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Kai Flammersfeld und die Wahnnacht der Wolfire

von Hagen Röhrig (Autor:in)
129 Seiten
Reihe: Kai Flammersfeld, Band 4

Zusammenfassung

Um seine Freundin aus den Klauen der Vampirjäger zu retten, riskiert Kai alles. In einer schmerzhaften Zeremonie zieht er alles Vampirische aus sich heraus. Kai ist nun wieder ein Mensch. Doch er ist ein Mensch, den es nicht geben darf. Er ist ein Mensch ohne Spiegelbild. Es bleibt ihm nicht viel Zeit, um Sandra zu retten, bis er selbst verloren ist. Auf der Messe für Spaltspiegelbesitzer trifft er den Vampir Torkel Bierström. Von ihm erhofft sich Kai Hinweise darauf, wie er hinter den Spaltspiegel treten kann, um dort Sandras Weg nachzugehen und zu ihr zu kommen. Torkel berichtet von zwei Schlüsseln, die unabdingbar sind, um unbeschadet in den Spiegel zu gelangen. Kai und seine Freunde brechen sogleich auf, um sie zu finden. Doch nicht nur sie suchen die Schlüssel ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Für den echten Kai.

1

Flucht

Zu Spät! Viel zu spät!

Seine Hände teilten das Dickicht. Die feinen Regentropfen, die an den Blättern und Zweigen klebten, perlten an seiner Haut ab. Immer wieder sah er sich um. Eigentlich konnten sie noch nicht so weit sein, dachte er. Und dennoch erwartete er hinter jedem Baum ihre wütenden Gesichter.

Er war viel zu spät dran! So ein Mist! Aber er konnte nicht früher weg. Die anderen hätten es sonst gleich bemerkt. So hatte er zumindest einen Vorsprung.

Ob sein Freund auf ihn warten würde?

Bitte, bitte ... Sei noch da. Wir haben uns geirrt!

Er machte einen Satz und sprang über einen Baumstumpf.

Ach, wenn er doch nur die Zeit gehabt hätte, herauszufinden, wo diejenigen mit dem zweiten Schlüssel waren.

Der Wind zerzauste sein Haar und es klang fast, als flüsterte er seinen Namen.

Er rannte schneller.

Der Sturm fegte durch den Wald und riss Blätter und Zweige mit sich.

Nur noch ein wenig mehr Zeit. Ein wenig mehr Zeit und er hätte seinem Freund genau sagen können, wo er nach dem zweiten Schlüssel suchen musste. Aber immerhin! Ein feines, triumphierendes Lächeln huschte über sein Gesicht. Immerhin! Er konnte ihn nah genug heranführen.

Ja, in gewisser Weise bewunderte er die Riege, das musste er zugeben. Wie sie es geschafft hatten, dieses Mädchen dort hinzuschaffen.

Auch das musste er seinem Freund berichten. Und die Sache mit dem Vampir, der in der Zelle saß! Ganz bestimmt würden sich die anderen Vampire dafür interessieren. Er wusste ja, dass sie nach ihm und dem Menschenmädchen suchten. Endlich war die Gelegenheit gekommen, auf die er und seine Mitstreiter so lange gewartet hatten. Die Gelegenheit, eine Brücke zu den Vampiren zu schlagen. Einander wieder näher zu kommen; alten Zwist zu überwinden. Sich neu kennenzulernen. Endlich war die Zeit gekommen!

Irgendwo in der Nähe knackte ein Ast.

Ängstlich blickte er sich um und rannte dann noch schneller.

Der Wind heulte in den Baumkronen.

Schweiß lief ihm ins Auge. Ausgerechnet in das, welches ohnehin noch schmerzte. Es brannte fürchterlich. Er fuhr mit dem Ärmel vorsichtig über sein Gesicht und wischte den Schweiß ab. Verdammt, wie das brannte!

Er stockte. Überall um ihn herum knackte und knisterte es. War es der Sturm? Oder ...

Konnten sie wirklich schon so nah sein? Eigentlich unmöglich ...

Er spürte einen dumpfen Schlag gegen den Kopf. Das warme Blut rann über seinen Schädel und den Hals hinunter. Ihm wurde schlecht. Gorx taumelte – und brach röchelnd zusammen.

2

Die Erscheinung – 21. Tag nach dem Biss

Kai streifte seinen Pulli über und trat ans Fenster.

Was für eine Nacht!, dachte er und sah hinaus in die sturmgepeitschte Dunkelheit. Der Wind pfiff um das Haus, zerrte an den Bäumen und fegte über das Gras. Am Horizont tobte ein Wetterleuchten, wie er es noch nie gesehen hatte. Unter normalen Umständen würde er in einer solchen Nacht niemals auch nur einen Fuß nach draußen setzen. Aber die Umstände waren nicht normal. Seit zwei Tagen war er nun bereits wieder menschlich und kein Vampir mehr. Und seit zwei Tagen war nichts geschehen. Keine Nachricht vom Fledermaus-Geheimdienst. Keine Nachricht von Fledermaus Jette oder dem Top-Spion, der Schabe Sebastian. Keine Nachricht, wo seine beste Freundin Sandra war. Stattdessen nagte das fürchterliche Gefühl an ihm, dass die Zeit verrann. Zeit, die er nicht hatte. Noch waren es nur seine Augen und Ohren, die sich langsam veränderten und ihre vampirischen Eigenschaften verloren. Gestern noch hatte er in der Dunkelheit alles farbig sehen können. Aber als er heute Abend die Augen aufgeschlagen hatte, war alles schwarz-weiß gewesen.

Doch wie lange noch, bis sich sein Wesen verändern würde? Er hatte es zwar geschafft, wieder ein Mensch zu werden, besaß aber nun kein Spiegelbild mehr. Nur ein Mensch konnte Sandra finden, soviel wussten sie, und nur deshalb hatte er die Rückverwandlung ohne Spiegelbild auf sich genommen, auch wenn dies furchtbare Folgen für ihn hatte. Er erinnerte sich daran, was ihm das Buch „Alltagstipps für Vampire – die 100 besten Rezepte“ prophezeit hatte. Nach einiger Zeit als Mensch ohne Spiegelbild würde er sich in eine erbarmungswürdige Kreatur verwandeln. Zu einer Hülle ohne menschliche Regungen. Zu einem leidenden, traurigen Etwas in Menschengestalt.

Kai atmete schwer aus.

Hoffentlich hatte sein Spiegel-Ich, das zu Hause bei seinen Eltern wohnte und für ihn zur Schule ging, während er als Vampir bei seiner Oma, der Tagvampirin, eingezogen war, noch nicht begonnen, sich zu verändern. Bisher hatte er nichts Gegenteiliges gehört und das ließ ihn hoffen.

Er sah auf seine Armbanduhr. Wollte Jette nicht schon längst hier sein? Seltsam ...

Er senkte den Arm und blickte wieder aus dem Fenster. Das Wetterleuchten zuckte wild über den Himmel und die schweren Wolken rasten dahin.

In einer Stunde waren sie mit Torkel Bierström auf der Messe für Spaltspiegelbesitzer verabredet. Jette hatte den Kontakt hergestellt und gesagt, dass er vielleicht helfen könne, Sandras Aufenthaltsort herauszufinden, nachdem sie vor einigen Tagen im Spaltspiegel verschwunden war. Bei dem Gedanken daran kribbelte es in seinem Körper.

Und dann erst fiel es ihm auf.

Er kniff die Augen zusammen, ging näher an die Fensterscheibe heran und sah angestrengt hinaus.

Nein, er hatte sich nicht getäuscht.

Nur ...

Er rieb sich die Augen und ging mit dem Gesicht so nah an die Scheibe, dass seine Nase fast das Glas berührte.

Dort unten war etwas. An einem Baumstamm.

Da war ein Gesicht. Die großen, runden Augen sahen zu ihm herauf.

Und ...

Kai schluckte. Er wartete, bis das Wetterleuchten abermals die Nacht erhellte, dann war er sich sicher. Er sah eine Hand, die auf dem Stamm lag. Eine Hand mit langen, dünnen Fingern. Und ein Bein. Mehr nicht!

Er zuckte zurück und wandte den Blick ab.

Wie konnte das sein? So etwas war gar nicht möglich.

Er hauchte gegen die Scheibe und wischte mit dem Ärmel darüber, so als wolle er störenden Staub wegwischen. Er rieb über das Glas, obwohl er natürlich genau wusste, dass dies nichts ändern würde. Dann sah er wieder zum Waldrand.

Ein Gesicht, eine Hand, ein Bein.

Wo war der Rest des Körpers?

Da! Nun schien dieses Etwas, was immer es auch war, ihn hinter dem Fenster entdeckt zu haben. Es neigte den Kopf zu Seite und starrte ihn an.

Und dann war es plötzlich weg. Verschwunden. Einfach so.

Kai schoss das Blut in den Kopf. Sein Atem ging schnell und beschlug die Scheibe. Hatten ihm seine Augen einen Streich gespielt? Er spähte zu den Bäumen, doch dort war nichts mehr.

Plötzlich saß etwas Dickes, Schwarzes vor ihm auf dem Fensterbrett und klopfte von außen gegen die Scheibe.

Kai schrie auf und zuckte zurück.

„Hallo, hallo!“, krächzte es und pochte gegen das Glas. „Würdest du wohl die Freundlichkeit besitzen, mich reinzulassen? Oder soll ich hier als lebendes Windspiel enden?“

„Kurt!“ Kai schlug die Hand vor den Mund. Der Rabe war kaum wiederzuerkennen. Wie eine große Federkugel hockte er zusammengekauert auf der Fensterbank. Der Wind schubste ihn von einer Seite zur anderen und zerrte so sehr am Gefieder, als wolle er dem Raben jede Feder einzeln ausreißen.

Kai öffnete das Fenster und sofort wirbelten kräftige Böen durch den Raum. Kurt duckte sich unter dem Sturm und stakste über den Fensterrahmen ins Zimmer.

„Entschuldige!“ Kai stemmte das Fenster gegen den Wind und drückte es ins Schloss zurück. „Ich hab dich gar nicht gesehen.“

Kurt schüttelte sich und legte die Federn eng an den Körper. „Das ist aber auch ein Wetterchen heute, was?“ Er streckte Flügel und Beine aus und dehnte sie. „Da scheucht man ja eigentlich keinen Hund vor die Tür.“

„Stimmt.“ Kai sah noch einmal zum Waldrand und wandte sich dann dem Raben zu. „Der Flug war bestimmt anstrengend, oder?“

„Das will ich meinen! Mit Verlaub: Ich habe da eine fliegerische Glanzleistung hingelegt! Davon zwitschert Morgen die ganze Vogelwelt.“ Er schüttelte sich abermals. „Ich bin sehr gespannt, ob Jette es bis hierher schafft.“

Kai ging zum Sofa und nahm seinen Vampirumhang von einem riesigen Stapel Klamotten. „Vielleicht ist sie schon hier. Wir können ja mal runter ins Wohnzimmer gehen“, schlug er vor und warf den Umhang über die Schultern. „Meinst du, wir schaffen den Flug zur Messe bei dem Sturm? Ist ja schon ein Stück bis zu diesem Friedhof.“

„Ach, ich bitte dich. Sind wir Profis oder sind wir Profis?“ Kurt flatterte auf Kais Schulter. „Ich werde euch selbstverständlich mit meiner Erfahrung zur Seite stehen.“

„Danke, Kurt. Zu gütig!“ Kai grinste ihm zu und ging zur Zimmertür. „Bist halt doch ein wahrer Freund.“ Er kraulte den Kopf des Raben und stiefelte die Stufen zum Wohnzimmer hinunter.

3

Die Messe der Spaltspiegelbesitzer

Als Kai und Kurt das Wohnzimmer betraten, winkte ihnen ein Teil der Vampirfamilie von Greifendorf entgegen, während Kais Großmutter gerade einen Vampirumhang in den Händen hielt.

„Und der ist wirklich für mich?“ Ihre Augen glänzten.

„Aber natürlich, meine Liebe“, sagte Opa Gismo von Greifendorf. „Wir haben in den letzten Nächten so viel Fliegen geübt, den hast du dir redlich verdient.“

„Giiismo, du Charmeuuur ...“ Die Großmutter lächelte ihn an und blickte beinah schüchtern zur Seite. „Die Landungen auf dem Fenstersims haben aber noch nicht so gut geklappt, finde ich.“

„Das ist normal, Geysira“, tröstete Opa Gismos Schwiegersohn Gottfried von Greifendorf. „Aber keine Sorge, das kommt mit der Zeit.“

„Im Grunde ist es ohnehin deiner, Geysira“, flötete seine Frau Gesine. „Sieh mal die Stickerei hier.“ Sie zeigte auf den Kragen des Umhangs, wo in schimmerndem Schwarz die Buchstaben „GvG“ prangten. „Geysira von Greifendorf. Deine Initialien. Von dir höchstpersönlich in einer nächtlichen Handarbeitssitzung gestickt.“

„Ach!“ Die Großmutter fuhr mit dem Zeigefinger über die Buchstaben. Sie hatte erst vor einigen Tagen erfahren, dass sie die verschollen geglaubte Tante der von Greifendorfs und eine Tagvampirin war. Stolz legte sie sich den Umhang über die Schultern. „Auf jeden Fall danke ich euch.“ Und mit Blick auf Opa Gismo fügte sie hinzu: „Nun musst du mich auch nicht mehr tragen, wenn wir ausfliegen, mein lieber Gismo.“

„War mir stets ein Vergnügen“, sagte er und machte mit einer ausholenden Armbewegung einen tiefen Diener.

„Sagt mal, ist Jette noch gar nicht aufgetaucht?“ Kai sah sich um und tastete mit den Blicken den Kronleuchter ab.

„Jette? Nein, die ist nicht da.“ Gutta, die Tochter der von Greifendorfs, kam gerade aus der Küche und hielt eine Tasse Bluttee in der Hand. Ihre Brüder Gangolf und Gerrith betraten hinter ihr den Raum. „Ich glaube, sie ist bereits auf ihrem nächsten Einsatz, weiter nördlich. War es nicht so?“, wandte Gutta sich an ihre Geschwister.

„Doch, doch, sie hat gestern so etwas gesagt.“ Gerrith nickte.

„Na, hoffentlich finden wir dann diesen Torkel Bierström.“ Kai blickte die anderen an.

„Keine Sorge, Jette hat alles organisiert.“ Gutta legte die Hand auf Kais Schulter.

„Wir haben ungeheures Glück“, sagte Gesine von Greifendorf. „Wenn nicht gerade diese Messe wäre, dann hätten wir Torkel vielleicht gar nicht ausfindig machen können.“

„Wieso das?“, fragte Kai.

„Wieso?“ Sie kam auf Kai zu und strich Kurt, der auf Kais Schulter saß, über den Kopf. „Torkel ist üblicherweise unterwegs. Sehr viel unterwegs. Er und Renatus sind gut befreundet und machen gemeinsam viele Forschungsreisen. Weiß der Teufel, wohin wir hätten fliegen müssen, um ihn zu treffen.“

Renatus! Ein Gefühl des Bedauerns breitete sich in Kai aus, als er den Namen des weisen Vampirs hörte. Die Vampirjäger Wieland von Wünschelsgrund und Rufus Wankelmann hatten dessen Bruder Bronchius in ihrer Gewalt und erpressten den armen Renatus.

„Wo ist Renatus eigentlich?“, fragte er.

„Hm, tja.“ Der Vampirvater, Gottfried von Greifendorf, legte die Stirn in Falten. „Keine Ahnung. Er ist wie vom Erdboden verschluckt. Niemand weiß, wo er sich aufhält. In seinem Turm, dem Schiefen Finger, ist er jedenfalls nicht, soviel ist sicher.“

„Wenn es jemanden außer Renatus gibt, der uns etwas darüber sagen kann, wohin Sandra gekommen ist, als sie durch den Spaltspiegel gezogen wurde, dann ist es Torkel“, meinte Opa Gismo zuversichtlich. „Früher hatte er sogar selbst mal einen dieser Spiegel!“

„Hoffentlich hast du recht.“ Kai ließ die Hand in die Tasche seines Umhanges gleiten und holte die Schale mit den Petriwürmern heraus, die Renatus Sandra geschenkt hatte, als sie beim Schiefen Finger gewesen waren. Die kleinen Würmer konnten Botschaften übermitteln. Sie wuselten in ihrer Schale und formten dann ein schwach leuchtendes „Hallo!“

„Wir schaffen das, Kai!“ Seine Oma trat neben ihn und legte den Arm um seine Schulter. „Wir werden Sandra retten. Und dich auch.“

Kai schluckte. Seine Großmutter sprach mit fester Stimme. Sie klang so überzeugt, als gäbe es die Möglichkeit gar nicht, dass ihnen die Zeit davonlief.

„Selbstverständlich werden wir das.“ Kurt nickte. „Schon mein Vetter Snorre, der ein Papageientaucher war, hat immer gesagt: ‚Nichts ist verloren, bis es verloren ist!‘“

„Ach, Kurt!“ Gangolf verdrehte belustigt die Augen.

„Wer hat denn Jettes Nachricht eingesteckt?“, fragte die Vampirmutter, Gesine von Greifendorf.

„Ich glaube, ich habe sie.“ Gutta kramte in ihrer Umhangtasche und zog etwas daraus hervor, das wie Papyrus aussah. Sie faltete den Zettel auseinander und reichte ihn ihrer Mutter, deren Blicke sogleich über das Papier flogen.

„Ah, richtig. Wir müssen zum Friedhof meiner Muhme Mirja.“ Sie sah kurz auf und nickte in die Runde. „Ein nettes Plätzchen haben die sich für diese Messe ausgesucht. Doch, doch. Das muss ich schon sagen.“

Sie reichte den Zettel an Kai weiter. „Muhme?“, fragte er und stockte kurz, als er die Buchstaben auf dem Papyrus sah. Sie schimmerten golden, als ob kleine Lichtpunkte in der Tinte leuchteten.

„Muhme bedeutet Tante“, schnaufte die Vampirin und schüttelte den Kopf. „Hach, wie ist es nur um eure Bildung bestellt!“

„Das ist ja witzig“, krächzte Kurt und hüpfte aufgeregt auf Kais Schulter herum. „Ich hatte auch mal eine Tan... äh, Muhme Mirja!“

„Wirklich?“, fragte die Vampirmutter interessiert.

„Ja, sie war Lehrerin für ausdrucksstarkes Kunstfliegen an der Rabenschule!“

„Ach was!“ Gesine sah den Raben mit großen Augen an.

Opa Gismo lachte. „So so. Nachdem wir das also geklärt haben ... Wollen wir aufbrechen? Die Spaltspiegelmesse hat bereits begonnen. Und bis zu diesem Muhmenfriedhof“ und hier malte er mit den Zeige- und Mittelfingern Anführungszeichen in die Luft, „fliegen wir ein Weilchen.“ Er knöpfte seinen Umhang zu, hob ein kleines Stück vom Boden ab und während er durch die offene Terrassentür nach draußen schwebte, rief er: „Die Nacht ist jung und wir haben noch viel vor. Kommt!“


Als sie auf dem Friedhof landeten, hatte der Wind deutlich nachgelassen. Nur ab und zu fegten noch vereinzelte Böen über das Land und wirbelten ihre Umhänge durcheinander.

„Einen gar herrlichen guten Abend wünsche ich!“ Eine langhaarige Vampirin begrüßte sie mit einem Lächeln, das so breit war, dass die Eckzähne wie kleine Dolche aus ihren Mundwinkeln ragten. „Zur Messe bitte hier entlang!“ Sie deutete mit einer ausgreifenden Handbewegung auf eine Gruft, vor der sich eine große Menge Vampire versammelt hatte.

„Danke sehr“, säuselte die Vampirmutter und sie reihten sich in die Schlange der Wartenden ein.

„Teufel, ist hier aber viel los.“ Die Großmutter spähte an den Vampiren vorbei auf den Friedhof und lachte. „Also Gesine, ich glaube, deine Muhme Mirja wird heute keine ruhige Nacht haben.“

„Mit Sicherheit wird sie das nicht weiter interessieren, Geysira“, sagte die Vampirmutter. „Sie ist eine der wenigen Sterblichen in unserer Familie. Wenn du magst, zeige ich dir nachher ihre Gruft. Nett hat sie es da. Zu schade, dass sie es nicht wirklich würdigen kann, die Arme.“

„Umhänge und Taschen, bitte!“ Eine durchdringende Stimme unterbrach sie barsch. Ein stämmiger Vampir stand vor ihnen und zeigte mit strenger Miene auf eine kleine Holzkiste.

„Bitte?“ Gesine erschrak.

„Um-hän-ge und Tasch-en, bit-te“, wiederholte der Vampir betont genervt und pochte mit dem Zeigefinger auf die Holzkiste.

Gesine von Greifendorf zuckte zurück und zog dann ihren Umhang von den Schultern. „Ach so, ja, natürlich ...“ Sie zischte ihrem Mann zu: „Bei diesem unhöflichen Ton hab ich ja schon gar keine Lust mehr auf die Messe. Ts!“

„Beruhige dich, Liebes“, sagte Gottfried. „Der Mann macht nur seine Arbeit.“

„Ja, ja. Aber wie!“ Sie schüttelte den Kopf und wollte an dem Kontrolleur vorbeigehen. Doch der streckte den Arm aus und versperrte ihr den Weg.

„Amulette? Ringe? Spitze Gegenstände?“

„Nein.“

„Mhm ...“ Er musterte sie scharf. „Führen Sie Waffen oder waffenähnliche Gegenstände mit sich?“

Gesine von Greifendorf stützte die Hände in die Hüften. „Hören Sie, Herr Sicherheitsbeauftagter!“ Das letzte Wort unterstrich sie durch eine besondere Betonung jeder einzelnen Silbe und eine leicht wippende Kopfbewegung. „Wir möchten diese Messe besuchen und sie nicht mit einem Arsenal an Waffen auseinandernehmen!“

Der Vampir streckte ihr sofort den Zeigefinger entgegen. „Nicht in diesem Ton, meine Dame, ja!?“

„Was ist denn da vorne los?“, rief ein Vampir genervt von weiter hinten in der Schlange. „Wieso geht es nicht voran?“

„Es herrscht eine erhöhte Sicherheitslage“, meldete der Wachvampir und schob die Kiste mit dem Umhang in etwas, das wie ein aufrecht stehender Sarg aussah, aus dem sogleich ein hohes Piepsen ertönte. „Da müssen wir schon ein wenig genauer hinsehen, wenn Sie wissen, was ich meine!“

„Eine erhöhte Sicherheitslage?“ Opa Gismo streifte seinen Umhang ab und legte ihn in die nächste freie Holzkiste. „Was ist denn los?“

„Wir haben unsere Gründe, glauben Sie mir“, antwortete der Wachvampir und schob auch die Kiste mit Opa Gismos Umhang in den aufrechten Sarg. „Amulette? Ringe? Spitze Gegenstände? Waffenartige Gebilde?“

„Nein.“

„Eventuell Blutkonserven?“

„Blutkonserven?“

„Flüssigkeiten sind nur wohlportioniert in durchsichtigen Behältnissen mit einem Fassungsvermögen von weniger als einhundert Milliliter gestattet, der Herr!“ Der Wachvampir schob sein Gesicht ganz nah an Opa Gismo heran. „Wobei eine zulässige Gesamtmenge von einem Liter nicht überschritten werden darf!“

„Äh, ... so viel Vorrat trage ich nie bei mir.“ Opa Gismo wich einen Schritt zurück. „Zudem habe ich bereits gefrühstückt.“

„Dann bitte hier entlang!“ Der Wachposten zeigte auf einen Durchgang, an dessen Seiten und Decke Fledermäuse hingen. Als der Vampirvater und die anderen ebenfalls ihre Umhänge in Kisten gelegt hatten, die in dem Sarg verschwanden, bedeutete der Wachvampir auch ihnen, den Steinbogen zu durchschreiten. „Schön einer nach dem anderen, bitte!“

Kai ging als Letzter durch den Bogen. Als er genau darunter stand, hörte er ein helles: „Anhalten, bitte!“ Er stoppte. Die Fledermäuse drehten die Köpfe und richteten die Blicke auf ihn und Kurt. „Ah, ein Mensch“, sagte eine leise Stimme.

„Ja, aber ein seltsamer“, stellte eine andere fest.

„Interessant. Er hat kein Spiegelbild.“

„Hm ...“

„Und der Rabenvogel?“

„Unauffällig.“

Die Nasenflügel der Fledermäuse bebten aufgeregt und piepsende Geräusche drangen aus ihren Kehlen, während sie die Köpfe wild hin- und herbewegten und Kai und seinen Freund von oben bis unten musterten.

„In Ordnung. Bitte weitergehen!“

Schlagartig wandten sich die Tiere von Kai und Kurt ab.

„Das war ja komisch“, krächzte der Rabe, als sie wieder bei den anderen standen.

„Ich war ja erst zwei Mal auf dieser Messe“, sagte Opa Gismo, „und das ist auch schon lange her. Aber so etwas habe ich nicht in Erinnerung.“

„Na ja. Hauptsache, wir sind endlich hier.“ Gesine warf ihren Umhang wieder über und strich ihn glatt.

„Und nun?“ Gerrith sah zu einer Gruft, über der ein Banner mit der Aufschrift „Reflektor – die Zeitschrift für den modernen Spaltspiegelbesitzer“ gespannt war. Einige Vampire im Schottenrock gingen gerade dort hinein.

„Hier muss doch irgendwo ein Informationsstand sein“, murmelte Gutta und duckte sich, als eine Gruppe von Fledermäusen knapp über sie hinweg flatterte. Sie trugen Zettel und kleine Briefumschläge in den Krallen und stoben in alle Richtungen davon. „Aber es ist ja so voll, dass man kaum etwas erkennen kann.“

„Guten Abend, die Herrschaften!“ Eine kleine, rundliche Vampirin lächelte sie freundlich an. „Sie sehen so aus, als wüssten Sie nicht recht wohin.“ Sie lachte ein gackerndes, schrilles Lachen und wackelte mit dem Kopf. „Da komme ich ja wohl gerade richtig, was? Gestatten, mein Name ist Praeguntia, ich bin hier für Auskünfte und Orientierung zuständig.“ Sie zeigte auf ein riesiges, rotes „I“, das auf ihrem schwarzen Kleid leuchtete. „Wie kann ich Ihnen denn helfen, hm?“

Kai biss sich auf die Lippe, um nicht zu lachen. Die Vampirin, die sie mit großen, funkelnden Augen ansah, hatte eine unglaubliche Frisur. Ihr Haar war derart hochtoupiert, dass es wie ein Busch auf dem Kopf saß. Eine dicke Spinne hatte sich dort eingenistet und spazierte gerade seelenruhig über dem Ohr Richtung Scheitel, wo Heerscharen von Fliegen das Haupt der Vampirin umschwirrten.

„Also, ... äh, ... wir sind auf der Suche nach jemandem“, sagte Kai schließlich.

„Natürlich. Und nach wem, bitte?“

Infovampir

„T... Torkel Bierström.“ Nun hatte Kai die Totenköpfe entdeckt, die an Praeguntias Ohrläppchen baumelten und deren Augen wie bei einem Halloweenspielzeug aufblinkten.

„Torkel Bierström, ... hm ...“ Praeguntia rieb sich das Kinn. „Kenn ich, kenn ich. Aber ich habe ihn heute noch gar nicht gesehen.“ Sie schüttelte den Kopf, sodass die Spinne einige Strähnen nach unten fiel. „Da müssen wir mal zur Infogruft! Kommen Sie, ich führe Sie hin, ja?“ Sie drehte sich schwungvoll um und bahnte mit ihrem massigen Körper eine Schneise durch die Besuchermassen. „Bleiben Sie dicht hinter mir, damit wir uns nicht verlieren!“, rief sie mit erhobener Hand und eilte voraus.

Sie gingen ein Stück geradeaus und bogen dann nach rechts auf einen breiteren Weg ein, an dessen Rändern sich Grüfte aneinanderreihten. Manche davon standen offen, so wie die, an der sie gerade vorbeikamen. Ein Banner mit der Aufschrift „Reinigungsmittel für Spaltspiegel“ war zwischen zwei Wasserspeiern gespannt und lockte zahlreiche Besucher hinein.

„He, Praeguntia! Komm doch mit deinen Freunden zur Vorführung des neuen Glasreinigers! Geht gleich los!“, rief ein Vampir und winkte sie herüber. Doch Praeguntia grinste nur freundlich. „Kann grad nicht, Sven! Ich komm später mal vorbei, ja?“

Ein kleiner Junge zwängte sich zwischen den Besuchern hindurch und pries die Messezeitung an. „Serie mysteriöser Fälle von Spaltspiegelzerstörungen hält an!“, rief er und hielt dabei die Zeitung in die Luft. „Nun auch Diebstahl von zwei Spaltspiegeln! FGD ermittelt!“

„Was, schon wieder?“ Praeguntia entriss ihm eine Zeitung und drückte ihm ein Goldstück in die Hand. „Weiß der Teufel, was da vor sich geht.“

Sie drehte sich zu den Vampireltern. „Das ist nun schon der fünfte zerstörte Spaltspiegel in zwei Tagen. Seltsam, sehr seltsam ...“

„Hat man denn schon einen Verdacht?“, fragte Gesine.

„Nein.“ Praeguntia schüttelte den Kopf.

„Vielleicht musste Jette deshalb weg“, meinte Gutta und sah zu ein paar Vampiren, die es sich auf einer Grünfläche zwischen halbverfallenen Grabsteinen bequem gemacht hatten. Sie lachten, stießen mit goldfarbenen Kelchen an und zeigten einander Broschüren, die sie gesammelt hatten.

„Oh, seht doch mal!“ Gerrith zeigte zu einem Stand vor einer Gruft. „Ist das nicht Antonio?“

„Tatsächlich!“ Gangolf nickte.

Der Zeremonienvampir unterhielt sich angeregt mit einem Händler, der auf einem Schild „Mutatschutz“ anpries. „Unbrauchbare Spaltspiegel-Oberflächen durch Mutatkristalle? Nicht mit unserem neuen Mutatschutz. Wirkt zuverlässig und anhaltend! Versprochen!“ stand auf dem Schild.

Antonio nickte ihnen zu, als er sie erkannte.

„Bitte nicht stehenbleiben“, rief Praeguntia. „Wir sind gleich da.“

Sie bog nach links in einen engen Pfad ein, der zwischen den Grüften verlief. „Eine kleine Abkürzung. Sehen Sie, da vorn wollen wir hin!“

Vor ihnen öffnete sich der Pfad auf einen Platz, der von Laternen beleuchtet wurde. Vampire eilten darüber und warfen lange Schatten, die sie hinter sich herzogen wie weiten, dunklen Stoff.

Praeguntia marschierte zielstrebig auf eine Gruft zu, die auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes lag.

„Hallo, Viktoria!“, rief sie und eine Vampirin, deren feuerrotes Haar zwar nicht von Fliegen umschwirrt wurde, aber genauso hoch und wild vom Kopf abstand wie das ihre, trat aus der Gruft.

„Liebes!“, rief die Vampirin, die Viktoria hieß und schmunzelte. „Heute hast du aber viel zu tun, was?“

Sie umarmten sich. Die Spinne auf Praeguntias Kopf zuckte zurück, als sie die Haarmähne der anderen Vampirfrau auf sich zukommen sah.

„Ja ja, kann man wohl sagen.“

Praeguntia winkte Kai und die anderen heran.

„Die Herrschaften hier suchen Torkel Bierström.“

„Torkel?“ Viktoria musterte Kai scharf. „Den habe ich vorhin dort drüben am Imbissstand gesehen. Aber wo Torkel jetzt ist, weiß ich gar nicht.“ Viktoria ging kurz in die Gruft und kam mit einer Fledermaus in der Hand zurück. „Wozu haben wir denn unsere freundlichen Helferlein, hm?“, lachte sie und flüsterte dem Tier etwas ins Ohr. Dann warf sie es hoch in die Luft. Die Fledermaus drehte einige kleine Runden über ihren Köpfen und flatterte im Zickzackkurs davon.

„Wenn Sie einen Augenblick warten möchten? Torkel kommt sicher, sobald ihn die Infofledermaus gefunden hat“, sagte sie und zwinkerte den von Greifendorfs zu.

„Nun.“ Praeguntia drehte sich zu Gesine von Greifendorf und strahlte sie an. „Freut mich, dass ich Ihnen helfen konnte. Ich muss weiter. Eine schöne Messe noch!“ Sie hob die Hand, winkte mit wildem Fingerspiel und eilte dann über den Platz davon.

„Eine wirklich nette Person, diese Praeguntia, nicht wahr?“ Gesine sah ihr nach, bis sie die blinkenden Ohrringe nicht mehr sehen konnte.

„Ziemlich wildes Styling“, sagte Kai.

„Habt ihr die Spinne in ihrem Haar gesehen?“ Gerrith musste grinsen.

„Ihre Frisur war vielleicht etwas extravagant, ja“, sagte die Vampirmutter.

„Frisur?“ Gangolf lachte laut auf. „Das war ein wirrer Haarhaufen, aber keine Frisur, wenn ihr mich fragt.“

„Meine Großtante Charlotte hatte mal ein Nest in einer solchen Frisur“, sagte Kurt.

„Aber Kurt ...“ Der Vampirvater sah den Raben ungläubig an.

„Doch, doch! Ehrlich! Das war die Perücke eines Herzogs. Ist aber schon lange her. War damals Mode.“

Gesine klatschte in die Hände. „Ja, ich erinnere mich. Ach herrje, war das stets ein Aufwand mit diesen Perücken. Und wie wir die immer gepudert haben. Weißt du noch, Gottfried? Zum Glück sind diese Zeiten vorbei.“ Sie blickte zu ihrem Mann, der zustimmend nickte.

„Ha-ähm ... Entschuldigung. Kai Flammersfeld?“

Eine dunkle Stimme ließ sie herumfahren. Gerrith machte dabei vor Schreck einen Satz in die Luft.

„Tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken. Torkel. Torkel Bierström.“ Torkel kam einen Schritt auf sie zu und gab einem nach dem anderen die Hand. „Wir sind verabredet, wenn ich mich nicht irre.“

Als er vor Kai stand, hielt er inne und sah ihn mit eindringlichem Blick an. „Du musst Kai sein“, sagte er leise. „Der FGD hat mir viel von dir erzählt.“

Kai nickte. Der hochgewachsene, hagere Vampir, der vor ihm stand, war ihm auf Anhieb sympathisch. Die Haare standen kraus vom Kopf ab und erinnerten Kai an das Bild des Wissenschaftlers, das er einmal in seinem Zimmer hängen gehabt hatte und auf dem ein weißhaariger Mann abgebildet war, der dem Betrachter die Zunge herausstreckte. Aus dem mit tiefen Falten durchzogenen Gesicht blickten zwei freundliche Augen, die in einem hellen Grün funkelten.

„Wollen wir?“ Torkel zeigte auf einen schmalen Weg, der sich rechts neben der Infogruft an den Gräbern vorbeischlängelte. „Ich habe dort vorn eine Besprechungsgruft für uns organisiert.“ Er fuhr sich mit den schlanken Fingern durchs Haar. „War gar nicht so einfach, die sind sehr begehrt, wissen Sie.“ Er ging voraus und bereits kurze Zeit später war der Trubel der Messe kaum mehr wahrzunehmen. Vor einer unscheinbaren Gruft machte er Halt, kramte einen Schlüssel aus der Tasche seines Umhangs und öffnete die Eisentür.

„Bitte sehr!“ Mit einer einladenden Handbewegung bat er Kai, die Großmutter und die von Greifendorfs in die Gruft, in der es nach Kais Geschmack überraschend gemütlich war. In den Wandnischen waren neben den Urnen Lampen aufgestellt. In der Mitte des Raumes stand ein runder Tisch, um den herum Sessel gruppiert waren. Auf dem Tisch brannte eine Kerze auf einem Totenkopf.

„Setzen Sie sich doch, bitte.“ Torkel zog die Tür zu und ließ sich in den letzten freien Sessel fallen.

Eine Zeit lang sagte keiner ein Wort. Torkel saß mit überkreuzten Beinen da und fixierte Kai und seine Freunde.

„Wie geht es dir, Junge?“, fragte er Kai nach einer Weile.

„Gut“, antwortete Kai.

„Der FGD hat mich über deine missliche Lage aufgeklärt. Ich bewundere deine Entscheidung, dich für deine Freundin derart in Gefahr zu begeben. Das muss ich zugeben.“ Er hielt kurz inne und fragte dann: „Bemerkst du schon eine Veränderung in dir?“

Kai schluckte und antwortete: „Nein.“

„Hm.“ Torkel nickte. „Gut. Wäre auch ein bisschen früh. Aber man weiß ja nie, wann es beginnt.“

Opa Gismo räusperte sich. „Wie Sie wissen, suchen wir einen Weg, um seine Freundin Sandra zu retten.“

„Ja, der FGD hat mir auch das erzählt. Ganz heikle Sache. Ganz heikel ...“

„Wie meinen Sie das?“, wollte Gutta wissen.

„Wie ich das meine? In Ihrer Haut möchte ich nicht stecken, so meine ich das.“

„Na, vielen Dank auch“, brummelte die Großmutter.

„Das, was Antonio Ihnen bereits gesagt hat, ist ja nur das Eine. Ihre kleine Freundin befindet sich an einem Ort, an dem sie ihren größten Ängsten begegnet. Sie entschwindet aus der Erinnerung derer, die sie kennen. Und unser junger Freund hier“, Torkel zeigte auf Kai, „wird sich in absehbarer Zeit zum Unschönen verändern. Ihre Zeit, um Sandra zu finden, ist also, freundlich ausgedrückt, etwas knapp.“

„Wie hinreißend, dass Sie uns daran erinnern, Herr Bierström!“ Gesine von Greifendorf rang verzweifelt die Hände.

Torkel beugte sich im Sessel nach vorn. „Verzeihen Sie, aber ich bin Wissenschaftler. Ich bevorzuge es, Dinge ungeschönt beim Namen zu nennen.“ Er ließ sich wieder in den Sessel zurückfallen. „Der FGD bat mich, nach Wegen zu suchen, wie Sie zu Sandra gelangen können. Und damit komme ich zu Ihrem anderen Problem.“

„Noch ein Problem.“ Gerrith atmete schwer aus.

Torkel blinzelte ihn an und verzog den Mund zu einem leichten Schmunzeln. „Grundsätzlich ist es durchaus möglich, den Weg eines Geatmeten nachzuvollziehen.“

„Eines Geatmeten?“, fragte die Großmutter.

„So nennen die alten Quellen diejenigen, die in den Spaltspiegel gesogen wurden.“

„Aber das sind doch gute Nachrichten!“ Kai rutschte nervös auf dem Sitzpolster hin und her.

„Sicher. Das Problem aber sind die Schlüssel.“

„Schlüssel? Was für Schlüssel?“ Der Vampirvater zog die Augenbrauen hoch.

„Tja, ich sagte ja, es gibt ein weiteres Problem. Glauben Sie mir, ich habe alles studiert, dessen ich zu diesem Thema habhaft werden konnte. Jedes noch so kleine Pergament habe ich aufgespürt und nach möglichen Wegen zu Ihrer Menschenfreundin gesucht. Aber die Quellen sind sehr verschwiegen. Es wird nur wenig über die Geatmeten erwähnt.“

„Bitte!“ Kai sprang vom Sessel auf. „Sagen Sie uns alles, was Sie wissen!“

„Das will ich gern tun, mein Junge.“ Torkel erhob sich. Im Kerzenlicht schienen seine Gesichtszüge hart und unwirklich. Seine Stimme wurde leise und finster. „Der Weg eines Geatmeten verliert sich in den dunklen Tiefen des Spiegels. Niemand kann ihm folgen. Kein Vampir. Kein Mensch. Nicht das kleinste Tier.“

„Aber Sebastian ...“

Torkel fuhr herum und blickte Gangolf so scharf an, dass dieser sofort verstummte. „Sebastian?“, rief er. „Sebastian mag einer der besten Spione des FGD sein. Aber hierüber weiß er nicht das Geringste. Nichts. Gar nichts!“

Gangolf setzte noch einmal an etwas zu sagen, doch wieder fiel ihm Torkel ins Wort.

„Hören Sie mir zu! Sebastian ist in den Spiegel gekrabbelt und hat dort Nebel und Spalten gesehen; Spalten, die sich zu schließen begannen. Aber alles, was er dort entdeckt zu haben glaubt, alles, kann auch eine Täuschung gewesen sein. Denn der Spaltspiegel lässt sich seine Geheimnisse nicht so einfach entlocken. Auch nicht von einer Schabe, sei sie auch ein noch so guter Spion.“

Kai sackte in den Sessel zurück. „Also keine Spur von ihr.“

„Nein.“ Torkel schüttelte den Kopf. „Aber das macht nichts.“

„Das macht nichts?“ Kurt hüpfte von Kais Schulter auf den Tisch.

„Genau, mein gefiederter Freund. Wir brauchen keine Spuren. Die sind sowieso nichts wert, da sie nicht verlässlich sind. Was wir brauchen, sind die Schlüssel!“ Das letzte Wort flüsterte Torkel, sodass es sich anhörte, als spräche er über ein großes Geheimnis. „Die Quellen sprechen von zwei Schlüsseln, mit deren Hilfe man ungehindert hinter den Spaltspiegel treten kann, um dem Weg eines Geatmeten zu folgen. Der eine, den die Quellen ‚das Auge‘ nennen, macht den Spaltspiegel durchlässig, sodass man in ihn hineinsteigen kann. Der Zweite bietet Schutz auf der anderen Seite. Auf der dunklen Seite ...“

„Auf der dunklen Seite?“, wiederholte die Großmutter leise.

„Genau. Wer hinter den Spiegel tritt, wird vom großen, dunklen Nichts umfangen. Undurchdringliches Schwarz und erdrückende Stille sind alles, was es dort gibt.“

„Das klingt ja fürchterlich. Und dort müssen wir hin?“, fragte Gerrith mit zittriger Stimme.

„Sicher, mein kleiner Freund. Der zweite Schlüssel leuchtet den Weg und gewährt Schutz, ohne den keiner in dieser Finsternis sein kann, der nicht dorthin gehört.“

„Führt der Schlüssel zu Sandra?“, wollte Kai wissen.

„Ich weiß es nicht. Über so etwas berichten die Quellen nichts. Es heißt lediglich, dass im Schein des Schlüssels die Nebel des Vergangenen sichtbar werden. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann.“

„Das ist doch immerhin etwas“, meinte Opa Gismo. „Wir brauchen also diese zwei Schlüssel und Antonios Spaltspiegel. Richtig?“

„Korrekt.“ Torkel nickte. „Wenn ich die Quellen ohne Fehl verstehe, benötigen Sie allerdings nicht zwingend denselben Spiegel, durch den Ihre Freundin gegangen ist. Ein beliebiger sollte es tun.“

„Wie finden wir auf der anderen Seite Sandras Spur?“, fragte Kai.

Torkel schwieg.

Kurt plusterte das Federkleid auf und schüttelte sich. „Der Spiegel sollte nicht das Problem sein. Aber was sind das für Schlüssel? Wo finden wir sie?“ Er stolzierte auf der Tischplatte auf und ab.

„Ich kann es beim besten Willen nicht sagen.“ Torkel zuckte mit den Schultern. „Das ist alles, was ich bisher herausfinden konnte. Ich werde natürlich weitere Nachforschungen anstellen und Ihnen sofort eine Brieffledermaus zukommen lassen, sobald ich etwas Neues erfahre.“ Er stützte die Unterarme auf die Rückenlehne des Sessels. „Es tut mir wirklich sehr leid. Ich wäre Ihnen gern behilflicher gewesen.“

Kai erhob sich und gab Torkel die Hand. „Sie haben Ihr Bestes getan. Vielen Dank, Herr Bierström.“

Torkel ging zur Tür und öffnete sie. „Ich wünsche Ihnen alles Gute“, sagte er, setzte einen Fuß über die Schwelle und hielt inne. Er drehte sich noch einmal um und blickte in die Gruft zurück. „Viel Glück! Ach, und ...“ Er nahm den Schlüssel der Besprechungsgruft und steckte ihn von außen ins Schloss. „Lassen Sie den Schlüssel einfach stecken. Es kümmert sich gleich jemand um die Gruft.“ Dann trat er ins Freie. Das Knirschen des feinen Sandes unter seinen Sohlen wurde leiser, bis es schließlich nicht mehr zu hören war.


In der Besprechungsgruft wurde es totenstill. Der Wind wirbelte einige Blätter hinein und spielte mit den Kerzenflammen, die tänzelnd zuckten. Ein Rinnsal aus Wachs lief die Totenkopfkerze hinunter, floss über den Schädel und bildete auf dem Tisch einen Fleck, der wie ein vierblättriges Kleeblatt aussah.

„Und nun?“ Kurts Stimme durchschnitt Stille. Er hüpfte auf Kais Schulter zurück.

„Ist ... Ist jetzt alles aus?“ Gerrith hatte das Gefühl, einen Kloß im Hals zu haben.

Die Großmutter sah Kai besorgt an. Tiefe Falten waren in ihre Stirn gegraben. „Aus? Oh nein, nichts ist aus! So schnell nicht! Allerdings schwirrt mir der Kopf. Ich brauche erst mal eine Tasse guten Tee und muss nachdenken. Kommt, fliegen wir zu mir und überlegen in Ruhe, was wir als Nächstes unternehmen. Einverstanden?“

Sie blickte in die Runde und erntete zustimmendes Nicken.

Gerrith verließ als Letzter die Gruft. Bevor er die Tür hinter sich zuzog, ging er zu dem Schädel auf dem Tisch und blies die Kerze aus. Dabei entdeckte er den fast verblassten Satz, der in feiner, geschwungener Schrift auf der Schädeldecke stand: „Immer der Sonne entgegen!“

Er schmunzelte, verließ die Gruft und folgte den anderen.

4

Rabak

Die schmale Sichel des abnehmenden Mondes brach durch die Wolken, als sie im Garten der Großmutter landeten. Schweigend strichen sie ihre Umhänge glatt und gingen den schmalen Weg entlang, der sich durch den Garten schlängelte.

Kai war tief in Gedanken an Sandra versunken. Wo sie wohl war? Wie mochte es ihr gehen? Um sich selbst machte er sich keine Sorgen. Zumindest noch nicht. Er fühlte tief in sich hinein und suchte nach irgendetwas, das sich vielleicht bereits verändert hatte. Eine Empfindung. Eine verblassende Erinnerung an seine Freundin. Doch alles war wie immer. Die Erinnerungen an Sandra waren so stark und gegenwärtig wie eh und je und auch das Sterben seiner inneren Welt hatte glücklicherweise noch nicht begonnen. Zumindest spürte er nichts dergleichen.

Was mochte mit dem anderen, dem Spiegel-Kai sein? Diese starke gegenseitige Verbindung, von der ihm sein Spiegel-Ich nach der Spaltzeremonie in Antonios Burg erzählt hatte, war noch da. Er empfand sie ganz deutlich, wenn er an den anderen Kai dachte. Aber diese Bindung verriet ihm nicht, ob das Spiegel-Ich begonnen hatte, sich zu verändern.

Plötzlich packte ihn jemand an der Schulter.

„Bleib stehen!“ Seine Oma legte den Zeigefinger auf die Lippen.

Kai blickte sie irritiert an.

„Da!“ Die Großmutter zeigte auf die Haustür. Sie stand offen.

„Ich habe sie zugeschlossen. Ich erinnere mich genau!“

„Du meinst ...“ Gerrith riss die Augen auf.

„Natürlich. Es wurde eingebrochen.“

„Das ist ja unerhört!“ Gesine von Greifendorf stemmte die Hände in die Hüften. „Was ist das nur für ein Verfall der Sitten? Einfach bei anderen Leuten einzubrechen. Also so was!“

„Wir müssen nachsehen, ob etwas fehlt.“ Gangolf wollte vorpreschen, doch die Großmutter hielt ihn zurück.

„Nicht!“ Sie schüttelte den Kopf. „Was, wenn der Einbrecher noch da ist?“

„Dann kann er etwas erleben!“ Gangolf knurrte und ließ seine dolchscharfen Eckzähne aufblitzen.

Kurt hob den Flügel. „Ich könnte mich als Späher anbieten.“

Doch die Großmutter winkte ab. „Das ist viel zu gefährlich!“

„I wo!“ Kurt zog diese Worte in die Länge und machte dabei eine kreisende Bewegung mit dem Kopf. „Als damals bei meiner Großtante Frenetia das Nest im Schlossturm geplündert wurde, habe ich das auch gemacht. Gar kein Problem!“ Und noch bevor die Großmutter ihn davon abhalten konnte, stieß er sich von Kais Schulter ab und segelte lautlos durch die Tür ins Haus, das ihn wie ein schwarzes Loch verschlang.

Gerrith schluckte. „Ob er weiß, was er tut?“

„Ich habe vollstes Vertrauen in seine Fähigkeiten“, flüsterte Opa Gismo.

„Kommt, wir schleichen uns etwas näher ran“, schlug Gangolf vor. Sie pirschten sich vorsichtig einige Schritte an das Haus heran und lauschten. Es war totenstill. Eine Windböe zerrte an den Baumkronen und riss Blätter ab, die durch die Luft tanzten. Gutta beobachtete gerade, wie eines der Blätter auf dem Haar ihres Vaters landete, als sie ein Geräusch hörte. Ein dumpfes Platschen kam aus dem Haus, das Rauschen von Federn; ein erschrockenes Krächzen folgte und schließlich zischte eine seltsam knarrende Stimme: „Weg, weg mit dir, du dummer Vogel!“

Dann sahen sie Kurt, der wie ein Blitz aus dem Haus geflattert kam.

„Ach Gott, ach Gott, ach Gott, ach Gott, ach Gott!” Der Rabe ließ sich auf Kais Schulter nieder und wippte aufgeregt von einem Bein aufs andere. „Leute, nee, ihr glaubt es nicht!“

„Was? Was ist denn?“ Der Vampirvater trat näher an Kurt heran. „Kurt, sprich! Was hast du da drin gesehen?“

„Der Arme sieht aus, als wäre er einem Geist begegnet“, stellte Gutta fest.

„So etwas Ähnliches war es, ja.“ Kurt schüttelte die Federn.

„Du hast einen Geist gesehen?“, fragte Gerrith ungläubig.

„Ich denke schon. Bestimmt. Doch, doch. Es muss ein Geist gewesen sein.“

„Nun mal schön langsam.“ Der Vampirvater strich dem Raben über den Kopf. „Was genau ist im Haus geschehen?“

Kurt atmete tief durch. „Also, passt auf! Ihr habt ja gesehen, mit welch professioneller Leichtfedrigkeit ich ins Haus schwebte, nicht wahr? Jede Strömungsschwankung ausnutzend glitt ich dahin. Lautlos. Schattengleich. Geradezu traumhaft ...“

„Kurt!“

„Entschuldigt. Hach, ich bin einfach so aufgeregt. Kurz vor der Haustür nahm ich noch einmal ordentlich Fahrt auf. Ein letzter, kräftiger Flügelschlag, und ich segelte ins Haus hinein.“ Kurt spreizte die Schwingen und wiegte sie hin und her. „Der Eingangsbereich war unauffällig, also bog ich mit einem raffinierten Manöver ins Wohnzimmer ab.“

„Und?“

„Und? Nichts war da. Nichts. Nicht das geringste Etwas. Und dann stieß ich gegen den Geist.“

„Bitte?“ Opa Gismo kratzte sich an der Stirn. „Da war nichts, und du bist gegen etwas gestoßen?“

„Exakt.“

„Kurt!“ Gesine von Greifendorf verdrehte die Augen. „Hör dir doch mal selbst zu. Das ergibt doch gar keinen Sinn!“

„Wenn ich es euch doch sage!“ Der Rabe reckte die Brust heraus. „Ich schwebte leichtfedrig, wie es eben so meine Art ist, ins Wohnzimmer und drehte eine Runde. Alles schien so wie immer. Es gab keinerlei Anzeichen unerwünschter Besucher. Dann kam ich an den Tisch.“

„Und da?“

„Ich betone nochmals: Ich hatte absolut freie Bahn! Nichts und niemand war zu sehen und dennoch wurde mein Flug abrupt gestoppt. Etwas Unsichtbares stellte sich mir in den Weg. Ich knallte dagegen und wäre ich nicht ein so herausragender Flugkünstler, um Haaresbreite wäre ich abgestürzt.“

„Sehr rätselhaft.“ Gutta biss sich auf die Lippe.

„Vor allem rüpelhaft, wenn ihr mich fragt. Denn kaum hatte ich meine Fluglage nach dem Zusammenprall stabilisiert, wurde ich aufs Übelste beschimpft! Ich beschloss, diesen Ort der Unfreundlichkeit zügig zu verlassen.“ Kurt schüttelte den Kopf. „So etwas ist mir wirklich noch nie passiert. Aber wie auch immer. Ich stelle fest: Da drin ist irgendetwas. Er, sie oder es ist unsichtbar, kann aber sprechen.“

Die Großmutter überlegte kurz, legte die Stirn in Falten und sagte dann mit fester Stimme: „Na schön. Wir können schlecht die Polizei rufen, also müssen wir das Problem allein lösen.“

Gangolf rieb sich die Hände. „Ha! Na endlich wird`s spannend!“

„Aber Geysira! Wie willst du das anstellen?“, fragte Gesine von Greifendorf.

„Wir werden uns ins Haus schleichen und den ungebetenen Besucher überrumpeln“, antwortete Oma Flammersfeld und kaum hatte sie das ausgesprochen, schlich sie auch schon auf Zehenspitzen auf das Haus zu.

Gutta zuckte die Schultern. „Jetzt wird sie aber mutig, was?“, flüsterte sie Gangolf zu, der bejahend nickte.

„Wenn das nur gut geht.“ Gerrith folgte zögernd. „Hoffentlich wisst ihr, was ihr da macht.“ Einer nach dem anderen huschte ins Dunkel des Hauses und schließlich stand auch Gerrith im düsteren Flur und spähte ins Wohnzimmer.


Alles war still. Der Raum lag finster da. Kai versuchte so gut es ging, mit seinen menschlich gewordenen Augen die Dunkelheit zu durchdringen. Er sah zum Tisch hinüber, wo Kurt gegen den geheimnisvollen Unsichtbaren gestoßen war. Nichts. Das Zimmer war genau so, wie sie es vorhin verlassen hatten.

Dann spürte Kai plötzlich, wie sich Kurts Füße in seine Schulter krallten. Und er konnte es auch sehen. Drüben am Bücherregal. Ein dicker Wälzer löste sich aus der Bücherreihe und schwebte in der Luft!

Kai schluckte. Aus dem Augenwinkel erkannte er, wie Gerrith mit offenem Mund auf das Buch starrte.

Wie von Geisterhand öffnete sich der Ledereinband. Eine gurrende Stimme ertönte. „Schlürf dich schlank – die Blutgruppendiät für den modernen Vampir. Von Mandarina Mommsen.“ Die Stimme lachte heiser. „Pah, die spinnen doch, diese Vampire.“ Mit einem lauten Knall schlug der Einband zu und das Buch schwebte zurück in das Regal.

„Wo könnten sie es versteckt haben? Irgendwo muss es doch sein ... Aua!“

Es gab einen dumpfen Schlag und der Tisch verrutschte ein Stück.

„Mist!“, fluchte die Stimme. „Blöder Tisch!“ Aus dem Nichts tauchte eine Hand auf und strich durch die Luft.

Gerrith biss sich auf den Zeigefinger, um nicht zu schreien.

„Was haben wir denn hier?“ Die Hand griff ins Regal und holte den Kolben hervor, in dem der Saft der Trügerischen Trautelbeere waberte, der Kais Vampiressenz enthielt und mit dessen Hilfe er wieder zu einem Menschen geworden war. „Sieht ja sehr seltsam aus.“

Der Kolben blieb in der Luft stehen und schwebte dann ins Regal zurück.

Die Hand bewegte sich nun in Richtung des Esstisches. Auf halber Strecke tauchte auf einmal ein Bein auf, das aber nach wenigen Sekunden wieder verschwand. „Oh nein!“, stöhnte die Stimme. „Immer dasselbe.“ Die Hand hielt inne und für einen kurzen Augenblick flackerten die Umrisse eines Körpers auf. „Nein, nein, nein“, fluchte die Stimme. „Nicht nachlassen!“ Der Körper wurde wieder unsichtbar und nur die Hand, das Bein sowie ein spitz zulaufendes Ohr, das wie das Ohr eines Hundes aussah, hingen noch in der Luft.

„Ich muss mich beeilen“, zischte die Stimme. Die Hand befand sich nun an der Obstschale auf dem Esstisch und griff nach einer Banane.

„Oh! Die habe ich aber lange nicht gesehen!“ Im Nu hing die Schale an der Frucht herunter und die halbe Banane fehlte.

„Mmmmh, einfach köschtlich!“, schmatzte die Stimme und schon war auch der Rest der Banane verschwunden. Die Schale flog in hohem Bogen durch die Luft und landete auf dem Sofa.

„Hier vielleicht?“ Kiwis, Pampelmusen und Apfelsinen flogen durch den Raum und kullerten über den Boden. „Nee, auch nicht.“

Schlurfend verschwand das unsichtbare Wesen in der Küche, aus der sogleich das Klirren von Geschirr zu hören war.

„Herrje, was passiert denn da?“ Die Großmutter schlich ins Wohnzimmer. „Wenn der mir mein gutes Geschirr zertrümmert, setzt`s was Saures, das kann ich euch flüstern!“ Sie krallte sich die Tagesdecke, die über dem Sofa hing.

„Was hast du vor?“ Die anderen folgten ihr vorsichtig in den Raum.

„Glaubt ihr, ich lasse mir hier alles verwüsten?“ Die Großmutter duckte sich hinter das Sofa und winkte Kai und die von Greifendorfs zu sich. „Den schnappen wir uns!“

Gerrith kniete sich als Letzter hinter das Möbel. „Den schna... Eeecht? Ja, aber wie ...“

Seine Schwester legte den Zeigefinger auf seine Lippen. „Pssst! Es kommt zurück.“

Sie lugten vorsichtig über die Rückenlehne. Die Küchentür wurde aufgerissen und das Wesen kehrte ins Wohnzimmer zurück.

„Ich glaubʼs einfach nicht.“ Es hob die Hand und kratzte sich am unsichtbaren Kopf, der daraufhin sichtbar wurde. Für einen Moment erschien auch der Körper des Wesens.

Kai wurde stocksteif. Was um alles in der Welt war das, was da vor ihnen stand? Der Körper des Wesens war schlank und drahtig und in Kleidung aus dunklem Stoff gehüllt. Die dünne Hose war um einiges zu weit. Die Hände, die aus den Ärmeln des Pullis schauten, waren mit einer bräunlichen, lederartigen Haut überzogen und hatten lange, dünne, seltsam anmutende Finger. Waren das die Hände eines Menschen oder eines Tieres? Kai kniff die Augen leicht zusammen und blickte in das Gesicht des Geschöpfes. Nein, so sah kein Mensch aus! Mochte dieses Wesen auch zwei Arme und zwei Beine haben und aufrecht gehen, so war es doch kein Mensch! Aus dem Gesicht ragte eine längliche Schnauze, die der eines Hundes glich. Die schwarze Nase bebte leicht, als ob das Wesen eine Spur witterte. Die spitz zulaufenden Ohren drehten sich wie kleine Radarschüsseln hin und her.

Es neigte den Kopf leicht zur Seite und die großen, braunen Kulleraugen blickten sich suchend um.

„Ob ich doch noch mal in den oberen Zimmern nachsehe?“ Es machte ein gurrendes Geräusch und riss dann das Maul weit auf und gähnte. Dolchartige Eckzähne blitzen dabei auf.

„Vielleicht habe ich ja etwas übersehen.“ Es hob den Arm und blickte auf die Hand. „Na, komm schon“, sagte es angestrengt und verzog die Lefzen. Die Konturen des Armes und der Hand verschwammen und wurden langsam unsichtbar. Ein Lächeln huschte über das hundeartige Gesicht, verschwand aber sofort, als Arm und Hand plötzlich wieder auftauchten.

„Mist!“ Enttäuscht senkte es den Arm. „Geht nicht mehr. Ich muss einen Moment warten.“ Es schnalzte mit der Zunge, schüttelte den Kopf und ging auf die Wohnzimmertür zu. „Ich versuch`s nachher noch mal.“

„Der will sich davonmachen“, wisperte die Großmutter und krallte die Finger fester in die Decke.

Das Wesen trat ans Sofa und drehte sich noch einmal ins Wohnzimmer um. Es murmelte etwas Unverständliches vor sich hin und gurrte.

In diesem Augenblick sprang die Großmutter auf und schleuderte die Decke über den Kopf des ungebetenen Besuchers. „Hab ich dich!“, rief sie und warf sich mit einem gekonnten Sprung auf das Wesen.

Es schrie auf. „Hilfe! Hilfe!“, brüllte es und die Stimme war so schrill, dass sie sich wie ein Pfeil durch die Luft bohrte und in den Ohren schmerzte.

Die Großmutter und der Unbekannte fielen zu Boden und rollten über die Dielen.

„Hilfe! Hilfe!“

„Nix da!“ Die Großmutter drehte das Geschöpf auf den Bauch.

Sofort sprang Gangolf zu ihr und packte die Hände des Wesens.

Kai war zum Esszimmerschrank gerannt und kam nun mit einem länglichen Tuch wieder.

„Sehr gut“, grinste die Großmutter und nahm Kai das Tuch ab. „Gangolf, lass nicht los, hörst du?“

Gangolf hielt die Hände des Wesens so fest, dass es aufstöhnte.

„Nein, sie töten mich, sie töten mich …“

„Ach, sei still!“ Die Großmutter band das Tuch flink um die Handgelenke des Geschöpfes und zog den Knoten fest zu.

„Aua!“

„Du sollst still sein! Wer einbricht kann keine Gastfreundschaft erwarten!“

Ein tiefes Fauchen drang aus der Kehle des Wesens. Jeder Muskel seines Körpers war angespannt und es stemmte sich mit aller Kraft gegen Gangolf und Kais Oma. Mit einem kräftigen Ruck schwang es sich auf, stieß die Großmutter und Gangolf von sich und versuchte, die Decke vom Kopf zu schütteln. Dabei knurrte und jaulte es wie ein Wolf. Es sprengte die Fesseln und riss sich die Decke vom Gesicht.

Für einen Augenblick schien es, als gewönne das Wesen die Oberhand. Es stürzte auf die Großmutter, packte sie an den Armen und bohrte ihr die spitzen Finger ins Fleisch.

„Ihr bekommt mich nicht, hört ihr? Ihr nicht!“

Es bleckte die scharfen Eckzähne und Kai schrie auf, als er sah, dass es versuchte, seine Oma in den Hals zu beißen. Er stürzte sich dazwischen, holte aus und versetzte dem Wesen einen derart starken Kinnhaken, dass dessen Kiefer knackte. Es stöhnte auf, ließ die Arme der Großmutter los und taumelte rückwärts. Ein langgezogenes Jaulen gellte durchs Wohnzimmer.

„Gut gemacht, mein Lieber, sehr gut!“ Gesine zog die Augenbrauen hoch und klopfte Kai anerkennend auf den Rücken. „Eigentlich verabscheue ich rohe Gewalt. Aber ab und an muss man Ausnahmen machen.“ Sie blickte auf das Wesen, das röchelnd am Sofa lehnte.

„So ein kleiner Kerl und so viel Kraft!“, staunte Opa Gismo.

„Habt ihr seine Eckzähne gesehen? Größer als unsere!“ Gerrith schüttelte den Kopf. „Wenn er zugebissen hätte ...“

Kai, seine Großmutter und die von Greifendorfs standen im Halbkreis vor dem seltsamen Besucher und blickten ihn an. Der seltsame Kerl hatte den Kopf gesenkt und versuchte, den bohrenden Blicken auszuweichen. Die Schnauze war leicht geöffnet und er hechelte in kurzen, hastigen Stößen. Blut lief über die Lippen. Er leckte es ab. Sein ganzer Körper zitterte.

Nach einer Weile hob er den Kopf.

„Und jetzt?“ Die Augen wanderten von einem seiner Bezwinger zum anderen und schließlich blieb sein Blick auf der Großmutter haften.

„Gute Frage“, sagte sie.

Er machte eine abweisende Kopfbewegung. „Ersparen Sie uns doch die Spielchen. Machen Sie es einfach kurz, ja?“

„Gern.“ Die Großmutter nickte. „Ganz wie Sie wünschen.“

„War ja klar.“ Er blickte verächtlich auf die Vampire. „Aber bitte, dann eben das volle Programm. Erst noch ein wenig Demütigung, oder? Ja? Das ist es, was Sie wollen? Bitte, nur keine Scheu.“

„Wovon spricht dieses … dieses Wesen?“ Gesine von Greifendorf blickte zu ihrem Mann. „Weißt du, was es meint?“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752121438
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (November)
Schlagworte
Horror Grusel Spannung Vampir Humor Kindersachbuch Sachbilderbuch Kinderbuch Jugendbuch Märchen Sagen Legenden

Autor

  • Hagen Röhrig (Autor:in)

Hagen Röhrig wurde in Pinneberg, Schleswig-Holstein geboren. Er wuchs in Gorxheimertal auf und lebt heute in Weinheim an der Bergstraße. An der Universität Heidelberg hat er Anglistik und Geographie studiert. In seiner Magisterarbeit ist er der Frage nachgegangen, wie der Vampiraberglaube wissenschaftlich erklärt werden kann und sich in der Literatur wiederfindet.
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Titel: Kai Flammersfeld und die Wahnnacht der Wolfire