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Brave Mädchen schreien nicht

von Dania Dicken (Autor:in)
275 Seiten
Reihe: Libby Whitman, Band 1

Zusammenfassung

Um ihrem Traum von einer Laufbahn als FBI-Profilerin näherzukommen, fährt Libby Whitman Streife in der kalifornischen Metropole San José. Ein Fall von häuslicher Gewalt lässt der jungen Polizistin keine Ruhe: Nachdem sie und ihr Partner zum wiederholten Mal von Nachbarn zu Luke und Cassidy Maxwell gerufen werden, bietet Libby der eingeschüchterten Frau ihre Hilfe an. Mit viel Fingerspitzengefühl versucht Libby, sie zu einer Anzeige gegen ihren Ehemann zu bewegen, doch am nächsten Tag ist Cassidy spurlos verschwunden. Mit ihrer hartnäckigen Suche nach der Frau macht Libby sich bei ihren Kollegen und Vorgesetzten unbeliebt, einzig Detective Owen Young bestärkt sie darin. Als Cassidys Leiche Tage später brutal vergewaltigt und schwer misshandelt aufgefunden wird, landet der Fall auf Owens Schreibtisch. Libby sagt sofort zu, als er sie darum bittet, ihn auf der Suche nach dem Täter zu unterstützen – doch beide ahnen nicht, welche grausigen Details ihre Ermittlungen ans Licht bringen … Erster Fall der angehenden FBI-Profilerin Libby Whitman

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

 

Dania Dicken

 

Brave Mädchen schreien nicht

 

Libby Whitman 1

 

 

Thriller

 

 

 

 

 

 

 

Prolog

 

„Ich will, dass du stillhältst.“ Mit diesen Worten packte er sie an den Haaren und riss ihren Kopf in den Nacken. Ihr folgender Schrei wurde von ihrem Knebel erstickt. Sie wimmerte leise, aber jetzt hielt sie still.

„Braves Mädchen.“ Er hielt immer noch ihre Haare fest, während er sie mit der anderen Hand an den Hüften packte. Sie schluchzte leise, aber das machte es authentischer.

Sie war gut, das musste er schon sagen. Wirklich gut. Natürlich konnte sie sich gefesselt nicht wehren, aber sie versuchte es auch gar nicht.

Er stieß härter zu. Das Wissen, von den anderen beobachtet zu werden, spornte ihn noch an. Ihr ersticktes Weinen gefiel ihm.

„Du bist doch ein braves Mädchen, oder?“, fragte er atemlos. Sie reagierte nicht, bis er sie immer heftiger nahm. Sie winselte etwas, das wie ein Nein klang.

„Nein? Bist du kein braves Mädchen? Muss ich dich bestrafen?“ 

Sie schüttelte wimmernd den Kopf.

„Bist du sicher?“

Jetzt nickte sie. Er ließ ihre Haare los und packte sie jetzt mit beiden Händen an den Hüften. Sie versuchte immer noch, etwas zu sagen, das sich wie ein Nein anhörte. Mit jedem Stoß entfuhr ihr ein Schmerzenslaut. Das gefiel ihm so gut, dass er sich nicht länger zurückhielt und sich keuchend an ihr festkrallte. Sie weinte noch immer.

Er verharrte reglos und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Zufrieden gab er ihr einen Klaps auf den Po.

„Gut erzogen bist du ja.“

Sie reagierte nicht, sie schluchzte nur. Langsam und mit wackligen Knien stand er auf und blickte zu den anderen.

„Wer will als Nächstes? Ich würde sagen, sie ist jetzt bereit.“

Verzweifelt schüttelte sie den Kopf und versuchte zu betteln. Versuchte sie anzuflehen, dass sie sie gehen lassen sollten. Aber noch war es nicht so weit.

Sie hatten doch gerade erst angefangen.

Samstag. 31. Oktober

 

Während Miguel langsam von der Empire in die 5th Street einbog, ließ Libby ihre Blicke über eine Gruppe Jugendlicher am Straßenrand gleiten. Ein Skelett, ein Henker, Spiderman, ein Geist und eine Spinne standen vor einem Vorgarten und johlten laut. Konzentriert versuchte Libby zu erkennen, ob sie Bierflaschen oder Dosen in der Hand hielten. Spätschicht an Halloween – Thompson hatte es als puren Terror bezeichnet, aber noch war sie froh, jetzt Streife zu fahren. Es gab genug zu tun. Nichts war tödlicher als Langeweile.

Die Jugendlichen beobachteten die Officers im Streifenwagen skeptisch und unterbrachen ihre Unterhaltung für einen Moment.

„Alkohol?“, fragte Miguel knapp.

Libby schüttelte den Kopf. „Keiner, den ich sehen könnte.“

„Fünf Jugendliche und kein Alkohol? Glaub ich nicht.“ Miguel setzte den Blinker und hielt am Straßenrand. Ohne etwas zu erwidern, löste Libby ihren Gurt und stieg aus. An das Gewicht der kugelsicheren Weste hatte sie sich allmählich gewöhnt und stieg leichtfüßig aus dem Wagen. Die Geste, mit der sie den Sitz ihrer Waffe überprüfte, war inzwischen zur Routine geworden.

„Yo, Officer!“, rief der Henker. „Trick or treat?“

„Guten Abend“, begrüßte Miguel die Jugendlichen und nickte ihnen höflich zu. „Alles in Ordnung hier?“

„Alles bestens. Haben Sie heute schon jemanden festgenommen?“

„Bis jetzt nicht. Sollten wir?“

„Wir machen nichts“, sagte Spiderman. Libby musterte die Jugendlichen genau und entdeckte dann eine Flasche in der Hand des jungen Mannes, der sich als Skelett verkleidet hatte. Miguel schien sie im gleichen Moment entdeckt zu haben, denn er warf ihr einen gereizten Blick zu, während er zu dem kostümierten Jungen ging.

„Was hast du da?“, fragte er.

„Cola, wieso?“

„Ohne irgendwas anderes drin?“

„Ja, Mann. Wollen Sie probieren?“

Miguel nickte und nahm ihm die Flasche ab, um daran zu riechen. Schließlich reichte er sie dem Jungen zurück und musterte die anderen noch einmal, bevor er nickte und sagte: „Bleibt schön sauber. Viel Spaß noch.“

Libby verabschiedete sich ebenfalls von den Jugendlichen, bevor sie zu Miguel ins Auto stieg und sie der Straße weiter nach Süden folgten.

„Einer von ihnen hatte eine Flasche“, sagte Miguel streng.

„Ja, mit Cola“, erwiderte Libby unbeeindruckt.

„Du hast sie nicht gesehen.“

„Es gab auch nichts zu sehen.“

„Es hätte auch Whiskey beigemischt sein können.“

Erst erwiderte sie nichts, dann murmelte sie nur: „Ja.“

Er hatte Recht und es ärgerte sie auch, dass sie die Flasche nicht gesehen hatte, aber den Jugendlichen hatten sie ja nichts vorzuwerfen.

Sie fuhren weiter an Vorgärten vorbei, die mit Kürbissen, Geistern und anderen Gegenständen dekoriert waren. Nur vereinzelt waren noch kostümierte Kinder mit ihren Eltern in den Straßen San Josés unterwegs, um an Türen zu klingeln und mit Trick or treat Süßigkeiten zu ergattern. Jetzt kamen die Jugendlichen heraus, um zu trinken und Partys zu feiern.

„An alle Einheiten: 390 und 242 in der Almaden Avenue. Dem Notruf wurde eine Schlägerei in einer Bar gemeldet“, rauschte es aus dem Funkgerät. Noch bevor Libby reagieren konnte, griff Miguel nach dem Funksender und drückte die Taste.

„Die Officers Alvarez und Whitman sind unterwegs. Sind keine Meile entfernt.“

„Verstanden.“

Miguel hatte den Funksender kaum weggelegt, als er Blaulicht und Sirene einschaltete und Gas gab. Sie fuhren geradewegs auf die San José City Hall zu, bevor Miguel nach rechts abbog und der Santa Clara Street eilig nach Westen folgte.

„Und jetzt Augen und Ohren offen halten“, mahnte Miguel, während Libby im Funk noch hörte, dass weitere Einheiten zur Verstärkung unterwegs waren. Eigentlich musste Miguel ihr das nicht sagen, aber er nahm seinen Auftrag, sie noch ein bisschen zu schulen, verdammt ernst. Libby war nun seit dem Sommer bei der Polizei, Miguel aber schon seit fast fünf Jahren. Er wurde nächstes Jahr dreißig und seine Frau, die er vor zwei Jahren geheiratet hatte, erwartete gerade ihr erstes Kind. Viel mehr wusste Libby noch nicht über ihren Partner, obwohl sie schon seit vier Monaten mit ihm fuhr – nur eins hatte sie gleich aufgeschnappt: Police Officer Miguel Alvarez war verdammt gewissenhaft. Es regte ihn immer gleich maßlos auf, wenn eine ihrer Formulierungen in einem Bericht nicht ganz rund klang, sie ihre Berichte nicht überpünktlich abgab oder sie ihn nach den numerischen Codes fragen musste, die im Funk durchgegeben wurden. Natürlich wusste sie, dass 187 für Mord stand und sie wusste auch, dass 390 für Betrunkene stand und 242 für Körperverletzung. Vor kurzem hatte sie ihm jedoch nicht auf Anhieb sagen können, dass 374B für illegale Müllentsorgung stand, woraufhin er fast eine Grundsatzdiskussion mit ihr begonnen hatte.

Das konnte noch lustig werden.

Keine drei Minuten später parkten sie am Straßenrand vor der Bar und liefen eilig hinein. Libby folgte Miguel in die schummrig beleuchtete Bar. Im Neonlicht prügelten sich auf der Tanzfläche mehrere betrunkene Männer und wälzten sich durch Glasscherben.

„San José Police Department!“, brüllte Miguel in den allgemeinen Tumult. Die Prügelei lief dessen ungeachtet fröhlich weiter. Libby versuchte, erst mal einen Überblick zu gewinnen und zählte insgesamt fünf Männer. Brüllend versuchte Miguel, einen der prügelnden Männer zu fassen zu bekommen, als der sich aufrichtete. Daraufhin drehte der Mann sich um, weil er Miguel einen Faustschlag verpassen wollte. Zwar duckte Miguel sich darunter weg, aber er schaffte es nicht, den Mann unter Kontrolle zu bringen.

Bevor Libby etwas tun konnte, richtete sich ein zweiter Mann auf und wollte nun auf sie losgehen. Libby zögerte nicht lang und sie versuchte gar nicht erst, ihn auf Distanz zu halten, sondern ihm so nah wie möglich zu kommen und ihn zu Boden zu bringen. Sie war weder besonders groß noch kräftig gebaut und wirkte mit ihrem blonden Zopf erst einmal nicht einschüchternd. Sie hatte sich jedoch nie mit den Abwehr- und Zugriffstechniken zufrieden geben wollen, die sie an der Police Academy gelernt hatte, sondern hatte noch während ihres Studiums eine Kampfsportschule besucht.

Ihr Kontrahent war größer und mit Sicherheit stärker als sie, aber das schreckte sie nicht. Als er auf sie losgehen wollte, konzentrierte sie sich darauf, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen und zu Boden zu werfen. Ihm entfuhr ein überraschter Schrei, während er auf dem Bauch landete. Libby packte ihn, verdrehte seinen Unterarm und bohrte ihm ein Knie in den Rücken, während sie mit der anderen Hand nach ihren Handschellen griff und sie ihm anlegte. Sie war kaum damit fertig, als ein zweiter Mann sie brüllend angreifen wollte. Sie kam nicht rechtzeitig hoch, um ihn auf Augenhöhe anzugreifen, aber es gelang ihr trotzdem, auch ihn zu Boden zu werfen und außer Gefecht zu setzen. Zwar hatte sie keine Handschellen mehr, mit denen sie ihn hätte fixieren können, doch ehe der Mann sie angreifen konnte, der sich zuvor mit Miguel angelegt hatte, hielt sie ihre Waffe in der rechten Hand und brüllte: „San José PD, keine Bewegung!“

Der Mann hatte eine zerbrochene Flasche in der Hand, aber er hielt inne, als sie ihn mit ihrem Blick schier aufspießte und die Waffe genau auf ihn richtete. In diesem Moment konnte Miguel ihn von hinten überwältigen und ihm Handschellen anlegen. Gleichzeitig erschienen hinter ihm zwei weitere Officers, die sofort zur Klärung der Lage beitrugen.

Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, die Prügelei zu beenden und die Beteiligten festzunehmen, ohne dass einer der Officers verletzt worden wäre. Libby zog denjenigen vom Boden hoch, dem sie zuerst Handschellen angelegt hatte, und führte ihn aus der Bar zum Streifenwagen. Er war fast zwei Köpfe größer als sie und wollte sich zu ihr umdrehen, um sie anzusehen. Es war, als könne er immer noch nicht glauben, dass sie ihn tatsächlich überwältigt hatte.

Inzwischen war auch ein dritter Streifenwagen eingetroffen, so dass sie alle Männer abtransportieren und zum Department bringen konnten. Allerdings sprachen sie zuerst noch mit Zeugen und nahmen einige Personalien auf, bevor sie sich auf den Weg zur Dienststelle machten.

Libby war froh, dass die Fahrt nur fünf Minuten dauerte, denn die beiden Männer auf der Rückbank stanken wie eine Kneipe und einer von ihnen pöbelte sowohl sie als auch Miguel aggressiv an. Es war der Mann, den sie als zweiten überwältigt hatte.

„Kaum zu fassen, dass jemand mit so einem sexy Arsch bei der Polizei arbeitet!“, lallte er und schlug mit dem Kopf gegen das Gitter.

„Ruhe da hinten“, grollte Miguel.

„Was denn, bist du etwa eifersüchtig, wenn ich deine Partnerin angrabe?“

„Sie wissen schon, was Beamtenbeleidigung ist?“

„Ich beleidige sie doch gar nicht, ich habe ihr ein Kompliment gemacht! Von so einer heißen Braut bin ich auch noch nicht festgenommen worden.“

„Werden Sie etwa öfter festgenommen?“, fragte Libby ihn, ohne sich umzudrehen.

Der Mann lachte schallend und fuhr fort, sie mit anzüglichen Witzen zu überziehen, bis sie endlich am Department waren. Libby ließ es sich nicht nehmen, ihn selbst aus dem Auto zu holen und in eine Zelle zu bringen. Unterwegs hielt sie ihn extra fest gepackt, so dass er schon jammerte und irgendwas von Polizeigewalt faselte. Unbeeindruckt stieß sie ihn in eine Ausnüchterungszelle, bevor sie ihm die Handschellen abnahm und die Gittertür hinter ihm ins Schloss warf.

„He, Süße, wie heißt du?“, fragte er und lehnte sich aufdringlich ans Gitter, während Libby die Tür abschloss.

„Für dich bin ich Officer Whitman“, sagte sie und ging. Am Empfangstresen schob Carol ihr ein Formular hin, das sie gleich ausfüllte. Sie war schon fast fertig, als Miguel auftauchte und neben ihr stehen blieb.

„Alles in Ordnung?“, erkundigte er sich.

„Klar, was soll sein?“, erwiderte Libby, ohne aufzusehen.

„Der Typ war ganz schön schmierig.“

„So ist der Job halt.“

„Das war eine gute Leistung vorhin.“

Nun blickte sie doch auf und lächelte. „Danke.“

„Doch, ehrlich. Du bist allein mit zwei dieser Typen fertig geworden. Das war gut.“

Libby wusste dieses Lob zu schätzen. Ihr war vollkommen bewusst, dass sie nicht besonders einschüchternd wirkte, aber darauf kam es überhaupt nicht an. Sie konnte anders punkten.

Sie fuhr mit Miguel wieder nach Downtown. Dabei machten sie einen Umweg durchs Wohngebiet, um überall nach dem Rechten zu schauen, und waren noch gar nicht weit gekommen, als sie auf einem Bürgersteig eine bewusstlose Person entdeckten. Ein als Sensenmann verkleideter junger Mann lag vor einem Vorgarten auf dem Bürgersteig und rührte sich nicht. Miguel und Libby stiegen aus und während Miguel schon nach seinem Funkgerät griff, um einen Krankenwagen zu verständigen, überprüfte Libby die Vitalzeichen des Mannes und versuchte, ihn aufzuwecken. Sie tätschelte seine Wangen und rüttelte leicht an ihm, woraufhin er tatsächlich die Augen aufschlug.

„Oh … Polizei?“, lallte er überrascht. Er stank entsetzlich nach Alkohol. Warum waren alle so früh schon so betrunken?

„Officer Whitman, San José PD“, stellte Libby sich vor, während Miguel die Zentrale darum bat, einen Krankenwagen zu schicken. „Geht es Ihnen gut? Wie heißen Sie?“

„Mike Grayson. Vorhin wurde mir einfach schwarz vor Augen. Keine Ahnung, wie lang ich hier schon liege.“

„Haben Sie Schmerzen? Sind Sie verletzt?“

„Nein, es geht mir gut, glaube ich.“ Mike versuchte, sich aufrecht hinzusetzen, wobei Libby ihm behilflich war.

„Was? So lange? Nein, dann bringen wir den Mann selbst ins Krankenhaus“, sprach Miguel ins Funkgerät.

„Was ist los?“, fragte Libby.

„Die Krankenwagen sind alle im Einsatz. Da er ansprechbar ist, schickt man uns frühestens in einer halben Stunde jemanden.“

„Na toll …“

„Komm, setzten wir ihn ins Auto“, schlug Miguel vor. Libby nickte und gemeinsam verfrachteten sie den Betrunkenen auf die Rückbank des Streifenwagens. Das Santa Clara Valley Medical Center war nicht weit entfernt – dann würden sie den Mann eben dorthin bringen. Sie mussten ja weitermachen, aber sie konnten ihn auch unmöglich allein lassen.

Miguel arbeitete sich bis zur Santa Clara Street vor, aber er war noch gar nicht ganz abgebogen, als der Mann auf der Rückbank plötzlich würgende Geräusche von sich gab und sich röchelnd vornüber beugte. Libby war wie erstarrt, als sie hörte, wie er sich hinter ihrem Sitz in den Fußraum übergab. Sekunden später war der Streifenwagen von einem beißenden Gestank erfüllt.

Sie hatte es befürchtet.

„Na wunderbar“, murmelte Miguel und rollte mit den Augen, aber er brachte den Mann trotzdem erst einmal zur Notaufnahme. Nachdem ihn dort eine Schwester in Empfang genommen hatte, stapfte er mit vielsagender Miene zum Streifenwagen zurück und ließ sich schwerfällig auf den Fahrersitz fallen.

„Fahren wir zum Department zurück und tauschen den Wagen.“

Libby nickte nur. Welch absolut großartige Idee.

Sie fuhren mit heruntergelassenen Fenstern zurück zum Police Department, wo sie sich erst einmal daran machten, den Wagen vom gröbsten Unrat zu befreien. Libby machte es nicht zum ersten Mal und wusste, es gehörte dazu. Es war kein Personal abkömmlich, um sich darum zu kümmern, aber in Nächten wie dieser brauchten sie jeden verfügbaren Wagen. Als sie fertig waren, ging Miguel ins Gebäude und kehrte zu Libbys Erleichterung Minuten später mit dem Schlüssel für einen anderen Streifenwagen zurück.

„Du bist mein Held“, sagte sie und lächelte.

Er erwiderte ihr Lächeln. „Meiner Frau war in den ersten drei Monaten dauernd übel. Irgendwie habe ich mich an den Geruch gewöhnt …“

Nun lachte sie. „Na, du bist ja hart im Nehmen.“

„Mein Kind wird mich bestimmt auch noch vollspucken und anpinkeln, wenn es erst mal da ist.“

„Wahrscheinlich. Das kenne ich noch von meiner kleinen Schwester.“

Miguel erwiderte nichts. Sie waren kaum auf Streife zurückgekehrt, als ein Funkspruch kam.

„Zentrale an Alvarez, bitte kommen.“

„Alvarez hört“, funkte Miguel zurück.

„Ein Notruf aus der Clayton Avenue. Nachbarn melden 273D bei Hausnummer 197.“

„Ach, mal wieder“, sagte Miguel, bevor er ins Funkgerät sprach. „Alles klar, wir sind unterwegs.“

„Das ist ja nichts Neues.“ Libby lehnte sich an ihren Sitz, während Miguel nach Ryland fuhr. Seit Libby bei der Polizei war, hatte sie die angegebene Adresse sicher schon fünf- oder sechsmal mit Miguel besucht, weil die Nachbarn immer wieder die Polizei wegen häuslicher Gewalt gerufen hatten. Bei Luke und Cassidy Maxwell flogen ständig die Fetzen. Luke hatte ein Alkoholproblem und wurde in regelmäßigen Abständen gewalttätig gegen seine Frau. Zweimal hatten sie die Frau schon ins Krankenhaus bringen müssen, einmal wegen einer heftigen Platzwunde und einmal wegen eines Armbruchs. Libby hatte versucht, im Vertrauen mit ihr zu sprechen und ihr schon Broschüren von Frauenhäusern und Opferhilfevereinen in die Hand gedrückt, aber Cassidy wollte nichts davon wissen.

Keine zehn Minuten später hatten sie die Clayton Avenue erreicht. Die Maxwells wohnten in einem kleinen, verwitterten Haus ganz am Ende der Straße. Nur ein winziges Stück Brachland und eine Mauer trennten sie vom sechsspurigen Freeway, der mitten durch die Stadt rauschte. An diesem Abend und um diese Zeit war nicht allzu viel Verkehr, aber es war trotzdem laut.

Das Haus hätte dringend einen neuen Anstrich gebraucht, der Zaun davor stand schief. Alles in allem war das Grundstück ziemlich verwahrlost, was auch von Mal zu Mal trostloser wirkte.

Libby und Miguel hörten das Geschrei schon beim Aussteigen. Sie hatten direkt vor dem Haus geparkt und eigentlich waren alle Fenster geschlossen, aber trotzdem spielte sich in der Küche ein heilloses Gebrüll ab, die den Nachbarn offensichtlich nicht verborgen geblieben war.

„Ich möchte ihn einsperren“, grollte Miguel, während er voran zur Haustür ging und energisch dagegen hämmerte. Libby blieb hinter ihm stehen und wartete ab. Das Gebrüll stoppte kurz, aber dann ging sie von vorn los. Miguel hämmerte erneut an die Tür und rief: „San José Police Department! Öffnen Sie die Tür!“

Es wurde leise im Haus, dann hörten sie Schritte. Keuchend öffnete Luke Maxwell die Tür. Er war etwa Mitte dreißig, von untersetzter Statur und mit ungepflegten Haaren. Er trug zerschlissene Jeans und ein zerknittertes Hemd. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er Miguel an und wirkte genervt.

„Ach, Sie schon wieder.“

„Mr. Maxwell, wir haben Hinweise auf einen lautstarken Streit bei Ihnen erhalten.“

„Haben die Rosenheims etwa wieder bei Ihnen angerufen?“

„Wir werden Ihnen nicht sagen, wer uns verständigt hat. Ist hier alles in Ordnung? Wo ist Ihre Frau?“

„Natürlich ist hier alles in Ordnung. Oder, Cassidy?“ Er drehte sich um und brüllte Richtung Küche. Augenblicke später kam Cassidy Maxwell zum Vorschein. Sie trug ein altmodisches Kleid und war barfuß, ihr Zopf hing schief und sie hielt sich ein Taschentuch unter die Nase, auf dem bereits Blutflecken sichtbar waren. Libby ballte die Hände zu Fäusten, als sie das sah, und drängte an Miguel vorbei, um auch ein wenig Präsenz zu zeigen.

„Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“, richtete sie sich direkt an die Frau.

„Geht schon“, erwiderte Cassidy dumpf.

„Wir bringen Sie ins Krankenhaus“, sagte Miguel.

„Nein, ich will nicht ins Krankenhaus.“

„Erstatten Sie wenigstens Anzeige.“

„Nein.“ Cassidy schüttelte weiterhin den Kopf.

„Mrs. Maxwell.“ Libby machte einen Schritt nach vorn, woraufhin Luke sofort zu toben begann.

„Sie dürfen mein Haus nicht einfach betreten! Es gibt doch hier gar kein Problem, oder, Cassidy?“

„Nein“, pflichtete sie ihm bei. Sie wirkte emotionslos auf Libby, was sicherlich nur gespielt war.

„Mrs. Maxwell, lassen Sie sich doch helfen“, versuchte Libby es erneut.

„Meine Frau braucht keine Hilfe! Wir hatten nur eine Meinungsverschiedenheit und sie bekommt bei Stress immer Nasenbluten. Ist doch so, oder?“

Cassidy nickte. Libby hätte Luke den Hals umdrehen mögen und sie sah Miguel an, dass es ihm nicht anders ging.

„Verlassen Sie jetzt sofort mein Haus“, setzte Luke nach.

Miguel sog scharf die Luft ein. „Wir müssen so lange wiederkommen, wie Sie das hier nicht in den Griff kriegen.“

„Es geht Sie überhaupt nichts an, wie ich mit meiner Frau streite!“

„Wenn Sie dabei das Gesetz brechen, geht es uns etwas an“, sagte Libby. „Schönen Abend noch.“

Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging zurück zum Streifenwagen. Miguel folgte ihr. Luke Maxwell warf die Haustür krachend ins Schloss. Libby blickte noch einmal über die Schulter zurück und setzte sich nur widerstrebend ins Auto. Miguel ging es kaum anders. Er startete den Motor erst nach einem Augenblick, wendete den Wagen und fuhr langsam die Straße entlang.

„Das ist so ätzend. Ich will diesen Kerl endlich festnehmen und in den Knast stecken, wo er hingehört.“

„Frag mich mal. Nur leider können wir nichts tun, wenn sie ihn nicht anzeigt. Nasenbluten durch Stress …“ Libby schnaubte verächtlich.

„Ich verstehe nicht, wieso sie ihn deckt. Wieso lässt sie sich so behandeln?“

Nach einem tiefen Seufzer sagte Libby: „Du würdest dich wundern, was Frauen sich alles bieten lassen.“

„Würdest du das tun?“

„Nein.“ Und sie wusste, wovon sie redete, denn sie war mit der Unterdrückung von Frauen aufgewachsen und hatte ihre leibliche Mutter verloren, als ihr Mann ihr den Schädel eingeschlagen hatte.

Deshalb belastete es sie auch so, dass Cassidy Maxwell ihre Hilfe nicht annehmen wollte. Libby hatte Angst um das Leben dieser Frau, aber Cassidy wollte nicht auf sie hören und ihr waren die Hände gebunden.

Den Frust darüber musste sie herunterschlucken. Sie konnte niemanden zwingen, sich helfen zu lassen. Es war ihr ein völliges Rätsel, warum Cassidy ihren Mann schützte, aber die Entscheidung lag bei ihr.

Trotzdem beschäftigte das alles sie noch bis zum Ende ihrer Schicht um Mitternacht. Sie brachten noch zwei weitere Betrunkene ins Krankenhaus oder auf die Wache, diesmal jedoch zum Glück ohne irgendwelche Hinterlassenschaften im Auto, und sie schafften es, eine aufkommende Prügelei im Keim zu ersticken, weil sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren. Das freute Libby, doch in Gedanken war sie immer wieder bei Cassidy.

Etwa um zwanzig Minuten nach Mitternacht legte Libby ihre kugelsichere Weste ab, schälte sich aus der Uniform und zog sich um. Ihre Dienstwaffe nahm sie mit nach Hause – sie durfte es, deshalb gab es da für sie gar keine Diskussion.

Sie setzte sich in ihr Auto und fuhr das kurze Stück bis zu der winzigen Wohnung in Luna Park, die sie seit dem Studium mit ihrem Freund Kieran bewohnte. Nachdem sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite geparkt hatte, betrat sie das Apartmenthaus, ging in die zweite Etage und schloss die Wohnungstür auf. Es überraschte sie nicht, dass noch Licht im Wohnzimmer war. Kieran saß vor seinem Computer, trug Kopfhörer und war völlig in die neueste Episode von Grand Theft Auto vertieft. Er sprach in ein Mikrofon und Libby vermutete, dass er sich in Teamspeak mit Ryan unterhielt, mit dem er seit dem Studium befreundet war. Beide hatten ähnliche Interessen und spielten oft Computerspiele zusammen.

Noch hatte Kieran Libby gar nicht bemerkt, was ihr recht war. Sie zog ihre Schuhe aus, nahm das Magazin aus ihrer Waffe und legte beides voneinander getrennt in die kleine Schatulle mit Zahlenschloss. Die Schatulle hob sie in ihrer Nachttischschublade auf.

Als sie das erledigt hatte, ging sie wieder ins Wohnzimmer und legte von hinten die Arme um Kieran. Sie vergrub ihr Gesicht in seinen dunklen Haaren und strich mit den Händen über seine Brust. Kieran legte den Kopf in den Nacken und lächelte, als er sie ansah.

„Da bist du ja“, sagte er und drückte eine Taste auf der Tastatur. „Sekunde, Ryan, Libby ist gerade nach Hause gekommen.“

Er zog sich die Kopfhörer ab und stand auf, um Libby mit einer Umarmung und einem Kuss zu begrüßen. „Du siehst müde aus. Wie war es?“

„Uns hat schon wieder einer ins Auto gekotzt.“

„Klar, an Halloween ist das nicht besonders überraschend.“

„Das war vielleicht eklig.“

„Glaube ich dir“, erwiderte Kieran grinsend. „Hätte nicht gedacht, dass du so pünktlich kommst.“

„Ich auch nicht, aber es war trotzdem genug zu tun. Schon wieder ein Einsatz bei dem Kerl, der seine Frau verprügelt.“

„Und sie zeigt ihn einfach nicht an?“

Libby schüttelte frustriert den Kopf. „Sie steht daneben, während er uns anlügt, und deckt ihn.“

„Unfassbar.“

„Das hasse ich so an dem Job.“

„Kann ich verstehen. Bist du müde?“

„Schon, ja, aber ich muss erst mal runterkommen. Ich glaube, ich gehe erst mal duschen, dann kannst du noch mit Ryan fertig machen, was ihr da macht.“

„Ach, wir klauen bloß Autos und fahren Rennen damit.“

„Na dann“, sagte Libby und lachte, während sie ins Badezimmer ging.

 

 

Sonntag, 1. November

 

Dafür, dass sie an Halloween die dritte Schicht übernommen hatte, hatte Libby am Folgetag frei. Sie schlief fast bis zehn, was für ihre Verhältnisse lang war, aber durch den Schichtdienst hatte sich ihr Schlafrhythmus ohnehin verschoben. Erst jetzt hatte sie langsam wieder das Gefühl, nicht ununterbrochen müde zu sein, was gut war, weil der Job sie wirklich forderte.

Es gab Tage, an denen fuhr sie nur mit Miguel herum und wartete auf Arbeit und dann gab es Schichten wie die am Vorabend, in denen sie pausenlos zu tun hatten. Eigentlich mochte sie das aber lieber.

Als sie aufwachte, griff sie nach ihrem Handy und surfte ein wenig im Internet. Davon erwachte auch Kieran, der sie verschlafen mit seinen grünen Augen ansah und lächelte.

„Gut geschlafen?“, fragte er.

„Ja, schon. Ausschlafen tut so gut.“

„Glaube ich dir. Der Schichtdienst macht einen ja fertig.“

„Stimmt, aber das wusste ich vorher. Ich ziehe das jetzt durch.“

„Das hatte ich auch nicht anders erwartet.“

Die beiden lächelten einander an und faulenzten noch ein wenig im Bett, bevor sie aufstanden und sich gemeinsam Frühstück machten.

„Wollen wir heute noch mal nach Wohnungen suchen?“, schlug Kieran während des Frühstücks vor.

„Ja, gute Idee. Die hier wird langsam wirklich zu klein. Ich hoffe nur, wir finden bald eine, damit es sich noch lohnt.“

Kieran erwiderte nichts. Libby wusste auch nicht, was sie noch weiter dazu sagen sollte. Er war nicht besonders glücklich mit ihrem Wunsch, sich beim FBI zu bewerben und nach Quantico zu gehen, wenn sie erst einmal die geforderte Berufserfahrung von zwei Jahren gesammelt hatte. Das hatte er ihr gesagt und sie verstand es auch, aber dennoch wollte sie sich nicht davon abbringen lassen. Sie wollte unbedingt Profilerin werden, sie war fest entschlossen. Im Department wurde sie dafür belächelt, aber dort wusste auch niemand, dass sie wirklich gute Gründe dafür hatte, das zu wollen.

Kieran war der Bodenständigere von beiden. Sie hatten einander auf der High School in Pleasanton kennengelernt und sich bald ineinander verliebt. Nach ihrem Abschluss waren sie gemeinsam an die San José State University gegangen, wo Kieran Luft- und Raumfahrtwissenschaften studiert und Libby zunächst ein Studium der Erziehungswissenschaften begonnen hatte. Allerdings hatten mehrere Ereignisse während des ersten Semesters dazu geführt, dass sie sich bald umentschieden und beschlossen hatte, Verhaltensforschung und Psychologie zu studieren.

Im Winter hatte sie ihren Abschluss gemacht, sich so schnell wie möglich bei der Polizei beworben und sich entschlossen und motiviert durch die Academy gekämpft. Im Department hatte sie jetzt schon den Ruf, ein ziemlich unkonventioneller  Dickkopf zu sein. Der pflichtbewusste Miguel versuchte stets, Libby an die Regeln und Vorschriften zu erinnern, was sie manchmal gehörig nervte. Dagegen beschrieb Kieran, der als Luftfahrtingenieur am nahen Flughafen in San José arbeitete, seinen Job als nahezu langweilig.

Nach dem Frühstück setzten die beiden sich gemeinsam an Kierans Computer und hielten in zahllosen Inseraten Ausschau nach einer neuen Wohnung. Dadurch, dass sie nun beide ihren ersten Job angetreten hatten, konnten sie sich etwas Größeres leisten als den kleinen Schuhkarton, wie Libby ihre Studentenbude immer nannte. Es war allerdings nichts dabei, was beiden wirklich zugesagt hätte. Viele Wohnungen in der Bay Area waren maßlos überteuert, aber beide hatten aktuell kurze Wege zur Arbeit, was sie eigentlich nicht aufgeben wollten.

„Was willst du jetzt machen?“, erkundigte Kieran sich schließlich bei seiner Freundin.

„Ich weiß nicht … Gar nichts eigentlich. Ich bin ziemlich faul heute. Und du?“

„Geht mir auch so. Ryan hat gefragt, ob ich da bin.“

Plötzlich hatte Libby eine Idee. „Weißt du was? Spiel du ruhig ein bisschen GTA mit Ryan und ich fahre nach Pleasanton zu meiner Familie.“

„Okay. Wenn du willst“, sagte Kieran achselzuckend. Libbys Verhältnis zu ihrer Adoptivfamilie war unverändert eng, sie war oft in Pleasanton und Kieran begleitete sie nicht immer dorthin, was sie aber auch nicht von ihm erwartete.

„Ich frag mal, ob sie da sind“, sagte Libby und schrieb ihrer Mutter eine kurze Nachricht. Wenig später erhielt sie Antwort und erfuhr, dass alle zu Hause waren und sich auf ihren Besuch freuten.

„Ich fahre dann mal“, sagte Libby, während Kieran sich schon an seinen Rechner verzog.

„Okay. Grüß alle schön“, bat er und verabschiedete seine Freundin mit einem Kuss. „Bringst du auf dem Rückweg was vom Thai mit?“

„Kann ich machen. Wie immer?“

„Das wäre grandios. Ich liebe dich.“

„Ich dich auch“, erwiderte Libby und verschwand mit einem Lächeln im winzigen Hausflur. Sie schlüpfte in ihre Schuhe, zog eine Jacke über und verließ das Haus.

Die Auffahrt zum Freeway lag nur einen Steinwurf von ihrem Apartment entfernt. Gut gelaunt fuhr Libby nach Norden und pfiff die Musik aus dem Radio mit. Erst verlief die Interstate durch dicht besiedeltes Gebiet, bevor sie durch die Berge führte und schließlich auf Pleasanton zulief. Manchmal vermisste Libby ihr Zuhause, aber zum Glück war es ja nicht weit.

Eine halbe Stunde später hielt sie vor dem Vorgarten ihres Elternhauses am Straßenrand. Hier hatte sie immer gern gewohnt – lieber als in Los Angeles, wo sie die ersten Jahre mit ihrer Familie verbracht hatte.

Voller Vorfreude ging sie zur Haustür und klingelte, bevor sie die Tür aufschloss und ins Haus ging. Sie hatte immer noch einen Schlüssel, was für sie eine besondere Verbundenheit und Zugehörigkeit demonstrierte.

„Da bist du ja schon.“ Im Flur kam Libby ihre Adoptivmutter Sadie entgegen, die sie fest, aber gleichzeitig liebevoll umarmte. An diesem Tag trug sie ihr langes, feuerrotes Haar offen. Das war ihr Erkennungsmerkmal und sie wäre nie auf die Idee gekommen, eine andere Haarfarbe tragen zu wollen.

„Hey“, sagte Libby und schenkte Sadie ein Lächeln. „Ich habe heute frei und dachte, ich komme mal vorbei.“

„Das ist eine tolle Idee“, sagte Sadie, während sich eine kleine Gestalt an ihr vorbeimogelte und zu Libby huschte.

„Libby!“, rief Hayley fröhlich und umarmte ihre große Schwester. Libby drückte die Neunjährige an sich und strich ihr über das lange blonde Haar. Im Gesicht geriet Hayley nach ihrer Mutter, aber in der Haarfarbe eher nach ihrem Vater.

„Na, wie geht’s?“, begrüßte Libby das Mädchen.

„Es ist toll, dass du da bist! Willst du sehen, was ich gemalt habe?“

„Klar.“ Libby ließ sich von Hayley ins Wohnzimmer ziehen. Auf dem Esstisch hatte Hayley unzählige Buntstifte ausgebreitet und war dabei, ein Bild von einer Katze zu malen.

„Das ist Figaro“, sagte sie und Libby nickte wissend. Der Familienkater war leider vor etwas über einem Jahr verstorben, aber seine samtpfötige Gefährtin Mittens hatte wenig später Verstärkung von einem neuen Kätzchen namens Cookie erhalten. Libby kannte die Whitmans nicht ohne Katzen und konnte sich das Haus auch gar nicht anders vorstellen.

„Hallo“, vernahm Libby in dem Moment die Stimme ihres Vaters und drehte sich um.

„Matt.“ Sie umarmte ihn herzlich und musterte ihn kurz. Anders als die jüngere Sadie hätte Matt tatsächlich auch ihr leiblicher Vater sein können. Inzwischen hatte er die ersten grauen Haare, die aber in seinem dunkelblonden Haar kaum ins Auge fielen. Er war groß und seiner muskulösen Statur war anzusehen, dass er viele Jahre bei der Polizei und beim FBI gearbeitet und sich fit gehalten hatte. Genau wie Sadie war er Libbys großes Vorbild.

„Wie geht es euch?“, fragte Libby. Sadie holte ihnen Getränke aus der Küche, bevor sie sich zusammen aufs Sofa setzten. Hayley nahm wieder am Tisch Platz und fuhr mit dem Malen fort.

„Ganz gut soweit“, sagte Matt. „Vor Weihnachten habe ich immer alle Hände voll zu tun, aber das ist ja gut. Plötzlich fällt den Leuten ein, dass sie unbedingt noch irgendwelche Fotos brauchen – ist immer dasselbe.“

Libby grinste. „Als würdest du dich über eine gute Auftragslage beschweren.“

„Niemals“, erwiderte Matt belustigt. Er arbeitete nun schon seit einigen Jahren als freiberuflicher Fotograf und das sehr erfolgreich. Die Hauptverdienerin in der Familie war jedoch immer noch Sadie, die als Dozentin an der University of California in San Francisco Psychologie und Kriminologie lehrte. Als ehemalige FBI-Profilerin brachte sie auch alle notwendigen Voraussetzungen dafür mit. Libby war ihrer Adoptivmutter wahnsinnig ähnlich, wie ihr irgendwann einmal bewusst geworden war, und deshalb war es nur folgerichtig für sie, dass sie in Sadies berufliche Fußstapfen treten wollte.

Sie hatte Sadie vor zehn Jahren als Profilerin kennengelernt. Zusammen mit Matt hatte Sadie sich um sie gekümmert, als ihre Mutter getötet worden war und ein Jahr später hatten die beiden die damals fünfzehnjährige Libby adoptiert – ungeachtet der Tatsache, dass Monate zuvor ihre Tochter Hayley geboren worden war. Libby hatte Hayley immer als ihre kleine Schwester gesehen und liebte sie sehr. Sie verdankte der Familie Whitman einiges und hatte immer noch ein enges Verhältnis zu ihnen.

„Wie läuft es bei der Arbeit?“, erkundigte Matt sich bei Libby.

„Ich hatte gestern die dritte Schicht.“

„Und das, wenn Halloween auf einen Samstag fällt? Wie oft hat man euch in den Streifenwagen gekotzt?“

Libby lachte laut. „Du bist so mitfühlend, Matt. Nur einmal.“

„Nur einmal? Das geht doch noch!“

„Das ist wahr“, sagte Sadie.

„Das ging überhaupt nicht. Es war furchtbar.“

„Als Polizist erlebt man so einiges, das weiß niemand besser als ich.“

„Aber Modesto ist viel kleiner als San José!“

„Das heißt erst mal nicht viel“, sagte Matt, der mehr als zehn Jahre lang als Officer beim Modesto PD gearbeitet und als Polizeifotograf Tatortfotos geschossen hatte. Da hatte er schon die furchtbarsten Dinge vor die Linse bekommen, wie er nicht ganz ohne einen gewissen Hang zur sehr bildlichen Dramatik erzählt hatte. Halb verweste Leichen, Blut, Körperteile. Er war da abgehärtet.

„Und wie läuft es mit Miguel?“, fragte Sadie.

„Ach, geht schon. Er gibt immer den erfahrenen Lehrer und möchte mir vermitteln, wie wichtig die Vorschriften sind.“

„Sind sie“, sagte Matt. „Du solltest dir an uns kein Beispiel nehmen, wir sind da nicht so ruhmreich …“

„Aber manchmal geht es einfach nicht! Diese eine Sache regt mich so wahnsinnig auf.“

„Was denn?“, fragte Sadie mitfühlend.

„Ein Kerl, der dauernd seine Frau verprügelt. Das habe ich doch schon erzählt. Allein Miguel und ich waren, seit ich bei der Polizei bin, bestimmt schon sechs Mal dort. Sie musste letztens mit einem Armbruch ins Krankenhaus. Gestern hatte sie Nasenbluten und als er meinte, dass sie nur Streit hatten und sie Nasenbluten vom Stress bekommt, hat sie zugestimmt.“

Matt seufzte. „So etwas habe ich auch erlebt.“

„Das kennt jeder Polizist“, sagte Sadie und beugte sich vor zu Libby. „Hört sie nicht auf euch?“

„Nein, kein bisschen. Sie nimmt ihn immer in Schutz. Ich habe ihr schon so viele Infos und Tipps gegeben, sie hat meine Karte, einfach alles. Aber trotzdem rufen immer wieder die Nachbarn an, wenn der Kerl seine Frau verprügelt und mir sind die Hände gebunden, weil sie ihn nicht anzeigen will.“

„Aus persönlicher Erfahrung heraus kann ich dir sagen, dass es für eine Frau eigentlich immer schwieriger wird, sich noch zu wehren, je schlimmer es wird“, sagte Sadie.

Libby erwiderte ihren Blick ernst. „Klar, du hast das zu Hause erlebt.“

„Je schlimmer mein Vater meine Mutter verprügelt hat, desto mehr Angst hatte sie vor ihm. Das wird hier ähnlich sein. Meine Mutter konnte sich nicht davon befreien, ganz gleich, was er ihr oder uns angetan hat. Die Frauen sind wie in einer Schockstarre. War der Mann im Haus, als du mit ihr gesprochen hast?“

„Ja, das war bei einem der Einsätze, als wir gerufen wurden.“

„Du könntest mal versuchen, sie abzupassen, wenn sie allein zu Hause ist. Sie muss verstehen, dass ihr Mann damit nicht aufhören wird, ganz gleich, wie sehr er Besserung gelobt. Er wird nicht aufhören, es wird nur noch schlimmer. Das könnte tödlich enden. Der eigene Lebenspartner stellt für Frauen dieser Altersgruppe das höchste Risiko dar, was gewaltsame Übergriffe und Tötungsdelikte angeht.“

Libby nickte ernst. „Ich weiß. Ich kann mir das einfach nicht länger ansehen.“

„Dann fahr mal dorthin, wenn der Mann nicht zu Hause ist, und sprich allein mit der Frau. Ganz allein, ohne Miguel. Stell eine persönliche Beziehung her. Das kannst du bestimmt.“

„Hoffentlich“, murmelte Libby und seufzte.

„Pack es zur Not auf die persönliche Schiene. Das habe ich auch schon getan. Man neigt ja dazu, die Frauen in Schutz nehmen zu wollen, aber das hilft leider gar nicht.“

„Ich weiß … mal sehen. Versuchen will ich es auf jeden Fall.“

„Ich finde es toll, mit wie viel Herzblut du das machst“, sagte Matt.

„Natürlich, als Polizist trägt man doch Verantwortung. Ich will diese Erfahrung ja auch sammeln. Ich mache das nicht bloß, weil das FBI es verlangt.“

„Das habe ich auch nie“, stimmte Sadie ihr zu.

„Du sowieso nicht“, murmelte Libby und blickte auf die gegenüberliegende Wand, an der die Fotos der Familie hingen. In der Mitte hing eine große Aufnahme, die Sadie und Matt vor über zehn Jahren zeigte. Beide standen stolz nebeneinander, Arm in Arm und mit ihren FBI-Dienstmarken in der Hand. Es hing immer noch im Wohnzimmer, auch wenn diese Episode längst vorüber war. Was nicht im Wohnzimmer hing, waren die Ehrenabzeichen, die man beiden nach ihrem Ausscheiden verliehen hatte, denn das wäre ihnen wie Angeberei erschienen.

Matt erkundigte sich nach Kieran und Libby fragte nach dem Rest der Familie im eine Autostunde entfernten Waterford, einem kleinen Nest im Hinterland jenseits von Modesto. Es freute sie, zu hören, dass es allen gut ging.

Wenig später erschien eine Katze im Wohnzimmer. Es war Cookie, die kleine weiße Katze mit den großen schwarzen Flecken. Die ältere und größere Mittens folgte ihr und beide nahmen Kurs auf Libby, um an ihr zu schnuppern und sie schnurrend zu umrunden. Libby streichelte die beiden und überlegte wieder einmal, dass sie auch gern Katzen gehabt hätte. Aber sollte sie sich jetzt welche anschaffen, wo sie doch in zwei Jahren nach Quantico wollte?

Wenn das FBI sie denn nahm. Zwar hatte Sadies früherer Chef Nick Dormer ihr da die größten Hoffnungen gemacht, aber sie wollte sich nicht darauf verlassen. Sie wusste, dass ihr Name ihr vorauseilte, denn den Namen Whitman kannte man beim FBI. Allerdings war es nicht so ihr Ding, sich mit fremden Lorbeeren zu schmücken. Sie wollte sich das selbst erarbeiten.

Sie unterhielt sich eine ganze Weile mit Sadie und Matt und beschäftigte sich auch mit Hayley, die sie liebte wie eine eigene Schwester. Zumindest glaubte sie das, denn Libby hatte nie eine leibliche Schwester gehabt.

„Möchtest du noch bei uns mitessen?“, fragte Matt schließlich, als es auf den Abend zuging und sie kochen wollten.

„Nein, ich wollte wieder nach Hause. Kieran hatte vorgeschlagen, etwas beim Thailänder zu holen.“

„Iiih“, machte Hayley entsetzt, die nicht viel von scharfem Essen hielt.

„Klingt doch auch lecker“, fand Matt, ohne auf den Kommentar seiner Tochter einzugehen.

„Ich lasse euch dann mal kochen“, sagte Libby und umarmte Matt zum Abschied. „Es ist immer schön, hier zu sein.“

„Wir haben dich auch sehr gern hier“, erwiderte Sadie. „Komm, ich bringe dich noch zur Tür.“

Hayley umarmte Libby ebenfalls noch stürmisch, bevor sie mit Matt in die Küche ging. Sadie und Libby gingen zur Tür, wo Sadie ihre Tochter stolz in die Arme schloss und sie schließlich von Kopf bis Fuß musterte.

„Du wirst das schon schaffen“, sagte sie. „Erzähl mir mal, was draus geworden ist.“

„Sicher, das mache ich“, versprach Libby und fügte nach kurzem Zögern hinzu: „Danke für die Unterstützung.“

„Die ist dir sicher, egal wobei. Das weißt du.“

Dankbar umarmte Libby Sadie, bevor sie zum Auto ging. Sie schaute noch einmal zurück, bevor sie losfuhr und sich auf den Weg zur Interstate machte.

Dass Special Agent Sadie Whitman sich damals ihrer angenommen hatte, als sie verstört auf der Flucht vor ihrem Vater und ihrem Onkel gewesen war, war das bislang größte Glück in ihrem Leben, denn es hatte ihr ein Leben mit allen Chancen eröffnet. Sie hätte die beiden nicht mehr lieben können, wären sie ihre leiblichen Eltern gewesen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Montag, 2. November

 

Um zwanzig vor acht parkte Libby auf dem Mitarbeiterparkplatz des San José PD und machte sich auf den Weg ins Gebäude. Die Kollegen grüßten mit einem Nicken, das Libby gern erwiderte. Als Neuling versuchte sie, sich gut mit jedem zu stellen.

In der Umkleide herrschte nicht viel Betrieb, als sie hineinkam und zu ihrem Spind ging. Sie zog Pullover und Jeans aus und schlüpfte in ihre Uniform. Eine Kollegin wünschte ihr einen guten Morgen. Hinter einigen Spindreihen konnten sie das Gespräch mehrerer männlicher Kollegen belauschen.

Als sie sich umgezogen und ihre Dienstwaffe sicher am Gürtel befestigt hatte, verließ Libby die Umkleide und wäre dabei fast in Miguel gerannt, der gerade atemlos hineinstürmte.

„Guten Morgen“, begrüßte Libby ihn grinsend.

„Fast verschlafen“, erwiderte Miguel und zog sich bereits halb aus.

„Ich sichere uns schon mal einen guten Wagen.“

„Klasse. Bis gleich.“

Libby kümmerte sich auch zuerst um den Streifenwagen, bevor sie sich eine kugelsichere Weste besorgte. Im Ausrüstungsraum lagen in einer Ecke einige kleinere und leichtere kugelsichere Westen für die Frauen. Viele waren es nicht, denn nur etwas mehr als zehn Prozent der Mitarbeiter des San José PD waren weiblich. Schon in der Academy hatte Libby sich wie der bunte Hund gefühlt und festgestellt, dass ihre männlichen Kollegen sie nicht nur nicht schonten, sondern im Gegenteil besonders gern aufs Korn nahmen.

Sie wusste inzwischen, dass man alle gestellten Aufgaben als Frau besonders gut lösen musste, wenn man von den männlichen Kollegen ernst genommen werden wollte – und man durfte nicht zimperlich sein. Eigene Umkleiden? Gab es an der Academy genau so wenig wie hinterher im Department, weshalb sie gelernt hatte, immer irgendwelche langen Unterhemden zu tragen, mit denen sie sich nicht so nackt fühlte. Für eine separate Umkleide gab es weder Platz noch Geld.

Zwar hatten die Frauen immerhin ihre eigene Ecke im Umkleideraum, aber die Kollegen starrten trotzdem und sie fing sich regelmäßig irgendwelche Sprüche über ihr Äußeres. Da kam es ihr gelegen, dass sie schlagfertig und überhaupt nicht empfindlich war.

Während sie ihre kugelsichere Weste überzog, tauchte Miguel in seiner Uniform auf und half ihr dabei, die Klettverschlüsse zu schließen. Umgekehrt ging Libby ihm dabei zur Hand, die Weste anzuziehen und hielt ihm schließlich den Schlüssel für ihren Streifenwagen vor die Nase.

„Hat auch einen USB-Anschluss“, sagte sie.

„Perfekt“, sagte Miguel. Sie meldeten sich offiziell für den Dienst, gingen hinaus auf den Parkplatz und hielten Ausschau nach dem Dienstwagen. Es war ein neuerer Dodge Charger und keiner der älteren Ford Crown Victoria, die ihre besten Tage längst hinter sich hatten.

Wie immer fuhr Miguel. Er schloss sein Handy an und einigte sich mit Libby auf die Musik. Mit Rockmusik waren beide glücklich, deshalb dudelte sie leise im Hintergrund. Sie war nie so laut eingestellt, dass sie das Funkgerät übertönt hätte.

Es war ein sonniger Morgen. Sie fuhren ohne bestimmtes Ziel herum und behielten einfach alles im Auge. Auch tagsüber wurde in Wohngebieten eingebrochen, deshalb hielten sie Ausschau nach verdächtigen Aktivitäten. Außerdem behielten sie immer den Verkehr im Blick und patrouillierten auch rund um Schulen und Kindergärten.

Es war nicht Libbys bevorzugte Schicht, auch wenn sie die mit den normalsten Arbeitszeiten war. Allerdings passierte tagsüber selten etwas Spannenderes als die Schlichtung von Nachbarschaftsstreits, die Aufnahme von Verkehrsunfällen oder die Festnahme von Ladendieben. Tatsächlich hatte Libby es spannender gefunden, am Samstag die Betrunkenen in der Bar außer Gefecht zu setzen.

Sie folgten der 1st Street in Richtung Ryland, als Libby kurz entschlossen sagte: „Was dagegen, wenn wir kurz zu den Maxwells fahren?“

Miguel legte fragend die Stirn in Falten. „Was, der Prügelknabe von Samstag?“

„Genau der. Ich meine, ich will nicht zu ihm, sondern zu seiner Frau. Vielleicht redet sie mit mir, wenn er nicht dort ist.“

Trotz ihrer Erklärung veränderte Miguels Gesichtsausdruck sich nicht im Geringsten. „Das ist doch gar nicht unser Job.“

„Offiziell vielleicht nicht, aber waren wir jemals bei ihr, ohne dass der Mann anwesend war? Waren wir nicht, und warum? Weil wir ja immer erst dann gerufen werden, wenn die Hütte brennt. Vielleicht erreiche ich ja was bei ihr, wenn ich mit ihr allein rede, so von Frau zu Frau …“

„Ganz allein? Ohne mich?“

Libby musterte ihn kurz. „Du siehst nicht aus wie eine Frau.“

Miguel seufzte gequält. „Libby, ehrlich … Es ist ja schön, dass du so engagiert bist, aber unser Job ist es gerade, hier Streife zu fahren und nicht, mit verprügelten Ehefrauen zu reden. Das bringt sowieso nichts, höchstens dich in Teufels Küche.“

„Wieso? Lass es mich doch wenigstens versuchen! Vielleicht zeigt sie ihn dann endlich an und wir müssen nicht dauernd hinfahren, um ihn zu tadeln und unverrichteter Dinge wieder zu gehen.“

Miguel überlegte kurz und knurrte: „Schön, meinetwegen. Vielleicht hast du ja Recht und das bringt was.“

„Klasse.“ Libby freute sich und musterte sich noch einmal kurz in dem kleinen Spiegel an der Sonnenblende. Ja, sie sah nicht zu einschüchternd aus. Das wäre nicht gut gewesen.

Miguel bog in die Clayton Avenue ab und fuhr langsam bis zum Haus der Maxwells.

„Was für ein Auto fährt Luke Maxwell?“, überlegte Libby.

„Keine Ahnung, ich glaube, da steht immer so ein halb verrosteter alter Ford in der Einfahrt. Jetzt ist er jedenfalls nicht da.“

Er hatte Recht, die Einfahrt war leer. Libby beschloss, ihn nicht weiter zu nerven, sondern stieg aus und ging zur Haustür, wo sie beherzt klopfte. Es öffnete jedoch niemand. Libby klopfte erneut und ließ ihre Blicke über alle Fenster gleiten, die sie sehen konnte. Im Haus war es still.

Sie überlegte schon, ob sie wieder gehen oder zumindest einmal ums Haus gehen sollte, als doch geöffnet wurde. Nur einen Spalt breit und die Kette war vorgelegt, aber auf der anderen Seite der Tür stand Cassidy Maxwell und machte ein überraschtes Gesicht, als sie Libby sah.

„Oh, Officer“, sagte sie nervös. „Was machen Sie denn hier?“

„Ich bin allein. Mein Partner ist noch im Auto. Ich bin hier, weil ich mit Ihnen reden möchte, Mrs. Maxwell. Darf ich reinkommen?“

„Reden? Worüber?“

„Über Ihren Mann. Über das, was am Samstag passiert ist. Ich möchte Ihnen helfen. Ihr Mann ist doch nicht da, oder?“

„Nein … Ich soll niemanden ins Haus lassen, wenn er fort ist.“

Libby versuchte, sich ihr Entsetzen darüber, wie sehr Luke seine Frau bereits eingeschüchtert hatte, nicht anmerken zu lassen.

„Ich bin Polizistin, Mrs. Maxwell. Es passiert doch nichts Schlimmes.“

Cassidy seufzte und nickte schließlich. „Augenblick.“

Sie schloss die Tür, zog die Kette zurück und öffnete die Tür dann ganz. „Kommen Sie, Officer.“

„Danke“, sagte Libby und folgte Cassidy ins Haus. Es war das erste Mal, dass sie weiter als bis in den Flur kam. Die Tapete hatte schon bessere Tage gesehen, der Bodenbelag war uneben und knarrte. Libby warf einen kurzen Blick in die Küche, die penibel aufgeräumt war. Cassidy ging voran ins Wohnzimmer und bot Libby einen Platz auf einer durchgesessenen, dunklen Ledercouch an. Das Mobiliar war alt, aber dem alten Sofa gegenüber stand ein riesiger, neuer Flachbildfernseher. Libby erkannte die neueste PlayStation neben einigen anderen Geräten, die allesamt nicht so aussahen, als seien sie billig gewesen. Die Prioritäten hier waren also klar verteilt.

Cassidy war zu nervös, um Libby etwas zu trinken anzubieten, aber Libby fragte auch nicht. Sie beobachtete, wie Cassidy sich langsam auf das benachbarte Sofa setzte und ihren Rock glatt strich. Sie trug ihr Haar offen, aber als sie sich in einer gewohnheitsmäßigen Geste das Haar hinters Ohr zurückstrich, entdeckte Libby frische Würgemale an Cassidys Hals. Sie schluckte hart, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen.

Cassidy trug ein Langarmoberteil, was zu der Jahreszeit zwar nicht verwunderlich war, aber Libby wäre nicht überrascht gewesen, hätten sich darunter weitere Blutergüsse verborgen.

Sie beugte sich ein wenig vor, um nicht allzu einschüchternd zu wirken, und überlegte kurz. „Wie lang geht das schon so?“

„Was meinen Sie?“, fragte Cassidy.

„Dass Ihr Mann Sie so behandelt.“

„Ich weiß nicht … Keine Ahnung, wie das angefangen hat und warum. Ich meine, eigentlich ist er nicht so.“

Am liebsten hätte Libby geschrien. Das war so typisch.

„Er ist ganz genau so, Mrs. Maxwell. Er ist so, wie sie ihn täglich erleben.“

„Nein, er ist eigentlich so ein zuvorkommender und verständnisvoller Mann. Er hat nur diesen Druck wegen der Arbeit.“

„Welchen Druck?“

„Er verdient ja nicht so viel und es müsste so viel am Haus gemacht werden, aber das können wir uns nicht leisten und er will nicht, dass ich arbeiten gehe.“

Auch das war typisch. Luke isolierte seine Frau, damit er sie besser kontrollieren konnte. Er hielt sie klein, zerstörte ihr Selbstvertrauen. Ihr Universum kreiste nur noch um ihn.

„Würden Sie denn arbeiten wollen?“, fragte Libby.

„Schon, ja … Es würde uns helfen, aber Luke meint, ich kann mich ja nicht gleichzeitig ums Haus kümmern und arbeiten gehen. Da hat er wahrscheinlich Recht.“

Wenn Luke das sagte. Sie hatte schon gar keine eigene Meinung mehr.

„Was macht Ihr Mann denn beruflich?“

„Ach, er arbeitet bei einer Autoverwertungsanlage südlich von Downtown. Nichts Besonderes.“

„Und Sie?“

„Ich habe mal in einem Kindergarten gearbeitet.“

„Das ist schön. Ich habe auch ein Semester Erziehungswissenschaften studiert.“

„Sie haben studiert?“ Cassidy blickte auf und ihre Augen leuchteten kurz. „Das hätte ich auch gern getan. Konnte ich mir nie leisten.“

„Seit wann kennen Sie Luke?“

„Ich habe ihn in meinem letzten Jahr an der High School kennengelernt. Wir waren nicht auf derselben Schule, er ist ja auch einige Jahre älter.“

„Ich schätze Sie auf Mitte zwanzig.“

Cassidy nickte. „Ja, das stimmt.“

„Und wann haben Sie geheiratet?“

„Ach, schon sehr bald … Ich wollte von zu Hause raus und es hieb- und stichfest machen. Mein Vater trinkt, wissen Sie? Es gab immer Ärger zu Hause.“

Cassidy brachte also die entsprechende Persönlichkeitsstruktur mit, um das alles mit sich machen zu lassen. Sie kannte es ja so. Ihr Versuch, sich zu befreien, war nach hinten losgegangen.

„Sind Sie verheiratet?“, fragte Cassidy.

Libby schüttelte den Kopf. „Nein, aber ich lebe mit meinem Freund zusammen.“

„Liebt er Sie?“

„Das denke ich schon. Jedenfalls hat er mich noch nie geschlagen“, wagte Libby einen Vorstoß.

Cassidy zuckte zusammen und sagte: „Luke liebt mich auch, das sagt er mir immer wieder. Er hat ja Gründe, wütend auf mich zu sein.“

„Vielleicht, aber er hat niemals Gründe, die Hand gegen Sie zu erheben. Kein guter Mann sollte das tun“, sagte Libby.

„Es tut ihm immer leid …“

„Ja, natürlich, und trotzdem tut er es immer wieder. Er wird es auch weiterhin tun. Er hört nicht damit auf. Niemals.“

„Er versucht es … Wenn er befördert wird und mehr Geld bekommt, dann ist der Druck weg und er wird sicher nicht mehr so schnell wütend. Früher war er doch auch nicht so.“

Libby suchte Cassidys Blick und warte, bis sie einander in die Augen sahen.

„Sie haben frische Würgemale am Hals. Das darf er nicht tun, Mrs. Maxwell. Aus keinem Grund, kein einziges Mal.“

„Er war wütend …“

„Wir waren am Samstag hier. Heute ist Montag. War das gestern?“

Cassidy nickte.

„Wussten Sie, dass die meisten Frauen unseres Alters durch die Hand ihres Lebenspartners sterben?“, fragte Libby. „Bei unverheirateten Paaren ist das Risiko noch etwas höher, aber obwohl ich noch nicht lange bei der Polizei bin, kenne ich solche Fälle.“

Erschrocken sah Cassidy sie an. „Ist das Ihr Ernst?“

„Ist es. Ich will damit gar nicht sagen, dass er das tun will. Aber vielleicht hört er irgendwann nicht mehr rechtzeitig auf. Vielleicht rastet er irgendwann so sehr aus, dass er wie besinnungslos auf Sie einprügelt und Sie einen bleibenden Schaden davontragen. Oder Sie könnten sterben.“

Nun zog Cassidy die Schultern hoch und nahm eine abwehrende Haltung ein. „Ich erwarte nicht, dass Sie das verstehen.“

„Warum nicht?“, fragte Libby.

„Sie … sie sind doch ganz anders als ich. Ich glaube, Sie sind zwar so alt wie ich, aber uns trennen Welten.“

„Das können Sie doch gar nicht wissen.“

„Aber Sie sind so selbstbewusst. Ich meine, Sie sind Polizistin! Sie sind jeden Tag da draußen mit Ihrer Waffe und gehen das Risiko ein, selbst erschossen zu werden oder was auch immer. Das ist sehr mutig. Wie könnten Sie mich also verstehen?“

Libby erwiderte ihren Blick und zögerte kurz. Sollte sie es wirklich tun? Eigentlich wollte sie es nicht und sie war nicht sicher, ob es funktionierte, aber schließlich gab sie sich einen Ruck.

„Kennen Sie die Fundamentalistische Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage? Die Mormonensekte, der Warren Jeffs vorsteht.“

Cassidy wirkte kurz irritiert, aber dann nickte sie. „Da heiraten die Männer doch mehrere Frauen.“

„Genau. Sie glauben, dass man nur in den Himmel kommt, wenn man als Mann viele Frauen hat. Sie glauben auch, dass man sich als Frau immer dem Willen des Mannes fügen sollte. Dort leben die Männer mit all ihren Frauen und Kindern in einem Haushalt. Damit es genügend Frauen zum Heiraten gibt, werden immer wieder junge Männer aus der Sekte ausgestoßen. Die, die ohnehin etwas rebellisch sind und Ärger machen. Die werden teilweise in die Sekte geboren und kennen nichts von der Außenwelt – kein Fernsehen, keine Handys, nichts. Und auf einmal stehen sie vor der Tür.“

„Das ist schlimm“, sagte Cassidy.

„Nicht so schlimm wie das, was die Frauen mitmachen. Inzest bereitet dort niemandem das geringste Kopfzerbrechen. Kann es auch kaum, denn seit neuestem dürfen sich nur bestimmte, hoch angesehene Männer fortpflanzen, die sogenannten Samenbringer. Sex unter Eheleuten ist verboten, aber jeden Monat müssen die Frauen zu diesen Samenbringern und sich vergewaltigen lassen.“ Libby bemühte sich nicht um eine schonende Wortwahl, im Gegenteil. Sie sagte es, wie es war und ihr entging nicht, dass Cassidy tatsächlich kurz zusammenzuckte, als sie von Vergewaltigung sprach.

„Ist das wahr?“, fragte Cassidy.

„Jedes Wort. Und wissen Sie, wieso ich das weiß?“

Nun schüttelte Cassidy den Kopf.

„Weil ich in die FLDS geboren wurde. Ich stamme eigentlich aus Utah. Mit vierzehn bin ich geflohen, als ich meinen Onkel heiraten sollte und der mich vorab mit dem Wissen meines Vaters schon mal angefasst hat, weil er wissen wollte, ob ich noch Jungfrau bin. Mein Vater hat meine Mutter aber auch geschlagen und vergewaltigt, als sie mit mir schwanger war, das war also kein Problem für ihn.“

Wie vom Donner gerührt starrte Cassidy Libby an. „Dort kommen Sie her?“

Libby nickte. „Ich bin ganz allein weggelaufen, weil ich das alles nicht wollte. Ich hatte Angst davor. Ich wäre die fünfte Frau meines Onkels geworden. Allerdings war mein Vater so wütend über meine Flucht, dass er meiner Mutter den Schädel eingeschlagen hat. Ich habe sie nie wiedergesehen.“

Cassidy hatte Tränen in den Augen und schluckte. „Du meine Güte … das ist furchtbar.“

„Und falsch, oder?“

„Natürlich! Das ist ja entsetzlich.“

„Nicht mehr als das, was Luke Ihnen antut, Mrs. Maxwell.“ Libby sah ihr fest in die Augen. Eine Träne löste sich aus Cassidys Auge.

„Aber … das können Sie doch gar nicht vergleichen.“

„Warum nicht? Ihnen ergeht es doch gerade nicht anders als meiner Mutter. Ihr Mann schlägt Sie. Vergewaltigt er Sie? Die Würgemale würden dazu passen.“

Stumm weinend sah Cassidy sie erst an, aber dann wandte sie verschämt den Blick ab. Schluchzend verbarg sie das Gesicht in den Händen.

„Ich kann nicht …“

„Das dachte ich auch. Bis ich weggelaufen bin. Ich habe damals gegen meinen Vater, meinen Onkel und den Anführer unserer lokalen Gruppierung vor Gericht ausgesagt. Sie sitzen heute noch im Knast, wo sie auch hingehören. Und jetzt bin ich hier, bei der Polizei, und ich kann Ihnen helfen, Mrs. Maxwell. Lassen Sie die Hilfe einfach zu.“

Cassidy hatte noch immer die Hände vors Gesicht geschlagen und weinte. Libby ließ ihr Zeit und überlegte, ob sie der weinenden Frau die Hand auf die Schulter legen sollte, aber dann traute sie sich nicht.

Schließlich blickte Cassidy auf und wischte sich verschämt die Tränen ab. „Er ist doch mein Mann …“

„Ich weiß. Machen Sie nicht denselben Fehler, den meine Mum gemacht hat. Sie ist nicht zusammen mit mir weggelaufen. Hätte sie tun sollen, dann würde sie heute noch leben.“

„Er würde nie …“

„Das wissen Sie nicht. Lassen Sie es nicht darauf ankommen. Sie sind so alt wie ich, sie  haben doch ihr ganzes Leben noch vor sich. Wollen Sie sich denn den Rest Ihres Lebens von ihm schlagen lassen? Er hat keine Achtung und keinen Respekt vor Ihnen, egal was er behauptet. Natürlich gelobt er immer wieder Besserung, aber die wird nicht kommen, glauben Sie mir. Ein Mann, der seine Frau verprügelt, hört nicht damit auf. Niemals.“

„Aber … ich kann nicht. Ich kann einfach nicht!“

„Das dachte ich auch. Ganz lange. Und dann konnte ich doch. Ich habe dem FBI erzählt, was ich erlebt habe und ich habe vor Gericht darüber ausgesagt, wie mein Onkel mich missbraucht hat. Das war hart, das kann ich nicht schönreden. Ich war erst fünfzehn. Aber ich hatte Hilfe von einer tollen FBI-Agentin und wenn Sie möchten, helfe ich Ihnen auch. Sie können bei mir Anzeige gegen Ihren Mann erstatten. Ich begleite sie überall hin, auch vor Gericht, wenn es sein muss. Ganz egal. Aber lassen Sie nicht zu, dass er Sie noch ein einziges Mal schlägt.“

Cassidy war hin- und hergerissen, das konnte Libby deutlich sehen. Nach kurzem Zögern sagte Libby: „Sie können mich jetzt begleiten, wenn Sie wollen, oder Sie schlafen noch eine Nacht drüber. Haben Sie meine Karte noch?“

Cassidy schüttelte den Kopf. „Er hat sie zerrissen und weggeworfen.“

Libby griff in ihre hintere Hosentasche und zog eine neue Visitenkarte heraus. „Rufen Sie mich an, wenn Sie wollen. Zu jeder Tages- und Nachtzeit. Ich komme gern zu Ihnen, aber Sie können auch zu mir kommen. Diese Woche habe ich tagsüber Schicht, er würde es also gar nicht merken.“

Erwartungsvoll sah sie Cassidy an, die sich die Tränen abwischte, Libby dann die Karte abnahm und dann ihren Blick fest erwiderte.

„Danke, Officer …“

„Nennen Sie mich ruhig Libby.“

„Danke, Libby. Ich denke darüber nach.“

„Ja, das ist großartig. Ich bin für Sie da, okay?“

Cassidy nickte und bedankte sich erneut. Libby stand auf und ging voraus zur Tür. Am liebsten hätte sie die Frau postwendend ins Auto verfrachtet und ihre Aussage aufgenommen, aber jetzt musste sie sich noch ein bisschen gedulden. Immerhin hatte sie jetzt das Gefühl, endlich etwas bei Cassidy bewirkt zu haben.

Etwas langsamer folgte Cassidy ihr und blieb verschüchtert im Flur stehen, während Libby die Tür öffnete und ihr zunickte.

„Ich erwarte Ihren Anruf“, sagte sie.

Cassidy nickte nur, sagte aber nichts. Libby verabschiedete sich von ihr und verließ das Haus. Miguel schaute von seinem Handy auf, als Libby zum Streifenwagen kam und neben ihm auf dem Beifahrersitz Platz nahm.

„Und?“, fragte er gespannt.

„Ich glaube, ich habe sie zum Nachdenken gebracht.“

„Aha. Zum Nachdenken.“

„Ja, es war gar nicht so schlecht.“

„Mitgekommen ist sie nicht.“

„Jetzt lass der armen Frau doch etwas Bedenkzeit! Ich bin ja froh, dass sie mich reingelassen und mir zugehört hat.“

„Ach, die kommt doch niemals ins Department. Glaub ich nicht.“

Libby stöhnte. „Jetzt sei doch nicht so negativ! Jede Wette, dass sie es doch tut.“

„Okay, bin dabei. Ich setzte zwanzig Dollar dagegen.“

„Ist das dein Ernst? Da wettest du um Geld?“

„Nicht?“

„Etwas mehr Anstand hatte ich dir ja zugetraut, Miguel Alvarez.“

„Dann eben nicht. Ich wette trotzdem, dass sie nicht kommt.“

„Kannst du ja machen.“ Libby war anderer Meinung und sie hoffte inständig, dass sie Recht hatte – vor allem für Cassidy.

 

 

Nachdenklich starrte Cassidy auf die Visitenkarte in ihrer Hand. Liberty Whitman, Officer des San José Police Department.

Eine nette Polizistin. Die netteste von allen, die Cassidy bis jetzt kennengelernt hatte – und das waren in letzter Zeit einige gewesen. Die Rosenheims riefen die Polizei immer dann, wenn Cassidy glaubte, dass Luke völlig die Beherrschung verlor. Die Polizei entschärfte die Lage dann und sie boten Cassidy jedes Mal an, eine Anzeige gegen Luke aufzunehmen.

Aber das konnte sie doch nicht tun. Luke war ihr Mann! Er tat das nicht, weil er sie nicht liebte, sondern weil sie ihm Grund gab, sich aufzuregen.

Sie konnte ihn verstehen, er hatte doch so viel Druck. In seinem Betrieb wurden gerade Stellen abgebaut und er fürchtete, dass es ihn treffen konnte. Dann standen sie ohne Einkommen da. Seit man ihr seinerzeit gekündigt hatte, hatte Luke sich dagegen ausgesprochen, dass sie sich einen neuen Job suchte, aber nun musste er allein für sie sorgen.

Er hatte ja auch Recht, sie konnte sich nicht so gut um den Haushalt kümmern, wenn sie noch arbeiten musste … jetzt hatte sie viel mehr Zeit. Luke war durchaus anspruchsvoll, er hatte es gern sauber und gemütlich, wenn er nach Hause kam.

Aber in letzter Zeit hatte er besonderen Druck. Cassidy wusste nicht, wieso. Er rastete wegen jeder Kleinigkeit aus – und dann schlug er sie. Er warf auch Dinge nach ihr. Manchmal ging er so weit, dass er sie würgte. Davon hatte sie auch schon das Bewusstsein verloren.

Und manchmal hatte er auch Sex mit ihr, um Druck abzulassen. Bis jetzt hatte sie das nicht in Frage gestellt, aber vielleicht hatte Officer Whitman Recht und das war falsch. Alles.

Oder doch nicht? Er war ihr Mann. Wie konnte ihr Mann sie denn vergewaltigen? Ging das überhaupt?

Ratlos steckte sie die Visitenkarte ein und ging in die Küche. Langsam musste sie mit dem Abendessen anfangen, wenn sie pünktlich fertig sein wollte. Bald kam Luke nach Hause und er würde hungrig sein.

Doch während sie in der Küche stand, spielten ihre Gedanken verrückt. Keiner der anderen Officers hatte sich je die Mühe gemacht, noch mal herzukommen und mit ihr zu sprechen. Sie alle hatten ihr gesagt, sie solle sich von Luke trennen und ihn anzeigen. Aber sie konnte sich nicht von ihm trennen, wovon sollte sie dann leben? Sie hatte doch nichts.

Officer Whitman hatte sie beeindruckt. So eine mutige Frau. Sie war wirklich stark und das trotz allem, was sie in ihrem Leben schon mitgemacht hatte. Vielleicht war es ihr deshalb auch nicht egal, was bei ihr und Luke passierte.

Cassidy glaubte ihr, dass sie in der Lage war, ihr zu helfen. Wenn überhaupt jemand, dann sie.

Ein anderes Leben … hatte sie den Mut dazu? Sie wusste es nicht. Während sie das Gemüse kleinschnitt, versuchte sie, sich vorzustellen, wie ein anderes Leben überhaupt aussehen würde. Luke würde sie ja nicht in Ruhe lassen. Sie würde irgendwo ganz von vorn anfangen müssen. Sie hatte nicht mal eine richtige Ausbildung …

Cassidy wusste nicht, ob sie das wagen konnte. Sie wollte ja auch nicht, dass Luke ins Gefängnis musste. Eigentlich liebte sie ihn doch. Er sagte ihr ja auch, dass er sie liebte. Es musste stimmen, sonst hätte er nicht mit ihr zusammenleben wollen. Er sagte ihr immer, was sie tun sollte, damit es besser für sie beide lief und sie gab sich auch solche Mühe …

Aber er würgte sie. Er schlug sie. Er hatte ihr schon den Arm gebrochen. Vielleicht hatte Officer Whitman Recht und er hörte irgendwann wirklich nicht mehr rechtzeitig auf.

Sie war so in Gedanken, dass ihr die Kartoffeln in der Pfanne fast anbrannten. Darüber kam Luke nach Hause. Cassidy nahm die Pfanne vom Herd und begutachtete die Kartoffeln. Gerade noch mal gutgegangen.

„Ich bin wieder da“, sagte Luke von der Küchentür aus und lächelte. „Was kochst du Leckeres?“

„Fleisch, Kartoffeln und Gemüse“, sagte Cassidy.

„Hört sich gut an. Bin gleich da.“

Während er verschwand, deckte Cassidy den Tisch. Wenig später war er zurück und setzte sich an den Tisch, als sie ihnen alles auf zwei Tellern servierte.

„Das ist genau das Richtige nach einem anstrengenden Tag“, sagte Luke, während er das Besteck in die Hand nahm. „Ich habe mich auf ein tolles Essen von meiner Frau gefreut.“

Cassidy lächelte glücklich. Wie hatte sie je an ihm zweifeln können?

„Ich hoffe, es schmeckt dir“, sagte sie.

Luke lächelte und begann zu essen. Zuerst probierte er das Fleisch und nickte. Als er auch von den Kartoffeln nahm, verzog er nach wenigen Augenblicken das Gesicht und knallte das Besteck auf den Tisch.

„Was für einen Fraß setzt du mir denn da vor? Das ist ja angebrannt!“, brüllte er quer über den Tisch.

Cassidy sank in sich zusammen. „Tut mir leid …“

„Ich fasse es einfach nicht! Was kannst du eigentlich?“

Tränen brannten in ihren Augen. Wann würde er aufstehen und sie schlagen? Würde er den Teller vom Tisch fegen? So etwas hatte er schon getan. Sie musste dann alles aufsammeln.

Vielleicht hatte Officer Whitman wirklich Recht und es war nicht richtig, dass er so mit ihr umging.

„Es tut mir leid, ich kann dir ja was anderes machen“, bot sie an.

Jetzt flog tatsächlich der Teller vom Tisch. „Natürlich, wir haben es ja! Du gehst so leichtfertig mit dem Geld um, das ich dir gebe! Du könntest ja auch einfach mal was richtig machen.“

Cassidy blickte auf den Teller und das Essen, das Luke zu Boden geworfen hatte.

„Schrei mich nicht so an.“

„Wie war das?“, keifte er.

„Du sollst mich nicht so anschreien. Es tut mir leid, aber du musst nicht gleich laut werden.“

Er lachte kurz. „Was, werden wir jetzt plötzlich aufmüpfig? Dir geht es wohl zu gut.“

„Nein“, sagte Cassidy kopfschüttelnd, stand auf und zog ihren Pullover hoch, um ihm die Blutergüsse an den Rippen zu zeigen, die er ihr vor zwei Tagen beigebracht hatte. „Es geht mir gar nicht gut, Luke. Mein Mann verprügelt mich. Was ist daran gut?“

„Du undankbares Stück Scheiße!“, brüllte er. Als er auf sie losgehen wollte, ergriff Cassidy die Flucht und lief um den Tisch herum, dann griff Luke nach ihrem Glas und warf es nach ihr. Während Cassidy noch in Deckung ging und hinter ihr alles zersplitterte, sprintete Luke um den Tisch herum und packte sie an den Haaren. Er warf sie bäuchlings auf den Tisch und drückte sie mit einem Arm darauf nieder.

„Werden wir jetzt übermütig, ja?“, zischte er ihr ins Ohr.

„Du tust mir weh“, stieß Cassidy schluchzend hervor.

„Anscheinend nicht weh genug!“ Luke riss sie wieder hoch und verpasste ihr eine schallende Ohrfeige.

„Mach das hier sauber!“

Zitternd und keuchend starrte Cassidy ihn an. „Mach doch selbst.“

„Du machst das jetzt sauber!“, brüllte er ihr ins Gesicht.

Cassidy wusste nicht, woher sie den Mut nahm, aber sie schüttelte den Kopf.

„Du solltest mal lernen, mich besser zu behandeln.“

„Wie war das? Tanzt mir jetzt schon meine eigene Frau auf der Nase herum?“ Luke packte sie, drückte sie rücklings gegen die nächste Wand und würgte sie mit beiden Händen. Cassidy wimmerte und schlug nach ihm, aber das beeindruckte ihn nicht.

Sein Gesicht kam ihrem gefährlich nach. „Du wirst das jetzt sauber machen, klar?“

Erst drei Sekunden später ließ er sie los. Cassidy hustete und ging weinend in die Knie.

„Warum bist du nur so?“

„Du lässt mir ja keine Wahl, Cass. Denkst du, ich freue mich über den Fraß, den du mir hier vorsetzt? Ich gehe hart arbeiten für das Geld, von dem du hier unser Essen einkaufst. Du bist wirklich undankbar. Mach das sauber!“

Cassidy schüttelte den Kopf. Er musste nur noch ein bisschen länger so laut brüllen, dann würden die Rosenheims die Polizei rufen. Das war dann zwar nicht Officer Whitman, fürchtete sie, aber wenn die Polizei kam, würde sie mitgehen. Diesmal würde sie ihn anzeigen. Officer Whitman hatte ihr ja gesagt, dass sie jederzeit anrufen konnte.

Cassidy holte tief Luft. „Die Polizistin hat Recht, ich sollte dich wirklich anzeigen.“

„Wie war das?“, brüllte Luke.

Cassidy hob den Kopf, um ihn anzusehen, aber zu spät. Sie sah seinen Tritt nicht kommen. Er trat ihr gegen den Kopf, dann stieß er sie rücklings zu Boden. Er setzte sich auf sie und legte erneut die Hände um ihren Hals.

„Dir werde ich es noch zeigen“, sagte er, bevor er zudrückte. Cassidy begann zu zappeln, sie trat um sich und hielt seine Handgelenke umklammert. Mit aller Kraft versuchte sie, seine Hände von ihrem Hals zu lösen, aber sie schaffte es nicht. Luke war zu stark. Er würgte sie weiter und starrte sie dabei entschlossen an, fast hasserfüllt.

Sie musste an Officer Whitmans Worte denken: Vielleicht ging er irgendwann zu weit und tötete sie, ohne es zu wollen.

Die Polizistin hatte Recht gehabt. Jetzt wusste Cassidy es. Sie wusste, dass es ein Fehler gewesen war, sie nicht zu begleiten, bevor alles um sie herum schwarz wurde.

 

 

 

 

 

Mittwoch, 4. November

 

Auf der 10th Street in Horace Mann war eine junge Frau einer älteren Dame hinten aufgefahren, die abrupt und grundlos gebremst hatte. Die Zentrale hatte Libby und Miguel geschickt, um die Unfallstelle zu sichern und das Unfallgeschehen sowie die Personalien aufzunehmen. Ins Krankenhaus musste niemand, aber sie brauchten Abschleppwagen und mussten den Verkehr umleiten, solange die Straße blockiert war.

So routiniert, wie Libby mit vier Monaten Berufserfahrung sein konnte, wickelte sie mit Miguel das Geschehen ab. Natürlich war der Unfall kurz vor der Mittagspause passiert, die sie deshalb gezwungenermaßen verschoben hatten. Mit knurrendem Magen stieg Libby schließlich wieder in den Streifenwagen.

„Wollen wir zu Ike’s Sandwiches?“, schlug Miguel vor, als er ebenfalls im Auto saß.

„Oh, gute Idee. Darauf habe ich jetzt Hunger.“

„Ich fahre uns hin.“

Libby schnallte sich an, während Miguel den Motor startete und losfuhr. Er bog auf die Santa Clara Street ab und als die 7th Street kreuzte, vermied Libby es tunlichst, aus dem Fenster zu sehen. Dort hatte die Studentenverbindung ihres Freundes Kieran ihr Verbindungshaus gehabt. Das Haus, in dem vor Jahren ein Student beim rituellen Komasaufen ums Leben gekommen war, wovon Kieran damals durch seinen Freund Ryan erfahren hatte. In dem Haus hatte auch Kieran sich demütigen lassen, um Mitglied in der Verbindung zu werden.

Und dorthin hatte der Verbindungschef Ron Hawkins Libby gebracht, um Kieran und Ryan in eine Falle zu locken und sie davon abzuhalten, ihm Scherereien wegen des toten Studenten zu machen. Dort hatte er Libby in sein privates Bad gesperrt, mit Handschellen an die Heizung gekettet und bewusstlos geprügelt, bevor er …

Libby schloss die Augen und atmete tief durch. Es war schon so lang her. Fünf Jahre. Sie hatte ihn dafür angezeigt. Sie hatte vor Gericht gegen ihn ausgesagt und dafür gesorgt, dass er erst wieder aus dem Gefängnis kam, wenn seine besten Jahre eigentlich schon vorbei waren. Daran war sie gewachsen. Trotzdem löste es Beklemmungen in ihr aus, sich in die Nähe dieses Hauses zu begeben.

Sexuelle Gewalt war etwas, das sie schon ihr ganzes Leben lang begleitete, dessen war sie sich bewusst. In der FLDS war sie damit aufgewachsen und davor geflohen in der Hoffnung, dass es in der normalen Welt besser war, aber leider hatte sie längst gelernt, dass dem nicht so war. Das hatte ihr nicht erst Ron Hawkins gezeigt, aber diese grässliche Erfahrung war es, die sie ihr erstes Studium hatte schmeißen lassen, um auf Psychologie und Verhaltensforschung umzusatteln – das, was sie brauchen konnte, um Profilerin beim FBI zu werden. Genau wie Sadie, ihre Adoptivmutter.

Libby wusste, warum speziell Sadie dazu bereit gewesen war, sie zu adoptieren, denn ihr war es einst nach dem gewaltsamen Tod ihrer Familie ähnlich gegangen. Bei ihr war es Onkel Norman, dem sie alles verdankte und der ihr ein neues Leben ermöglicht hatte.

Dass Sadie und Matt sie bei sich aufgenommen hatten, war der größte Glücksfall in Libbys Leben. Und jetzt trat Libby in Sadies riesengroße Profiler-Fußstapfen – zumindest war das der Plan. Das FBI verlangte für die Bewerbung einen Collegeabschluss, ein Mindestalter von 23 Jahren und den Nachweis von zwei Jahren Berufserfahrung.

Letzteres war das Einzige, was Libby noch fehlte. Genau wie Sadie damals wollte sie diese zwei Jahre Berufserfahrung bei der Polizei sammeln, weil ihr das am logischsten erschien. Bisher hatte sie diese Entscheidung auch noch nicht bereut, ganz gleich, wie hart der Job manchmal war.

Bei Ike’s holten sie sich die Sandwiches im Laden, aßen aber im Auto, immer in Hörweite des Funkgeräts. Dabei beobachteten sie ständig das Treiben auf der Straße und hielten Ausschau nach etwas, das Miguel liebevoll DNRA nannte: Dinge, die nicht richtig aussehen. Polizeiarbeit hatte auch viel mit Instinkt zu tun und Libby wusste, dass sie diesen Instinkt hatte.

Zumindest ging sie davon aus, auch wenn sie etwas verunsichert war wegen Cassidy Maxwell. Bis jetzt hatte die Frau sich nämlich nicht wieder bei ihr gemeldet.

Das Gute war: Es war auch kein Notruf aus der Nachbarschaft mehr eingegangen. Allerdings hatte sie schon am Vortag immer wieder auf ihr Handy gestarrt, auf einen Funkspruch gehofft oder etwas in der Art – doch nichts.

Ob Cassidy es sich anders überlegt hatte? Libby hoffte so sehr, dass die Frau den Mut aufbrachte, sich von ihrem Mann zu befreien.

Sie musste einfach. Häusliche Gewalt war etwas, das Libby gründlich gegen den Strich ging. Ihr eigener Vater hatte nicht davor zurückgeschreckt, sich mit Gewalt durchzusetzen, und das volle Programm hatte Sadie erlebt: Schläge, Drohungen, Knochenbrüche, Angst, Versöhnungen, Streits, Anrufe der Nachbarn bei der Polizei – und schließlich den Tod ihrer ganzen Familie durch die Hand ihres Vaters.

Libby durfte nicht zulassen, dass Cassidy etwas zustieß. Sie sahen doch das Problem, wie konnte es sein, dass ihnen die Hände gebunden waren? In solchen Momenten hätte sie die Vorschriften zu Teufel jagen mögen.

Als sie aufgegessen hatte, starrte sie mit unbeteiligter Miene weiter aus dem Fenster und sagte: „Können wir gleich mal kurz auf der Clayton Avenue vorbeifahren?“

Miguel grinste schief. „Ich wäre ja jetzt zwanzig Dollar reicher.“

„Ich wusste nicht, dass da ein Countdown lief.“

„Nein, aber ich habe dir doch gesagt, das wird nichts.“

„Ach, komm schon.“

„Ja, von mir aus. Du hörst ja sonst doch nicht auf.“

Erst erwiderte Libby nichts, aber als Miguel Kurs auf die Clayton Avenue nahm, murmelte sie: „Danke.“

„Du bist echt zu idealistisch für den Job.“

„Ich muss das doch versuchen! Wer kümmert sich denn um sie, wenn nicht wir?“

„Wir sind die Polizei, nicht die Heilsarmee.“

Libby erwiderte nichts. Ja, vielleicht war sie Idealistin. Seit wann war das ein Problem?

Sie bogen in die Clayton Avenue ein und fuhren bis zum Ende. Die Einfahrt war leer. Libby überlegte kurz, aber dann stieg sie aus und ging zur Haustür, um zu klopfen. Sie wartete geduldig, aber es öffnete niemand. Skeptisch nahm sie das Haus in Augenschein und beobachtete die Fenster, aber es rührte sich nichts. Unverrichteter Dinge kehrte sie zum Streifenwagen zurück und setzte sich wieder auf den Beifahrersitz. Miguel wendete und fuhr weiter.

„Okay, vielleicht hattest du auch einfach Erfolg und sie hat den Kerl verlassen“, sagte er, als sie zwei Straßen weiter waren.

„Meinst du?“

„Keine Ahnung. Oder sie ist einkaufen.“

Libby erwiderte nichts. Sie hoffte sehr, dass Cassidy tatsächlich einfach ihre Sachen gepackt und Luke verlassen hatte.

Den anderen Gedanken wollte sie nicht zulassen, aber sie wollte sich auch keinen Hirngespinsten hingeben.

Zumindest war das die Idee. Tatsächlich beschäftigten die Gedanken an Cassidy sie die ganze Schicht über. Kurzerhand beschloss sie nach Feierabend, noch einmal dort vorbeizufahren, auch wenn das einen kleinen Umweg bedeutete. Allerdings sah sie schon von weitem, dass Luke Maxwells Auto in der Einfahrt stand, weshalb sie rechtzeitig kehrt machte und nach Hause fuhr. Ihn würde sie jedenfalls nicht nach dem Verbleib seiner Frau fragen und in Zivil schon überhaupt nicht.

Zu Hause angekommen, betrat sie eine leere Wohnung. Sie surfte ein wenig im Internet, während sie auf Kieran wartete, der jedoch auch bald eintraf.

„Was für ein Höllentag“, sagte er, nachdem er die Wohnungstür hinter sich zugeworfen hatte. „Ein Meeting jagt das nächste. Und bei dir?“

„Ach … ein Unfall, ein Nachbarschaftsstreit, ein Einbruch … solche Dinge. Nichts Besonderes.“

„Nichts Besonderes, sprach die Polizistin … Für die Menschen, mit denen du da zu tun hast, ist es das vermutlich doch.“

„Ja, da hast du wohl Recht. Hast du Hunger?“

„Ziemlich, und du?“

„Ich auch. Lass uns kochen.“

Kieran war einverstanden. Sie machten sich Musik an, während sie sich in der Küche der Zubereitung eines Abendessens widmeten.

Inzwischen hatte Libby sich daran gewöhnt, dass sie beide nun einen Job hatten und regelmäßig zur Arbeit gingen. Vorbei war das schöne Studentenleben, das sich doch sehr viel freier angefühlt hatte.

Schließlich saßen die beiden mit dem Essen an ihrem kleinen Tisch in der Küche, an den sie nur zu zweit passten, und aßen. Dabei merkte Libby gar nicht, wie sie gedankenversunken ins Nichts starrte.

„Du bist so still“, sprach Kieran sie an. „Woran denkst du?“

„Ach, bloß diese Frau, mit der ich am Montag gesprochen habe.“

„Die von ihrem Mann geschlagen wird?“

Libby nickte. „Ich habe noch nichts von ihr gehört.“

„Denkst du, sie hat Angst?“

„Keine Ahnung. Wir waren heute dort und es hat niemand geöffnet. Nach Feierabend war ich noch mal da, aber da war der Mann zu Hause.“

„Und dann hast du natürlich nicht geklingelt.“

„Nein, um Gottes Willen.“ Libby schüttelte den Kopf und fügte nach kurzem Zögern hinzu: „Miguel meint, ich würde es übertreiben. Ich wäre eine Idealistin, hat er gesagt.“

„Bist du auch. Na und? Ist das was Schlechtes?“

„Bei ihm klang es so.“

„Du machst deinen Job halt gern und du nimmst ihn sehr ernst. Da kann ich kein Problem erkennen.“

„Vielleicht bin ich da auch bloß durch Sadie vorbelastet, aber ich habe schon die absurdesten Dinge erlebt. Die Frau meldet sich nicht, mir hat niemand die Tür aufgemacht – da geht mein Kopfkino an und ich sehe sie tot im Coyote Creek vor mir. Das ist doch nicht normal. So kann ich meinen Job nicht machen.“

„Versuch es weiter. Zur Not frag die Nachbarn, die rufen doch auch immer bei euch an.“

Libby lächelte ihn dankbar an. „Es ist lieb, dass du mich auch noch unterstützt.“

„Klar tue ich das! Hey, ganz ehrlich, das erwartet man doch auch von der Polizei, oder nicht? Dumm genug, dass ihr den Kerl nicht festnehmen könnt, weil sie es leugnet. Aber wenn du dich nicht um sie kümmern würdest, wer würde es dann tun?“

Darauf musste Libby nicht antworten, denn das hatte sie sich ja auch schon überlegt. Sollten ihr die Kollegen doch zu verstehen geben, dass sie es übertrieb – das hatte Sadie in ihrem Job auch oft getan. Sie war eigentlich immer persönlich involviert gewesen, das kannte Libby gar nicht anders. Aber genau dieses Engagement hatte ihre Mum zu der überragenden Profilerin gemacht, die sie nun einmal war und die der Director des FBI persönlich gebeten hatte, doch wieder zurückzukommen.

„Komm, wir bringen dich auf andere Gedanken“, sagte Kieran schließlich. „Wir machen einen gemütlichen Sofaabend, was meinst du?“

„Das ist eine grandiose Idee, Mr. Woodley“, erwiderte Libby und gab ihrem Freund einen Kuss.

 

 

 

 

 

 

 

 

Montag, 2. November

 

Sie wurde von Schmerzen geweckt. In ihrem Kopf hämmerte es und als sie schluckte, spürte sie, wie fest Luke beim Würgen zugedrückt hatte. Benommen öffnete Cassidy die Augen und war für einen Moment nicht sicher, ob sie die Augen wirklich offen hatte, denn um sie herum war es pechschwarz.

Sie wollte schreien, aber da spürte sie, dass sie geknebelt war. In ihrem Mund steckte ein Stück Stoff, ihr Kopf war unterhalb der Nase mit Klebeband umwickelt. Ein erstickter Schrei entrang sich ihrer Kehle, sie begann zu zappeln.

Sie lag gefesselt am Boden. Während sie in der Finsternis versuchte, alles um sich herum zu erspüren, stellte sie fest, dass sie nackt war.

Sie wimmerte und zappelte, aber sie konnte sich kaum rühren. Ihre Hände waren auf dem Rücken mit Handschellen gefesselt, auch ihre Füße waren zusammengebunden. Sie hatte Panik. Verzweifelt versuchte sie, zu schreien oder sich aufzurichten, aber sie konnte nicht.

Was hatte Luke mit ihr getan?

Es war totenstill um sie herum, deshalb glaubte sie plötzlich zu wissen, wo sie war. Bestimmt hatte er sie in dem fensterlosen Kellerraum mit der Stahltür eingesperrt. Das tat er ja manchmal, wenn sie ihm zu widerspenstig war und er meinte, sie bestrafen zu müssen. Er hatte sie schon eine ganze Nacht und einen ganzen Tag dort eingesperrt und ihr sämtliche Nahrung verweigert, aber immerhin hatte er das Licht angelassen.

Was hatte er jetzt vor?

Unwillkürlich musste sie wieder an die Polizistin denken. Sie hatte Recht gehabt. Diese kluge junge Frau …

Warum hatte sie nicht auf Officer Whitman gehört? Warum?

Was würde Luke jetzt mit ihr machen?

Ihr kamen die Tränen. Sie hatte Hunger und ihr war kalt, die Fesseln bereiteten ihr Schmerzen. Ihre Angst wuchs.

War Luke jetzt wirklich zu allem bereit?

Sie hätte gehen sollen. Sie hätte Officer Whitman wirklich gleich begleiten sollen. Sie hatte es ihr doch gesagt. Warum nur hatte sie nicht hören wollen?

Cassidy weinte, denn mehr konnte sie nicht tun. Jetzt bereute sie es, dass ihr der Mut gefehlt hatte.

Ob sie überhaupt noch eine zweite Chance bekam?

Bei der ersten Gelegenheit würde sie weglaufen. Wenn Luke sie wieder rausholte, war sie weg. Notfalls auch nackt, ganz egal. Sie musste zu Officer Whitman. Sie würde ihr helfen, sie hatte es ihr doch versprochen.

An dieser Hoffnung klammerte sie sich fest, während sie unter Schmerzen und Angst dasaß und sich fragte, was jetzt geschehen würde. Das war echte Folter.

Sie wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war, als plötzlich das Licht aufflammte und Cassidy geblendet blinzelte. Tatsächlich befand sie sich im Keller. Die schwere Stahltür wurde entriegelt und schwang auf, dann stand Luke vor ihr. Flehend sah Cassidy ihn an.

Und ihn hatte sie mal geliebt. Sie hatte ihn geheiratet. Damit er ihr jetzt das antat …

„Na, wieder wach?“, fragte er.

Verzweifelt versuchte Cassidy, sich verständlich zu machen, während er den Raum betrat und vor ihr stehenblieb. Mit vor der Brust verschränkten Armen musterte er sie abschätzig.

„Immer noch so vorlaut?“

Cassidy wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Er löste sich aus seiner Pose, kniete sich vor sie und hielt ihr die Visitenkarte von Officer Whitman vor die Nase.

„Das war eben gar kein Spruch, oder? Das habe ich in deinen Sachen gefunden. Die Polizistin war noch mal hier.“

Cassidy starrte ihn einfach nur an. Ohne Vorwarnung schlug er ihr ins Gesicht. „Antworte gefälligst! Wann war sie hier? Heute?“

Sollte er doch denken, was er wollte. Cassidy hatte nicht vor, es ihm zu sagen, aber da schlug er ihr mit der Faust in den Magen.

„War sie heute hier?“, brüllte er und trat ihr so fest in den Oberkörper, dass ihr die Luft wegblieb und ihr schwarz vor Augen wurde. Ein grauenvoller Schmerz breitete sich von ihren Rippen her aus. Cassidy hatte Todesangst, denn offensichtlich war Luke zu allem bereit.

„Du wirst mich kennenlernen, das sage ich dir. Jetzt erst recht.“

Er verließ den Raum kurz und kehrte dann mit einem Stift und einem kleinen Notizblock zurück. Cassidy wimmerte vor Schmerz und schrie erstickt auf, als er sie hochzog und sich an ihren Handschellen zu schaffen machte.

„Du wirst jetzt etwas schreiben, was ich dir diktiere, ist das klar?“

Sie hätte gern etwas erwidert, aber sie konnte nicht. Erstickt schluchzend hockte sie da und unternahm den halbherzigen Versuch, sich gegen ihn zu wehren und ihn zu schlagen, als er ihr die Handschellen abgenommen hatte. Daraufhin schlug er ihr mit der Faust ins Gesicht und traf ihr Auge.

„Leg dich nicht mit mir an, du Miststück. Du wirst das jetzt schreiben, ist das klar? Ich breche dir jeden Knochen einzeln, bis du es tust.“

Cassidy bekam kaum Luft und konnte vor lauter Tränen nichts sehen. Ihre Rippen schmerzten bei jedem Atemzug, ihr Auge schwoll zu. Als Luke ihr jetzt den Block und den Stift hinhielt, nahm sie beides und schrieb das, was er ihr befahl. Erstickt versuchte sie, sich verständlich zu machen, aber er nahm ihr beides wieder weg, als sie fertig war und grinste zufrieden.

„So ist es brav. Dass du es immer auf die harte Tour haben musst!“

Schluchzend sah sie ihn an, aber er packte ihre Handgelenke, zog sie auf ihren Rücken und legte ihr die Handschellen wieder an.

„Nein, du bleibst jetzt hier, und wenn diese Polizistin nach dir sucht, bist du weggelaufen.“ Luke deutete auf die Notiz, die sie geschrieben hatte.

„Du wirst dich jetzt nützlich machen, Cass. Das wird dir deine vorlaute Art schon austreiben.“

Verständnislos sah Cassidy ihn an. Wovon redete er da?

„Morgen geht es los, dann wirst du für mich arbeiten. Du wirst dir noch wünschen, du hättest dich nicht mit mir angelegt, aber jetzt ist es zu spät. Und niemand, absolut niemand wird dich finden.“

Geschockt sah Cassidy ihn an, während er sich abwandte und den Raum verließ.

Die Tür fiel ins Schloss. Sie wurde verriegelt. Fassungslos starrte Cassidy darauf und glaubte, keine Luft mehr zu bekommen vor lauter Panik.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Donnerstag, 5. November

 

Libby wartete gezielt ab, bis sie ohnehin wieder in der Nähe der Clayton Avenue waren, und bat Miguel dann, noch einmal vorbeizufahren.

„Du gibst nicht auf, oder?“, murmelte er kopfschüttelnd.

„Nein, ich gebe nicht auf. Lass mich doch.“

„Mit mir kannst du es ja machen.“

„Was soll das denn heißen?“

„Mit solchen Aktionen outest du dich immer als Neuling, das sollte dir klar sein. Dazu würden dir die Kollegen was erzählen.“

„Dann ist es ja gut, dass du mein Partner bist“, erwiderte Libby unbeeindruckt. Was wollte Miguel ihr denn damit sagen?

Er seufzte gequält. „Du kannst sie nicht alle retten. Wenn du dich so in eine Sache reinkniest, landest du über kurz oder lang im Burnout. Wahrscheinlich eher kurz …“

„Lass das mal meine Sorge sein.“

Die Gefahr war gegeben, dessen war Libby sich bewusst. Das kannte sie von ihren Eltern. Aber selbst wenn das hier ein Fehler war – sie wollte ihre eigenen Fehler machen.

Miguel bog in die Clayton Avenue ein. Die Einfahrt war leer, was ihnen entgegenkam. Wortlos parkte Miguel vor dem Grundstück und beobachtete, wie Libby ausstieg.

Wie schon am Tag zuvor hämmerte sie an die Tür – erfolglos. Schließlich hämmerte sie erneut.

„San José Police Department! Sind Sie da, Mrs. Maxwell?“

„Da werden Sie Pech haben“, vernahm Libby die Stimme eines Mannes, ohne ihren Ursprung gleich zuordnen zu können. Irritiert drehte sie sich um und entdeckte schließlich einen älteren Herrn auf dem Nachbargrundstück neben den Mülltonnen.

„Guten Tag, Sir“, sagte Libby höflich.

„Sie waren doch am Samstag und am Montag hier, nicht wahr?“

„Stimmt.“

„Wir sind das immer, die bei Ihnen anrufen. Dass drüben die Fetzen fliegen, ist nichts Neues. Wir rufen ja nur an, wenn es ganz schlimm ist und wir denken, dass da jetzt mal jemand eingreifen sollte, bevor er sie krankenhausreif prügelt oder umbringt.“

Libby schluckte und versuchte, sich ihr Entsetzen nicht anmerken zu lassen. „Seit wann geht das so?“

„Puh … ich weiß gar nicht, ob ich es anders kenne. Die beiden wohnen jetzt seit drei Jahren hier und seitdem ist das eigentlich so. Die arme Frau, es ist wirklich eine Schande. Sie kommt kaum noch raus, sie wird immer kleiner … ihre ganze Haltung, verstehen Sie?“

Libby nickte langsam. „Am Montag war ich bei ihr, um allein mit ihr zu sprechen und sie dazu bewegen, ihn endlich mal anzuzeigen.“

„Und sonst können Sie wirklich nichts tun?“

„Ich wünschte, ich könnte. Sie hat sich seit Montag nicht bei mir gemeldet.“

„Wir haben sie seitdem auch gar nicht mehr gesehen. Normalerweise kommt sie ja schon mal raus, um den Müll wegzubringen, so wie ich gerade, oder sie holt die Post und geht einkaufen. Wir sehen sie auch durchs Fenster in der Küche. Aber seit Montag …“ Mr. Rosenheim schüttelte den Kopf.

„Wann haben Sie Cassidy denn zuletzt gesehen? Zumindest, dass Sie sich bewusst daran erinnern können.“

„Montag Abend. Luke ist nach Hause gekommen und es wurde wieder mal laut, aber nur kurz. Seitdem ist es im Haus wie ausgestorben, wenn er morgens das Haus verlässt. Da rührt sich nichts.“

Libby wusste nicht, ob sie das gut finden sollte. „Wäre es denn theoretisch möglich, dass sie gegangen ist?“

„Vor ihm weggelaufen, meinen Sie?“, fragte Mr. Rosenheim. Libby nickte bloß.

„Ich weiß nicht … Wenn sie das wirklich fertig bringen würde, dann wäre er doch kaum so ruhig, oder?“

„Ist er das?“, fragte sie.

„Er ist wie immer. Er macht auch alles wie immer. Ehrlich, ich weiß nicht, was da los ist.“

„Aber es gab keinen besonders lauten Streit, so dass man annehmen könnte, dass etwas Schlimmes passiert ist?“

„Nur diesen einen Streit am Montag. Seitdem ist es verdächtig still.“

Verdächtig still. Das war nicht gut. Nur leider hatte Libby keinen Grund, das Haus zu betreten. Ohne konkrete Handhabe durfte sie es nicht und das war nicht konkret genug.

Was, wenn Cassidy tot war? Wenn er es herausgefunden hatte? Ihre Hirngespinste wurden nur noch lebhafter.

Sie ging zu Mr. Rosenheim und reichte ihm eine Visitenkarte. „Wenn ich Sie um einen Gefallen bitten dürfte – rufen Sie mich an, wenn sich etwas tut. Wenn Mrs. Maxwell wieder auftaucht … oder wenn Sie einen Hinweis darauf haben, was passiert sein könnte.“

„Sicher, Officer …“ Mr. Rosenheim schaute auf die Karte. „Whitman. Das mache ich gern. Von allen Polizisten, die bislang hier waren, sind Sie die Einzige, die da mal ein wenig nachhakt.“

Das glaubte Libby ihm sofort. „Haben Sie vielen Dank. Noch einen schönen Tag.“

„Das wünsche ich Ihnen ebenfalls, Officer.“

Libby nickte ihm zum Abschied zu und ging zurück zum Auto. Miguel war inzwischen ausgestiegen und lehnte an der Fahrerseite.

„Hast du etwa zugehört?“, fragte Libby ihn.

„Klar. Hab aber nicht viel verstanden.“

Sie stiegen beide wieder ins Auto und Libby machte ein nachdenkliches Gesicht.

„Was hat er dir erzählt?“

„Das sind die Nachbarn, die immer den Notruf wählen. Wenn es besonders schlimm ist, meinte er. Seit Montagabend hat er Cassidy nicht mehr gesehen.“

„Okay“, sagte Miguel mit einem undeutbaren Tonfall.

„Das fand er ungewöhnlich. Er meinte, dass er sie sonst immer sieht, aber jetzt …“

„Vielleicht ist sie doch einfach weggelaufen.“

„Ihr Mann verhält sich wie immer. Würde er das dann tun?“

„Wer weiß. Vielleicht.“

Libby starrte auf das Haus der Maxwells. „Haben wir keinen Grund, da reinzugehen?“

„Bist du noch bei Trost? Nein, haben wir nicht, es sei denn, da würde es brennen. Du kannst nichts tun, Libby.“

„Ach, verdammt! Was, wenn er sie umgebracht hat, Miguel? Das fällt niemandem auf!“

„Du kannst ja mal in den Leichenschauhäusern anrufen und nach nicht identifizierten Frauenleichen fragen.“

Verstört sah Libby ihren Partner an, merkte ihm aber an, dass er das vollkommen ernst meinte.

„Was denn? Das kannst du tun. Ruf in Krankenhäusern an, in Leichenschauhäusern … frag bei den Kollegen der Mordkommission, ob die was haben. Was weiß ich. Telefonier mit den Frauenhäusern …“

„Weißt du was? Das werde ich tun“, verkündete Libby entschlossen, woraufhin Miguel gequält stöhnte.

„Du bist ja besessen.“

„Von mir aus. Du hast keine Ahnung, was ich in meinem Leben schon erlebt habe, weshalb …“

„Weil deine Eltern beim FBI waren?“, unterbrach Miguel sie stirnrunzelnd.

„Ja, genau deshalb. Ich erzähle dir keinen Scheiß, Miguel.“

„Sag ich ja gar nicht.“

Nein, gesagt hatte er es nicht, aber sie wusste, dass er es dachte. Im Nachhinein betrachtet war es ein Fehler, dass sie am ersten Tag bei ihrer Vorstellung kundgetan hatte, Ermittlerin werden und sich später beim FBI bewerben zu wollen, weil ihre Eltern beide beim FBI gewesen waren. Das hatte sie zwar schon bei ihrer Bewerbung im Motivationsschreiben angegeben und der Captain, dem der Name Whitman seit der Geiselnahme an der San José State University vor vier Jahren etwas sagte, war durchaus davon angetan gewesen.

Bei den Kollegen hatte es jedoch einen anderen Effekt. Libby stand jetzt als Klugscheißerin da, als kleine Streberin, die sich für etwas Besseres hielt, weil sie das Fernziel FBI jetzt schon ins Auge gefasst hatte. Sie wusste, was die Kollegen über sie redeten – speziell die älteren, männlichen Kollegen, die sie für ein Greenhorn ohne jede Erfahrung hielten. Sie würde schon sehen, wie die Dinge so liefen und feststellen, dass das alles nicht so einfach war, wie sie vielleicht auf dem College noch geglaubt hatte.

Libby wusste selbst, dass nur fünf Prozent der Bewerber es auch tatsächlich zum FBI schafften. Das war eine lächerlich kleine Zahl, die ihr auch verriet, dass das FBI nur die besten nahm. Allerdings ließ sie sich davon nicht abschrecken. Sie würde ihren Weg gehen und sie würde ihre Arbeit bis dahin gewissenhaft erledigen.

Allerdings hatte sie schon jetzt, nach nur vier Monaten, schon festgestellt, dass Vorstellung und Realität in der Polizeiarbeit weit auseinanderklafften. In Wahrheit hatte sie viel mit Papierkram zu tun und war gefangen in ihren eigenen Vorschriften – eine Tatsache, mit der schon Sadie und Matt immer auf Kriegsfuß gestanden hatten.

Sollten die Kollegen sie doch für eine kleine Querulantin halten. Libby konnte nichts Falsches daran finden, Cassidy Maxwell zu helfen.

Eine Stunde vor Schichtende kehrten die beiden zum Department zurück, um noch Zeit für ihren Papierkram zu haben. In den letzten Tagen war einiges liegengeblieben, um das sie sich kümmern mussten. Zuerst jedoch öffnete Libby die Vermisstendatenbank und gab den Namen Cassidy Maxwell ein. Es gab keine Vermisstenmeldung, die auf ihren Namen lautete, aber damit hatte Libby auch nicht gerechnet.

Es gab aber auch noch keine Anzeige gegen Luke Maxwell. Auch das überraschte sie nicht. Als nächstes überprüfte Libby, ob in den letzten Tagen eine weibliche Leiche aufgetaucht war, auf die Cassidys Beschreibung passte. Dazu sah sie im Computer nach, aber als sie dort nichts Entsprechendes fand, rief sie kurzerhand bei der Mordkommission an.

„Detective Young“, meldete sich eine gelangweilt klingende Männerstimme.

„Officer Whitman hier. Sagen Sie, haben Sie in den letzten Tagen eine Frauenleiche gefunden – Mitte zwanzig, braunes Haar, Spuren von Misshandlung?“

„Äh … nein. Wie kommen Sie darauf, Officer?“ Seine Frage ließ Libby erahnen, dass ihr Anruf ihn wohl gerade überraschte. Zuerst wusste sie gar nicht, was sie erwidern sollte. Mit der Frage hatte sie nun wiederum nicht gerechnet.

„Es geht um diese Frau, bei der ich am Montag war … häusliche Gewalt. Sie scheint verschwunden zu sein. Ich mache mir Sorgen um sie.“

„Und jetzt glauben Sie, sie könnte tot sein?“

„Ich weiß es nicht. Ich habe da nur so ein seltsames Gefühl.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739455815
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Dezember)
Schlagworte
Mord USA häusliche Gewalt Ermittler Gefahr Polizistin Krimi Spannung Frauenleiche sexuelle Gewalt Psychothriller

Autor

  • Dania Dicken (Autor:in)

Dania Dicken, Jahrgang 1985, schreibt seit der Kindheit. Die in Krefeld lebende Autorin hat Psychologie und Informatik studiert und als Online-Redakteurin gearbeitet. Mit den Grundlagen aus dem Psychologiestudium schreibt sie Psychothriller zum Thema Profiling. Bei Bastei Lübbe hat sie die Profiler-Reihe und "Profiling Murder" veröffentlicht, im Eigenverlag erscheinen "Die Seele des Bösen" und ihre Fantasyromane. Die Thriller-Reihe um die FBI-Profilerin Libby Whitman ist ihr neuestes Projekt.
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Titel: Brave Mädchen schreien nicht