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Das Café der vergessenen Träume

von Annabelle Benn (Autor:in)
256 Seiten

Zusammenfassung

Blumen, Kuchen, Bücher – wenn das nicht für die Liebe reicht! Helen könnte vor Freude durch ganz London hüpfen: Endlich habe sie und ihre Freundinnen Mina und Claire die perfekten Räume für ihre Geschäftsidee gefunden! Im Herzen Notting Hills verzaubert Mina mit ihren himmlischen Blumenarrangements, deren Duft sich mit dem von Claires köstlichem Kuchen vermischt. Zudem können die Gäste in handverlesenen Büchern schmökern, für deren Auswahl ausgerechnet Helen zuständig ist. Dumm nur, dass ihre heißgeliebten Thriller so gar nicht ins Bild passen. Liebesromane müssen es sein – natürlich! Aber ausgerechnet mit dem Kapitel Liebe hat die ehemalige Buchhalterin längst abgeschlossen. Das denkt sie zumindest, bis Mina und Claire ihr einen Liebesroman in die Hände drücken, der ihr Leben verändern wird. Nur so ist es nämlich zu erklären, dass sie sich in den einfühlsamen Schriftsteller Joseph verliebt. Er begegnet ihr mit dem Verständnis und Feingefühl, nach dem sie sich insgeheim immer gesehnt hat. Die beiden verleben traumhafte Wochen, bis Helen vor eine schwierige und folgenschwere Entscheidung gestellt wird: Joseph oder das Café. Ein Roman zum Wohlfühlen, Tagträumen, Seufzen, Hoffen und Bangen. Ein Roman über die Tatsache, dass man seinem Glück oft selbst im Weg steht.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


~ Eins ~

Der Tag, an dem Helen Ames in einem langärmeligen und dunkelblauen Kleid von der Portobello Road in die Westbourne Grove, beide im angesagten Londoner Stadtteil Notting Hill gelegen, einbog, war bei Weitem der wärmste und sonnigste in diesem verregneten April. Ein böiger frischer Wind blies um die schicken Hausecken und so war sie froh, dass sie zu dem ebenfalls dunkelblauen Mantel noch ein hellblaues Tuch angelegt hatte. Alle Kleidungsstücke, die Helen besaß, waren einfarbig, denn Helen hasste Farben und bunte Muster. Nur an sich; an anderen bewunderte sie diese nach wie vor, denn dass sie eintönig lebte, war nicht immer so gewesen. Bis zu dem schlechten Tag, der zwar schon mehr als drei Jahre her war, sich aber zeitweise wie gestern anfühlte, hatte sie gestrahlt und geleuchtet. Jetzt jedoch war es ihr lieber, wenn sie übersehen wurde.

Ihre Hände schwitzten und ihre Gedanken rasten, als sie an den liebevoll gestalteten Läden und Cafés entlangeilte, um schließlich links in die Straße mit dem zauberhaften Namen Butterfly Lane einzubiegen. Wie schön London doch sein konnte! Leicht hob sie den Blick und sah sich um. Wie schön und wie wohlhabend, oder sogar: unvorstellbar reich.

Vor den Häuschen parkten Porsches, BMW und Range Rovers; in den Vorgärten blühten die ersten Magnolien und ab und an kam ihr ein Kindermädchen mit einem Kinderwagen entgegen, der in etwa so viel wie eine Monatsmiete für ihr Kellerappartement, das immerhin in einer sehr schönen Gegend lag, kostete. Die meist zweistöckigen Häuser, die sich nahtlos aneinanderreihten, waren zwar ebenso unifarben, aber doch wesentlich farbenfroher als Helens Kleidung.

Auch hier lockte ein Laden neben dem nächsten zum Zeitvertreiben, Geld ausgeben und Träumen. Die Lage wäre ideal, um ihren eigenen Traum zu verwirklichen! Den Traum, den sie seit Jahren hegte; zunächst allein, doch bald schon zusammen mit ihren besten, und treusten, Freundinnen Mina Sharma und Claire Lewis. Wäre der schlechte Tag nicht schlecht geworden, sondern ein ganz normaler geblieben, wäre sie zwar um diese Uhrzeit wahrscheinlich nicht hier, aber falls doch, so würde sie zu den glücklichen Frauen gehören, die sich hier selbst gemachten Schmuck, von Londoner Designern entworfene Einzelstücke, aufwändig verziertes Geschirr, duftende und pflegende Seifen und dergleichen Dinge mehr anfassen, beschnuppern und schließlich erwerben würde. Aber da es nun einmal einen anfangs normalen Tag in Helens Leben gab, der schlagartig zu einem schlechten wurde, zu einem grauenhaft schrecklichen sogar, so hoffte sie nun, zumindest auf der anderen Seite der Ladentheke zu stehen; nämlich als Verkäuferin.

Auch in dem Laden, den sie sich ausmalten, würde es ganz betörend riechen. Denn Helen liebte Düfte. Den von Blumen, von heißem pechschwarzem Kaffee, von frisch gebackenem Kuchen und ja – ganz besonders den von Büchern. Und all das würde ihr Laden vereinen. Sie mussten nur noch die geeigneten Räume dafür finden.

Seit beinahe drei Jahren arbeitete sie Tag und Nacht für diesen Traum und sparte jeden Penny. Sie tat alles für den Traum; so viel, dass der Traum mit der Zeit so groß und mächtig wurde, dass sie Angst bekam, er könne beim Wahrwerden kaputtgehen. So, wie all die anderen Träume in ihrem Leben. Da Helen nur zu gut wusste, dass das Zerplatzen von Träumen einem selbst zwar ohnehin schon genug wehtat, aber überdies auch noch den Hohn und die Schadenfreude anderer nach sich zog, hatte sie nur Mina, Claire, deren Verlobten Sebastian und dem Immobilienmakler davon erzählt. Dass Mina und Claire ihren Eltern davon erzählt hatten, ging sie nichts an. Sie selbst sprach mit ihrer Familie seit Jahren nur das Nötigste, und der Traum von dem Blumen-Buch-Café gehörte bestimmt nicht dazu. Der Traum war ein Gefühl. Ein Gefühl von Freiheit, von Sinn, von Dazugehören, von Haftung. Er war das Einzige, warum und wofür sie überhaupt noch weiterlebte. Ohne ihren Traum wäre sie schon längst bei Georgie, ihrem Sohn, der niemals das Licht der Welt erblickt hatte.

Doch heute wollte Helen weder an ihn noch an die schwarzen Jahre denken. Heute wollte sie nach vorne schauen, und so ging sie mit ungewöhnlich federnden Schritten an mehreren strahlend gelb blühenden Goldfliedern vorbei, die leider nach nichts rochen, so tief sie auch einatmete und schnupperte. Das leuchtende Gelb symbolisierte für sie Freude und Aufbruch; etwas, von dem sie selbst träumte. Wie sehr sie hoffte, endlich aus ihrem alten Leben auszubrechen und neu anzufangen. Ganz neu. Ganz von vorne. Ob sie jemals wieder eine Partnerschaft wollte, bezweifelte sie sehr stark, doch das war nun gänzlich unwichtig. Vielleicht würde der Laden auch helfen, ihre inneren, unsichtbaren Wunden zu heilen. Von außen sah man keine Narben, aber dafür die Härte, die Verbitterung und Schwermut, die sich seit dem schlechten Tag immer tiefer in ihr fein geschnittenes Gesicht gegraben hatten. Dabei hatte sie früher gut ausgesehen. Nicht wirklich schön, aber hübsch und anziehend, teilweise sogar richtig begehrenswert. Doch so betrachtete sie sich schon lange nicht mehr.

Auf ihrem Weg ging sie an einer hohen Mauer vorbei, auf der lilafarbene, weiße und leuchtend gelbe Hyazinthen blühten. Wie herrlich die Blumen rochen! Tief atmete sie ein und sog die Lungen voll mit dem herrlichen Duft. Sie schloss die Augen und redete sich selbst immer wieder Alles wird gut zu. Alles wird gut.

Als sie die Augen wieder öffnete, erkannte sie die vertraute Dreier-Gruppe, die vor einer hellgelb getünchten Fassade mit einer großen Fensterfront stand. Schon winkten Mina und Claire, die zusammen mit einem großen schlaksigen Mann, Mr Simmonds von der Grosvenor’s Estate Agency, auf sie warteten. Jetzt ärgerte sie sich, dass sie getrödelt hatte, denn es war ihr peinlich, die Letzte zu sein, auch wenn sie genau eine Minute vor dem verabredeten Zeitpunkt eintraf. Mr Simmonds war immer überpünktlich, das hatte sie in all den Wochen, in denen sie sich regelmäßig, und ebenso regelmäßig erfolglos, mit ihm trafen, herausgefunden. Dabei legte der Mann mit dem schütteren Haar eine Engelsgeduld an den Tag und zeigte ihnen ein Geschäft nach dem anderen. Doch an jedem Einzelnen hatte bislang immer mindestens eine von ihnen etwas auszusetzen gehabt. Mal war es der Preis, mal die Lage; mal war es zu dunkel, mal zu hell – es gab immer einen Grund, warum sie bis heute keinen Mietvertrag unterschrieben hatten. Was ihnen anfangs wie ein Kinderspiel vorkam, hatte sich im Lauf der Zeit als Herkulesaufgabe entpuppt. Die drei sehnten sich nach nicht weniger als einem paradiesischen Raum, einem betörend duftenden, farbenprächtigen Blumenmeer, in dem die fesselndsten und gefühlvollsten Bücher wie geheime Juwelen funkelten und darauf warteten, von kundigen Leserinnen entdeckt zu werden. Um den Damen den Aufenthalt weiter zu versüßen, würde Claire ihr sowohl für das Auge als auch für den Gaumen unwiderstehliches Gebäck zusammen mit erlesenen Kaffeespezialitäten anbieten.

Da riefen Mina, eine bildhübsche und gertenschlanke Inderin mit weichen, fließenden Bewegungen und Augen wie schwarze Glut, und Claire wie aus einem Munde „Guten Morgen!“ Claire war, rein äußerlich, das komplette Gegenteil von Helen, deren lange Haare dunkelbraun glänzten. Sie war zwar in etwa gleich groß, allerdings etwas fülliger. Ihre Haut war cremeweiß, ihre Augen sommerhimmelblau und ihre glänzenden Locken honigblond. „Einen wunderschönen guten Morgen!“, rief Helen gut gelaunt und voller Zuversicht in die Runde und reichte dem Makler die Hand.

Mina und Claire grinsten breit, ja, sie strahlten vor Lebensfreude und traten nervös von einem Fuß auf den anderen. Als Helen durch die noch verschlossene Tür in das dunkle Innere spähte, überkam sie ein eigenartiges Gefühl. Eines, wie wenn man bei einer Dampferfahrt über den Atlantik nach Wochen zum ersten Mal Land erblickt. Nicht, dass sie das jemals getan hätte, aber so in etwa musste es sich anfühlen. Mit angehaltenem Atem und weit aufgerissenen Augen wandte sie den Kopf zu ihren Freundinnen, die eifrig nickten. Helens Herz schlug so laut, dass Mr Simmonds es bestimmt hören konnte.

Aufgeregt folgten erst Mina, dann Claire und schließlich sie dem Makler durch die Tür mit naturbraunem Rahmen, in deren oberen Hälfte eine Fensterscheibe eingesetzt war. Während sie noch auf dem Gehsteig stand, hörte sie schon Minas und dann Claires unterdrücktes Kreischen. Der große, hohe Raum mit Stuck an der Decke war: Es! Das, wonach sie immer gesucht hatten. Das, wo ihre Träume wahr werden würden! Er war breit, durch die breite Glasfront hell, hatte einen dunkelbraunen Holzboden und vor allem: Er lag mitten in Notting Hill!

„Okay, okay, immer mit der Ruhe, Mädels“, raunte Claire und drückte mehrmals die flache Hand Richtung Boden, um ihre Worte zu bekräftigten. Nicht umsonst war sie die Tochter eines erfolgreichen Geschäftsmannes, der ihr so einiges, aber längst nicht alles, beigebracht hatte.

„Es – Mr Simmonds, auf den ersten Blick sieht es fantastisch aus. Keine Frage. Aber zeigen Sie uns doch bitte erst mal alles in Ruhe und dann sprechen wir gegebenenfalls über den Preis und die Konditionen.“

Kaum hatte sie „in Ruhe“ fertig ausgesprochen, quiekte Mina wie ihr Meerschweinchen, das vor Kurzem das Zeitliche gesegnet hatte. Sofort warf Claire ihr einen finster funkelnden Blick zu, woraufhin sich Mina die perfekt manikürte Hand vor den Mund schlug. Mehr als einmal hatte Claire eindringlich erklärt, dass man, um einen möglichst guten Preis zu erzielen, zunächst Desinteresse zeigen sollte. Dafür sollte es zwar schon zu spät sein, aber man sollte nie die Flinte zu schnell ins Korn werfen!

„Ja, die Räume sind sehr hoch. Viel höher, als man von außen vermutet. Das ist einerseits schön, andererseits ist es aber bestimmt sehr teuer zu beheizen, nicht wahr? Wie hoch waren denn die Heizkosten des letzten Mieters?“, erkundigte Claire sich fachkundig und stellte sich mit ernstem Gesichtsausdruck neben Mr Simmonds, der daraufhin in seinen Unterlagen nach der Antwort suchte.

Währenddessen warfen Helen und Mina sich verstohlene Blicke zu. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, hätten sie sofort unterschrieben, allein aus Angst, dass ihnen jemand, der nicht so viel auf geheucheltes Desinteresse hielt, dieses Prachtstück in letzter Minute vor der Nase wegschnappen könnte. Und das würden sie Claire niemals verzeihen!

Schweigend und mit sehnsuchtsvoll glänzenden Augen schauten sie sich um. Der Fußboden war Liebe auf den ersten Schritt. Nicht nur, dass er aus mattem, dunklem Holz bestand. Nein, er knarzte auch noch leicht, was Helen in, nur Claire zuliebe, stummes Entzücken versetzte. Mit einem verträumten Lächeln verlagerte sie immer wieder langsam ihr Gewicht, machte ein paar Schritte hierhin und dorthin, nur um das Geräusch zu hören, und wartete darauf, dass Claire genug mit dem geduldigen Makler verhandelt hätte.

„Die Toilette hat der letzte Kunde vor etwas mehr als einem Jahr erst neu installiert. Sie ist so gut wie neu. Hier, sehen Sie selbst“, erläuterte er nun, führte sie in besagten Raum und erntete zustimmendes Nicken. „Sehr schön. Schlichtes weiß und doch ansprechend“, kommentierte Claire und folgte ihm in die kleine Küche. „Die ist für mein Vorhaben viel zu klein. Die werden wir erneuern müssen“, urteilte sie umgehend in kaltem Geschäftston. Als der Makler und Claire daraufhin in ein ausuferndes Gespräch über Anschlüsse, Dunstabzug und dergleichen mehr versanken, schlichen Mina und Helen zurück in den breiten, lichtdurchfluteten Verkaufsraum.

„Ich sehe es schon vor mir!“, wisperte Mina aufgeregt und zupfte Helen am Ärmel. „Da rechts kommt Claires Cafétheke hin. In die Mitte stellen wir einen Brunnen, oder ein Zimmerbäumchen, oder irgendetwas, das die Blumen in den Mittelpunkt rückt, schließlich kommt man von der Eingangstür genau darauf zu.“ Mit leuchtenden Augen zeigte sie den Weg. „Und dort links, an den Wänden und überall dazwischen verteilt, sind dann deine Liebesromane.“ Verzaubert seufzte sie, faltete die Hände und ließ ihren Blick schweifen.

Helen hätte sich gerne genau so verhalten wie Mina, doch etwas störte ihr Glücksgefühl empfindlich. „Moment mal. Liebesromane? Wieso denn Liebesromane?“

„Was? Wie?“, entgegnete Mina ebenso entgeistert, schüttelte den Kopf und sah sie an, als spräche sie Suaheli mit chinesischem Akzent. „Aber was denn sonst?“

„Nun – Also. Ich meine, ich kann doch nur empfehlen, was ich selbst gelesen habe!“, rief Helen, streckte das Kinn vor und machte ein Gesicht, als hätte sie ein Gespenst mit einem Plakat "Finde den Fehler" gesehen.

„Aber. Helen“, stieß Mina ungläubig hervor. „Das ist doch nicht dein Ernst!“ Einige Augenblicke schauten die zwei sich schweigend und fassungslos an. Dann begann Minas indisches Temperament in ihren Adern zu brodeln. Sie ruderte mit den Armen und begann wie ein Rohrspatz am Wasserfall zu zetern: „Mach doch nur die Augen auf und sieh dich um. Ich meine“, verbesserte sie sich hastig, „stell dir das alles mal vor. Rein bildlich. Rosen. Tulpen. Veilchen. Fein verzierte Cupcakes. Duftendes Bananenbrot. Kaffee mit echter Vanille. Zimt. Ein kleiner Springbrunnen! Überall rosa, hellblau, lindgrün, eierschalengelb. Ein Frauentraum! Und dazwischen blutrünstige Thriller? Helen, das ist doch nicht dein Ernst! Davon hast du doch nicht all die Jahre geträumt!“ Aufgebracht schüttelte sie sich, während Helen wie versteinert vor ihr stand. Doch als Inderin war sie noch lange nicht am Ende. „Im Ernst. Helen. Keine Frau träumt von Leichen! Zumindest keine normale. Keine, die hier reinkommt! Bücher mit einer blutüberströmten Axt vorne drauf? Oder hoch anspruchsvolle, kaltblaue Titelbilder, durch die ein einsamer weißer Strich von links unten nach rechts oben geht? Nichts weiter als ein einziger Strich? Weil sich das Paar am Ende doch mal wieder nicht kriegt? Und dazwischen nichts zu sagen hat? Ich bitte dich. Helen! Das ist jetzt nicht dein Ernst. Sag, dass das nicht dein Ernst ist!“, flehte sie nun theatralisch mit den Händen fuchtelnd, verzog ihr hübsches Gesicht zu einer grässlichen Grimasse, ging leicht in die Knie und gab schlimmste Klagelaute von sich.

Helen wusste nicht, ob sie selbst ähnlich Laute von sich geben oder lachen sollte. Das Entsetzliche an der ganzen Litanei war ja, dass Mina recht hatte. Aber genauso sehr hatte sie recht, denn sie konnte niemandem einen Liebesroman empfehlen, weil sie schlichtweg keinen einzigen kannte. Und sie wollte sie nicht kennen, weil sie nichts von Verliebtsein wissen wollte und nie mehr daran glauben würde. Liebe war Leid. Liebe war Lug und Betrug. Und Liebe war ein längst verwester Traum, den sie nicht mehr träumen konnte, weil das Paar am Ende in echt eben nicht glücklich wurde!

„So, dann wäre das also geklärt“, vernahm sie da Mr Simmonds’ Stimme und seine Schritte auf dem knarzenden Parkett. Schnell riss Helen sich aus ihrer Starre und Mina richtete sich auf. Gespannt schauten sie von Claire zu Mr Simmonds und zurück zu Claire, doch aus keinem Gesichtsausdruck wurden sie schlau. Bescheuertes Desinteresse!

Oder hatte Claire etwa mit ihrer Coolness den netten Makler vergrault? Hatte sie wieder zu hart verhandelt? Waren sie am Geld gescheitert, oder gab es noch etwas zu retten?

Helens Puls begann zu rasen. Das hier musste klappen! Sie wollte diesen Laden, sie wollte diesen Traum, mit allem, was dazugehörte, und seien es erlogene und erstunkene Schnulzen! Sie wollte raus aus dem unerträglichen Büro mit seinen endlosen Zahlenkolonnen, weg von den hinterhältigen Kollegen und dem niederträchtigen, sadistischen Chef, raus und weg! Ausbrechen und neu anfangen. Sie wollte endlich ihre Tage mit ihren Freundinnen verbringen, Blumenduft atmen, heißen und pechschwarzen Kaffee trinken und ihre Finger dabei über Buchrücken streichen lassen. Das war es, was sie wollte, weit mehr als alles andere. Es war sogar das Einzige, was sie überhaupt noch wollte. Für den Traum würde sie ihren letzten Penny geben und sogar, möglicherweise … vielleicht … Lügen mit Happy End verkaufen. Ein kleines Opfer musste man ja wohl bereit sein, zu bringen.

Sie musste verhindern, dass Claire mit ihrer Taktik alles zunichtemachte!

„Wie viel?“, platzte es da schon aus ihr heraus und machte damit ihrerseits alles, was Claires Taktik mühevoll aufgebaut hatte, zunichte.

„Wenn wir sofort unterschreiben?“, fügte Mina zu allem Überfluss noch blitzschnell hinzu, was Claire endgültig in tiefste Verzweiflung und beinahe in eine ähnliche Pose wie zuvor Mina stürzte.

Der Preis, den der Makler nannte, löste bis auf die Straße hörbares Schlucken und Nach-Luft-schnappen aus, sowie die krächzend hinzugefügte Bitte um Bedenkzeit. Und die Blicke, die Claire den, wenn man sie in diesem Moment überhaupt noch als solche bezeichnen konnte, Freundinnen zuwarf, waren wie frisch gewetzte Säbel.

Dann jedoch entsann Claire sich, richtete sich auf, straffte die Schultern, zückte ihr Smartphone, drückte „Filmen“ und schritt mit wichtigen, großen Schritten erneut durch die Räume. Sie filmte sichtbare und weniger sichtbare Mängel, und auch solche, die es gar nicht gab, kommentierte, kritisierte und erläuterte und schickte die Aufnahme schließlich an ihren Vater, der schon anrief, bevor er das Video überhaupt zu Ende gesehen haben konnte. Claire presste das Handy ans Ohr, hob den Zeigefinger und ging, konzentriert mit dem Kopf nickend, nach draußen.

Nach einer unendlich erscheinenden Weile, in der sich die drei Zurückgebliebenen ausgiebig mit ihren Fingernägeln beziehungsweise Handys beschäftigten, ohne sich um Small Talk zu bemühen, kehrte Claire zurück. Keinen Widerspruch duldend, aber dennoch freundlich lächelnd, schaute sie Mr Simmonds an und sagte: „Sieben Komma drei Prozent weniger, und wir unterschreiben noch heute Nachmittag.“

Mr Simmonds Mundwinkel zuckten, bevor sie sich hoben und er Claire seine Hand entgegenstreckte. „Sieben. Abgemacht. Dann bis heute, siebzehn Uhr dreißig in meinem Büro.“

Damit schloss er die Tür ab, verabschiedete sich von den dreien, von denen zwei wie belämmert grinsten, und war vermutlich noch nicht außer Hörweite, als sie in ohrenbetäubenden Jubel ausbrachen.

~Zwei~

Die Unterschrift war jedoch erst der Anfang: Vom Glück, aber auch von einem weitaus steinigeren Weg, als Helen gedacht hatte.

In ihrem grenzenlosen Optimismus, und wohl auch in dem Wissen, weich zu fallen, hatte Claire bereits vor Weihnachten von sich aus ihre Arbeitsstelle gekündigt, während ein paar Wochen später Minas Vorgesetzte diesen Schritt für sie übernahmen. Nun musste nur noch Helen sich jeden Morgen in die Räume des Grauens, wie sie die Steuerkanzlei heimlich nannte, quälen. An den meisten Abenden sowie am Sonntag verkaufte sie in einem Multiplex-Cinema zudem Karten, um Geld für die Einrichtung des Ladens in der romantischen Butterfly Gardens Straße zu sparen.

Glücklicherweise belief sich zumindest ihre Kündigungsfrist aufgrund eines Fehlers im Vertrag auf lediglich zwei Wochen zum Monatsende, was im Klartext bedeutete, dass sie dank des nicht genommenen Urlaubs keinen Tag mehr in dem verhassten, ständig unterkühlten Glaskasten am Themse-Ufer verbringen musste! Als ihr dies das erste Mal bewusst wurde, seufzte sie, faltete die Hände und atmete tief ein. Da ihr dies jedoch zu wenig war, sprang sie anschließend mit einem Freudenschrei in die Luft, wobei sie dummerweise an die Kante eines Tisches stieß, was ihr eine zerbrochene Tasse sowie einen gewaltigen blauen Fleck einbrachte, ihre Freude aber trotz allem nicht trüben konnte. Doch was war das schon im Vergleich zu dem großen Glück, das sich nun verheißungsvoll vor ihnen erstreckte!

Oh! Und der Triumph, der ihr Gesicht wie tausend Feuer leuchten und ihre Schritte federn ließ! Der Triumph, mit dem sie am nächsten Tag, pünktlich zu Dienstbeginn, ihrem zunächst ungläubig, dann erschrocken und schließlich entsetzt dreinblickenden Chef ihre Kündigung überreichte und versicherte, dass dies ihr voller Ernst war. Endlich! Endlich hatte sie es ihm gezeigt! Endlich hatte sie sich zumindest ein klein bisschen gerächt. Und wie sehr sie es genoss, die wenigen persönlichen Sachen in einen blauen Leinenbeutel zu stecken und sich anschließend kurz und erhobenen Hauptes von den Kollegen, die nie Freunde geworden waren, verabschiedete.

Dann schwang sie den Beutel über die Schulter und lief zum ersten und letzten Mal die Treppen hinab und hinaus. Nie wieder! Nie wieder Sklave sein! Das war ihr Leben! Jawohl!

Eins, auf das sie anscheinend aufpassen musste, denn schon bei den ersten Schritten wäre sie mit einem Fahrradkurier zusammengestoßen, der ihr gerade noch im letzten Sekundenbruchteil ausweichen konnte. Mit vor Schreck pochendem Herzen ging sie die wenigen Schritte zum Themse-Ufer. Große und kleine Schiffe schipperten über den alten Fluss, ein paar Möwen segelten scheinbar schwerelos durch die Luft, in einem Pub unter ihr, direkt am Wasser, saßen plaudernd oder mit ihren Handys beschäftigt Einheimische und Touristen. Herrlich. Traumhaft, und doch wahr. Sie war frei! So frei wie der Papagei, der auf einem Werbeplakat abgebildet war. Kurz vor dem Abheben. Er breitete gerade seine farbenprächtigen blauen und gelben Flügel aus und war kurz davor, den Kontakt mit der Erde zu verlassen. Gleich würde er sich hochschwingen und fliegen. Freiheit, das war die Freiheit, von der sie träumte! Doch, Moment – was war das? Eine Werbung für ein Buch! Auf den Schwingen der Einsamkeit. Das passte ja gar nicht. Aber egal, es war ein schönes Bild, und es passte so hervorragend zu ihrem Gefühl, dass sie spontan ein Foto davon knipste.

Beschwingt von so viel lange begrabener Lebensfreude machte sie sich in einem der roten Doppeldeckerbusse auf den Weg zu dem künftigen Ort ihres Wirkens, dem Ort ihrer Selbstverwirklichung; und wenn es sich nicht vermeiden ließ, dann mit Liebesgeschichten.

„Herein, herein!“, rief Mina freudig, als sie eine gute halbe Stunde später überwältigt und zitternd vor Glück durch die halb offene Tür in ihren Laden spazierte. Mina und Claire saßen auf kornblumenblauen und klatschmohnroten Kissen und einer dottergelben Decke und standen in ihren kräftig grünen Kleidern auf, um sie strahlend an sich zudrücken. „Ach, was ist das schön“, seufzten sie ein ums andere Mal, wobei sie sich drückten, umschauten und jede ihrer eigenen Vorstellung von dem fertig eingerichteten Blumen-Buch-Café nachhing.

Dabei war der Raum noch kahl. Lediglich eine große runde Vase mit verschiedenfarbigen Tulpen, drei bunt zusammengewürfelte Tassen, Kuchenteller und Gläser, eine alte Kaffeemaschine, eine Platte mit Muffins sowie Milch und Wasserflaschen standen außer der Decke und den Kissen noch herum. Die drei setzten sich wie zu einem Picknick, Claire bot Muffins an und schenkte Kaffee ein (schwarz und siedend heiß, so wie Helen ihn mochte) und dann machten sie sich an die Arbeit. Mina balancierte ihren pastellrosaroten Laptop auf ihrem pastellgrünen Kleid, während Claire mit gespitztem Bleistift und dem neuesten Notizbuch von Paperchase dasaß. Helen fiel auf, dass darauf ganz ähnliche Papageien wie auf dem Werbeplakat waren. Mit dem Kinn zeigte sie auf das Büchlein und sagte: „Bei den Vögeln muss ich immer an Freiheit und Neubeginn denken. Das passt ja prima!“

Nachdenklich schaute Mina von ihrem Bildschirm auf, nickte und sagte ernst. „Ja, das ist ein gutes Zeichen. Ein sehr gutes Zeichen.“

Genau das hatte Helen hören wollen, was sie aber nicht laut sagte, und so nickte sie einfach stumm.

„Also, wir überlegen gerade, wie wir alles einrichten könnten und welche Arbeiten noch zu tun sind.“

Mit einem schmerzvoll verzogenen Gesicht drehte Claire ihre fein säuberlich verfassten Notizen zu Helen und stöhnte: „Das hier ist die Liste mit den Renovierungsarbeiten.“

„Oh …“, entwich es ihr und ihre Gesichtszüge entglitten. „So lange ist die?“ Sie schluckte trocken und schaute bestürzt ihre Freundinnen an.

„Ja, leider. Es ist doch mehr zu tun, als wir dachten“, gestand Claire kleinlaut, weil sie sich ja ein wenig als Fachfrau aufgespielt hatte, und begutachtete eingehend ihre zartrosa lackierten Fingernägel, die sie drehte und wendete.

„Ach …“, machte Helen nur und war froh, dass sie schon saß. Von wie viel Geld sprachen sie denn? Und wie lange würden die Arbeiten dauern? Das alles konnte ja ausufern, das wusste man doch! Vielleicht war das ein Fass ohne Boden und sie würden sich bis an ihr Lebensende verschulden. Rohrbruch, defekte Heizung, undichte Fenster … Das alles wusste man doch! Wo war in der blinden Euphorie nur ihr sonst so zuverlässiger Verstand geblieben? Die bis eben noch so fröhliche Stimmung drohte zu kippen, als Mina gerade noch rechtzeitig betont gelassen rief: „Aber nichts, was unmöglich ist! Nichts, was unbezahlbar teuer ist!“

„Echt?“, fragte Helen und schöpfte neue Hoffnung, was aber weniger an ihrem in den letzten drei Jahren argwöhnisch gewordenen Naturell, als vielmehr an dem Unwillen, den Traum aufzugeben, lag.

„Ja. Sicher. Wir können ganz viel selbst machen“, stimmte Claire nickend zu.

„Ich hasse Heimwerkern. Und ich habe zwei linke Daumen“, seufzte Helen und sah sich in Gedanken schon Tapeten abkratzen und Böden abschleifen. Wobei – das nicht! Die Böden mussten so bleiben, wie sie waren. Sie waren doch das Allerschönste an dem noch nackten Raum. Die Böden und die breiten Fenster. „Sind die Fenster wenigstens dicht?“, fragte sie sorgenvoll.

„Ja, das sind sie. Ein Glück!“, gab Claire zu.

„Und mach dir keine Sorgen. Sebastian hilft uns ebenso wie meine Brüder. Und vielleicht auch Jim, wenn er Zeit hat“, beruhigte Mina.

Sebastian war Claires Langzeit-Verlobter, der in der Tat mal gerne seine Designer-Anzüge gegen lässige Arbeitskleidung eintauschte. Aber Jim … Helens Magen zog sich zusammen.

„Oh … Jim … Im Ernst?“, fragte sie voller Unbehagen und schaute auf den schönen Boden. „Das ist aber nett von ihm“, fügte sie hastig hinzu, um dessen Cousine Claire nicht zu kränken.

„Das ist es in der Tat!“ Claires Stimme klang plötzlich scharf und ihr kalter Blick durchbohrte Helen. „Der Mann ist wirklich Gold wert. Total. Warum gibst du ihm nicht endlich eine Chance?“

„Und dir“, fügte Mina zaghaft hinzu.

„Jim – ach, lasst mich doch endlich mal mit ihm und dem ewigen leidigen Thema zufrieden!“, fauchte Helen böser, als sie sich selbst bewusst war. „Ich brauche keinen Mann. Nie mehr! Wann kapiert ihr das endlich mal?“

„Nie“, gab Claire entschieden zurück. „Jeder Mensch sehnt sich nach Liebe. Auch du. Du bist nur feige!“

„Bin ich nicht. Ich habe nur meine Lektion gelernt!“, keifte Helen. „Nur Dumme lernen nicht aus Fehlern!“

„Eben! Stuart war ein Fehler! Das heißt nicht, dass alle Männer einer sind!“

„Doch. In meinem Leben schon! Alle Männer waren einer! Alle!“, schrie sie, stand auf und stampfte mit dem Fuß auf das Parkett.

„Hört auf. Bitte“, stöhnte Mina und versuchte, den Frieden und die Harmonie wiederherzustellen. Mit ruhiger Stimme sprach sie weiter und wrang dabei die Hände. „Wir wollen doch nur dein Bestes, Helen, das weißt du doch. Wir akzeptieren auch, dass du deine eigenen Entscheidungen fällst. Aber wir sehen eben auch, dass du insgeheim leidest! Niemand mit einem gesunden Herzen würde so einen Traummann wie Jim verschmähen“, versuchte sie einen schwachen Scherz. „… Hach! Wenn er sich nur für mich interessieren würde! Wir wären schneller verheiratet, als ihr bis Drei zählen könnt“, rief sie schmachtend, legte die Hände über der Brust zusammen und schaute verträumt zur Decke.

Jemand mit einem gesunden Herzen. Das tat weh. Weh, weil es die Wahrheit war: Ihr Herz war krank. Und weh auch deshalb, weil ihre Freundinnen das sahen. Sie schwieg eine Weile, bevor sie ruhiger sagte: „Ich weiß! Danke, Mina. Ich verstehe übrigens auch nicht, warum er nicht auf dich steht, Mina. Echt nicht! Jeder andere Mann könnte sich die Finger nach dir ablecken.“

„Vielleicht ist er Rassist“, konterte Mina umgehend und schaute grimmig drein.

„Das ist er nicht!“, verteidigte Claire sofort ihren Cousin. „Er steht nur einfach nicht auf dich.“

„Das weiß ich doch“, beschwichtigte Mina sie nun. „Im Ernst, das weiß ich. Ich bin ihm zu mädchenhaft. Egal.“

„Und wenn er kommt, kommt er, um uns zu helfen. Dass er auf dich steht, wird er nicht abschalten können, aber er hat dich auch noch nie blöd angemacht, oder?“, fragte sie nun herausfordernd an Helen gewandt.

„Nein, noch nie. Es ist mir nur unangenehm, weil ich weiß, dass er was von mir will.“

„Was du ihm ja nicht geben musst. Also“, beendete Claire das Thema und stand ebenfalls auf.
„Von mir kommen ja übrigens auch noch ein paar Cousins“, fügte Mina hinzu und Helen staunte wieder einmal über die große und weit verzweigte Verwandtschaft der Sharmas.

„Also, weiter im Geschäft. Das hier ist die Liste mit den nötigen Arbeiten. Sobald wir alle Posten zusammen haben, erstellst du, Helen, einen Businessplan, mit dem wir zur Bank gehen, um einen Kredit zu beantragen“, fasste Claire zusammen und lächelte beinahe wieder.

„Wie bitte? Kredit?“ Helens Kehle war trocken wie die Sahara. Ihr vom Mund abgespartes Geld war alles, was sie hatte. Und ohne Sicherheiten gab es kein Geld von der Bank. „Kredit?“

„Ja, sicher! So 120 000 bis 150 000 Pfund werden es schon werden …“, begann Claire mit todernster Miene und sah sich um.

„Was?“, kreischte Helen fassungslos, schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte auf.

„Oh Helen!“, rief Mina, sprang auf und eilte zu ihr. Fürsorglich legte sie einen Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. „Mensch Claire, du und deine blöden Witze!“, schimpfte sie.

„Sorry, Helen. War nicht böse gemeint. Aber du nimmst immer alles so ernst, da kann ich manchmal einfach nicht widerstehen …“, entschuldigte sich Claire. „Streich eine Null, dann kommen wir der Sache näher.“ Sie tätschelte Helens Rücken und fuhr einfühlsam fort. „Aber im Ernst: Nimm doch nicht immer alles gleich so bitterernst. Lach doch mal wieder!“ Dabei schaute sie Helen aufmunternd in die Augen.

Claire hatte ja keine Ahnung, wie schwer und grau ein Leben sein konnte, dachte Helen, nickte aber tapfer.

„Keine Sorge, mein Vater bürgt für alles. Nur schreiben müssen wir den Plan selbst. Das heißt, du, Helen, du kannst das am besten.“

„Ach so!“ Erleichtert atmete Helen aus. „Dann ist es kein Problem.“

Die drei jungen Frauen teilten sich während des Colleges eine Studenten-WG. Während Claire Latein und Griechisch studierte (nichts, was man jemals gebrauchen könnte, aber alles, was für eine gebildete Ehefrau nötig war, und die sollte sie ja werden), studierte Mina Modedesign und Helen Literatur. Lange war das her … Dabei hätte ihr damals schon klar sein müssen, dass sie niemals fürs Lesen bezahlt werden würde! Damals … Da war sie noch voller Träume. Träume, die sie damals beinahe gelebt hätte, wenn sie nicht gezwungen gewesen wäre, von jetzt auf gleich für sich selbst zu sorgen. Denn von dem mageren Praktikantin-auf-Lebzeit-Gehalt bei einem anspruchsvollen Verlag konnte sie ohne Stuarts Einkommen nicht leben, und so schloss sie zähneknirschend den von Stuart nachdrücklich empfohlenen und im Voraus finanzierten Buchhaltungskurs ab. Das Zertifikat war das einzig Brauchbare, was er in ihrem Leben hinterlassen hatte, denn damit fand sie rasch eine verhältnismäßig gut bezahlte Stelle. Der Rest war nur Schutt, Asche und ätzende Säure und noch immer diese unermessliche Wut. Wut, die sie zwar gelernt hatte, im Zaum zu halten, die jedoch immer wieder auflodern konnte. Besonders dann, wenn sie an Stuart, seinen Betrug, seine Lügen, seine Bevormundung und Georgie denken musste. So wie jetzt. Aber sie wollte nicht an ihn denken, nie wieder, denn er hatte ihr Leben zerstört. Er hatte sie zerstört, zumindest fast, aber von so einem miesen Kerl ließ sie sich nicht zerstören. Sie nicht! Mit dem Laden würde ihr neues Leben beginnen, auf das sie so lange hingearbeitet hatte!

Glücklicherweise war der Kredit schon nach wenigen Tagen bewilligt und, unglücklicherweise, noch schneller auch schon wieder ausgegeben, das heißt, investiert, und zwar in Umbaumaßnahmen, Claires Küchengeräte und Mobiliar, wobei ihnen ein großer Zufall zur Hilfe kam.

„Mädels, so traurig es für die alte Dame ist, dass sie in Ruhestand gehen muss …“, hatte Claire geheimnisvoll begonnen, „und so köstlich ihre Custard Schnecken auch waren, so fantastisch ist die Nachricht doch für uns: Das Alte-Oma-Kaffee in der Muriel-Mews wird aufgelöst! Und wisst ihr, was das Beste dabei ist?“, rief sie freudig, klatschte in die Hände und strahlte in zwei neugierige Gesichter. „Nein? Dann will ich es euch sagen! Der gesamte Inhalt, alle Möbel, das ganze Geschirr, einfach alles, wird verscherbelt!“

„Im Ernst?“, rief Helen, der hörbar ein Stein von der Seele plumpste. „Billig, ja? Und schön noch dazu?“

„Ja, Süße, beides auf einmal!“, antwortete Claire kichernd und stupste Helen. „Nur billig gibt’s bei uns nicht! Es muss doch auch schön sein! Sagenhaft schön sogar!“

„Dann nichts wie hin, oder?“ Helen rieb sich mit glänzenden Augen die Hände und machte Schritte in Richtung Tür.

„Auf alle Fälle! Um 14:00 Uhr geht der Verkauf nämlich schon los. Wir müssen vorher noch zur Bank, denn die Devise lautet: Nur Bares ist Wahres!“

Da ist viel Wahres dran, dachte Helen und der Gedanke ließ sie nicht mehr los. Mit ungewohnt vielen Geldscheinen ausgestattet standen sie wenig später Füße scharrend vor dem Café und konnten kaum glauben, dass außer ihnen nur zwei ältere Frauen auf das Öffnen der Tür warteten.

Die Seniorinnen erstanden nur ein wenig Geschirr, was bedeutete, dass Helen, Mina und Claire an diesem Nachmittag mehr als die Hälfte des Ladens einrichten konnten. Da waren wunderschöne einfüßige Bistrotische, eine schmiedeeiserne Bank, geblümtes Geschirr, Kerzenständer, Bilderrahmen und vieles mehr, was sie so gut wie geschenkt bekamen.

„Ich glaub’s einfach nicht“, juchzte Helen ein ums andere Mal und wenn sie, so wie Claire, gläubig gewesen wäre, hätte sie jetzt Gott dafür gedankt.

„Das ist ein gutes Omen, das sage ich euch! Ein gutes Omen“, wiederholte Mina sich pausenlos und knabberte vor Freude ganz aufgeregt an ihren Nägeln, was Claire jedes Mal veranlasste, ihr einen Klaps auf die Hand zu verpassen.

„Das glaube ich inzwischen auch“, flüsterte Helen und schaute auf das Handteller große Gemälde eines Rotkehlchens, das auf einem Tannenzweig saß. Stellenweise war der Zweig mit Schnee bedeckt, allerdings hatte sich bereits ein Tropfen von Tauwasser gebildet. Das Bild würde nicht in den Laden wandern, sondern bei ihr bleiben, als kleines Zeichen der Hoffnung. Dann hob sie den Blick und schaute ihre Freundinnen an.

„Und ihr zwei werdet alles wunderschön arrangieren und einrichten“, sagte sie lauter und mit einem seligen Lächeln auf den Lippen. Mina und Claire waren zwei Wunderwesen, wenn es ums Gestalten ging. Die Kleider, die sie nähten, die Wohnungen, die sie dekorierten, die Blumengestecke, die sie arrangierten, die Cupcakes, die sie buken und aufwändig verzierten … Das alles sah aus wie aus einem Katalog. Sie selbst war, was all das anging, eine echte Null. Eine absolute Versagerin. Vor hundert Jahren hätte sie keinen anständigen Mann gefunden, allein aus Mangel an weiblichen Talenten. War das mit ein Grund gewesen, weswegen Stuart damals … Sie schluckte. Nicht daran denken, rief sie sich innerlich noch zu, doch da war sie wieder, diese innere Unruhe, die wie heiße Steine von innen an ihre Haut drückte und sie wünschen ließ, sie könne raus. Ausbrechen. Ihre Haut, ihr altes Ich abstreifen wie einen schmutzigen, löchrigen Mantel und in die Tonne treten. Oder liegen lassen, sich nie mehr danach umdrehen und auf und davon laufen. Nein, nicht laufen: tanzen! Leichtfüßig schweben. Befreit! Stuart sollte sie endlich mal können!

~Drei~

Es war Punkt achtzehn Uhr, als die drei ihre Pinsel und Farbroller sinken ließen. Erschöpft nahm Helen mit einem Seufzen den Hut aus Zeitungspapier, den Mina am Morgen für sie gefaltet hatte, ab und wischte sich mit dem Unterarm über das Gesicht. Tief ausatmend legte sie den Kopf in den Nacken und schüttelte ihr langes Haar. Nachdem sie sich wieder aufgerichtet hatte, seufzte sie zufrieden: „Na, das sieht doch schon mal nicht schlecht aus, hm? Aber für heute reicht es mir total. Ich bin echt mause-groggy.“
Mause-groggyy? Hört sich so an, als ob ich das auch wäre“, antwortete Claire müde kichernd und ließ sich auf einen mit Plastikfolie abgedeckten Sessel fallen. „Feierabend.“

„Abend ohne Feiern. Aber Essen. Dringend“, japste Mina und sank aus dem Stand in den Schneidersitz. „Puh, da merkt man erst, wie schwach man doch ist“, stellte sie mit kritischem Blick und prüfendem Griff auf ihre schlanken, aber muskulösen Arme fest.

„Das sagst ausgerechnet du!“, seufzte Claire, denn Mina war die Einzige von ihnen, die ihren Körper regelmäßig und mit sichtlichem Erfolg beim Pilates stählte.

„Pizza?“, fragte Mina ohne darauf einzugehen auch schon in der nächsten Sekunde, stemmte sich wieder hoch und rieb sich voller Vorfreude den Bauch.

„Pizza?“, maulte Claire. „Im Ernst? Schon wieder?“

„Ja klar! Für dich und il bello italiano jeden Tag“, flötete Helen und versetzte Claire einen kleinen Rempler mit dem Ellbogen.

Claire zog ihren Arm schützend vor sich und lachte gluckernd. „Du bist schuld, wenn wir dick und fett werden, Mina! Aber sollte es was mit dir und dem Schönling werden, gelten zwei Regeln!“, bekundete sie mit erhobenen Zeigefinger und Oberlehrerinnenblick.

„Und die wären?“, fragte Mina breit grinsend, und so, als sei sie zu allem bereit, wenn es nur endlich was mit dem rassigen Massimo werden würde.

„Du heulst dich nicht bei uns aus! Niemals! Keine Sekunde, verstanden?“, sagte sie in strengem Ton und mit ebenso strengem Blick.

„Ja! Ich meine, nein! Ach, ihr wisst schon, wie ich es meine“, fiepste Mina, zog den Kopf ein und die Mundwinkel nach unten, woraufhin alle drei laut loslachten.

"Und was ist die zweite Regel?", fragte Mina schließlich und wischte sich eine kleine Lachträne aus dem Augenwinkel.

"Hab ich vergessen. Oh – Moment! Doch! Dann bezahlst du uns das Fettabsaugen! Oder die neuen Klamotten. Oder …", ereiferte Helen sich und suchte nach weiteren Sachen, die Mina ihnen schenken könnte. Da fiel ihr Claire mit einem vor Ekel verzogenen Gesicht und Grabesstimme ein: "Oder grünen Gemüsesäften …"
"Igitt", fluchte Mina und schüttelte sich. "Dann … sollte es besser mal schnell gehen mit dem bel italiano!"

"Und das in vielerlei Hinsicht", seufzte Helen übertrieben dramatisch, woraufhin sie sich einen freundschaftlichen Rempler von Mina einfing.

Rasch frischten sie ihr Make-up auf, frisierten sich, und machten sich, nach bestandenen Deo-Riechtests, auf den kurzen Weg zu dem heimeligsten aller Italiener von Notting Hill.

Als sie so neben einander hergingen, kam Helen kurz der Gedanke, wie andere sie wohl sahen.

Sie waren in etwa gleich groß; Mina aber war zierlich und bewegte sich mit der Eleganz einer Elfe. Auch Claires Bewegungen waren weiblich weich und fließend, aber ihre weiblichen Rundungen waren, nun ja, eben deutlich runder, was mit Sicherheit auch an ihrem überwältigenden Backtalent lag. Sebastian, ihren Verlobten, störte dies jedoch nicht im Geringsten, auch wenn er selbst ein fettfreier Tennis- und Golfspieler war. Er liebte jeden Millimeter und jedes Gramm seiner Claire, ja, er verehrte sie beinahe wie eine Göttin, die sich aus Versehen auf die Erde verirrt hatte und seines besonderen Schutzes bedurfte.

Wenn Helen an ihn dachte, oder, was selten vorkam, ihn sah, dann bröckelte ihre Einstellung, dass alle Männer furchtbare Menschen waren. Dann dachte sie, dass alle Männer zu ihr furchtbar waren, was aber keinen Unterschied für sie machte.

Helen selbst schlank, was zum einen an ihrem angeborenen fantastischen Stoffwechsel lag, zum anderen an ihrer gesunden Ernährungsweise und nicht zuletzt an den langen Fußmärschen, die sie, um das Fahrgeld zu sparen und das Gedränge in den öffentlichen Verkehrsmitteln zu vermeiden, oft zwischen Wohnung und Kanzlei zurückgelegt hatte. Ihr Gesicht war fein geschnitten und sie hatte alles, um hübsch zu sein. Doch der Groll und der Gram verdunkelten ihr ehemals sonnig strahlendes Gesicht. Seit dem schlechten Tag fehlte ihr die lebensfrohe Ausstrahlung, durch die Menschen erst anziehend wirken. Nur manchmal, ganz selten, blitzten ihr Esprit und ihre Lebensfreude durch die Mauer aus Unnahbarkeit, die sie selbst nicht mehr wahrnahm. So wie an diesem Abend, an dem sie Arm in Arm mit ihren Freundinnen durch die milde Dämmerung zum Essen schlenderte.

„Buona sera!“, begrüßte Massimo die drei mit einer tiefen Verbeugung und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf ihren Lieblingstisch. „Buona sera“, antwortete Mina in etwas, das annähernd wie Italienisch klang.

Ausgelassen kichernd nahmen sie an einem runden Tisch mit rot-weiß karierter Tischdecke Platz. Die Speisekarte kannten sie längst auswendig, sodass sie gleich bestellen konnten.

„Eine Pizza Vesuvio“, bestellte Mina mit einem verführerischen Lächeln und einem Augenaufschlag, der selbst Schmetterlingen Ehrfurcht gelehrt hätte.

„Explosiv!“, flirtete Massimo zuverlässig mit rauer Stimme zurück. „Naturalmente, Bellissima!“

Menschen sind wie ihre Pizza, dachte sie schmunzelnd und bestellte sich eine Pizza Margarita, während Claire eine „Capricciosa mit allem, aber ohne Käse“ bestellte, wobei der Name der Pizza ja ohnehin schon extravagant bedeutete.

Daraufhin entfernte sich Massimo mit einer angedeuteten Verbeugung und einem Blick, der sogar Helen die Röte ins Gesicht trieb.

„Und, Helen, sag mal, wie kommst du denn mit den Romanen voran?“, erkundigte Mina sich, nachdem sie genüsslich von ihrem Rotwein gekostet hatte.

„Ich? Oh … Es geht so“, stammelte Helen überrascht. „Das Wochenende niste ich mich im Waterstones ein“, redete sie ausweichend weiter und hoffte, dass niemand nach ihren weiteren Plänen für das Wochenende fragen würde. Denn sie hatte keine. Wie immer.

Mina hob ihre makellos gezupften Augenbrauen und schaute sie skeptisch an. „Ja?“, fragte sie gedehnt und nahm noch einen Schluck von ihrem Montepulciano. Gerade als Massimo mit den großen Tellern voll köstlich duftender Pizzen zu ihnen geschwebt kam, leckte sie sich über die Lippen, was beinahe zu einem Absturz der Vulkanpizza auf das sonnengelbe Kleid des anderen Gastes führte. Verängstigt schwiegen sie, bis er fertig serviert hatte, und bedankten sich mit einem heißhungrigen Lächeln.

„Absolut! Das Wochenende steht ganz im Zeichen von Liebe“, beteuerte Helen umgehend, wich aber auch Claires prüfendem Blick aus und nahm nun ihrerseits einen großen Schluck Wein.

„Aber bitte – um das nochmal klar zu stellen“, schaltete sich nun Claire ein, legte zur Bekräftigung ihrer Worte das Besteck aus der Hand und die rechte Hand mit gespreizten Fingern flach auf den Tisch. „Keine Thriller. Keine Sachbücher und auch kein hyper-anspruchsvolles Zeug, das niemand versteht und niemand will!“

„Ja. Das hat Mina mir ja schon gesagt. Aber warum eigentlich nicht? Wisst ihr – ich habe da nochmal drüber nachgedacht!“, begann sie voller Elan. Als sie jedoch in grimmige Gesichter blickte und Mina auch noch unheilvoll die Faust um die spitzzackige Gabel schloss, wurde sie immer langsamer und leiser. „Ich meine … vielleicht nur ein paar? Zur Abwechslung? Um das Angebot zu erweitern ...?“, fiepste sie mit hochgezogenen Schultern.

„Keine. Abwechslung!“, donnerte Minas Stimme, begleitet von der Gabel, über den Tisch und – wer hätte das gedacht, gefolgt von einem Lächeln in eine bestimmte Richtung.

Helen schluckte, diesmal jedoch ohne Wein, und wagte einen letzten Vorstoß: „Okay, okay! Aber seid doch mal ehrlich! Kennt ihr jemanden, der allen Ernstes nur rosarote und himmelblaue Bücher liest, in denen die Liebe vom Himmel fällt und sich genau die zwei, von denen man von Anfang an wusste, dass sie sich kriegen, tatsächlich kriegen?“, begehrte sie auf und merkte zu ihrem Entsetzen selbst, wie verbissen sie klang. Ihre Worte entzweiten sich von dem, was sie gern gesagt hätte, aber nicht sagen konnte, weil sie nicht wusste, dass sie es sagen wollte. Ach, es war ja alles so kompliziert. Mit der Liebe und mit sich selbst.

Und noch komplizierter, da unglaublicher, wurde es, als sie ein begeistertes „Wir“ vernahm, bei dem sich die beiden Rufenden auch noch kerzengerade aufrichteten und sie breit angrinsten.

„Ihr?“, staunte Helen und entschloss sich, zu lachen. „Ach kommt! Ihr doch nicht! Ihr wollt mich doch nur veräppeln!“

„Nein, tun wir nicht!“, beteuerte Mina und wedelte mit der Hand in der Luft herum.

„Wirklich nicht. Im Ernst, Liebes: Die Welt ist schon schrecklich genug, da muss man sich nicht auch noch freiwillig mehr Grausamkeiten beim Lesen antun!“, belehrte Claire sie halbernst.

„Ja, eben! Ganz genau! Beim Lesen soll man doch träumen können!“, pflichtete Mina ihr eifrig nickend bei.

„Aber – aber es kann doch niemand allen Ernstes glauben, dass mit dem nächsten Mann das große Glück kommt und alle Probleme für immer und ewig vorbei sind!“, rief Helen verzweifelt und zog ihr Gesicht in Falten.

„Das –“,begann Claire, während sie und Mina einen langen Blick wechselten. „Das behauptet ja auch keiner. Deswegen enden die Bücher ja auch an der Stelle. Trotzdem ist es schön. Es ist eine Auszeit. Pause vom Alltag, verstehst du das echt nicht?“

Helen zuckte mit den Schultern, dann wackelte sie mit dem Kopf, bis sie das Wackeln in ein Nicken übergehen ließ. Daran musste es wohl liegen.

„Und deswegen, meine Liebe“, fuhr Claire freundlich, aber wieder entschieden fort, „deswegen findest du am Wochenende die fünfzig romantischsten, witzigsten und originellsten Romane, die Großbritannien derzeit zu bieten hat!“ Triumphierend klatschte sie in die Hände und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Gerade rechtzeitig, um einen feurigen Blick aus Massimos Augen zu erwidern.

„Wir werden das überprüfen und deine Liste korrigieren, sollten die herzerweichendsten Bücher darauf fehlen!“, drohte Mina gespielt und hob den Zeigefinger.

„Ich … Okay, weil ihr es seid. Ja, mach ich!“, gab Helen schließlich klein bei, rollte die Schultern vor die Brust und ließ den Kopf hängen. Warum nur war sie so anders? Sie war doch früher nicht so ernst und bedrückt gewesen. Ja, früher … vor dem schlechten Tag, da hätte es solche Gespräche nicht gegeben, denn da gehörte sie selbst zur Lesegruppe.

Ein wenig freute sie sich aber doch auf die Beschäftigung mit den Büchern. Einige sahen ja wirklich schön aus. Und sie schwiegen. Sie erwarteten nichts von einem. Das war befreiend. Zudem war das Buchprogramm eine gute Ausrede, um endlich mal wieder aus dem Haus zu gehen, denn das tat sie so gut wie nie. Das Leben spielte sich draußen ab, das wusste sie, aber die Couch drinnen war bequem und sicher und das Leben draußen war hart und bedrohlich. Sie gehörte nicht mehr zu der Welt mit all den schönen und glücklichen Menschen. Das sah man ihr doch auch schon an! Aber gut, um ihren Traum nicht an der Realität scheitern zu lassen, würde sie Romanzen lesen. Oder zumindest den Anfang und das Ende; den mittleren Teil hatte sie auch im Studium schon immer erfolgreich überflogen.

„Gut. Ich glaube, du verstehst, was wir meinen“, schloss Mina das Thema und schnitt ein großes Stück von ihrer Pizza. „Claire verkauft ja auch keinen Knoblauchkuchen und ich keine Disteln.“

Nun musste Helen widerwillig lachen, goss allen Rotwein nach, hob das Glas und rief: „Auf uns! Und auf eine fantastische Zukunft!“ Und in dem Moment, in dem sie die Worte aussprach, glaubte sie selbst daran.

~Vier~

Als Helen am Samstagmorgen mit einem schweren Kopf erwachte, goss es wie aus Eimern. Von dem am Vortag noch unschuldig hellblau lockenden Himmel war nichts mehr übrig.

„Oh nein, bitte nicht!“, stöhnte sie, zog sich das große Kuschelkissen über den Kopf und drehte sich noch einmal um. Bei so einem Wetter schickte man keinen Hund vors Haus und schon gar nicht sich selbst. Folglich würde sie heute gewiss keinen Buchladen von innen sehen. Sie wollte in ihrer winzigen, dafür aber umso gemütlicheren Wohnung bleiben, wo es schön warm und trocken war. Am Montag würde ihr schon eine Ausrede einfallen, so wie immer. Wobei sie, das fiel ihr gerade auf, schon lange nicht mehr gefragt worden war. Weder was sie geplant, noch was sie getan hatte. Vielleicht, überlegte sie beschämt, vielleicht hatten Mina und Claire sie längst durchschaut und wollten ihr keine Notlügen mehr abnötigen, oder sie konnten ihr Herumgedruckse einfach nicht mehr ertragen, wieso, weshalb und warum sie leider schon wieder nicht mit ihnen ausgehen und feiern konnte. Vielleicht akzeptierten die beiden aber auch einfach endlich, dass Helen nicht mehr vollständig lebte. Vielleicht hatten sie endlich begriffen, dass an dem Tag, an dem Helen zuerst ihren Verlobten mit einer anderen Frau in ihrem eigenen Bett erwischte, dann beim fluchtartigen Verlassen der gemeinsamen Wohnung die Treppe hinunterstürzte, daraufhin mit plötzlich strömenden Blutungen ins Krankenhaus eingeliefert wurde, woraufhin der sechs Monate alte Fötus leblos aus ihrem Körper entfernt wurde. An dem Tag starb sie und lebte seitdem nur noch dem Anschein nach. Äußerlich. Denn innerlich war sie tot.

Aber es half alles nichts, denn auch das äußerliche Leben ließ einen beinahe automatisch Dinge tun, die man eigentlich nicht tun wollte. In Helens Fall bedeutete dies, dass sie aufstand und sich unter die Dusche stellte. Danach fühlte sie sich etwas besser und nach ihrem typischen Wochenend-Frühstück mit Milchkaffee, Joghurt, frischem Obst, warmem Toast mit ihrer über alles geliebten Orangenmarmelade, sogar gestärkt. Stark genug, um dem Wetter zu trotzen und für den Laden alles zu geben! Kurzerhand schnappte sie sich ihr Tablet, um sich online einen Überblick zu verschaffen. Kaum hatte sie den Suchbegriff „Liebesromane“ eingegeben, wurde sie von einer Flut aus Himmelblau und Rosarot beziehungsweise nackter Haut erschlagen. Dabei flackerte auch ihr Bildschirm von so viel ungewohnter Farbe nervös auf. So viel Amore! Und Frauen. Tolle Frauen. Halbbekleidete Frauen. Allesamt mit seidig fließendem langen Haar. Darunter ein paar Männer. Entweder in schicken Anzügen oder mit pechschwarzen Tattoos auf nackter Haut, die sich über monatelang trainierte Oberkörper spannte. So so, jaja. Sah gut aus, das alles. Sexy. Nur nicht für sie. Sie stand mehr auf blaue Titelbilder mit weißen Streifen. Oder mit dem Papagei, aber das war etwas Neues und völlig anderes. Vögel gab es auf den Bildern keine, dafür aber unglaublich große Mengen an Pralinen und Cupcakes, und Sterne und Strände und Palmen und … nun ja, – der Stoff eben, aus dem die Träume von Frauen waren. Normale Frauen. Nicht sie. Sie hatte keine Träume mehr, bis auf den Laden.

Was da wohl in den Büchern drin stand? Und wie es geschrieben war? Zu dumm, dass man die nun nicht in die Hand nehmen und anfassen konnte. Aber hier: Leseprobe. Tolle Erfindung! Nur wo beginnen? Es waren ja so viele Bücher! „Lieb mich lieber heiß als kalt“ – das klang lustig und sah schön aus. Es begann ganz amüsant, ebenso wie „An keinem Tag wie diesem“. Aber was war das hier? Das Buch auf Platz zwei, das sah richtig schön aus. Es war nicht nur rosa und rot, und Gold, sondern auch dunkelgrün, sehr geheimnisvoll. Auch der Titel gefiel ihr: „Tränen auf Rosenblüten“. Das klang schön und traurig zugleich. Schmerzhaft. So, wie sie sich gefühlt hatte. Bei Rosen dachte sie zudem an Dornen, die einem die Haut aufrissen und sich tief ins Fleisch bohrten. Deswegen waren Rosen ja auch die Blumen der Liebe; weil sie einen lockten und betörten, und sobald man einen Moment nicht achtgab, bluten ließen. Worum es wohl ging? Neugierig strich sie mit dem Finger über den Bildschirm und versuchte, mehr darüber herauszufinden.

756 Rezensionen. 756! Und fast nur 5 Sterne, oder zumindest in so großer Mehrheit, dass die wenigen anderen unter den Tisch fielen. Das war unglaublich!

Tränen auf Rosenblüten … Was für ein Titel. Aber warum ließ sich der Klappentext nicht öffnen? Immer diese Probleme mit der Technik! Sie musste aber unbedingt jetzt wissen, wie das Buch begann und ob ihr der Schreibstil gefiel. Warum ging das denn nicht? Nichts zu machen. Also musste sie wohl oder übel doch raus. Aber bei dem Wetter? Egal. Es half nichts … Das Buch und der Traum; beides trieb sie hinaus.

Tränen auf Rosenblüten … Rosen … hatte da, an dem Tag, der sich binnen Sekunden von einem normalen zu einem bitterbösen entwickelte, nicht auch ein großer Strauß Rosen in der hohen Bodenvase, die ein Geschenk von Stuarts Mutter war, im Flur gestanden? Helen war sich beinahe sicher, denn am Vortag hatten sie ihr zweijähriges Beisammensein gefeiert, aber sie konnte es nicht mehr mit Sicherheit sagen. Es war nur eine vage Vermutung, ein verblasstes Bild an eine ansonsten so lebendig quälende Erinnerung. Der Duft der Rosen war verflogen, von ihnen war, außer den Wunden der Dornen, nur noch der stechende Gestank der Verwesung geblieben, der seitdem in dicken Schleiern um Helens Herz waberte.

Doch nun sah sie wieder Stuart vor sich. Ihren Stuart, ihren früheren Stuart, den Mann, den sie über alles, auf alle Fälle mehr als sich selbst, geliebt hatte. Für den sie alles getan hätte, und beinahe alles tat. Sie sah seine glänzende Haut, die sie so gern an ihrer gespürt und gestreichelt hatte, die so warm war und so herb roch. Und dann ein neues Bild. Ein Bild wie ein Blitz: wieder seine nackte Haut, aber dazu die langen, schlanken Beine, die sich um sein Becken schlangen, und die nicht ihre waren. Die Nägel der fremden Frau, die sich in seinen Rücken pressten. Beide entrückt. Beide in Ekstase. Die Bilder, diese Laute und dieser Geruch. Das Aufeinanderklatschen der schwitzenden Haut. Das Ächzen des Bettes. Das hohe Stöhnen der Frau, das tiefe des Mannes, ihres Mannes – und ihr Schrei. Hoch. Spitz. Schrill. Der Schrei, der alles zerriss. Der Schrei, mit dem sie aus dem Zimmer, aus der Wohnung, aus ihrem bisherigen Leben und die Treppe hinabstürzte. Irgendjemand fand sie bewusstlos und blutend auf dem Treppenabsatz und rief die Ambulanz. Irgendjemand. Vielleicht Stuart, vielleicht auch nicht. Gehirnerschütterung, Prellungen und eine Fehlgeburt in der 29. Woche.

Und danach die Stille. Die Stille, die alles durchdrang und alles auslöschte.

Seitdem kein Laut mehr.

Nur ohrenbetäubende Stille in einem luftleeren Raum.

Erneut schrie Helen auf, schlug sich die Hand vor den Mund und erstickte nach der langen Übung umgehend den Schrei und den Schmerz. Keuchend presste sie die Augen zu.

Lass mich nichts mehr sehen, nichts mehr hören, nichts mehr fühlen, flehte sie stumm.

Niemals hielt sie ihren Sohn in den Armen, niemals sah sie sein Gesicht, niemals atmete sie den reinen Duft seiner weichen Babyhaut ein. Niemals.

Zu früh. Viel zu früh für den noch nicht allein lebensfähigen Fötus. Und viel zu früh, um in die gemeinsame Wohnung zu kommen. Fast zwei Stunden zu früh. Wäre sie wie verabredet nach Hause gekommen, hätte sie sich an die Abmachung gehalten, wäre sie jetzt nicht allein. Dann hätte sie jetzt eine Familie, eine behagliche Wohnung und kein Loch in ihrem Herzen. Oder doch. Vielleicht doch, denn Stuarts entwürdigende, herablassende Art hätte sie vielleicht auch mit Kind mit der Zeit von innen ausgehöhlt und vernichtet. Aber vielleicht wäre die Liebe zu und von Georgie auch genug gewesen, um dieses Loch zu füllen.

Vielleicht säße sie dann jetzt, in diesem Moment, mit ihrem Sohn am Frühstückstisch. Drei Jahre wäre er jetzt alt. Sie würde ihm sein Toastbrot mit Nutella bestreichen und einen Apfel in kleine Stücke schneiden. Sie würde ihn auf ihren Schoß holen und ihm aus seinem Lieblingsbilderbuch vorlesen. Aber er lebte nicht. Er starb an dem Tag, an dem auch ihr Glaube an die Liebe starb. Und seitdem war sie tot. Lebendig begraben.

Aber nein! Sie hatte genug davon. Wild entschlossen, das Beste für ihren Traum zu tun, trat sie schwungvoll ins Freie. Sie wollte gerade den Regenschirm öffnen, als sie feststellte, dass es aufgehört hatte zu regnen. Ein leichtes Lächeln zog in ihr Gesicht. Helen schloss die Augen und schnupperte genüsslich. Die Luft war warm und roch satt nach den Blumen, die in den winzigen Streifen "Vorgarten" gepflanzt waren. So tief wie möglich atmete sie ein, so tief und oft, als könne sie die feuchte Luft trinken. Verheißungsvoll, wie das Leben ... Warm und sättigend ... Das war ein gutes Zeichen, dachte sie und grinste breit. Sie straffte die Schultern, hob den Blick und ließ ihn über den weiten Himmel gleiten.

Doch Moment! Zurück, zurück! Raus aus den langweiligen Klamotten! Sie sperrte die Tür auf, riss sich mit beiden Händen die einfarbig graue Bluse auf, schleuderte sie auf den Boden, zerrte sich die schwarze Hose vom Leib, riss sich die verwaschene Unterwäsche herunter und stand splitterfasernackt vor dem einen eineinhalb Meter hohen Spiegel. Zum Glück hatte sie sich erst vorgestern die Beine gewachst, sonst hätte sie vor Selbsthass den Spiegel eingeschlagen.

Durch das gekippte Fenster strömte die frische Luft herein und umschmeichelte ihre Haut. Direkt neben ihr stapelten sich die seit ihrem Auszug nicht mehr geöffneten Kartons. Wie eine endlose, windstille und farblose Wüste breiteten sich die ungelebten, vergeudeten Jahre vor ihr aus. Wie eine Wüste, auf die Wassertropfen fielen und aus deren trockenem Boden in atemberaubendem Tempo eine Blume nach der anderen hervorspross. Leben!

Mit ungeahnter Kraft riss sie den obersten Karton herunter, er fiel um, der Deckel löste sich und alles, was noch nicht auf dem Boden lag, schüttete sie auf den Boden. Kleider. Bunte Kleider. So viele Kleider! Größe 34. Immer noch ihre Größe. Bedruckt mit saftig roten Kirschen. Mit knallgelben Zitronen. Mit sanften Magnolien. Und die Stoffe, so weich. So schön gearbeitet. Makellos genäht. Ein Traum. Das alles gehörte ihr? Das alles hatte sie getragen? So hatte die Welt sie gesehen?

Und dann – das Kleid mit dem aufgefächerten Flügel eines Papageis. Das Kleid, das sie noch nie getragen hatte. Sie erinnerte sich.

Ungläubig sank sie auf den kalten Boden und nahm mit verträumten Augen ein Kleidungsstück nach dem anderen in die Hände. Wie schön und wie lebensfroh alles war. Und so lange schon vergessen. Sie fröstelte, schloss die Augen, presste ihre frühere Lieblingsbluse mit den zarten Kirschblüten an ihr Gesicht, unterdrückte die Tränen, stand auf, wühlte in den anderen Kisten nach feiner Unterwäsche, edlen Strümpfen, Ballerinas, einem passenden Rock, bügelte rasch alles, frisierte und schminkte sich und trat schließlich, mit einem Hauch Parfüm, aus der engen, dunklen Wohnung erneut hinaus auf die Straße, auf der die Sonne die letzten Spuren des Regens trocknete.

Mit kräftigen Schritten ging sie an den eleganten mehrstöckigen Wohnhäusern vorbei zur Bushaltestelle, von wo sie an den Piccadilly Circus fahren wollte. Dort befand sich die größte Waterstones Filiale der Stadt, und somit wahrscheinlich des Landes, und der Welt, und die war für ihr Vorhaben gerade gut genug, dachte sie vergnügt. Als sie an dem großen Schaufenster einer Boutique vorbeikam, sah sie ihr eigenes Spiegelbild. Ihr Haar wehte locker im Wind, ihr Gang war zielstrebig und doch leicht und ihre Haltung aufrecht. Das war sie? Ja, das war sie! Helen kehrte ins Leben zurück! Und ja, so sah eine Frau aus, die ihren Kundinnen bezaubernde Bücher für ein paar verträumte Stunden schenken konnte.

Voller Elan stieg sie aus dem Bus und betrat den renommierten Buchladen. Suchend sah sie sich um und nahm den Lift hinauf in den zweiten Stock, wo sich laut Information die Liebesromane befanden. Dort angekommen, sah sie sich sofort, und sehr lange, nach dem Buch mit dem schönen Titel und dem verheißungsvollen Titelbild um, fand ihn jedoch nirgends. War das Buch so beliebt, dass es ausverkauft war? Hier? In Waterstones? Das war doch fast unmöglich! Hilfesuchend wandte sie sich an eine Verkäuferin: „Guten Tag, entschuldigen Sie bitte. Wo finde ich denn Tränen auf Rosenblüten?

Tränen auf Rosenblüten?“, wiederholte die Frau stirnrunzelnd und schüttelte kaum merklich den Kopf.

„Ja. Kennen Sie das denn nicht?“, fragte Helen verunsichert. War das Buch am Ende der größte Schund aller Zeiten und sie hatte sich soeben geoutet?

„Nein. Nie gehört. Was soll das sein?“, entgegnete die Verkäuferin ernst.

„Ein Liebesroman. Er ist – auf Platz zwei und hat 756 mal 5 Sterne.“

„Auf Platz zwei? Wo denn bitte?“

Helen nannte den Namen des Online-Shops, woraufhin sich der Blick der Verkäuferin verdüsterte. „Ach so!“, sagte sie verächtlich. „Davon gibt’s wahrscheinlich nur E-Books, oder?“, stöhnte die Frau und drehte sich weg. „Wird so ein Selfpublisher sein.“

Nun war es Helen, die die Stirn runzelte. „Self-Publisher?“ Helen kam aus dem Staunen nicht mehr heraus und schämte sich abgrundtief dafür, dass sie, als angehende Buchhändlerin, so wenig Ahnung hatte. Aber zum Glück wusste die Fachangestellte ja nichts von ihren Ambitionen.

Über das, was sie eben erfahren hatte, würde sie später nachdenken, aber da sie schon einmal hier war, bat sie die Frau, ihr andere Liebesgeschichten, die ans Herz gingen, zu empfehlen, was diese freundlich lächelnd tat. Einige Zeit später nahm sie auf einem der mit hässlichem grauem Stoff bezogenen Stühle Platz, platzierte den hohen Stapel dicker Wälzer neben sich und begann zu schmökern. Heimlich machte sie sich Notizen, und fühlte sich grässlich dabei, dass sie den Buchladen in gewisser Weise missbrauchte. Schließlich kaufte sie schuldbewusst zwei Schnulzen, von denen eine in Italien, die andere in Irland spielte; beides Schauplätze, die sich bestimmt gut verkauften und die ihr selbst gefielen. Und beides Bücher, die sie Mina und Claire schenken konnte, denn dass sie diesen Quatsch selbst zu Ende lesen würde, das konnte sie sich nun beim besten Willen nicht vorstellen. Sie waren einfach zu rosarot. Trotz der Kirschblüten auf ihrer Bluse.

~Fünf~

„Mensch! Was ist denn mit dir los?“, entfuhr es Claire überwältigt. Sie ließ beinahe die Thermoskanne mit den violetten Schmetterlingen fallen, aus der sie sich pechschwarzen, dampfenden Kaffee in eine dazu passende Tasse goss. Beziehungsweise gießen wollte, denn ohne es zu bemerken, schüttete sie daneben, während sie mit offenem Mund Helen anstarrte. Ähnlich reagierte Mina, die ihren Stift fallen ließ und ergriffen staunte: „Helen? Bist das wirklich du? Oder träume ich?“

„Hey, was habt ihr denn?“, fragte Helen und kicherte verlegen.

„Du – du siehst so toll aus!“, hauchte Claire beinahe ehrfürchtig. „Fast wie früher!“

„Was ist denn mit dir passiert?“, stieß Mina noch immer verblüfft hervor.

Beide kamen zu ihr, zupften und zogen an Helens weißem Sommerkleid, auf dem das Bild einer Wiese voll kräftig leuchtender Klatschmohnblüten gedruckt war.

„Oh, Helen!“, riefen sie andächtig, schüttelten die Köpfe, gingen um sie herum und blieben schließlich strahlend vor ihr stehen. „Fantastisch. Wirklich, entzückend.“

„Ich – nun, ich dachte, es passt vielleicht besser hierher. In unseren Traumladen. Kleider machen Leute, ihr wisst ja. Und außerdem war mir mal nach ein bisschen Farbe“, gestand Helen und grinste dabei immer breiter und zuckte die Schultern.

„Oh Helen! Das ist ja großartig! Och Mensch! Ich freue mich so für dich!“, juchzte Claire, während Mina jubelte: „Es geht bergauf! Es geht bergauf!“ Glücklich fielen sie sich in die Arme und Mina flüsterte wiederholt: „Das ist ein Zeichen. Ein gutes Zeichen.“

Das Gefühl hatte Helen seit langer Zeit auch.

Nachdem sie sich wieder losgelassen hatten und Tassen mit duftendem Kaffee in den Händen hielten, erkundigte Mina sich mit einem vorsichtigen Zwinkern, ob Helen denn auch ihre Hausaufgaben gemacht hätte.

„Oh ja, das hab’ ich!“, antwortete diese grinsend und spürte die Erleichterung körperlich, dass sie endlich einmal die Wahrheit sagen konnte.

Claire stellte ihre Tasse erwartungsvoll ab. „Und?“, fragte sie gedehnt und schaute Helen mit leicht geneigtem Kopf und ein wenig verengten Augen an. Ihre goldblonden Locken wippten gespannt auf und ab und ihre tiefblauen Augen leuchteten, wobei ein warmes Lächeln ihre zartrosa geschminkten Lippen umspielte.

Helen kicherte und zog die leicht zerknitterten Blätter aus ihrer Handtasche. „Also, ich habe hier eine Liste. Eine lange Liste. Und eine Frage“, begann sie.

Claire riss ihr die Zettel aus der Hand und Mina rief gespannt: „Schieß los!“. Aufgeregt kneteten die beiden Freundinnen die Hände.

„Also, im Internet habe ich ein Buch gefunden, von dem die Buchhändlerin allerdings noch nie etwas gehört hatte. Dabei ist es ganz vorne in den Charts und unglaublich gut bewertet. Es heißt Tränen aus Rosenblüten. Auf oder aus, das weiß ich jetzt nicht so genau. Aber egal. Indie, Selfpublisher, ich weiß …“, begann sie, unterbrach sich aber, als sie die merkwürdig verklärten Augen ihrer Freundinnen bemerkte. „Hey, was ist denn nun schon wieder los?“, fragte sie verwirrt.

„Nichts … Gar nichts … Es ist nur … Och Helen ... Das Buch ist soooo schön“, seufzten beide ganz verliebt wie aus einem Mund und falteten auch noch die Hände vor der Brust. „Einfach soooo schön!“

Helen glaubte, zu träumen. „Wie bitte?“, fragte sie lachend und schüttelte den Kopf. „Ihr kennt es?“

„Ja, natürlich! Wir haben es verschlungen, sag ich dir! Es ist einfach unbeschreiblich berührend. Es geht so tief! Och ja, ich habe geheult wie ein Schlosshund“, flüsterte Claire und gab einen gespielten Schluchzer von sich.

„Ich auch“, seufzte Mina und legte sich die Hand ans Herz. „Es ist so voller Gefühl und Liebe und … ach, einfach alles. Alles! Ich glaube, es ist wirklich das schönste Buch, das ich jemals und überhaupt gelesen habe! Das musst du einfach lesen. Du musst, hörst du? Der Mann ist … Ach, wenn es den wirklich gäbe, dann würde ich ihn nie mehr loslassen!“

„Oh ja, ich auch nicht!“, stimmte Claire mit ein. „Wenn ich Sebastian nicht hätte, natürlich.“

„So kitschig, ja?“, spottete Helen, die sich in so viel Gefühlsduselei, wie sie es nannte, doch nicht sonderlich wohlfühlte, und prustete peinlich los.

„Nein! Nicht kitschig! Einfach nur schön. So voller Gefühl und tiefer Emotionen. Und deswegen eben einfach doch nur schön“, schwärmte Mina.

„Wunderschön“, pflichtete Claire ernst bei, schaute auf die Kuchenbrösel und nickte.

„Unglaublich, unbeschreiblich wunderschön“, fuhr wieder Mina fort.

„So, so“, meinte Helen und wusste nicht, ob sie lachen oder verzweifelt stöhnen sollte. Mit ihren Freundinnen war ja gar nichts mehr anzufangen, seit sie das Buch erwähnt hatte. Sie selbst musste erst mal ans Buch kommen, was wohl gar nicht so einfach war, wenn man nicht im Internet kaufen wollte, und das wollte sie nicht, denn sie wollte die echten Läden am Leben erhalten. Die, die es wirklich gab, in die man eintreten, in denen man herumgehen, Sachen anfassen und riechen konnte. Wo man auf andere Menschen traf.

„Das ist es wirklich! Du musst es unbedingt lesen! Wirklich ganz unbedingt!“, ereiferte Claire sich und warf Mina einen bedeutungsvollen Blick zu.

„Das will ich ja sogar, auch wenn ihr mir das nicht glaubt …“, sagte Helen und fügte kaum hörbar „Zumindest dem Laden zuliebe“ hinzu.

„Im Ernst? Ja?“, rief Mina und rutschte auf ihrem Stuhl ein Stück weit nach vorne. „Aber?“

„Nun ja, die Frage ist eben: Woher bekomme ich das gute Ding? Ich meine, sowohl zum Lesen, als auch zum Verkaufen? Es hat noch nicht mal einen Verlag und ich kann es ja wohl nicht zum Normalpreis kaufen und weiterverkaufen!“

„Hm … Also, Moment. Lesen kannst du es auf meinem Reader!“, rief Claire und deutete auf ihre Tasche. „Den habe ich ja immer dabei. Und wegen des Weiterverkaufens …“

„Schreib doch einfach der Autorin!“, rief Mina und grinste breit über ihren Gedankenblitz. „Du hast ja allen Grund dazu! Und vielleicht kannst du sie dann auch gleich um ein Autogramm für uns beide bitten?“

„Ach was, wie … Einem Autor einfach so schreiben? Die haben für so etwas doch keine Zeit!“

„Aber sicher haben sie das. Die freuen sich sogar bestimmt. Das ist Indie, nicht Verlag. Da ticken die Uhren ein bisschen anders. Geh einfach mal auf Facebook. Ach so, das hast du ja auch nicht. Also, warte mal, hier!“ Claire überschlug sich beinahe und fischte aus ihrer monströsen puderfarbenen Chloè-Tasche ihr Lesegerät hervor und tippte so lange darauf herum, bis sie triumphierend rief: „Ha, hier! Wusst ich’s doch! Im Impressum steht eine E-Mail-Adresse. Hier, bitte: jordan.travers.author AT booksandlovestories.com.

„Und der Frau soll ich einfach schreiben?“, fragte Helen unsicher. Ihr war nicht wohl dabei. Was um Himmels willen sollte sie denn da bitte schreiben? Einer Erfolgsautorin! Noch nie war sie auf die Idee gekommen, einen Autor einfach eben mal zu kontaktieren, denn für sie waren Autoren Halbgötter und zumeist ohnehin sowie schon tot.

„Ja, klar, komm! Mach schon! Und grüß sie von uns. Sag ihr, dass wir ihr Buch geliebt haben. Hörst du, geliiiebt haben!“, rief Mina und Claire fügte ausgelassen hinzu: „Und immer noch lieben!“

„Ja, ja, schon gut! Okay, okay“, murmelte Helen leise vor sich hin und setzte sich an ihren Laptop. Was sein musste, musste wohl sein, und wahrscheinlich hatte sie in den letzten drei Jahren einfach wirklich viel verschlafen. Dann will ich mal, dachte sie tapfer, krümmte sich aber genauso innerlich, wie sie es äußerlich tat, als sie das E-Mail-Programm öffnete.

Liebe Jordan,

begann sie und hielt inne. Wie weiter?

Als großer Fan …

Nein. Das konnte sie nicht schreiben. Sie konnte doch nicht lügen, oder? Schließlich hatte sie das Buch noch nicht gelesen, hatte es auch nur bedingt vor, und außerdem bezweifelte sie stark, dass ihr die Schnulze wirklich gefallen würde, auch wenn das Bild auf dem Buchumschlag in der Tat sehr vielversprechend aussah. Sie musste kein Fan sein, entschied sie, denn sie würde es als Buchhändlerin, nicht als romantische Frau lesen!

Liebe Jordan,

aufgrund der enormen Begeisterung, die „Tränen auf Rosenblüten“ ausgelöst hat …

Klang das nicht steif? Doch. Also anders.

Liebe Jordan,

als Mit-Eigentümerin eines neuen Buch-Blumen-Cafés …

Moment. Mist! Sie hatten ja immer noch keinen Namen!

„Minn! Claire!“, rief sie entsetzt, wobei sie Minas Namen abkürzte, und schaute ungläubig auf. „Wie heißen wir eigentlich?“

„Wie wir heißen?“, fragte Mina verblüfft zurück, stellte eine bauchige Vase ab, strich sich ihre seidigen schwarzen Haare aus der Stirn und kam mit zweifelndem Blick näher. „Geht’s dir nicht gut? Helen, Claire und Mina natürlich!“

„Mann, Minn! Du nervst. Na, unser Laden! Wie der heißt!“
„Oh, der Laden … Hm, also ... Ach so, der Laden. Na, das ist eine gute Frage … eine sehr gute Frage sogar …“ Verlegen kratzte sie sich im Nacken und zog eine Grimasse.

„Eine drängende Frage!“, stimmte Claire ernst und laut zu.

Blumen-Buch-Café?“, schlug Helen mit gerunzelter Stirn vor und schüttelte gleich selbst den Kopf.

„Wie? Nein. So ein Quatsch. Das klingt ja nach Öko-Pur und Strickpulli!“

„Hm, mit Kommata? Also, Blumen, Bücher und Café?“

„Meinst du? Hm. Oder vielleicht: Träume und Liebesgeschichten?“

Liebesgeschichten ist gut! Aber nicht Träume, nee, das nicht.“

Sie überlegten hin und her und einigten sich schließlich auf den provisorischen Namen: „Kaffee, Kuchen, Blumen und andere Liebesgeschichten“.

„Das ist aber viel zu lang“, wandte Helen ein. „Nur: Und andere Liebesgeschichten?“

„Ja, das könnte klappen.“ Mina und Claire nickten. Darüber wollten sie eine Nacht schlafen und dann weiterüberlegen.

„Also gut, dann schreibe ich mal das in meine E-Mail“, meinte Helen, schaltete den Bildschirm wieder an und fügte giggelnd hinzu: „Es ist sozusagen unser Arbeitstitel.“

Liebe Jordan,

zusammen mit zwei Freundinnen richte ich gerade einen wunderschönen Laden in Notting Hill, London ein. Wir eröffnen Mitte Mai und werden uns wahrscheinlich Und andere Liebesgeschichten nennen, weil wir hier neben Blumen, Kaffee und Kuchen auch Bücher, vorrangig Liebesromane, anbieten werden. Unsere künftigen Kundinnen würden sicherlich ganz begeistert „Tränen auf Rosenblüten“ lesen; sofern sie es noch nicht haben sollten, natürlich.

Da ich gesehen habe, dass Sie das Buch selbst verlegen, möchte ich mich erkundigen, ob, und wenn ja, zu welchen Konditionen, ich fünfzig Exemplare direkt bei Ihnen ordern kann.

Ich würde mich sehr über eine positive Antwort freuen.

Herzliche Grüße

Helen Ames

War das so in Ordnung? Egal. Sie konnte nicht den ganzen Tag daran herumfeilen. Kurzerhand klickte sie Senden.

„Erledigt!“, rief sie erleichtert, klappte den Laptop zu, strich sich mit den Handflächen über die Oberschenkel und stand auf. Vor ihrem geistigen Auge sah sie schon Horden von begeisterten Leserinnen restlos alle Ausgaben von den Rosenblüten an sich reißen. Vielleicht könnte Jordan ja auch ein paar signieren? Das wäre grandios! Hoffentlich stimmte sie dem Verkauf aber überhaupt zu! Sie wären der erste Buchladen, der das Buch im Sortiment hätte, und allein damit würden sie sich von der Masse abheben. Och, wie aufregend das alles doch war!

„Ja? Hast du ihr geschrieben?“, fragte Mina und kam neugierig zu ihr an den Tisch.

Helen nickte. „Ja. Jetzt heißt es warten. Hoffentlich sagt sie nicht Nein!“

„Ach Quatsch! Bestimmt nicht! Schau mal: Die Bücher stellen wir genau hier hin. In die Mitte. Unter und zwischen die Vasen mit den Rosen. Hach … Das wird so schön aussehen!“, seufzte Mina verzückt, faltete die Finger ineinander und hielt sie an ihr Kinn.

„Ja, das wird wunderschön aussehen. Ein richtiger Blickfang. Und du, liebe Mina, wirst es unwiderstehlich dekorieren. Mit Blumen, Oma-Geschirr etc. dazu, ja?"

"Oh ja! Mit dem größten Vergnügen!", seufzte Mina und verdrehte voll Vorfreude die Augen.

Nun lachten alle und Helen erkundigte sich voller Tatendrang, wie und wo sie nun mit anpacken könnte.

„Du? Uns helfen? Gar nicht“, antwortete Mina schelmisch und zwinkerte Claire zu.

„Hier, schau. Da hast du deine Anfänger-Liste zurück. Ein paar Mal hast du richtig ins Schwarze getroffen. Aber ein paar Titel haben wir gestrichen, weil die nur schön aussehen, aber nichts taugen. Dafür haben wir ein paar andere hinzugefügt. Darunter finden sich auch viele Titel von Indie-Autoren. Also, mach dich mal ans Kontakte-Knüpfen und Bestellen! Gutes Gelingen!“ Aufmunternd und keinen Widerspruch duldend grinsten sie sie an und kicherten wie zwei Teenager, als Helen völlig überrumpelt zurück an ihren Laptop schlich, ihn erneut aufklappte und einer Indie-Autorin (denn unter den Namen befand sich kein einziger Mann) nach der anderen eine E-Mail schrieb.

„Und nun?“, fragte sie gut eineinhalb Stunden später, lehnte sich im Stuhl zurück und streckte sich genüsslich.

„Nun? Nun ist Zeit für die Mittagspause!“, rief Mina, hakte sich bei Helen unter und zog sie an sich. „Na, Miss Lovestory? Wie geht' Ihnen an diesem bedeutungsschweren Tag? Zufrieden? Aufgeregt? Voller Vorfreude?“

„Hm … wenn ich es mir recht überlege: Alles!", antwortete Helen kichernd. "Aber wieso?"

„Och, nur so … So viel Rosarot muss doch ungewohnt für dich sein“, neckte Mina sie.

„Das stimmt, es erschlägt einen ja fast“, gab Helen nachdenklich zu und rieb sich die Nase. Doch dann musste sie lachen. „Aber es ist auch aufregend. Und irgendwie auch …“

„Auch schön?“, fragte Claire hoffnungsfroh und zog die Augenbrauen in die Höhe.

„Na ja“, gestand Helen schmunzelnd. „Irgendwie schon, ja.“

„Och, ja, endlich! Du wirst wieder!“, seufzte Claire, kam auf sie zu und schloss sie in die Arme. „Vielleicht heilen deine Wunden ja so.“ Fest drückte sie sie an sich und Helen sog die Kraft, die von ihrer Freundin ausging, hungrig auf.

„Mhm“, murmelte sie und nickte, bevor sie sich wieder von ihr löste.

Auch Mina drückte ihren Arm und sah sie voll Wärme und Liebe an. „Na, dann wollen wir mal!“ Als sie sich von Helen abgewandt hatte, ballte sie die Faust und murmelte leise, kaum hörbar, vor sich hin: „Das ist ein Zeichen. Ein gutes Zeichen!“

Es war zwar erst Ende April, aber schon warm genug, um nur leichte Strickjacken über ihren Kleidern zu tragen. Alle drei hatten ähnliche Modelle mit feiner Lochhäkelei. Claire in Hellblau, Mina in Gelb und sie selbst in Lindgrün. Wir sehen toll aus, dachte Helen glücklich, als sie in bester Laune ihre Taschen nahmen, sich unterhakten und zu ihrem Lieblings-Deli schlenderten. Das war ein Sandwich-Laden, in dem sie leider keinen freien Tisch mehr ergatterten und deswegen weiter in den nahegelegenen Holland-Park gingen, in dem Tulpen ihre farbprächtigen Kelche in den Himmel reckten. Wie die Hühner setzten sie sich auf eine freie Bank, schlugen das rechte Bein über das linke, und bissen genüsslich in ihre Sandwiches. Dann verwarfen sie den Gedanken, über den Namen zu schlafen. Sie fanden, dass das Thema jetzt entschieden werden musste.

„Ich meine, wir sind schließlich in Notting Hill! Kaffee und Kuchen, Blumen und Bücher … das schreiben wir irgendwo an die Fenster oben hin. Damit jeder weiß, worum es bei uns geht“, überlegte Claire laut.

„Aber das sieht man doch!“, warf Mina verständnislos ein.

„Aber es kann ja nichts schaden. Und als Geschäftsname nehmen wir und andere Liebesgeschichten.

„Im Ernst? Klingt nicht schlecht. Aber was ist das, was vor dem ‚und‘ kommt?“, stöhnte Helen, stützte das Gesicht in die Hände und schielte genervt zur Bank links von ihnen, auf der eine Frau saß und lautstark telefonierte. Rechts neben ihnen saßen zwei Männer, die in der linken Hand ihre Sandwiches hielten, in der rechten ihre Smartphones, auf denen sie hektisch herumtippten und gar nicht mehr versuchten, sich miteinander zu unterhalten.

„Offline …“, seufzte sie genervt. „Einfach mal das Internet ausschalten … Kollektives Offline …“, murrte sie vor sich hin.

„Was sagst du da?“, rief Claire hellhörig und sprang so unüberlegt auf, dass sich der Rest ihres Couscoussalates auf dem Gehweg verstreute, was sofort zahlreiche Tauben anlockte.

Offline?“ Zweifelnd schaute Helen auf.

„Ja! Ja, genau das ist es! Offline!“ Claire war ganz aus dem Häuschen. „Es nervt uns doch alle. Mal ehrlich: Wollen wir, dass die Kundinnen nur halb da sind oder dass sie ganz in unsere Welt eintauchen und ihre Sorgen vergessen? Wollen wir das ständige Fiepen und Klacken der Tasten? Wollen wir Menschen, die gar nicht richtig mitkriegen, wo sie in ihren Bildschirm starren? Wollen wir eine richtig schöne Traumwelt bieten, in der es duftet, schmeckt, die man fühlen, greifen, spüren kann, oder wollen wir es nur ein bisschen? Wir geben doch nicht umsonst unser Bestes, oder?“ Sie sprach immer schneller und lauter und fuchtelte immer wilder mit den Händen in der Luft herum.

„Nein! Natürlich nicht!“, schrien Mina und Helen. „Natürlich nicht! Wir wollen, dass sie bei uns sind, und zwar richtig!“

Eben!“, kreischte Claire, klatschte in die Hände und fiel den beiden anderen in die Arme.
Offline and other lovestories, das ist es! Das ist Name und Konzept zugleich!“

„Oh wow! Das ist es! Das ist die Idee!“, jubelten alle außer sich vor Freude.

„In so einen Laden will doch wirklich jeder kommen, oder nicht?“, fragte Helen begeistert und strahlte wie der Goldflieder am Wegesrand.

„Absolut! Und wer nicht kommen will, wäre ohnehin nicht richtig bei uns!“, meinte Mina.

„Also ich – ich würde sogar einziehen wollen!“, rief Claire verträumt und lachte. „Oh ja!“

„Selbstverständlich! Halt mir ein Bett frei!“, juchzte Mina und lehnte sich auf der Bank zurück. „Hach, das ist wunderbar! Einfach wun-der-bar!“

„Es passt. Total. Wir erlauben keine Handys, keine Tablets, nichts. Das ist das Sahnehäubchen. Und es passt einfach soooo gut zu uns“, seufzte Claire und schaute träumerisch in den Himmel.

„Oh ja. Das machen wir! Und ihr richtet ihn so toll ein, da kann niemand an uns vorbeigehen, das spüre ich! Die Leute werden Schlange stehen."

Die beiden Angesprochenen lächelten, schauten auf die Uhr und verkündeten wie aus einem Mund: „Danke. Apropos machen. Wir müssen los!“ Wie auf ein Kommando sprangen sie auf.

„Oh ja!“, rief Helen und rappelte sich ebenfalls hoch.

„Stopp! Du nicht! Du bleibst hier!“, bestimmte Claire mit ausgestreckter Hand und drückte sie vehement auf die Bank zurück.

„Was? Wieso denn? Was soll das?“, fragte Helen verwirrt und schüttelte den Kopf. „Wir müssen doch …“

Wir müssen, du nicht. Du liest jetzt das Buch!“

„Das Buch lesen? Jetzt?“

„Jawohl. Richtig gehört. Hier ist es. Bitte schön!“, tönte Mina, zog ihr elektronisches Lesegerät aus der Tasche, klickte darauf herum und hielt es ihr unter die Nase. „Bis später und viel Vergnügen!“, zwitscherte sie dann, öffnete und schloss die Hand mehrmals zum Gruß und wandte sich breit grinsend zum Gehen.

„Ha – Moment!“, setzte Helen noch an, musste aber erkennen, dass jeglicher Widerstand zwecklos war, denn schon hakten sich die beiden Freundinnen unter und gingen kichernd davon.

„Na schön“, dachte sie und spürte, wie die Freude über den freien Nachmittag auf einer Parkbank, mit Blick auf ein buntes Blumenbeet und der Sonne im Gesicht sich breitmachte. Lächelnd lehnte sie sich zurück und schlug die Beine übereinander und begann neugierig zu lesen. Noch ehe sie sich versah, tauchte sie ein zwischen die Zeilen, verlor sich darin und begann, sich treiben und tragen zu lassen. Sie begann zu träumen, zu bangen und zu hoffen. Sie spürte keinen Hunger und keinen Durst und sog jedes sorgfältig gewählte Wort begierig in sich auf. Sie spürte nicht den Schmetterling, der lange Zeit auf ihrer Hand saß, und nicht die Tränen, die in Strömen über ihre Wangen liefen.

Sie fühlte nur den alles zerreißenden Schmerz, der Linda und Tim überkam, als sie erfuhren, dass Linda unwissentlich jemanden getötet hatte und dafür ins Gefängnis musste. Sie spürte die grenzenlose Liebe, mit der ihr Mann Tim ihr beistand, sie aufrichtete, ihr Halt, Wärme und Licht gab. In jedem Winkel ihres lange Zeit vereisten Herzens spürte sie die Verzweiflung des Mannes, seine Hingabe, seine Ohnmacht und seine Liebe für die Frau, die ihm entrissen wurde. Und die sich aus Scham und Selbsthass, und auch um die Situation für Tim vermeintlich leichter zu machen, von ihm abwandte. Sie wollte ihn freigeben, vor noch mehr Schmerz bewahren und quälte ihn dabei nur zusätzlich. Sie verschloss sich vor ihm und vor sich selbst. Wollte nichts mehr fühlen. Wollte innerlich tot sein, bevor sie starb. Genau wie Tim. Genau wie Helen. Sie fühlte Tims Wut und die Dunkelheit wie ihre eigene, als Linda an wenige Wochen vor ihrem Tod diagnostiziertem Bauchspeicheldrüsenkrebs im Gefängnis starb, während Tim auch dann nicht zu ihr durfte. Das Kind, das sie sich immer gewünscht hatten, wurde nie geboren. Inwiefern Linda doch an dem Tod schuld trug, wurde nur angedeutet, doch für Helen stand fest, dass es an der Kälte ihres Herzens lag.

Helens Narben brachen auf. Der Schmerz war höllisch. Er drohte, ihr die Brust zu zerreißen, aber endlich strömten all die Tränen aus ihr, die sich in den letzten Jahren in ihr aufgestaut und ihr Herz vereist hatten.

Auch wenn die Geschichten unterschiedlich waren, so waren Tims und ihre Ohnmacht, die gestorbenen Chancen und die empfängerlos gewordene Liebe identisch.

Das, was Tim für Linda empfand, was er für sie tat, das war es, was sie sich von einem Mann wünschte. Sie sehnte sich nach einem Mann, der nicht nur coole Sprüche und ein mackiges Auftreten hatte, sondern mitten im Leben stand. Von einem Mann geliebt zu werden, das war ihr tiefster, innigster Wunsch. Bedingungslose Liebe. Hingabe. Vertrauen. Ein Mann, der sie liebte, mehr als sie sich selbst jemals lieben könnte.

Aber solche Männer gab es nicht, das wusste sie, aber … Vielleicht doch? Und seit wann gestand sie sich diesen Wunsch ein? War das das Gift der Liebesromane? Oder die Heilung? Sie begann zu träumen. Und zu hoffen. Warum nicht? Gab es diese Männer wirklich nicht? Männer, die zu ihrer Frau, ihrem Wort und ihren Gefühlen standen? So wie Sebastian zu Claire? Männer, die zugeben konnten, dass sie litten? Dass sie überhaupt Gefühle hatten? Die keine glatte Fassade brauchten?
Wer wusste das schon.

Die Glocken einer naheliegenden Kirche schlugen gerade sechs Uhr, als sie das Buch sinken ließ, sich die letzten Tränen aus dem Gesicht wischte und benommen in die Wirklichkeit zurückkehrte. Mit zitternden Knien stand sie auf, sah sich um, packte ihre Sachen zusammen und fühlte sich trotz des Durstes und der zugleich drückenden Blase merkwürdig leicht. Als sie völlig verheult den Laden erreichte, brauchten Mina und Claire keine Worte. Sie fragten nicht, sondern breiteten stumm ihre Arme aus, in die Helen sich wortlos fallen ließ. Und dann weinte sie noch ein bisschen mehr.

~Sechs~

Ein paar Tage später trafen die ersten schweren Bücherlieferungen der Indie-Autoren ein. Meterhoch türmten sich bereits die zum Teil signierten Ausgaben und warteten nur darauf, dass Helen sie in den von Minas Cousins montierten Regalen ausstellte. Helen selbst war freudig überrascht, mit wie viel Hingabe und Liebe sie dieser Arbeit nachging. Gut, die Titel verhießen alle eine schöne Welt, aber was war daran eigentlich so schlimm? Ein paar schöne Stunden ... Träumen, sich fallen lassen ... Während Minas Cousinen und Cousins eifrig zur Hand gingen, sagte Jim seine Hilfe ab, da er überraschend zu einem längeren Auslandsaufenthalt berufen wurde. Eigentlich hätte Helen darüber erleichtert sein sollen, doch zu ihrer eigenen Überraschung war sie traurig, ihn nicht zu sehen. Denn Jim war nicht nur nett, hilfsbereit, intelligent und lustig, sondern auch gut aussehend und einfühlsam. Wie verrückt war das alles denn, dachte sie kopfschüttelnd. Noch vor wenigen Tagen war ihr das entweder nicht aufgefallen oder sie hatte es nicht wahrhaben wollen. Doch jetzt, nach der Lektüre von „Tränen auf Rosenblüten“, war alles anders. In dem Buch hatte sie eine verwandte Seele getroffen. Die Autorin dieses tief gehenden Stoffes fühlte wie sie; wusste, was Schmerz, Verlust, Leid und ein Herz voll überflüssiger Liebe waren. Wie Jordan wohl in echt war? Ob sie sich dann auch verstehen würden? Ach, wenn es nur wirklich einen Mann gäbe, der so stark lieben könnte wie Tim, dann würde ihr Herz heilen können. Dachte sie.

Sie war gerade allein im Laden und verrückte einen Stapel von „Rotweiß und mit dir“, sodass das Cover gleich vom Eingang aus zu sehen war. Zwischen den Büchern stellte sie kleine rot-weiß karierte Tassen auf und betrachtete stolz ihr Werk, als eine weitere Lieferung eintraf. Schon beim Anblick des Absenders quiekte sie vor Aufregung wie ein fröhliches Ferkel. Jordan Travers stand da in Großbuchstaben. Cardiff, Wales.

Hektisch schnitt und riss sie den Karton auf und seufzte selig auf, als sie die Bücher sah. Sind die schön, dachte sie selig, nahm ein Buch heraus und drückte es an die Brust. Das erste würde nicht in den Verkauf, sondern direkt in ihre Tasche wandern, damit sie es in Ruhe noch einmal lesen konnte. Zärtlich drückte sie einen Kuss auf die Einschweißfolie. Wie sehr dieses Buch sie doch verändert hatte! Seitdem sie sich beim Lesen die Seele aus dem Leib geweint hatte, fühlte sie sich von Tag zu Tag befreiter. Sie atmete, ja, sie blühte richtiggehend auf. Eine zentnerschwere Last und meterdicke Kruste bröckelten noch immer von ihr ab. Wenn, ach ja, wenn doch nur ... Aber zuerst wollte sie Jordan danken.

Liebe Jordan,

begann sie nun schon wesentlich selbstsicherer.

Vielen herzlichen Dank für die Bücher! Die Lieferung ist gerade bei uns eingetroffen und morgen, wenn sie vor einem Strauß roter Rosen dekoriert sind, schicke ich dir ein Bild.

Ich wollte dir schon lange (gut, das war geschwindelt, aber so eng konnte man das nicht sehen) sagen, wie sehr ich selbst dein einzigartiges, tiefgängiges und äußerst ergreifendes Buch genossen habe. Gut, genossen ist vielleicht das falsche Wort. Zunächst habe ich entsetzlich gelitten und geheult, aber nun spüre ich, dass sich etwas in mir verändert. Ich hatte davor, nach einem traumatischen Erlebnis, mehrere Jahre nicht mehr geweint und alles in mich hineingefressen. Die Wut, den Schmerz, die Ängste: Deckel drauf, gut weiter, das war meine Devise. Die Geschichte von Tim und Linda hat etwas in mir losgetreten, oder gelöst. Jedenfalls fühle ich mich seitdem freier und zuversichtlicher. Die Welt, mein Leben, sieht endlich wieder heller und wärmer aus.

Deswegen möchte ich dir für diese wunderschöne Geschichte aus ganzem Herzen danken.

Herzlichst,

Deine Helen

Bevor sie noch lange überlegen konnte, ob das noch immer angemessen war, schickte sie die E-Mail ab. Vielleicht war das absolut lächerlich, und vielleicht bekam Jordan viele ähnliche Briefe, aber egal. Vielleicht freute sie sich aber auch über das Lob und die Anerkennung. Von Frau zu Frau konnte man so etwas doch zugeben, oder nicht? Und wollten Autoren nicht wissen, wie ihre Werke bei den Lesern ankamen? Vermutlich schon. Selbst wenn Jordan sie nun für eine alberne Kuh hielt, so war es doch egal, denn Jordan lebte weit weg.

Nach dem Absenden klappte sie mit einem breiten Grinsen den Laptop zu, stand auf und machte sich ans Auspacken der Bücher. Andächtig ließ sie ihre Fingerspitzen über das Titelbild streichen. Die Tränen und die Rosen waren erhaben, was ein wunderbares Gefühl war. Summend legte sie mehrere Ausgaben von dem wunderschönen Buch auf einen der runden einfüßigen Tische, die sie in dem Oma-Café ergattert hatten. Links und rechts neben dem Tisch standen schon zwei gemütliche Sessel, die mit dunkelrotem Stoff bezogen waren. Verspielt fächerte Helen die Bücher auf und lehnte ein bereits ausgepacktes Ansichtsexemplar an die goldene Vase, damit jedem das wunderschöne Cover sofort ins Auge sprang. In die große Vase würde Mina morgen, am Tag der Eröffnung, dunkelrote und kräftig pinkfarbene Rosen stellen. Schöner konnte man die berührendste Liebesgeschichte aller Zeiten doch gar nicht präsentieren, dachte Helen verzückt und lächelte glücklich.

Dann ließ sie ihren verträumten Blick durch den Laden schweifen. Wie wunderschön alles geworden war!

Auf dem breiten Gehsteig, den man durch die deckenhohe Fensterfront gut sehen konnte, standen Tische und Stühle, damit die Gäste auch im Freien ihren Kaffee und Kuchen genießen und dabei in den verheißungsvoll klingenden Romanen schmökern konnten. Drinnen wie draußen würde es himmlisch nach Blumen, Kaffee und warmen Kuchen riechen. Nur der Duft der Bücher verlor sich jetzt schon ein wenig und man musste die Nase ganz weit zwischen die Seiten stecken, um ihn wahrzunehmen.

Im rechten Teil, so wie es von Anfang an geplant war, befand sich das Zentrum von Claires Reich. Von hier konnte sie aus ihrer modernen, und von Minas Cousin Taj installierten, Küche all die verführerisch duftenden und unwiderstehlich aussehenden Cupcakes, Torten und weitere Gebäcksorten in den Verkaufsraum bringen und auf einer tiefen Theke aus beinahe schwarzem Holz präsentieren. Die Theke stammte aus einem anderen Abverkauf in Clapham und war Claires ganzer, oder zumindest ein Teil ihres ganzen, Stolzes. Die untere Hälfte der Front bestand nämlich aus weißem Marmor, die obere aus einer Vitrine, in der die Köstlichkeiten präsentiert wurden, ebenso wie in Etageren und auf silbernen Kuchenplatten. Hinter der Theke thronte schließlich die große, und unfassbar teure, italienische Kaffeemaschine. Um den besten Kaffee diesseits der Themse brauen zu können, war vor zwei Tagen extra ein unglaublich gutaussehender Halb-Italiener mit irischem Akzent zu ihnen gekommen, von dessen Aura Mina heute noch ganz wuschig war, und hatte sie in die tiefsten Geheimnisse des rauchenden und fauchenden Ungeheuers eingewiesen.

Und natürlich waren überall Bücher. Sie standen in matt-weiß gestrichenen und naturbraunen Regalen, lagen auf Tischen und Hockern, lehnten an Blumenvasen und lockten sogar noch zwischen unwiderstehlichen Bilderrahmen, Kerzen und anderen verspielten Dingen, die das Herz aller Frauen höher schlagen ließen.

Während die Front, wie gesagt, aus Glas bestand, befanden sich die drei restlichen Seiten des Raums aus fensterlosen Wänden. Die linke davon, an der die Mehrzahl der unterschiedlich hohen Bücherregale stand, war in einem warmen Orange-Gelb gestrichen. Diese Farbe erstreckte sich bis ins erste Drittel der Rückwand, wo sie allmählich in weich geschwungenen Wellen in das sanfte Creme-Weiß überging, das die restliche Wand zierte.

„Ach“, seufzte Helen glücklich, stemmte die Hände in die Hüften und reckte das Kinn in die Höhe. Da bemerkte sie, dass ihr vor lauter Glück und Rührung die Tränen in die Augen stiegen. Was war nur mit ihr los? Leise lachend schüttelte sie den Kopf und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Sie war so vertieft gewesen, dass sie Minas und Claires Rückkehr nicht gehört hatte.

„Na?“, fragte Mina leise, die unbemerkt hinter sie getreten war und legte ihr sanft die Hand auf die Schultern. Eine vertrauliche Geste, die sie Jahre lang unterlassen hatte. „Alles in Ordnung mit dir?“

„Oh ja. Und wie. Ich bin nur gerade ganz gerührt. Es ist so unbeschreiblich schön. So üppig, so voller Lebensfreude und einladend!“, seufzte sie, fasste Minas Hand und drückte sie.

„Ja, nicht wahr? Es ist einfach wirklich wie ein Traum“, stimmte Mina zu und lachte ihr hohes, perlendes Lachen.

„Hey, ihr zwei, was gibt’s denn da bei euch zu lachen? Du strahlst ja richtig, meine Liebe!“, rief Claire und sah Helen verzückt an.

„Es ist einfach noch viel schöner geworden, als ich es mir jemals hätte vorstellen können. Und wie wird es erst sein, wenn morgen die Blumen kommen! Oh Mann, ich sag’s euch, ich bin wirklich unendlich froh, dass ich euch habe, und dass wir das zusammen machen“, flüsterte Helen und ballte vor Glück die Faust. „Mein Gefühl sagt mir, dass es großartig wird. Die Leute werden es lieben! Ich spüre es! Ich weiß es!“

„Ich auch. Was soll man daran auch nicht mögen können“, stimmten die anderen beiden zu.

„Aber weißt du, was mich mindestens genauso glücklich macht wie der Laden?“, fragte Claire und legte Helen eine Hand auf die andere Schulter.

„Nein, was denn?“, fragte Helen mit belegter Stimme, denn sie genoss es sehr, so zwischen ihren beiden Freundinnen zu stehen und von ihnen berührt zu werden.

„Dass du wieder lachst und dein Trauergewand abgelegt hast“, antwortete Claire ruhig und zog sie an sich.

„Ja, das finde ich auch! Du bist wie ausgewechselt, seitdem du das Buch gelesen hast“, pflichtete Mina bei und nickte mit glänzenden Augen.

„Ja?“, erwiderte Helen gerührt. „Merkt man mir das so deutlich an?“

„Oh ja! Und wie! Es ist, als wäre eine Last von dir gefallen. Oder eine Mauer eingestürzt.“

„Du wirkst viel zuversichtlicher, hoffnungsvoller“, sagte Mina.

„Man darf nie aufhören zu hoffen und zu träumen. Das ist doch eine Sünde!“, rief Claire und lachte. „Nicht wahr? Und nun kannst du wieder träumen und dich verlieben und … Wer weiß! Vielleicht findest du deine große Liebe genau hier, bei uns!“

„Ein Mann in unserem Reich? Na, das wäre aber ein Wunder!“, rief Helen, halb lustig, halb traurig. Sie senkte den Blick und hob beide Hände. „Nein, lasst nur. So weit bin ich noch lange nicht! Kein neuer Mann, okay?“

„Nein?“, fragte Mina enttäuscht und gedehnt. „Noch immer nicht?“

„Nein. Noch immer nicht“, versetzte Helen vehement und wandte sich abrupt ab.

„Okay, dann noch nicht. Vielleicht später, ja? Ich mach dann mal weiter“, löste Mina die angespannte Stimmung und ging zu ihrem Laptop zurück. „Claire, sag mir bitte noch mal die Titel deiner Backkurse für Mai und Juni.“

„Also“, antwortete diese und legte einen Finger an die Lippen. „Da wären ‚Erfrischendes mit Zitronen und Beeren‘, ‚Sizilianische Sünden‘ …“

Sizilianische Sünden?“, schaltete Helen sich mit einem etwas gezwungenen Lachen ein, da sie die Harmonie wiederherstellen wollte. „Das klingt ja wie der Titel eines spannenden Liebesromans! Wovon redet ihr eigentlich?“

„Na, von unseren Events!“ Entgeistert sah Claire sie an.

„Events? ... Oh …“ Dunkel erinnerte Helen sich, dass in grauer Vorzeit, das heißt, vor der Lektüre des Buches, tatsächlich von Events die Rede war. Waren die nicht vom Tisch? Events, Events … Aus Mangel an Kreativität und vor allem Geld hatte sie davon abgesehen und in dem Gefühlstumult, den das Buch ausgelöst hatte, schließlich ganz vergessen.

„Ich komme gleich zu deinen Plänen. Ich mache nur schnell die Liste mit Claire fertig“, beschloss Mina.

„Hast du denn deine schon eingetragen?“, fragte Helen jedoch umgehend, um Zeit zu gewinnen. Events. Welche Events bitte schön! Ihr Hirn ratterte fieberhaft auf der Suche nach dem Knaller, der die Damenwelt zwischen zwanzig und siebzig aus ganz London von ihrer Eingangstür bis zum Hyde Park Schlange stehen lassen sollte, was immerhin an die zwei Kilometer waren.

„Ich?“, rief Mina überrascht. „Was soll ich denn bitte schön anbieten? Etwa Bind dir deinen Strauß doch selber?“

„Haha“, prustete Helen los. „Ja, genau! Das ist es! Vielleicht könntest du es nur ein klein bisschen netter formulieren!“

Claire sah Minas verwirrtes und leicht entsetztes Gesicht und kicherte ebenfalls los. „Mensch, Süße, dass wir dich einmal fassungslos erleben, das hätte ich mir auch nicht träumen lassen, was?“, fragte sie Helen und gab ihr einen verschwörerischen Rempler mit dem Ellbogen.

„Haha. Wirklich sehr lustig. Überlegt lieber mal ernsthaft mit!“, verteidigte sie sich und eine steile Falte bildete sich auf ihrer Stirn. „Ach, das ist ja jetzt wirklich zu doof!“, schimpfte sie plötzlich ungehalten.

„Na, komm. Was ist denn mit dir los? Hast du Hunger? Unterzucker? Oder Hormon-Flaute? Ist es mal wieder Zeit für eine Pizza? Hm?“, fragte Helen einfühlsam.

„Gut möglich. Wobei – jetzt waren wir so oft dort und noch nie hat der Kerl mich nach meiner Nummer oder sonst was gefragt. Ich glaube, der kann sich seinen Strauß auch selber binden, wenn ihr wisst, was ich meine.“

„Nicht ganz, aber ungefähr“, antworteten Helen und Claire lachend. „Dann aber mal im Ernst: Wie wäre es mit ‚Blumengestecke für den Sommertisch‘, ‚Blumenarrangements für jeden Einrichtungstyp‘, etc.“

„Aber das will ich doch verkaufen!“, rief Mina und da war sie wieder, die steile Falte. „Die sollen das auch nicht selbst machen! Das ist diese beknackte Do-it-yourself-Mentalität, echt wahr!“, schimpfte sie und schlug den Laptop zu. „Dabei sieht das meiste, was die Leute, die sich für Halbgötter halten, dermaßen bescheuert aus, dass man ihnen nur Beileid zur Blindheit wünschen kann."

„Oh … dann ist es also definitiv Zeit für eine neue Pizzeria. Neuer Italiener, neues Glück“, befand Claire leise und setzte sich neben Mina.

„Mina, Liebes! Deine Kunden werden sich doch nicht den Blumenschmuck selbst machen. Dazu haben sie doch gar keine Zeit und nicht das Geschick. Und falls doch eine dabei sein sollte, dann verkaufst du ihr eben die Blumen, die sie dafür braucht. Das Ganze ist doch nur ein Event!“, sagte Helen einfühlsam. „Sie werden merken, dass es schwieriger ist als gedacht. Du wirst wie eine Göttin für sie sein. Sie machen den Kurs mit ihren Freundinnen, lernen neue Frauen kennen, du bist ihnen total sympathisch und sie bestellen anschließend doch alles bei dir, weil sie selber ja gar nicht die Zeit dafür haben.“

„Au, ja … Mensch! Du sagst es! Du hast recht!“, rief Mina, sprang auf und klatschte in die Hände. „Das ist es! Oh ja! Das mache ich. Das wird schön!“

„Na prima“, lachte Helen und kratzte sich am Kopf. PMS, eindeutig. Mina litt schon immer daran; ihre Stimmungsschwankungen in den zwei Tagen waren gefürchtet. Heute ging es sogar noch.

Und dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Noch bevor sie den Gedanken zu Ende denken konnte, sagte sie auch schon: „Ich dachte an Lesungen und Autogrammstunden, habe aber noch keine Zusagen.“ Das war zumindest nicht wirklich gelogen, denn schließlich hatte sie noch gar nicht gefragt. „Ihr bekommt die genauen Daten, sobald ich sie habe“, versicherte Helen voll Vorfreude grinsend.

„Oh ja … Dass wir daran nicht früher gedacht haben! Mensch! Jordan Travers kommt bald zu uns! Juhu, juhu, juhu! Ich will sie so gerne kennenlernen!“, riefen Mina und Claire durcheinander. „Hier, da vorne, wird sie sitzen, zwischen all den Rosen und neben dem Ficus Benjaminii!“, träumte Mina, deren Laune sich binnen einer Sekunde um 180 Grad gedreht hatte, laut vor sich hin. Und Claire fügte ebenso entzückt hinzu: „Und hier werden Stuhlreihen stehen. Dicht besetzt. Das Haus wird ausverkauft sein, oh ja! Tage im Voraus! Wir werden die Lesungen ein ums andere Mal wiederholen können. Ach ja, ach ja!“, trällerte sie und tippelte aufgeregt umher.

„Sie wird bestimmt die Stelle, wo Linda stirbt, vorlesen und wir werden uns alle in Tränen auflösen …“

„Ich werde mit Rosen bedruckte Taschentücher besorgen ...“

So fantasierten sie eine Weile vor sich hin, bevor Helen sich schmunzelnd daran machte, Autoren einzuladen.

Drei neue Nachrichten, wurde ihr angezeigt, und als sie den Posteingang öffnete, fand sie zu ihrer Begeisterung eine Antwort von Jordan.

Liebe Helen,

vielen herzlichen Dank für Deine Worte, die mich tief berührt haben. So etwas hat mir noch niemand gesagt und ich freue mich außerordentlich, dass dich mein Buch so tief berühren konnte, dass sich dein Leben zum Besseren wendet. Ich wünsche Dir von Herzen, dass Dein Herz heilt. Auch ich weiß aus eigener Erfahrung, wie wichtig es ist, dass wir verzeihen können und nicht grollen. Damit vergiften wir uns und unser Umfeld.

Außerdem freue ich mich natürlich schon riesig auf das Foto von meinen Büchern zwischen den Rosen. Ich werde es in meinen sozialen Medienkanälen posten, wenn es okay ist?

Herzliche Grüße, und bis bald,

Jordan

Helens Herz schlug schneller. Was für eine Antwort! Jordan wusste das aus eigener Erfahrung ... Oh ja, das war wirklich eine weise Frau. So ganz verstand sie das mit dem Groll und dem Vergiften zwar nicht, aber es klang gut und sie würde darüber nachdenken. Nur in der Sache mit dem Verzeihen ... Nun, das konnte sie nicht versprechen. Wie sollte sie Stuart jemals verzeihen können, was er ihr angetan hatte!

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739395173
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (September)
Schlagworte
Liebesroman Blumen Schriftsteller London konditorei Buchladen

Autor

  • Annabelle Benn (Autor:in)

Annabelle Benn ist eine deutschen Autorin, die im schönen Berchtesgadener Land aufwuchs und nach vielen Stationen im In- und Ausland heute wieder dort wohnt. In ihren Romanen entführt sie ihre Leser in eine friedliche, romantische, zugleich aber realistische Welt mit liebenswerten Figuren. Natürlich darf die nötige Spannung und Dramatik dabei dennoch nicht fehlen. Mit Vorliebe spielen ihre Geschichten in Irland und London, wo sie selbst einige Zeit lebte.
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Titel: Das Café der vergessenen Träume