatte. Nichts spiegelte sich auf der matten Oberfläche.

Kai verfolgte das Auf und Ab der Schwaden mit einer Mischung aus Angst und Neugier. Ein paar Mal dachte er, aus den Tiefen des Spiegels käme etwas auf ihn zugelaufen, so, wie es Antonio vorhergesagt hatte.

Doch der Spaltspiegel schien es nicht eilig zu haben.

Oder, fragte sich Kai, war es vielleicht sein Spiegelbild, mit dem etwas nicht stimmte?

War etwa ...?

Schnell sah er sich nochmals um. Hatte sich ein fliegendes Tier eingeschlichen? Aber so sehr er auch suchte, er konnte nichts entdecken.

Auf einmal spürte er etwas. Ein zartes, ziehendes Gefühl. Ein Kribbeln. Es begann in der Magengegend und breitete sich von dort über den gesamten Körper aus. Schnell blickte Kai in den Spaltspiegel.

Und tatsächlich! In der Mitte der Fläche kam etwas durch die Nebelschwaden hindurch auf ihn zu. Erst war es nur ein winziger Punkt. Doch er wurde schnell größer und nahm den Umriss eines Jungen an. Er trug die gleichen Jeans, die gleichen Schuhe, den gleichen Pulli. Es war sein Spiegelbild! Nun war es bereits halb so groß wie er selbst, und je näher es kam, desto stärker wurde das Kribbeln in Kais Körper.

Ein Knistern war zu hören, als ob die Luft elektrisch aufgeladen wäre und mit einem Mal hatte Kai das Gefühl, als schösse etwas aus seinem Körper heraus, eine Kraft, eine Energie. Er sah auf seine Arme, auf seine Beine. Ein heller Dunst umhüllte seinen Körper und floss wie auf einer unsichtbaren Bahn in Richtung des Spaltspiegels, genau auf sein Spiegelbild zu. Es stand jetzt direkt vor ihm und blickte ihn an.

Kai schluckte.

Nach einer Weile hob sein Spiegelbild den Arm und winkte ihm zu. Schlagartig war das Kribbeln in seinem Körper verschwunden und auch der Dunst löste sich langsam auf.

„Hi!“, sagte es freundlich.

Kai sah fassungslos in das Gesicht seines Gegenübers – in sein eigenes Gesicht.

„Uh, da hast du aber ein scheußliches Gefühl in der Magengegend“, sagte der Spiegel-Kai und zeigte auf die letzten Dunstschwaden, die noch zwischen ihnen schwebten. „Hoffentlich haben die sich da bald mal verzogen. Dann muss ich deine Gefühle nicht mehr mit dir teilen.“

Das Spiegelbild spitzte die Lippen und pustete auf die Nebelfetzen, die daraufhin auseinanderstoben.

„Ah! Na, also!“

Ein Ruck ging durch Kais Körper und er spürte einen schmerzhaften Stich im Bauch. Dann fühlte er nichts mehr.

Der Spiegel-Kai stieg über den Rahmen und trat aus dem Spaltspiegel. „Na dann, wir sehen uns!“, sagte er und wollte an Kai vorbeigehen.

„Warte doch!“ Kai fasste ihn am Arm, zog die Hand jedoch gleich wieder zurück.

„Ich dachte schon, du sagst überhaupt nichts mehr.“ Sein Spiegel-Ich lächelte.

„Na ja, ich ... Man steht ja nicht jeden Tag seinem lebendig gewordenen Spiegelbild gegenüber.“

„Da hast du wohl recht. Wobei, ... mir gefällt's eigentlich ganz gut.“ Der Spiegel-Kai schlenkerte mit den Armen und bewegte die Beine. „Ist mal was anderes, als immer das nachäffen zu müssen, was dein Gegenüber so macht.“

Kai schwieg eine Weile und sah dem anderen Kai dabei zu, wie er Arme und Beine ausprobierte.

„Und jetzt?“, fragte er schließlich.

„Und jetzt? Weiß auch nicht. Ich werde morgen wohl erst mal in die Schule gehen, was?“ Der Spiegel-Kai schmunzelte.

„Hoffentlich bemerken die da nichts.“

Kais Ebenbild hatte offensichtlich festgestellt, dass man mit den Gesichtsmuskeln wunderbare Grimassen schneiden konnte. Es zog einen Mundwinkel weit nach unten und verdrehte die Augen.

„Haha, guck mal! Toll was?“, rief es und war kaum zu verstehen.

„Was machst du denn da?“

„Ich sag dir mal was ...“ Der Spiegel-Kai nahm die Hände vor das Gesicht und betrachtete sie. Er bewegte die Finger schnell hin und her, als ob er prüfen wollte, dass sie auch alle ordentlich funktionierten. Dabei machte er ein so freudiges Gesicht, dass Kai sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte. Dann sah der Spiegel-Kai auf die Handinnenflächen und schlug sie aufeinander. „Wow! Was für ein Sound!“

„Kai, bitte ...“

„Entschuldige. Aber toll, was man mit dem Körper so alles machen kann.“ Der Spiegel-Kai grinste. „Also, pass auf. Es wird schon keiner etwas merken. Vergiss nicht, wir sind eins! Ich weiß, was du weißt und du weißt, was ich weiß. So einfach ist das. Was soll da schon passieren?“

„Ich mein ja nur ...“ Kai wusste, dass sein Spiegelbild recht hatte, aber dennoch hatte er ein ungutes Gefühl.

Jetzt hatte der Spiegel-Kai seine Füße entdeckt.

„Wahnsinn!“, staunte er und stampfte ein paar Mal auf den Boden auf.

Kai schüttelte den Kopf. „Du tust ja gerade so, als wäre das alles nagelneu für dich.“

„Ist es doch auch ... irgendwie. Du darfst nicht vergessen: Normalerweise hat man als Spiegelbild nicht die Kontrolle über das, was man tut.“

Bei diesen Worten horchte Kai auf. „Du ... du kommst aber schon zu mir zurück, oder?“, fragte er.

Das Spiegel-Ich lachte. „Mach dir darüber mal keine Sorgen. Uns verbindet diese Energie. Spürst du sie nicht? Ich komme immer wieder zu dir zurück.“

Der Spiegel-Kai ging zu dem Netz, hob es an und winkte den Vampir-Kai darunter hervor. „Wo wir gerade davon sprechen ...“

Sie gingen ein paar Schritte und blieben vor einem Fenster stehen.

Der Spiegel-Kai deutete mit einer Kopfbewegung zum Spaltspiegel. „Ich sollte jetzt gehen. Wenn ich zu lange bleibe, werde ich zu dir gezogen und wir vereinigen uns wieder.“ Er klopfte Kai auf die Schulter. „Wenn du mich suchst, weißt du ja, wo du mich findest. Und wenn du möchtest, dass ich zu dir komme, dann ruf mich einfach.“

„Dich rufen? Wie denn?“

„Nutze einfach die Energie, die uns verbindet.“ Der Spiegel-Kai ging zur Tür und drehte sich noch einmal um. „Von mir aus kannst du auch eine Brieffledermaus schicken. Oder Kurt. Der macht das bestimmt gern.“ Er hob die Hand und winkte. „Tschüss!“, rief er noch und stapfte dann fröhlich pfeifend die ausgetretenen Steinstufen hinunter.

Kai sah seinem Spiegelbild nach, lehnte sich dann auf das Fenstersims und blickte durch das Fenster hinaus in die Finsternis. Eigentlich hatte er erwartet, dass er sich nach der Spaltzeremonie seltsam fühlen würde. Leer. So, als ob ihm etwas fehlte, was man von ihm fortgerissen hätte. Aber so war es nicht. Wenn er ehrlich war, fühlte er sich gut. Sehr gut sogar. Er grinste in sich hinein. Wer konnte schon von sich behaupten, eine Unterhaltung mit seinem eigenen Spiegelbild geführt zu haben?

Langsam ging er zur Tür. Auf der Schwelle blieb er stehen und drehte sich noch einmal um. Was für ein Abend, dachte er und blickte zum Spaltspiegel, auf dessen Oberfläche die Nebelschwaden wieder sanft dahinschwebten.

Dann stieg er die Stufen hinab.


„Genau wie der echte Kai. Unglaublich, oder?“, sagte Sandra gerade, als Kai über die Pflastersteine auf sie zukam.

„Ja.“ Kurt hüpfte aufgeregt auf Gerriths Schulter herum. „Und habt ihr die Stimme gehört? Auch genau gleich!“

„Also bitte.“ Opa Gismo schmunzelte. „Was habt ihr denn erwartet? Es ist doch schließlich sein Spiegelbild und ... Ach, da ist ja das Original!“

Kai stellte sich neben Sandra und seinen Vater.

„Und, mein Junge?“, fragte der. „Wie geht es dir?“

„Gut“, antwortete Kai.

Sandra fasste seine Hand. „Wirklich?“

„Ja! Es hat ein wenig gekribbelt und dann stand mein Spiegel-Ich auch schon vor mir.“

„Muss ein komisches Gefühl sein, vor seinem lebendigen Spiegelbild zu stehen“, meinte Sandra.

„Hm.“ Kai fühlte noch einmal tief in sich hinein. Er konnte es selbst kaum glauben, aber es war so: Es ging ihm gut. Kein Gefühl der Zerrissenheit. Kein Gefühl, als fehle ihm etwas. Eine wohlige Wärme durchströmte ihn.

„Es hat freundlich ‚Guten Abend‘ gesagt und wäre beinahe einfach an uns vorbeigelaufen“, sagte die Vampirmutter.

„Was soll es sonst auch tun, meine Liebste?“, fragte ihr Mann.

„Ich habe ganz vergessen ihn zu fragen, wohin er jetzt gehen will.“ Kai kratzte sich am Kopf.

„Hat er nicht gesagt, dass er zu dir will?“ Gangolf blickte zu Kais Oma.

„Ja“, sagte sie. „Antonio ist so freundlich, ihn zu meinem Haus zu begleiten. Dort will er sich noch eine heiße Milch mit Honig machen und dann ins Bett gehen.“

Kai musste schmunzeln, als er dies hörte. Heiße Milch mit Honig! Sein altes Lieblingsgetränk!

„Und morgen fährt er mit dem Fahrrad zur Schule“, ergänzte Sandra und musste lachen. „Bin mal gespannt, wie erschöpft er da ankommt. Ich werde es euch dann erzählen!“

Opa Gismo klatschte verzückt in die Hände. „Läuft ja wunderbar. Dann brauchen wir uns um die Menschenwelt also erstmal keine Sorgen mehr zu machen.“ Er wandte sich an Kai und fragte ernst: „Und du? Bleibst du dabei, dass du die Beeren finden möchtest?“

Es wurde still auf dem Burgturm. Der Wind strich sanft über die Zinnen. Alle Blicke waren auf Kai gerichtet.

„Ja“, sagte er. „Ich bleibe dabei!“ Und er konnte deutlich den enttäuschten Ausdruck in Guttas, Gangolfs und Gerriths Gesichtern erkennen.

Gismo nickte.

„Wo findet man diese Trügerische Trautelbeere für gewöhnlich?“, fragte Kais Vater.

„Das ist ein Problem.“ Die Vampirmutter zuckte mit den Schultern. „Natürlich kennt jeder Vampir die Trautelbeere. Und auch die Trügerische Trautelbeere. Davon hört man bei uns schon in der Schule.“

„So?“, unterbrach Gangolf. „Also wir haben noch nichts davon gehört.“ Hilfe suchend sah er zu seinen Geschwistern.

„Was daran liegen mag, dass ihr mal wieder nicht aufgepasst habt“, zeterte seine Mutter und strafte ihre Kinder mit einem abfälligen Blick. „Jedenfalls ... kennt man diese Beeren und ihre Wirkung durchaus. Aber es kursiert auch viel Halbwissen über sie. Und leider hat kaum jemand Ahnung davon, wie man die Beeren finden kann.“

„Wie kommt das?“, fragte Sandra.

„Du darfst nicht vergessen, mein Kind, dass die Trautelbeere für uns tödlich ist. Warum also sollten wir sie suchen?“

„Und die Trügerische Trautelbeere?“, forschte Sandra weiter. „Sie würde den Vampiren doch etwas Gutes tun!“

„Denkst du das, ja?“ Die Vampirin lachte auf. „Das sagst du natürlich, weil du ein Mensch bist. Ein Tagvampir unterscheidet sich ja nicht allzu sehr von einem Menschen. Eigentlich hat er sogar ein paar Vorteile, nicht wahr? Die robuste Gesundheit, das langsamere Altern ... Ihr Menschen habt noch immer so eine Angst vor dem Altern. Ja, da erscheint der Tagvampir bestimmt recht verlockend.“

„Ist er es nicht?“

„Nicht für uns. Gut, es wäre kein Weltuntergang, wenn unsereins plötzlich ein Tagvampir wäre. Aber, warum sollten wir das anstreben? Uns gefällt unser Leben so, wie es ist. Mir zumindest.“

Sandra sah zu Gutta, Gangolf und Gerrith, welche die Worte ihrer Mutter durch zustimmendes Nicken unterstützten.

„Ich kann das nur bestätigen“, sagte der Vampirvater. „Wir sind ganz glücklich, Nachtvampire zu sein.“ Er legte die Hand auf Kais Schulter. „Aber wenn du dich entschieden hast, Tagvampir zu werden, ist das natürlich auch in Ordnung.“

„Also, Leute ...“ Kurt, der immer noch auf Gerriths Schulter hockte, streckte sich. „Moment mal. Wir wissen also, was wir brauchen. Nämlich diese Trügerische Trautelbeere. Aber wir wissen nicht, wo wir sie finden können!“

„Ganz recht“, sagte der Vampirvater. „Und wie wir den Trank herstellen sollen, wissen wir auch nicht.“

„Das sind aber keine sehr günstigen Voraussetzungen“, krächzte der Rabe.

Opa Gismo hob den Zeigefinger. „Ich sehe schon, wir kommen allein nicht weiter. Wir müssen uns Hilfe suchen.“

„Und an wen denkst du da?“, fragte die Vampirmutter.

„Ich denke da an meinen guten Freund Renatus Röchel!“

„Renatus?“ Die Vampirin sah ihren Vater mit großen Augen an. „Oooh! Gibt es den denn überhaupt noch?“

„Doch, doch. Der ist noch da.“

„Ach.“

„Wer, bitte, ist Renatus Röchel?“ Kai biss sich auf die Lippen, um nicht laut loszuprusten. Einen so komischen Namen hatte er noch nie gehört.

„Tja, wer ist Renatus ...?“ Opa Gismo verfiel in einen nachdenklichen Ton. „Ich glaube, er ist wohl der älteste Vampir, den ich kenne. Er ist so alt, dass im Grunde keiner weiß, wie alt er genau ist. Uralt eben. Irgendwie war er schon immer da.“

Gangolf stupste seiner Mutter in die Seite. „Siehst du, von dem haben wir in der Schule schon gehört.“ Er blickte seine Geschwister an. „Oder?“

„Klar“, sagte Gutta. „Wisst ihr noch? Wir mussten sogar seine Rezeptur für die Mondschutzsalbe auswendig lernen.“

„Ach herrje, stimmt!“ Gerrith schüttelte den Kopf und errötete. „Und als wir sie selbst herstellen sollten, ist mir doch meine Mixtur in Brand geraten, weil ich zu viel Krötenöl hineingetröpfelt hatte.“

„Daran erinnere ich mich noch sehr gut!“ Gangolf lachte. „Schließlich wäre Thesselbert Tümmlich dabei beinahe abgefackelt, weil seine Haare Feuer fingen.“

Die Vampirmutter horchte auf. „Aber Kinder, was erzählt ihr denn da? Davon weiß ich ja gar nichts. Ihr könnt doch nicht einfach eure Mitschüler in Brand setzen.“

„Was heißt hier ‚ihr‘?“ Gutta zeigte empört auf ihren Bruder. „Gerrith macht so was, nicht wir.“

„War doch ein Versehen!“

Opa Gismo räusperte sich. „Nun, jedenfalls ... Renatus genießt einen sehr guten Ruf. Er weiß alles, was es über das Vampirdasein zu wissen gibt und noch viel darüber hinaus. Es war schon immer so, dass sich jeder, der Fragen oder Probleme hatte, sollten sie auch noch so seltsam sein, vertrauensvoll an Renatus wenden konnte.“

„Denkt nur mal daran, wie er den ersten Vampir auf den Mond brachte!“ Kleine Lachfalten gruben sich um Gottfrieds Augen.

„Wie bitte?“, riefen Kais Vater und die Großmutter wie aus einem Munde.

„Entschuldigt mal eben, aber Neil Armstrong war der Erste auf dem Mond!“

„Sag ich doch!“

„Du meinst ... Neil Armstrong ...?“ Kais Vater versagte die Stimme.

„Es muss höllenschwer gewesen sein, das Vampirische in ihm bis zum Ende der Mondmission zu unterdrücken. Der arme Neil. Ich hätte sicher nicht mit ihm tauschen wollen“, sagte Opa Gismo.

„Jetzt habt ihr es geschafft.“ Die Großmutter schüttelte den Kopf. „Ich bin sprachlos! Der erste Mensch auf dem Mond war ein Vampir. Ich fasse es nicht!“

„Es ging uns damals allen so, liebe Geysira. Wie Renatus das geschafft hat, wird mir ein ewiges Rätsel bleiben. Aber er verrät ja nie eines seiner Geheimnisse.“

„Und wo wohnt dieser Renatus?“, fragte Sandra.

„Das weiß keiner so genau“, sagte der Vampirvater.

„Na, toll! Das ist ja die ideale Bedingung, damit er uns helfen kann.“ Kais Vater rang die Hände.

„Keine Sorge, mein Freund. Es ist nie einfach, Renatus zu finden. Er ist viel unterwegs, weil er sich immer mit den unterschiedlichsten Phänomenen beschäftigt.“ Opa Gismo lächelte ihn an. „Aber wir werden ihn schon finden.“

„Und wie?“

„Wir schicken noch heute ein paar Fledermäuse los. Die werden ihn ausfindig machen.“

„Eine gute Idee!“, krächzte Kurt. „Die Fledermäuse sind die absoluten Meister der Informationsbeschaffung. Wenn ich nur daran denke, wie sie anno 22 meinen verschollenen Großonkel Gunnar gefunden haben ... Waaahnsinn war das, wirklich!“

„Ich bin sicher, die Fledermäuse werden auch dieses Mal erfolgreich sein und Renatus für uns finden“, sagte Opa Gismo.

„Wenn ihr wollt, höre ich mich auch noch bei den Eulen um. Die sind ebenfalls bekannt für ihr großes Wissen“, meinte Kurt.

„Die Eulen? Eine gute Idee!“ Gismo tätschelte den Kopf des Raben. „Mach das!“

Kurt stieß sich von Gerriths Schulter ab. „Dann leg ich mal los. Wir sehen uns morgen Abend!“ Er flog noch einen Kreis über die kleine Gruppe aus Menschen und Vampiren und flatterte dann im Zickzack-Kurs davon.

4

Renatus Röchel – 15. Tag nach dem Biss

„Und man merkt wirklich keinen Unterschied?“, fragte Kai ungläubig.

„Keinen.“ Sandra schüttelte den Kopf.

„Hätte ich nicht gedacht.“

„Er ist sogar genauso schlecht in Mathe wie du. Worin wir übrigens heute gleich einen kleinen Überraschungstest geschrieben haben.“

„Heute? Am ersten Schultag? Krass!“

„Schdreßberg eben. Der macht doch immer so was.“

„Stimmt. Den Test hab ich bestimmt voll verbeutelt.“

„Du hast jedenfalls gut bei mir abgeschrieben.“

Kai lachte. „Dann hab ich ja vielleicht noch ’ne Chance.“

Es klopfte an der Terrassentür. „Macht einer von euch bitte mal auf?“, rief die Großmutter aus der Küche. „Ich brühe gerade den Bluttee auf!“

Sandra erhob sich vom Sofa und ging zur Tür. Gutta stand hinter der Scheibe und lächelte Sandra freundlich an, als sie die Tür öffnete.

„Hallo!“ Gutta hob die Hand und trat ein.

Kurt hockte auf ihrer Schulter. Hinter ihr kamen Gangolf, Gerrith, die Vampireltern und Kais Vater ins Wohnzimmer.

„Ah, da seid ihr ja! Das passt prima. Gerade ist der Tee fertig!“ Kais Oma kam aus der Küche und trug ein Tablett, das sie auf dem Tisch abstellte. Zwei Kannen und ein paar Tassen standen darauf.

„Freunde, hört zu!“ Kurt hüpfte aufgeregt auf Guttas Schulter.

„Moment!“, unterbrach die Großmutter. „Zuerst gibt es ein Schlückchen Tee. So viel Zeit muss sein!“ Und schon landete ein Strahl dunklen Tees in der ersten Tasse.

„Schön, dass du kommen konntest“, sagte Kai zu seinem Vater und für einen kurzen Augenblick erschrak er, denn wenn er ehrlich war, waren dies leere Worte, denen kein Gefühl in ihm entsprach.

Im Moment war da in ihm nur Kälte. Kälte, wo Wärme und Liebe sein sollten. Kai zuckte kaum merklich zusammen. Konnte es wirklich sein, dass die Auswirkungen der Spaltzeremonie so schnell über ihn kamen?

„Ja“, antwortete sein Vater. „Deine Mutter ist heute Abend sehr lange weg. Zuerst Elternabend in der Schule und dann Lehrerstammtisch. Da habe ich sozusagen sturmfreie Bude.“ Er lachte.

„Und wie bist du an deiner Tante Ursel vorbeigekommen?“, fragte die Großmutter und reichte Sandra eine Tasse bitteren tibetischen Tee.

„Das ist eigentlich ganz einfach.“ Sandra nahm ihr die Tasse ab und trank einen Schluck. „Wenn Tante Ursel denkt ich schlafe, dann zieht sie sich in ihr Zimmer zurück und hört Beethoven oder Mozart. Oder so ’n Zeugs aus den Achtzigern. Irgendwann schläft sie dann ein und wir sehen uns erst am nächsten Morgen wieder. So geht das jeden Abend.“

„Das kann ich bestätigen.“ Gangolf hatte seinen Bluttee ausgetrunken und stellte die Tasse wieder auf den Tisch. „Als ich Sandra eben abgeholt habe, kam ziemlich laute Musik aus einem anderen Zimmer.“

„Bestimmt Beethoven“, lachte Sandra.

„Beethoven? Ach, der gute alte Beeti!“, schwärmte Opa Gismo. „Ein feiner Kerl war das. Nicht gerade sehr einfach im Wesen, aber ein wahrlich aufrichtiger Charakter und echter Freund!“

„Du hast ihn gekannt?“ Kai zog eine Augenbraue hoch.

„Gekannt? Das will ich meinen. Wir waren wie Brüder! Ich war seinerzeit bei vielen seiner Konzerte anwesend!“ Er schwang seine Arme wie ein Dirigent durch die Luft. „Ba-Ba- Ba-Baaam ...“

Kurt flatterte von Guttas Schulter auf den Tisch neben die Teekannen. „So, Leute, und jetzt kommt’s! Wir haben Renatus Röchel gefunden!“

„Wirklich? Das ging aber flott“, freute sich die Großmutter.

„Ich gebe zu, es war nicht einfach. Die Eulen konnten mir so schnell nicht helfen und haben mich an den FGD verwiesen. Was eigentlich logisch ist. Darauf hätte ich auch allein kommen können.“

„FGD?“, fragte Kai. „Was’n das?“

„Das ist der Fledermaus-Geheimdienst, mein Junge“, erklärte die Vampirmutter. „Ein sehr eigenwilliger Verein. Hilft nicht jedem. Wie unser Kurt das geschafft hat, weiß ich auch nicht.“

„Och, das war nicht sooo schwierig. Meine Familie hat recht gute Verbindungen zum FGD, seit meine Tante Liebhild dort Ehrenmitglied war.“

„Sie war Ehrenmitglied? Als Rabe im Fledermaus-Geheimdienst?“, fragte Gesine von Greifendorf überrascht.

„Genau!“

„Das so etwas überhaupt möglich ist. Na ja, die Zeiten ändern sich.“ Gesine grinste.

„Tante Liebhild hatte dem FGD einen großen Gefallen getan.“

„Dieser Gefallen muss aber wirklich riesig gewesen sein!“ Opa Gismo lachte.

„War er auch. Wisst ihr, der FGD hatte mal in einer Scheune eine große Party gefeiert, bei der es hoch her gegangen sein muss. Das hat jedenfalls meine Tante immer erzählt, die damals ganz in der Nähe ihr Nest gebaut hatte. Ein tolles Nest war das. Ich erinnere mich noch genau, wie weich es gepolstert war ...“

„Kurt!“ Kai verdrehte die Augen.

„Entschuldigt! Jedenfalls ... Wo war ich denn stehen geblieben? Ach ja. Die Fledermäuse feierten bis früh in den nächsten Morgen und hingen dementsprechend schlapp an ihren Schlafbalken. Und so haben sie es erst gar nicht bemerkt.“

„Was haben sie nicht bemerkt?“, fragte Sandra.

„Das Feuer. In der Scheune brannte es. Und wäre meine Tante Liebhild nicht gewesen, hätte der FGD fast alle Mitglieder verloren.“

„Hm. Verstehe. Das rechtfertigt sicher eine Ehrenmitgliedschaft.“ Die Vampirmutter nickte.

„Und die Fledermäuse haben Renatus nun also gefunden?“ Kai schenkte sich etwas Bluttee nach.

„Genau. Er wohnt momentan im Schiefen Finger und studiert angeblich ein Phänomen, das etwas mit Fledermäusen zu tun hat.“

„Bitte, wo wohnt er gerade?“ Kai schluckte hastig den Tee hinunter, setzte schnell seine Tasse ab und begann lauthals zu lachen.

„Im Schiefen Finger“, wiederholte Kurt trocken.

„Das passt zu Renatus.“ Der Vampirvater grinste. Er bemerkte Kais fragende Blicke und fügte hinzu: „Der Schiefe Finger ist ein sehr alter Turm, der tief im Wald steht. Er hat den Namen wegen seiner etwas seltsame Form bekommen“, erklärte der Vampirvater.

„Das heißt also, wir fliegen jetzt zum Schiefen Finger und besuchen Renatus?“ Gangolf ging zu Sandra und stellte sich hinter sie. „Soll ich dich tragen?“, fragte er mit leiser Stimme.

Sandra lächelte und hob leicht die Arme an.

„Warum sollten wir Zeit verlieren? Je eher wir die Trügerische Trautelbeere finden, desto schneller können wir Kais Wunsch erfüllen, oder?“, fragte die Vampirmutter und blickte in die Runde.

Kurt flog auf Kais Schulter. „Darf ich?“

„Es würde mir etwas fehlen, wenn du es nicht tätest“, grinste Kai und ging mit dem Raben auf die Terrasse. Als alle das Haus verlassen hatten, schloss er behutsam die Tür. Er blickte in die Luft, wo die anderen auf ihn warteten und erhob sich in den Nachthimmel.


„Puh, das war aber ein strenger Wind während des Fluges!“ Gesine von Greifendorf zupfte sich an den Haaren und strich ihr Kleid glatt. „Meine ganze Frisur ist durcheinandergewirbelt.“

„Du siehst blendend aus, Liebes“, sagte ihr Mann und strich ihr über die Wange.

„Habt ihr diese seltsamen Wolken gesehen? Unheimlich sahen die aus!“ Gerrith schüttelte sich.

„Ach, du nun wieder!“ Gangolf gab seinem Bruder einen Stups in die Seite. „Das waren Wolken. Was ist daran denn unheimlich?“

„Also, ich fand es ja auch nicht gerade angenehm, dass wir ausgerechnet durch diese eine superdunkle Wolke fliegen mussten“, meinte Sandra.

Gangolf blickte sie an. „Was hätte dir schon passieren können. Ich war doch bei dir!“

„Höre sich einer unseren heldenhaften Bruder an!“ Gutta lachte und Kai konnte deutlich sehen, wie Gangolf knallrot wurde.

„Dieser Schiefe Finger ist aber verdammt hoch!“ Sandra spähte über die Zinne.

„Er eignet sich wunderbar für Himmelsbeobachtungen“, schwärmte der Vampirvater, „Eine wahre Forscherheimat. Genau das Richtige für einen großen Geist wie Renatus!“

„Ja, ja, ein großer Geist. Und den werden wir jetzt um Rat fragen, damit wir heute noch ein Stück vorankommen.“ Gesine von Greifendorf riss ungeduldig ihren Umhang herum und ging den breiten Wehrgang des Turmes entlang. „Wo ist denn nur der Eingang? Bestimmt sind wir wieder genau auf der entgegengesetzten Seite gelandet.“ Und schon war sie um eine Biegung verschwunden.

Die anderen folgten ihr. Kai betrachtete dabei die groben Turmwände. Sie waren aus dunklem, grauem Stein. Als sie an einem Fenster vorbeikamen, versuchte er, in den dahinter liegenden Raum zu spähen. Doch ein schwerer Vorhang versperrte ihm den Blick.

Schließlich standen sie vor einer wuchtigen Holztür.

„Sag ich’s doch!“ Die Vampirmutter verdrehte die Augen. „Wir sind natürlich genau auf der anderen Seite gelandet.“

„Was ist das denn?“ Sandra deutete auf etwas, das neben der Tür hing.

„Sieht aus wie eine Schale“, sagte Gerrith.

„Ja, aber das meine ich nicht. Seht doch mal! Da bewegt sich etwas in der Schale, oder nicht?“ Sie ging näher heran. „Was ist das nur? Es sieht aus, als ob ... Wahnsinn!“ Sie beugte sich nun so weit vor, dass ihre Nase fast die Schale berührte.

„Was siehst du?“, fragte Kai.

„Da kriechen lauter kleine Würmer herum!“, verkündete Sandra.

„Würmer?“, fragte Gerrith angeekelt.

„Ja, sie sind ganz klein und ... Huch!“ Sandra schreckte zurück. In der Schale formierten sich die Würmchen und bildeten leuchtende Buchstaben.

Zunächst erschien ein dunkelgelb glimmendes „R“, das langsam heller wurde. Dem „R“ folgte ein kleines, geschwungenes „e“, danach ein „n“ und schließlich leuchtete ein zierlicher, flackernder Schriftzug auf:

Renatus Röchel. Herzlich willkommen!

Der Schiefe Finger

„Nun schau sich das mal einer an!“ Opa Gismo klatschte verzückt in die Hände. „Ist das nicht eine nette Begrüßung?“

„So etwas hätte ich gern für mein Nest!“, krächzte Kurt und flatterte auf Sandras Schulter, die sich wieder neugierig den Würmern entgegenbeugte.

„Die sind ja niedlich!“, rief sie begeistert und sah zu, wie die Würmchen in der Schale herumwuselten.

„Vielleicht hat Herr Röchel noch mehr von diesen Schalen und kann uns eine abgeben?“ Kurt hüpfte aufgeregt von einem Bein aufs andere. „Das wäre die phänomenalste Deko für mein Nest, die ich mir vorstellen könnte. Leuchtwürmer! Ein Traum!“ Er flog zurück auf Kais Schulter. „Meinst du, ich könnte ihn danach fragen?“

„Bestimmt.“

„Wir sind aber nicht wegen irgendwelcher Leuchtwürmer hier“, drängelte die Vampirmutter und streifte die Tierchen mit einem verächtlichen Blick. „Nur, falls euch das entfallen sein sollte!“ Sie griff nach dem Türklopfer. „Lasst uns endlich mit Renatus sprechen.“

„Warte!“ Gutta fasste sie am Handgelenk.

„Was ist?“

„Psst! Seid mal ruhig!“ Gutta legte den Zeigefinger auf die Lippen. „Sind da nicht Stimmen?“

Sie lauschten. „Ja, du hast recht.“ Kais Vater nickte. „Ich höre sie auch. Renatus scheint nicht allein zu sein.“

„Es klingt, als streite er sich mit jemandem“, flüsterte Gangolf.

„Ob wir später wiederkommen sollten?“, fragte Gerrith.

„Nein. Jetzt sind wir hier, jetzt bleiben wir auch!“, antwortete seine Mutter. „Das sehe ich auch so.“ Kais Vater zwinkerte ihr zu. „Wir haben ja nur ein paar Frag... Hoppla!“ Er machte einen Satz zurück. Vor ihnen öffnete sich knarrend die Tür.

Licht ergoss sich aus dem Turmzimmer in die Dunkelheit. Es war totenstill. Gerrith hatte den Kopf wie eine Schildkröte zwischen die Schultern gezogen. „Was nun?“, flüsterte er.

„Was wohl?“, sagte seine Mutter. „Wir gehen jetzt rein!“ Und schon war sie über die Schwelle marschiert. Die anderen folgten ihr.

„Wow!“ Kai fasste Sandras Hand. Sie standen in dem wohl seltsamsten Raum, den Kai je betreten hatte, wenn er von der Gruft der von Greifendorfs einmal absah.

In regelmäßigen Abständen ragten lodernde Fackeln aus den Wänden. Von der Decke hing ein großer Kronleuchter herunter, auf dem ... Kai stockte, als sein Blick darauf fiel. Wie konnte das sein? War es Zauberei, was er dort sah? Die Kerzen, die auf dem Kronleuchter brannten, erloschen eine nach der anderen, jedoch nur, um sich dann der Reihe nach wie von Geisterhand wieder selbst zu entzünden.

Kai ließ Sandras Hand los und deutete zum Kronleuchter hinauf.

„Hast du so etwas schon einmal gesehen?“, hauchte er.

Sandra schüttelte den Kopf und betrachtete staunend das Kerzenspiel. „Wie ist das möglich?“, wisperte sie.

„Und schau mal da!“ Kai zeigte auf eine Wandnische, in der ein bläulich schimmerndes Fläschchen stand, das ihnen wohlbekannt vorkam: Pfortenwasser!

Vom Pfortenwasser fiel Kais Blick auf ein großes Bücherregal, das von oben bis unten mit alten, dicken Wälzern vollgestopft war. Die meisten waren in schweres, rissiges Leder gebunden und jetzt, da er versuchte, die fast verblichenen Titel auf den Buchrücken zu entziffern, trat ihm auch der Geruch von in die Jahre gekommenem Papier in die Nase.

„Siedepunkt der Vampire“ von Karl Ketzer, konnte er auf einem der Bücher lesen.

Neben dem Bücherregal ragte ein Vorsprung aus dem Mauerwerk, auf dem eine graue Steinskulptur wie ein großer Hund hockte. Kai schlich zu ihr und stellte sich davor. Sie sah fürchterlich aus. An einem buckligen, ausgemergelten Körper klebten zwei breite Flügel. Der Kopf mit den hervorstehenden Wangenknochen war mit einer lederartigen, faltigen Haut überzogen und aus der Schädeldecke ragten zwei kleine Hörner heraus. Die Ohren waren länglich und Haarbüschel wuchsen an ihren Spitzen. Besonders seltsam fand Kai die Augen der Kreatur. Sie waren groß und rund, und als er sie genauer betrachtete, konnte er sehen, dass sich ihre Farbe ständig änderte. Eben waren sie glutrot gewesen, nun glitzerten sie in einem Feuerorange.

„Unglaublich, oder?“, fragte er Sandra, als er bemerkte, dass auch sie gebannt auf die Augen der Skulptur blickte.

„Null Ahnung, wie sie das macht“, hauchte sie und zeigte auf das Maul der Figur. „Dieses teuflische Grinsen ist mir unheimlich. Und dann die langen Fangzähne! Echt gruselig!“

Sandra und Kai wandten sich ab und traten zu den anderen in die Mitte des Raumes.

„Ist er das?“, flüsterte Gerrith und deutete auf einen alten, hageren Mann mit langen grauen Haaren, der an einem großen Holztisch saß und ihnen den Rücken zuwandte.

„Ja, das ist Renatus“, wisperte sein Vater.

Da drehte sich der alte Vampir zu ihnen um. „Oh, Besuch!“ Er schob den Stuhl vom Tisch weg und erhob sich langsam. „Entschuldigt. Ich habe gar nicht bemerkt, dass jemand da ist. Die viele Arbeit macht mich ganz taub für meine Umgebung.“

Seine Stimme klang freundlich, aber irgendwie auch traurig, fand Kai.

Renatus kam auf die kleine Gruppe zu und gab einem nach dem anderen die Hand.

„Lasst mich mal raten“, sagte er freundlich und strich dabei über Kurts Kopf. „Ein Rabe, zwei Menschen, eine Tagvampirin und ...“ Er stellte sich vor Kai und musterte ihn eindringlich. „Und ein frisch vom Spaltspiegel kommender Neu-Vampir. Na, wenn das nicht Kai Flammersfeld und seine Freunde sind!“ Der Vampir verzog den Mund zu einem Lächeln. „Freut mich sehr!“

„W... woher wissen Sie ...?“, stotterte Kai ungläubig.

„Ich habe meine Ohren überall, lieber Freund. Euer Sieg gegen Rufus und Wieland neulich bei der großen Versammlung der IVK hat sich selbst bis hierher herumgesprochen.“ Er grinste breit. „Beeindruckend. Wirklich, sehr beeindruckend!“

„Ach, erinnere mich nur nicht daran, Renatus! Das hat meinen Nerven gar nicht gut getan.“ Die Vampirmutter rang die Hände und verdrehte die Augen.

„Kann ich mir gut vorstellen, Gesine.“

Von der hässlichen Steinfigur kam ein dunkles Knurren und Renatus äugte zu ihr hinüber.

„Darf ich Sie fragen, warum Sie die in Ihrer Wohnung haben? Ich finde, sie sieht wirklich eklig aus“, flüsterte Sandra.

Renatus nahm seinen Blick von der Figur und fixierte sie. „Ehrlich gesagt, weiß ich es auch nicht, kleines Menschenfräulein.“ Seine Stimme wurde so leise, dass es fast ein Flüstern war. „Sandra, nicht wahr?“

Sandra lächelte und nickte.

Auf einmal schrie jemand. Alle drehten sich um und sahen zu Gerrith, der vor einem goldenen Käfig stand und sich den Zeigefinger rieb.

Schrumpelknolle

„Aua, dieses Monster hat mir fast den Finger abgebissen“, jaulte er.

„Monster?“ Sein Bruder ging zu ihm und lugte in den Käfig, der auf dem Schreibtisch stand. „Wenn ich das richtig sehe, liegt da eine Sellerieknolle drin.“ Er raufte sich das Haar und schauspielerte: „Ohhh! Aaah! Um Satans willen! Zu Hilfe! Eine Sellerieknolle! Bringt euch in Sicherheit! Die Knollen, sie greifen uns an!“ Er brach in schallendes Gelächter aus.

„Aber sie ist auf mich losgegangen!“

„Dieses runzelige Ding da?“ Gangolf wuschelte ihm durchs Haar. „Du spinnst ja.“ Er ging näher an den Käfig heran und presste seine Nase gegen die Eisenstangen. In diesem Augenblick öffnete die Knolle das Maul und sprang ihm mit gefletschten Zähnen entgegen. Mit einem dumpfen Schlag knallte sie gegen die Käfigstangen und plumpste zurück auf den Boden, wo sie knurrend liegen blieb.

„Oha!“ Gangolf schreckte zurück.

„Siehste!“, rief Gerrith. „Die ist mordsgefährlich!“

„Ein wenig Vorsicht ist geboten, ja.“ Renatus nahm ein Tuch aus einem der Regale und deckte damit den Käfig zu. „Schlechtlaunige Schrumpelknollen sind Einzelgänger und von eher kantigem Charakter.“

„Hab ich gemerkt.“ Gerrith betrachtete seinen Finger, der rot angelaufen war.

„Nun“, Renatus nahm den Käfig und stellte ihn auf einen kleinen Schrank. „Ich nehme nicht an, dass ihr gekommen seid, um euch von einer Schlechtlaunigen Schrumpelknolle anfallen zu lassen.“

„Eher nicht“, sagte Gutta und legte die Hand auf Gerriths Schulter. „Geht’s?“

„Wird schon besser.“

Plötzlich vernahmen sie ein platschendes Geräusch und ein wildes Flügelschlagen. Sie sahen sich um und entdeckten Kurt, dessen Schnabel in einer dicken Blüte gefangen war und der aufgeregt vor einem Blumentopf herumflatterte.

Agathe

„Hilfmmmm!“

„Huch! Kurt, was machst du denn da?“ Oma Flammersfeld hastete zu dem Raben, ergriff dessen Beine und versuchte, ihn aus der Blüte zu befreien.

„Mmhiilpf!“

„Ich verstehe dich nicht“, rief die Großmutter, „aber ich ziehe ja schon so kräftig ich kann!“ Sie zog und zerrte an den Rabenbeinen, doch sie hatte das Gefühl, als zöge die Pflanze am anderen Ende ebenso kräftig.

Renatus zog die Augenbrauen hoch. „Oh! Die Agatie! Das ist aber jetzt ärgerlich!“ Er holte eine große Schere aus der Schublade seines Schreibtisches, eilte zu Kurt hinüber und schnitt den Pflanzenkopf am Stängel ab.

Sofort öffnete sich die Blüte und Kurt flog eilig zurück auf Kais Schulter.

„Das ist ja lebensbedrohlich hier. Habt ihr gesehen, wie die mich angegriffen hat? Unglaublich ist das! Dabei wollte ich doch nur mal gucken! Dieses Biest hatte so was Flauschiges in der Blütenmitte. Ich dachte, das könnte man vielleicht für den Nestausbau verwenden. Und – Zack! – beißt die doch zu! Unverfrorenes Biest!“, zeterte er und schüttelte sich. „Ich hätte tot sein können!“

„Das ist allerdings nicht unrichtig“, sagte Renatus. „Die Agatie hätte angefangen, dich mit ihren Verdauungssäften langsam aufzulösen.“

„Aufzulösen? Pfui Teufel!“

„Das war leider die letzte. Jetzt muss ich erst wieder neue züchten. Wirklich schade.“ Renatus hielt den Topf mit der blütenlosen Agatie in den Händen und sah betrübt auf die Reste der Pflanze. „Darf ich vorschlagen, keine weiteren Dinge zu berühren?“

„Äh ... ja, natürlich. Entschuldige vielmals, Renatus.“ Opa Gismo hob den Zeigefinger. „Habt ihr alle gehört? Ab jetzt wird hier nichts mehr angefasst, wenn ich bitten darf!“

„Vielen Dank, Gismo.“ Renatus grinste. „Es ist nur zu eurem Besten.“ Er stellte die Agatie neben den Käfig mit der Schlechtlaunigen Schrumpelknolle.

„Sag mal, Renatus, wo ist eigentlich dein Bruder Bronchius?“, fragte die Vampirmutter und betrachtete einen Schädel, der auf dem Schreibtisch lag. Er gab wohlige Laute von sich, als ihn die Blicke der Vampirin trafen. „Ihr arbeitet doch oft zusammen, oder?“

„Bronchius?“ Renatus’ Stimme wurde leise. Er schlurfte an ein Fenster und schaute in den Sternenhimmel. „Ja, das stimmt. Eigentlich forschen wir viel zusammen.“ Er wandte den Blick wieder in den Raum. „Aber diesmal ist es anders. Bronchius ist gerade ... unterwegs.“

Die Steinfigur an der anderen Seite des Zimmers schlug mit den Flügeln.

Er ging zu ihr, kramte in seiner Umhangtasche und holte einen dunklen Keks hervor, den er ihr unter die Nase hielt. Sofort griff die Figur mit ihrer Krallenhand danach.

„Dieses Ding hier liebt Blutkekse über alles“, sagte er, sah zu, wie die Kreatur den Keks verschlang, und schritt dann an den Schreibtisch.

Als er dabei über einen Teppich ging, der so flauschig war, dass seine Füße darin versanken, hatte Sandra den Eindruck, als hörte sie helle Stimmen kichern. Renatus bemerkte ihren fragenden Gesichtsausdruck und schmunzelte. „Ein Tibetischer Kitzelteppich. Feinste Webarbeit! Leider etwas sehr kitzelig, aber ansonsten ein herrlicher Bett-Ersatz! Die Fasern singen einem sogar ein Gute-Nacht-Lied, wenn man auf ihnen liegt. Sehr beruhigend, wirklich! Aber nun sagt doch mal, was kann ich denn für euch tun, hm?“

Er blickte einen nach dem anderen an.

„Es geht um unseren jungen Freund hier.“ Opa Gismo zeigte auf Kai.

„Aha!“

Kai räusperte sich. „Ja, wir suchen die Trügerische Trautelbeere.“

„Ahhh! Die gute, alte Trügerische Trautelbeere, verstehe.“ Renatus blinzelte Kai zu. „Du möchtest von ihrem Saft trinken und Tagvampir werden, richtig?“

„Ja, genau.“

„Ich habe aber leider keinen Saft da. Überhaupt habe ich schon seit Ewigkeiten keine Trügerischen Trautelbeeren mehr gesehen. Nicht mal die normalen Trautelbeeren.“

„Oh, damit hatten wir auch gar nicht gerechnet, Herr Röchel“, schaltete sich Kais Vater ein. „Wir dachten, vielleicht könnten Sie uns sagen, wo man diese Beeren finden und wie man den Saft herstellen kann.“

„Das kann ich allerdings. Aber ich kann euch keine großen Hoffnungen machen, bei eurer Suche auch tatsächlich auf die Beeren zu stoßen. Sie sind sehr selten, wisst ihr.“

„Wir können unser Glück ja mal versuchen. Wo würde man denn idealerweise nach der Trügerischen Trautelbeere suchen?“, fragte die Großmutter.

„Überall und nirgendwo“, sagte Renatus und lachte, als er in die fragenden Gesichter seiner Besucher blickte. „Es ist so: Die Trautelbeere ist eine seltene Pflanze. Das gilt auch für ihre Schwester, die Trügerische Trautelbeere. Und um sie zu finden, gibt es überhaupt nur zwei Möglichkeiten.“

„Die da wären?“

„Nun, die eine Möglichkeit wäre der Leise Zauber.“

„Der was?“

Der alte Vampir sah die Großmutter mit dem Ausdruck väterlicher Milde an. „Manche Menschen und Vampire können die Trügerische Trautelbeere sehen. Allerdings nur solche, die gerade durch eine Zeit schwerer, seelischer Erschütterung gehen und dadurch empfänglich für das nicht Alltägliche sind. Ihre Sinne sind geschärft und offen für das Ungewöhnliche. Für den Leisen Zauber eben. Solchen Leuten zeigt sich die Trügerische Trautelbeere. Wenn sie Glück haben!“ Er blickte zu Kai. „Der Zustand, in dem du dich befindest, zählt allerdings nicht dazu. Tut mir leid. Die Vampirwerdung lässt die Beere kalt, sozusagen.“

Kais Oma ließ enttäuscht die Schultern hängen. „Na toll! Das fällt schon mal aus. Von uns Menschen befindet sich nämlich niemand in einem Zustand gefühlsmäßiger Erschütterung. Und wie ist es mit euch?“

Sie blickte zu den Vampiren.

„Ach, na ja ...“, hauchte Gerrith, wofür er jedoch sogleich von Gangolf einen Stoß in die Seite erntete.

„Quatsch nicht!“, raunzte er. „Du bist nicht erschüttert, du bist ängstlich!“

„Da ist bei uns leider auch nichts zu machen“, sagte Gutta. „Mist! Was jetzt?“

„Nun, es bliebe noch die zweite Möglichkeit. Das Licht der Werwölfe!“

„Wessen Licht?“ Sandra sah Renatus mit großen Augen an.

„Das Licht der Werwölfe, kleines Menschenfräulein. Es lässt die Trügerischen Trautelbeeren in einem fluoreszierenden Schein leuchten. So kann man sie todsicher erkennen und von den gewöhnlichen Trautelbeeren unterscheiden.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752114195
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Oktober)
Schlagworte
Horror Grusel Vampirroman Spannung Vampir Humor Geschenk für Kinder ab 8 Kindersachbuch Sachbilderbuch Kinderbuch Jugendbuch Märchen Sagen Legenden

Autor

  • Hagen Röhrig (Autor:in)

Hagen Röhrig wurd in Pinneberg, Schleswig-Holstein geboren. Er wuchs in Gorxheimertal auf und lebt heute in Weinheim an der Bergstraße. An der Universität Heidelberg hat er Anglistik und Geographie studiert. In seiner Magisterarbeit ist er der Frage nachgegangen, wie der Vampiraberglaube wissenschaftlich erklärt werden kann und sich in der Literatur wiederfindet.
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Titel: Kai Flammersfeld und die Trügerische Trautelbeere